Christliche Kunst in Bulgarien 

Assen Tschilingirov

 

IV. Zweites Bulgarenreich 72 (1186-1396)

   - Architektur  55

   - Monumentalmalerei  59

   - Das 14. Jahrhundert Monumentalmalerei  68

   - Buchmalerei  69

   - Ikonenmalerei  69

   - Plastik  70

   - Kunsthandwerk  71

 

Zeichnungen:

 

o  Veliko Tirnovo, Demetrioskirche, 1187 (?). Rekonstruktion  54

o  Rila-Kloster, Chreljo-Turm, 1334/35. Längsschnitt  55

o  Boboschevo, Theodoroskirche, 14. Jh.  56

o  Tran, Erzengel-Kloster, Katholikon, 14. Jh.  56

o  Nessebar, Johannes-Aleiturgetos-Kirche, Mitte des 14. Jh.  57

o  Nessebar Johannes-Aleiturgetos-Kirche, Mitte des 14. Jh. Rekonstruktion  58

o  Berende, Petruskirche, Mitte des 13. Jh. Ostwand  63

o  Bojana, Kirche der Heiligen Nikolaos und Panteleimonos, 11. Jh. bis 1259. Längsschnitt und Grundriß  64

o  Orbel-Triodion, mittelbulgarisch, zweite Hälfte des 13. Jh. Öffentliche Bibliothek Leningrad, F.p I 102, Initialen  66

o  Bologna-Psalter, Ravne bei Ochrid, zwischen 1230 und 1241. Universitätsbibliothek Bologna Nr. 2499, Initialen  67

o  Psalter, zweite Hälfte des 14. Jh. Lenin-Bibliothek Moskau, Sevastijanov 5/M 1454, Initialen  68

o  Psalter, 14. Jh. Nationalbibliothek Sofia, SNB 3, Initialen  68

o  Nikons-Taktikon, Tirnovo, zweite Hälfte des 14. Jb. Museum Rila-Kloster, I/16, Initialen  70

 

 

IV. Zweites Bulgarenreich (1186-1396)

 

Der Aufstand beider Bojaren von Tirnovo, der Brüder Assen und Petar, legte im Jahre 1186 die Fundamente für das Zweite Bulgarenreich, dessen zweihundertjährige Geschichte durch dauernde innere und äußere Kämpfe, aber auch durch eine zeitweilige kulturelle Blüte gekennzeichnet ist. Die Tatsache, daß der Aufstand in dem durch Kriege und feindliche Einfälle am meisten betroffenen Teil Bulgariens ausbrach und die breite Unterstützung der Bevölkerung dieses stark benachteiligten Gebiets erhielt, bezeugt den unbeugsamen Willen des Volkes trotz lang anhaltender Fremdherrschaft. Die byzantinische Herrschaft verringerte zwar materiell wie kulturell das Niveau des bulgarischen Volkes, vermochte jedoch nicht sein Nationalbewußtsein zu brechen und seine schöpferische Kraft zum Versiegen zu bringen. Wenn auch das von den Zeitgenossen mit überaus dunklen Farben gezeichnete Bild der unter Hungersnöten, Epidemien und unaufhörlichen feindlichen Einfällen leidenden bulgarischen Bevölkerung nicht übertrieben ist, es berechtigt uns dennoch nicht zu der Annahme, daß die Bulgaren geistig und kulturell herabsanken auf die primitive Stufe der barbarischen asiatischen Völkerscharen, die den Balkan in jener finsteren Epoche heimsuchten. In der darauf folgenden kurzen Zeitspanne des Friedens und der Freiheit verlieh das bulgarische Volk seinem Schöpfertum Ausdruck und erreichte in der Malerei und der Baukunst die Höhepunkte seiner künstlerischen Tätigkeit, die den bedeutendsten Leistungen des mittelalterlichen Europa durchaus ebenbürtig sind.

 

Die politischen Verhältnisse auf der Balkanhalbinsel wandelten sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts grundlegend. Während des 4. Kreuzzuges wurde Konstantinopel 1204 von den Kreuzfahrern eingenommen, weitgehend zerstört und geplündert. Byzanz mußte als Großmacht von der politischen Bühne Südosteuropas abtreten und auf seine Vorherrschaft auch nach der Wiederherstellung des Imperiums (1261) endgültig verzichten. Sein Erbe traten das Lateinische Kaiserreich, Bulgarien und das neue Serbische Königreich an. Den Byzantinern verblieb das kleinasiatische Gebiet des Kaiserreichs von Nikaia sowie das Despotat von Epirus; dieses geriet 1230 jedoch unter die Abhängigkeit Bulgariens, das sich seinerseits nach der Schlacht von Adrianopel (1205) auch gegenüber dem Lateinischen Kaiserreich zu behaupten vermochte. Im Westen des Balkans begann das Serbische Königreich seit der Mitte des 13. Jahrhunderts eine immer wichtigere Rolle zu spielen und erreichte in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts seine höchste, wenn auch sehr kurzlebige Blüte.

 

Diese Verschiebungen der politischen und kulturellen Schwerpunkte erwiesen sich als wenig dauerhaft. Vielmehr breitete sich über ganz Südosteuropa eine feudale und geistige Zersplitterung aus, ohne daß eine starke Zentralmacht die divergierenden Kräfte angesichts der seit Mitte des 13. Jahrhunderts ständig zunehmenden äußeren Gefahr hätte einigen können. So wurde es möglich, daß die Tataren in der zweiten Jahrhunderthälfte die Balkangebiete verwüsten konnten, ohne dabei auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, bis sie schließlich durch den ganz Bulgarien erfassenden Bauernaufstand unter Führung des Schweinehirten Ivajlo aus dem Land vertrieben wurden. Nur wenig später, im Laufe des 14. Jahrhunderts, brachten die Türken nach und nach die ganze von Kämpfen rivalisierender Feudalherren zerrüttete Halbinsel unter ihre Kontrolle. 1396 brach das in drei Herrschaftsbereiche zerfallene Bulgarenreich unter ihren Schlägen zusammen; Konstantinopel, der letzte Hort des Byzantinischen Imperiums, sowie das zum winzigen Despotat von Smederevo zusammengeschrumpfte Serbische Königreich sollten das Bulgarenreich nur um wenige Jahrzehnte überleben.

 

Die Kunst des Zweiten Bulgarenreichs ist noch enger mit dem Geschick dieses Staatswesens verbunden als die Kunst der vorangegangenen Zeit und spiegelt das rege und von Widersprüchen gekennzeichnete geistige Leben der hoch entwickelten Feudalherrschaft wider. Wenn auch die Stärke des Zweiten Bulgarenreichs zeitweise der des Ersten Bulgarenreichs gleichkam und Zar Ivan Assen II. (1218-1241) sich alle Gebiete zwischen der unteren Donau, dem Schwarzen Meer, der Adria und der Ägäis, ausgenommen Konstantinopel mit dessen kleinem Hinterland, untertan machen konnte, so wurde das Reich doch durch eine feudale Staatsordnung bestimmt und zudem durch ständige innere Differenzen ausgehöhlt.

 

Das religiöse Leben im Zweiten Bulgarenreich blieb, ebenso wie das politische, uneinheitlich und widerspruchsvoll. Die bulgarischen Herrscher richteten ihre Bemühungen darauf, die Selbständigkeit der bulgarischen Kirche auszubauen. Sie sahen sich dabei veranlaßt, zwischen Konstantinopel und Rom zu lavieren und eine nur wenige Jahrzehnte dauernde Union mit dem römischen Papsttum einzugehen, bis schließlich 1235 die Unabhängigkeit des Patriarchats von Tirnovo verkündigt wurde.

 

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Dennoch gelang es der bulgarischen National kirche nur für kurze Zeit, die religiöse Spaltung im Lande zu überwinden. Die während der Regierung Ivan Assens II. unterbrochene Verfolgung des mittlerweile erstarkten und bis nach Südfrankreich, der Schweiz und Italien vorgedrungenen Bogomilentums setzte um die Mitte des 13. Jahrhunderts wieder mit voller Kraft ein. Neben der orthodoxen Kirche und dem Bogomilentum bildeten sich weitere Sekten und Glaubensgemeinschaften, die eine weitgehende geistige Zersplitterung des Volkes bewirkten. Gleichzeitig gewann der Hesychasmus - die bedeutendste mystische Lehre des mittelalterlichen orthodoxen Christentums - immer mehr an Gewicht und erfaßte einen Großteil des stark angewachsenen Mönchtums. Ebenso wie beim Bogomilentum befand sich das geistige Zentrum des Hesychasmus innerhalb der politischen Grenzen Bulgariens - in den Klöstern des Strandshagebirges im Südosten des Landes, wo der hervorragendste Mystiker des orthodoxen Christentums, Gregorios Sinaites (1255-1346), schulbildend wirkte. Dieses Zentrum verlagerte sich um die Mitte des 14. Jahrhunderts in das Kilifarevo-Kloster nahe Tirnovo durch das Wirken des Schülers und Nachfolgers von Gregorios Sinaites, des Theodosius von Tirnovo (1300 bis 1363), und dessen Schülers, des letzten bulgarischen Patriarchen Euthymios (1375-1393).

 

Über unmittelbare Wirkungen dieser gewaltigen religiösen Bewegungen, des Bogomilentums und des Hesychasmus, auf bildliche Darstellungen sind verschiedene Spekulationen angestellt worden. Sie erscheinen zumindest hinsichtlich des bildfeindlichen Bogomilentums jedoch wenig begründet und eher zu einer unberechtigten Überbewertung des tatsächlichen Einflusses auf das gesamte kulturelle Leben und besonders auf die Kunst zu führen. Als maßgeblicher für die Kunstentwicklung erwies sich die parallel verlaufende humanistische Strömung des 13. Jahrhunderts und die später einsetzende klerikale Reaktion. Die humanistische Strömung, die im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts alle geistigen und kulturellen Bereiche des bulgarischen Zarenhofes und die eng mit ihm verbundene Feudalaristokratie erfaßte, schließlich aber auch das neu entstandene Bürgertum, konnte nicht nur an die Tradition der Blütezeit der slawisch-bulgarischen Kultur, sondern auch an die Tradition des vom antiken Geist geprägten byzantinischen Erbes anknüpfen.

 

Trotz aller Widerstände und Hemmnisse im politischen und kirchlichen Leben entwickelte sich die Zarenstadt Tirnovo - heute Veliko Tirnovo - zu einem einflußreichen kulturellen Mittelpunkt des Zweiten Bulgarenreichs ; ihr fiel als Metropole des orthodoxen Christentums während der lateinischen Herrschaft über Konstantinopel in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts die führende Rolle in Südosteuropa zu. Durch eine gewaltige Stadtmauer geschützt und mit prunkvollen Palästen, Kirchen und öffentlichen Bauten geschmückt, erreichte die im Nordosten der Hauptstadt gelegene Residenz der bulgarischen Zaren und Patriarchen, Zarevez, eine auch für das Hochmittelalter ungewöhnliche Pracht. Tirnovo

 

wurde zu einer Weltstadt und einem der bedeutendsten Handelszentren, wo sich die Wege der Kaufleute aus Genua und Venedig, Dubrovnik und Durazzo, Wladimir und Nowgorod, aber auch aus Persien und Arabien kreuzten. Um die Bedeutung und den Glanz der Zarenstadt als Zentrum des orthodoxen Christentums zu erhöhen, ließen die bulgarischen Herrscher die Reliquien vieler angesehener Heiligen aus dem ganzen Balkan und dem vorderen Orient nach Tirnovo überführen, wo ihnen Klöster und Kirchen errichtet wurden, die Pilgerzüge aus der ganzen orthodoxen Welt anlockten.

 

Die zahlreichen neugegründeten Klöster in der Stadt und deren Umgebung wurden - wie ehemals in der Hauptstadt des Ersten Bulgarenreichs, Preslav - Sammelpunkte einer regen schöpferischen, geistigen und kulturellen Tätigkeit. In den Skriptorien entstanden prächtige illuminierte Handschriften mit Übersetzungen antiker Autoren. Diesen Skriptorien verdankt die slawische Kultur sowohl Abschriften der Werke bulgarischer Schriftsteller der Preslav-Schule als auch Übersetzungen der Werke Platons, Aristoteles’, Michael Pselos’ und anderer griechischer Autoren der Vergangenheit.

 

Die Verschiebung des kulturellen Schwergewichts nach dem Nordosten Bulgariens wirkte sich negativ auf die Kunstentwicklung der südwestlichen Landesteile aus. Obgleich Makedonien bereits Ende des 12. Jahrhunderts wiederum in das Bulgarenreich eingegliedert wurde, 1230 gefolgt von Albanien, Thessaloniki und dem Berge Athos, waren die Einflüsse der hauptstädtischen Kunst Tirnovos in diesem ganzen Bereich eher gering. Die Südwestgebiete wurden nunmehr zu einer entfernten Provinz am Rande des weitausgedehnten Reiches, die abseits von der regen künstlerischen Tätigkeit der hauptstädtischen Schule existierte. Die Bindungen an die Zentralgewalt lockerten sich ebenso einschneidend durch die feudale Zersplitterung: Gerade in diesem Teil Bulgariens zeigten sich betont separatistische Bestrebungen. So bildeten das Despotentum von Melnik, das Gebiet der Rhodopen und ein großer Teil Makedoniens mit der Stadt Prosek eine Zeitlang selbständige Feudalstaaten, deren Herren eine von Byzanz und Bulgarien unabhängige Rolle zu spielen versuchten. Zwar wurde die Zentralmacht durch Ivan Assen II. wiederhergestellt, doch zeigten sich hier nach seinem Tode die divergierenden Tendenzen in vollem Umfang. Die südlichen Teile Makedoniens trennten sich 1257 von Bulgarien und gerieten nacheinander unter die Oberhoheit von Byzanz und Serbien, bis sie nach der Schlacht an der Mariza (1371) schließlich unter türkische Herrschaft fielen. Nur ein geringer Teil der westlichen Gebiete Bulgariens war im 14. Jahrhundert mit der Zentralmacht verbunden, wenn auch hier auseinanderstrebende Kräfte wirksam blieben - deutlich ablesbar in der Bildung des selbständigen Fürstentums von Vidin und des Despotentums Chreljos im Gebiet des Rilagebirges.

 

Während die südlichen Teile Makedoniens unter der Regierung von Andronikos Palaiologos (1282-1328)

 

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mehr und mehr den kulturellen Einwirkungen von Byzanz ausgesetzt wurden und die Einflüsse des Palaiologischen Klassizismus aufnahmen, blieben die westlichen Randgebiete Bulgariens der Tradition stark verhaftet. Die archaisierende Strömung, die sich hier im 13. und 14. Jahrhundert in allen Bereichen der Kunst durchsetzte und die bis in die Zeit vor dem Bilderstreit zurückreichende lokale Kunstüberlieferungen aufbewahrte, erscheint somit als Reaktion auf die klassizistischen Tendenzen der Kunst Konstantinopels und zugleich als Versuch, sich gegen die Byzantinisierung der nationalen Kultur abzugrenzen. So bildete sich in diesem Gebiet ein Reservat der frühchristlichen Kunst mit eigener Prägung und Nachwirkungen bis in die darauffolgende Epoche heraus.

 

Der Aufschwung der Zarenstadt Tirnovo fand durch die Tatareneinfälle in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und die Machtkämpfe der Bojaren ein jähes Ende. Durch die ungünstigen politischen Verhältnisse einerseits und die kirchliche Reaktion andererseits wurde auch der humanistischen Strömung nach und nach der Boden entzogen, ohne im umfangreichen literarischen Œuvre der in den letzten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts wiederaufblühenden und vom weltabgewandten Hesychasmus geprägten Tirnovo-Schule tiefere Spuren zu hinterlassen.

 

Wie das Bogomilentum bezog auch der Hesychasmus gegenüber der bildenden Kunst eine weitgehend indifferente, wenn nicht gar bilderfeindliche Position, so daß die Kunstentwicklung auch von ihm keine Anregungen zu empfangen vermochte. Die strenge Askese und die Weltentsagung waren den Tendenzen zur Verweltlichung der Malerei und zu einem bereits in Neresi hervortretenden und sich konsequent weiterentwickelnden expressiven Naturalismus diametral entgegengesetzt. Mit der zunehmenden Ausbreitung der spiritualistischen Theologie des Hesychasmus im 14. Jahrhundert wurde die humanistische Grundhaltung der bildenden Kunst verdrängt, ohne durch gleichwertige, dem neuen Spiritualismus entsprechende Impulse ersetzt zu werden. So verfielen die Malerei und die Plastik schon am Vorabend der türkischen Eroberung einer tiefgreifenden Krise, deren Überwindung ihnen während des christlichen Mittelalters versagt blieb.

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Veliko Tirnovo, Demetrioskirche, 1187 (?). Rekonstruktion

 

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Architektur

 

Am deutlichsten zeigt die Architektur die Merkmale des fortgeschrittenen Hochfeudalismus, der zu Beginn des 13. Jahrhunderts das Erscheinungsbild der Städte und der zahlreichen Festungen und Burgen geprägt hatte. Anstelle der antiken Stadt mit dem planvollen Straßennetz, dem einheitlichen Stadtzentrum sowie dem hochentwickelten Bewässerungs- und Kanalisationssystem oder der einem befestigten Militärlager ähnelnden Anlage der Hauptstädte des Ersten Bulgarenreichs, Pliska und Preslav, entwickelte sich nunmehr die im Umkreis der Zitadelle unübersichtlich wirkende, in mehrere Stadtviertel untergliederte mittelalterliche Stadt, deren Silhouette durch die vielen Kirchen und Klosteranlagen beherrscht wurde. Die hohe Zahl der Kirchen, die oftmals nur die Größe von Kapellen besaßen, stellt ein Charakteristikum des osteuropäischen Mittelalters dar. Ihm liegt eine Art »christlicher Polytheismus« (Mavrodinov) zugrunde - die Verehrung einer Vielzahl von Heiligen wie auch ihrer Reliquien und Ikonen. So drängten sich auf der winzigen Halbinsel von Nessebar über 40 Kirchen und auf dem kleinen Territorium Melniks innerhalb der Stadtmauer 64 Kirchen und 10 Kapellen. Dabei handelt es sich nicht um Gemeindeund Bischofskirchen oder Privatkapellen der örtlichen Herrscherfamilie, sondern vielmehr um Kirchen, die einzelnen Heiligen oder deren Reliquien geweiht waren und die die Überlieferung mit bestimmten Wundern verband. Jedes Handwerk hatte Schutzpatrone und ihnen geweihte Kirchen: die Soldaten - die Heiligen Theodoros Tyron und Theodoros Stratelates, die Landwirte den heiligen Demetrios, die Kleintierzüchter und Bergleute den heiligen Georg, die Weinbauern und Gastwirte den heiligen Triphonos, die Händler und Diebe den heiligen Menas, die Schuster den heiligen Spiridonos. Die heilige Paraskeva war Schirmherrin der Armen, der heilige Nikolaos beschützte die Notleidenden, die Heiligen Christophoros und Panteleimonos die Reisenden, der heilige Agapios die schwangeren Frauen und kleinen Kinder. Bei Krankheit wurde die Hilfe der heiligen »uneigennützigen« Ärzte Kosmas und Damianos, von denen die orthodoxe Kirche drei Paare unterscheidet, oder der Dienst des heiligen Niketa, des Teufelsaustreibers, erbeten; für die Seelen der Verstorbenen sorgte der Erzengel Michael. An erster Stelle und vor allen Heiligen stand jedoch die Gottesmutter, deren Festen und Ikonen man die höchste Verehrung zollte und denen die meisten Kirchen geweiht wurden. Eine wichtige Rolle spielte auch der Kult der lokalen Heiligen - so gab es in allen bulgarischen Gebieten Kirchen und Kapellen der Heiligen Ivan von Rila und Kliment von Ochrid.

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Rila-Kloster, Chreljo-Turm, 1334/35. Längsschnitt

 

 

Die Zahl der bulgarischen Klöster nahm im Hochmittelalter innerhalb eines begrenzten Zeitraums außerordentlich zu. In erster Linie waren es Einsiedeleien und Höhlenklöster, die sich mit der Ausbreitung des Hesychasmus stark vermehrten - besonders zu erwähnen sind die Klöster im Strandshagebirge, das Aladsha-Kloster bei Varna sowie die zahlreichen Einsiedeleien in den Tälern des Iskar und Russenski Lom, nördlich von Tscherven, und in der Nähe von Ivanovo. Neben dem 1335 von Zar Ivan Alexander reich beschenkten Batschkovo-Kloster gewann das in demselben Jahr von Sebast Chreljo erweiterte und mit einem Befestigungsturm sowie neuem Katholikon versehene Rila-Kloster eine Vorrangstellung innerhalb der bulgarischen Klöster.

 

Große Kirchenräume entstanden nicht, da kein Bedarf für kirchliche Bauten bestand, die Massen von Gläubigen aufnehmen konnten. Sogar die Patriarchenkathedrale auf dem Gipfel des Hügels Zarevez (Abb. 100) und die Große Lawra Abb. der Heiligen Vierzig Märtyrer in Veliko Tirnovo waren erheblich kleiner als die durchschnittlichen Kirchen des Ersten Bulgarenreichs, ganz abgesehen von der Erzbischofsbasilika in Pliska oder den frühchristlichen Monumentalbauten auf dem Balkan.

 

Auch weiterhin wurden gelegentlich Basiliken gebaut, wie die Klosterkirche der Großen Lawra der Heiligen Vierzig Märtyrer in Veliko Tirnovo, die gewölbte dreischiffige Kirche in Koritengrad bei Ljutibrod und die Burgkirche in Hissarlak bei Lowetsch, wobei die Gliederung der Innenräume und des Narthex in kleine Kapellen oder der Anbau von Annexkapellen und offenen Galerien charakteristisch sind.

 

Den verbreitetsten Bautypus bildet die einschiffige gewölbte Kirche

 

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(die meisten Kirchen auf dem Hügel Trapesiza in Veliko Tirnovo, die Theodoros- und die Sveta-Petka-Kirche in Nessebar (Abb. 96) sowie die Kirchen in Berende und Kalotino). Diesen Bautypus variieren die Kirchen Gottesmutter Bolnička (um 1365) und Heilige Konstantin und Helena (drittes Viertel des 14. Jh.) in Ochrid, deren Mitteljoch ein querliegendes Tonnengewölbe bildet und von einem selbständigen höheren Satteldach überdeckt wird.

 

Sehr verbreitet ist auch der Bautypus der einschiffigen Kirche mit einer Pendentifkuppel über dem Mitteljoch, durch vier auf Pilastern ruhende Bögen gestützt - der östliche und der westliche zu einem axial angelegten Tonnengewölbe über dem Naos erweitert. Dieser Bautypus trat bereits im 7. Jahrhundert in Armenien auf (die Kathedrale in Ptgni), wo er sich auch weiterentwickelte (die Kathedralen in Arutsch, 667/68, Wagarschapat, 10. Jh.). Die bulgarische Baukunst nahm ihn im 10. Jahrhundert (Viniza, Vabilin-dol) in weitgehend reduzierter und wesentlich veränderter Form auf, deren unmittelbares Vorbild jedoch unbekannt ist. Eine neue Besonderheit der bulgarischen Bauten des 12. bis 14. Jahrhunderts, bei denen in der Außengestaltung der lokalen Bautradition wie auch den in der Zeit der Kirchenunion mit Rom aufgenommenen abendländischen Einflüssen Tribut geleistet wird, zeigt neben der sich stärker ausprägenden Belebung der Seitenfassaden durch mehrere pseudokonstruktive Blendbögen der meist quadratische Glockenturm über dem Narthex, der gelegentlich eine bekrönende Kuppel mit polygonalem Tambour aufweist.

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Boboschevo, Theodoroskirche, 14. Jh.

Tran, Erzengel-Kloster, Katholikon, 14. Jh.

 

 

Relativ selten ist die Kreuzkuppelkirche mit frei stehenden Säulenstützen (Abb. 95) vertreten (Petrus-und-PaulusKirche in Veliko Tirnovo, Pantokrator- und Johannes-Aleiturgetos-Kirche in Nessebar) (Abb. 153 bis 156). Von den weiteren Bauformen ist die quadratische stützenlose Kuppelkirche mit eingeschriebenem Kreuz und zwei Westtürmen zu erwähnen, wie die Petrus-und-Paulus-Kirche in Nikopol (Anfang des 14. Jh.), die Gottesmutterkirche in Dolna Kamenica (kurz vor 1330) und die Christi-HimmelfahrtsKirche bei Kjustendil (1330). Der seit dem 13. Jahrhundert häufig auftretende Typus der Trikonchoskirche mit erweitertem Narthex, deren Querschiffe in halbrunde Sängerkonchen auslaufen, schließt sich im Gegensatz zu den einschiffigen und den Kreuzkuppelkirchen an Vorbilder auf dem Berge Athos an. Es handelt sich dabei ausschließlich um Klosterkirchen, wie die des Nikolaos-Klosters in Peschtera, Bezirk Radomir, des Erzengel-Klosters zu Tran, des Johannes-Klosters zu Poganovo sowie die nur in den Grundmauern erhaltene Klosterkirche von Krupnik. Diesem Bautypus gehört auch die Verklärungskapelle im Obergeschoß des Chreljo-Turms (Abb. 138) im Rila-Kloster (1334/35) an. Im Unterschied zu den Kirchen in Serbien und Rumänien, die eine weitere Entwicklungsstufe des Trikonchos vertreten, folgt dieser Typ der bulgarischen Kirchen noch der alten athonitischen Tradition: Ihre Fassaden und Innenmauern bleiben ungegliedert, die Konchen sind halbrund oder dreieckig, der Naos ist verhältnismäßig eng und niedrig, ohne zum Vertikalismus der späteren Bauten der Morava-Schule und ihrer Ausläufer in der Moldau zu tendieren.

 

Ende des 13. Jahrhunderts gerät die Baukunst in Makedonien immer stärker unter den Einfluß der Kunst Konstantinopels und Thessalonikis. Nachdem bereits im 11. Jahrhundert in Veljusa die byzantinischen Einwirkungen Oberhand gewannen, kurz danach jedoch wiederum teilweise von der bulgarischen Tradition verdrängt wurden (Drenovo und Neresi), stehen die repräsentativsten kirchlichen Bauten Ochrids im späten 13. (Gottesmutter Peribleptos) und im 14. Jahrhundert (Johannes-Kaneo-Kirche), wie die zeitgenössischen Kirchen in Kastoria, in Form und Bautechnik vollkommen im Banne der byzantinischen Kunst. Nur die kleinen Bauten folgten weiterhin lokalen Traditionen, die sie bis in die Zeit der türkischen Fremdherrschaft weitergaben.

 

Während sich insgesamt - trotz aller Umwege, Abweichungen in der Grundform, abendländischer Einflüsse und lokalgebundener Sondererscheinungen - eine Tendenz zur Durchsetzung der mittelbyzantinischen Kreuzkuppelanlage abzeichnet, zeigt die Innen- und Außengestaltung mehrere Besonderheiten, die sie wesentlich von den byzantinischen Bauten unterscheiden.

 

Es ist kein Zufall, daß der kulturhistorisch wohl bedeutendste Bau Ivan Assens II., die Kirche der Heiligen Vierzig Märtyrer in Veliko Tirnovo (Abb. 100), eine Basilika darstellt. Diese Kirche, deren spektakuläre Einweihung mit dem wichtigsten militärpolitischen Ereignis seiner Regierung zusammenfiel - dem Sieg bei Klokotniza am

 

März 1230, der ihm die Vorherrschaft auf der ganzen Balkanhalbinsel sicherte -, erscheint zugleich als Symbol der weiterlebenden Überlieferung des Ersten Bulgarenreichs

 

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und als bewußte Fortsetzung seines künstlerischen und historischen Erbes. Die Wahl der für die monumentalen Bischofskirchen der christlichen Antike und des 10. Jahrhunderts im Balkangebiet typischen Bauform bezeugt dies ebenso wie die zahlreichen Spolien älterer bulgarischer Bauwerke: Kapitelle, Basen und Säulen. Ihre Anwendung war tief durchdacht und durch die restaurativen Vorstellungen des bulgarischen Herrschers begründet: In erster Linie drückt sich dies aus in der Gegenüberstellung zweier Memorialsäulen im Kircheninneren - der Säule des Khans Omurtag (814-832), deren Inschrift die Idee von der Kontinuität repräsentiert, und der Stiftersäule Zar Ivan Assens II., bei der diese Idee noch einmal hervorgehoben wird. Die Kirche der Heiligen Vierzig Märtyrer, gefolgt vom Zarenschloß auf dem Hügel Zarevez, leitete eine neue Phase der Kulturgeschichte Bulgariens ein, welche - dem renaissanceartigen Gepräge der bulgarischen Kunst des 10. Jahrhunderts ähnlich - durch antikisierende und humanistische Tendenzen in allen Bereichen der Kultur und Kunst gekennzeichnet ist. Obgleich bereits wenige Jahrzehnte später durch die Reaktion der extrem konservativen kirchlichen Oberschicht erstickt, führte diese Strömung zu einigen der bedeutendsten künstlerischen Schöpfungen des bulgarischen Mittelalters und hinterließ tiefe Spuren im Nachleben der orthodoxen Kunst.

 

Die Rezeption der überlieferten Formen beschränkte sich nicht auf die Basilika und die Verwendung von Spolien, sondern erfaßte auch die Gestaltungsprinzipien der lokalen Tradition. So traten bereits bei den frühesten Bauwerken des Zweiten Bulgarenreichs in Tirnovo, wie der Demetrioskirche (1187?), die pseudokonstruktiven Blendbögen an den Seitenfassaden auf, deren Zahl auf sechs und mehr angestiegen war. An den Archivolten, den Lünetten und den Zwickeln zwischen den Bögen läßt sich eine Neigung zur reichen farbig-ornamentalen Gestaltung feststellen, deren Ursprung auf die Baukunst des Ersten Bulgarenreichs zurückgeht: Platten, Näpfchen und Rosetten aus glasierter Keramik sowie teppichartig-dekorative flache Ziegelpanneaus mit stilisierten pflanzlichen und geometrischen Motiven wurden auf weißem Mörtelgrund angebracht und steigerten die malerische Wirkung der Bauwerke.

 

Im Gegensatz zu der entmaterialisierenden Raumwirkung der komnenischen Bauten mit ihrem Hang zum Vertikalismus, der sich in den verlängerten Proportionen der einzelnen Bauteile - wie den überaus hohen und durch mehrere schmale Nischen gegliederten Apsiden der Kirchen im Pantokrator-Kloster (Zeirek-Moschee) und der Theodosiakirche (Gül-Moschee) in Konstantinopel (um 1150) - und in den schlanken, hochgereckten Säulen im Innenraum äußert, sowie der für die komnenische Innengestaltung charakteristischen Auflösung der stofflichen Wirkung der Mauern durch farbig-illusionistische Mittel, neigte die bulgarische Baukunst des 13. Jahrhunderts immer stärker zur Betonung der stofflichen Masse und zu einer dekorativen Wirkung der sich verselbständigenden Bauanlage durch die häufige Anwendung reiner Zierformen. Der Strenge der in sich homogenen und einheitlichen Formen byzantinischer Bauten steht die auflockernde, belebende Wirkung des polychromen malerischen Inkrustationsstils bei den bulgarischen Bauten entgegen; so erscheinen diese ihrer geistigen Substanz und ihrem heiteren, lebensverbundenen Ausdruck nach als Gegenentwurf zu den vom weltfremden Spiritualismus geprägten Kunstwerken der komnenischen Klassik Konstantinopels.

 

Die Zierformen an den christlichen Bauwerken des Zweiten Bulgarenreichs nahmen im 14. Jahrhundert weiterhin an Bedeutung zu. Über den im Wechsel von Ziegeln und Marmorquadern gestalteten Archivolten der Blendbögen, deren Felder mit Ziegelornament malerisch und bunt ausgestattet sind, erscheint häufig der lombardische Bogenfries und ein Fries von flachreliefierten Dekorativpanneaus.

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Nessebar, Johannes-Aleiturgetos-Kirche, Mitte des 14. Jh.

 

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Nessebar Johannes-Aleiturgetos-Kirche, Mitte des 14. Jh. Rekonstruktion

 

 

So wird eine horizontale Gliederung der Fassaden in voneinander unabhängige Zonen erreicht und der Vertikalismus der Kuppelanlage im Sinne einer Harmonie und Ausgewogenheit zurückgedrängt. Der malerisch-dekorative Inkrustationsstil findet seine Vollendung an der Pantokratorkirche und besonders an der Johannes-Aleiturgetos-Kirche in Nessebar, deren ornamentale, in Ziegel-Mörtel-Technik sowie in Flachrelief ausgeführte Friese schon islamische Einflüsse verraten.

 

Die durch Ausgrabungen in den letzten Jahren neugewonnenen, wenn auch noch nicht vollständig ausgewerteten Erkenntnisse über die Baudenkmäler des Zweiten Bulgarenreichs bringen neues Licht in die Problematik ihrer Chronologie. Die teilweise oder meist totale Zerstörung einiger der bedeutendsten Bauwerke der Hauptstadt Tirnovo erschwert wesentlich die Datierung der übrigen, oft nur in ihrer Substruktion erhaltenen Bauten. Dazu bilden die Kirchen des späten 12. bis 14. Jahrhunderts eine geschlossene Gruppe, deren geringe formale Abweichungen untereinander nur bedingt der Formentwicklung zuzuschreiben sind. Andererseits

 

würde ein Vergleich mit den erhaltenen Bauten der Nachbarländer und besonders mit den Baudenkmälern Konstantinopels, wie N. Brunow bereits vor fünfzig Jahren bemerkte, zu falschen Ergebnissen führen. Die von der jüngsten Forschung ziemlich genau datierten Bauten beweisen, daß die Entwicklung der für die Kirchen des Zweiten Bulgarenreichs charakteristischen Formen sich innerhalb einer geringen Zeitspanne vollzogen hat, in der die Besonderheiten der Form und Außengestaltung völlig herausgebildet erscheinen. Nachweisbare Grenzen dieser Zeitspanne markiert die Errichtung beider Kirchen Tirnovos - des heiligen Demetrios (1187?) und der Heiligen Vierzig Märtyrer (1230) (Abb. 100). In dieses zeitliche Gerüst lassen sich die meisten übrigen Kirchen von Nessebar, der Assen-Festung sowie die von Trapesiza einordnen. Nur die beiden späteren Kirchen Nessebars, die Pantokrator- und die Johannes-Aleiturgetos-Kirche (Abb. 153 bis 156), müssen dem zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts zugeordnet werden, einer Zeit, da die Stadt unter der Regierung des Zaren Ivan Alexander (1331 bis 1571) bis zur Einnahme durch die Flotte des Amedeo von Savoyen (1366) als bedeutendste Hafenstadt und zweitwichtigstes Handelszentrum Bulgariens ihre letzte Blüte erlebte.

 

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Die stilistischen Beziehungen dieser zwei Bauten zu denen des Zweiten Bulgarenreichs sind wesentlich enger als zu denen der Palaiologenzeit in Konstantinopel, so daß ihre Gestaltung eine logische Fortsetzung der Gesamtentwicklung der bulgarischen Baukunst und nicht etwa die eines verpflanzten Fremdkörpers darstellt. Von diesen Tatsachen ausgehend, gelangte N. Brunow zu der Ansicht, daß die slawisch-balkanische Kunst die byzantinische Baukunst der Palaiologenzeit beeinflußt hat. Nach den heutigen Erkenntnissen gewinnt die Annahme einer historisch bedingten Verlagerung der kulturellen Schwerpunkte im 13. Jahrhundert von Byzanz nach dem zentralen Balkan zunehmend an Überzeugungskraft und wird vor allem durch die Neuentdeckungen auf dem Gebiet der Monumental- und Ikonenmalerei unterstützt.

 

 

Monumentalmalerei

 

Die Erforschung der Monumentalmalerei des Zweiten Bulgarenreichs stößt ebenfalls auf große Hindernisse, so daß trotz der wichtigen Entdeckungen in den letzten Jahren immer noch viele Fragen unbeantwortet bleiben. Die infolge der Zerstörung der bedeutendsten Denkmäler Tirnovos entstandenen Lücken können weder durch die zufällig erhaltenen Provinzialdenkmäler noch durch die wenigen in jüngerer Zeit freigelegten Wandmalereifragmente geschlossen werden, obgleich diese Überreste eine hohe künstlerische Qualität besitzen und zweifellos der führenden höfischen Kunstrichtung in ihrer Blütezeit angehören. Wenn auch umfangreiche Forschungen während des letzten Jahrzehnts über die wesentlichen Charakterzüge der Kunstentwicklung und die Merkmale der unterschiedlichen Stilrichtungen und Schulen wichtige Aufschlüsse gegeben haben, wird uns dennoch eine genaue Vorstellung über das Ausmaß der künstlerischen Tätigkeit in der zweiten großen Blütezeit der bulgarischen Kultur ebenso wie der Gesamteindruck von den Bauwerken für immer vorenthalten bleiben. Die Zahl der als Ruinen nur in ihrer Substruktion erhaltenen Bauten ist sehr gering im Vergleich mit den allein aus den Quellen nachweisbaren Kunstdenkmälern. Auch die Fragmente ihrer Verzierung können nur einen Bruchteil der Wirkung des gesamten Ensembles vermitteln, die weniger auf das Detail als vielmehr auf die Synthese aller Monumentalkünste gerichtet war.

 

Viele Probleme wirft auch die Chronologie der überlieferten Kunstwerke auf. Inschriftlich belegt ist lediglich das Entstehungsjahr der Wandmalerei von Bojana (1259) (Abb. 115 bis 124). Die Datierung der übrigen Denkmäler, die sich bislang allein auf ikonographische und stilistische Vergleiche sowie auf die in einigen Fällen nicht sicheren Quellenhinweise stützte, mußte auf Grund sorgfältiger Quellenforschung, eingehender Untersuchungen einzelner Anlagen und chemischer Analyse der verwendeten Materialien wesentlich revidiert werden. Damit rückt nicht nur ein

 

Teil der Entwicklung der mittelalterlichen bulgarischen Kunst, sondern auch die Kunstgeschichte Südosteuropas in ein neues Licht. Andererseits stellen die beiden wichtigsten Denkmäler der mittelalterlichen Malerei Bulgariens, die Ausmalung der Höhlenkirche Johannes’ des Täufers im Erzengel-Kloster bei Ivanovo und der Kirche  in Bojana (Abb. 106 bis 109), eine Reihe ästhetischer und kulturhistorischer Fragen, die ohne Bezugnahme auf die gesamte Kunstentwicklung sowohl im Zweiten Bulgarenreich als auch im übrigen Südosteuropa kaum lösbar sind.

 

Dabei ergeben sich jedoch - wie bei der Baukunst - erhebliche Schwierigkeiten. Wir besitzen keine Werke der hauptstädtisch-byzantinischen Monumentalmalerei des ausgehenden 12. und der ersten Hälfte des ^.Jahrhunderts, mit denen die gleichzeitige Malerei der Hofschule von Tirnovo verglichen werden kann, und sind somit über stilistische und ikonographische Einflüsse Konstantinopels nur auf Vermutungen angewiesen. Dennoch betrachtet die jüngste Forschung die Annahme einer Auswanderung byzantinischer Künstler nach Bulgarien und Serbien infolge der großen politischen Krise des Byzantinischen Imperiums bei der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer (1204) als berechtigt, obgleich dafür keine zuverlässigen Zeugnisse vorliegen. Solche Zuwanderung von Künstlern könnte jedoch keinesfalls der entscheidende Faktor für die kulturelle Blüte der byzantinischen Nachbarländer sein und darf nicht überbewertet werden. Diese Künstler übernahmen vielmehr eine Vermittlerrolle und bereicherten die christlich-orthodoxe Kunst um bestimmte neue Impulse, die die Tradition ihrer Gastländer befruchteten. Andererseits erreichte die Kunst Bulgariens ihre Höhepunkte erst im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts mit dem Auftreten einer neuen Künstlergeneration, die das Erbe ihrer Vorgänger zwar aufgenommen zu haben scheint, jedoch neue Wege einschlug und andere Ideale besaß. Derselbe Prozeß vollzog sich etwas später auch in Serbien, wo die bedeutendsten Kunstdenkmäler nach der Jahrhundertmitte entstanden. Somit übernahmen die beiden Balkanländer es nacheinander, die künstlerische und ikonographische Tradition der orthodoxen Kunst fortzuführen und gemäß den bereits im späten 12. Jahrhundert in Byzanz vorgebildeten Möglichkeiten und Richtlinien auszugestalten.

 

Wenn die jüngste Forschung die Akzente der Kunstentwicklung des Zweiten Bulgarenreichs in das zweite Drittel des 13. Jahrhunderts setzt, so stützt sie sich dabei auf die neuentdeckten Monumentalmalereien, die eine überragende Qualität aufweisen. Die ersten Ansätze dieser Blüte der bildenden Kunst zeichnen sich in den Fragmenten des Wandschmucks der zerstörten Kirchen auf dem Hügel Trapesiza in Veliko Tirnovo aus der Zeit zwischen den letzten Jahrzehnten des 12. und der Mitte des 13. Jahrhunderts ab, die einer erlesenen Hofkunst angehören. Diesen Wandmalereien lassen sich die kürzlich entdeckten und noch nicht veröffentlichten Fragmente des Wandschmucks einer Kirche in Zarevez als Bindeglieder der bislang lückenhaften Entwicklungskette zuordnen.

 

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Wegen ihres relativ guten Erhaltungszustandes und ihrer Stilmomente bieten sie wesentlich mehr Aufschluß über Eigenart und Qualität der bulgarisch-hauptstädtischen Malerei der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts als die bis jetzt bekannten mittelalterlichen Kunstwerke Tirnovos. Charakteristisch ist hier eine Wendung von der linearen Stilisierung zu weicher Modellierung. Das Mosaik (Kirche Nr. 5 in Trapesiza) und die traditionelle Freskotechnik treten nach und nach zurück und werden durch eine gemischte Technik mit zunehmender Verwendung von Temperafarben abgelöst. Die wesentlich reichhaltigere und fein nuancierte helle Farbskala trägt zu völlig neuen künstlerischen Aussageformen bei. Die psychologische Charakteristik der Gesichter tritt in den Vordergrund und führt zu einer Wandlung auch in der Typologie der Heiligen, wobei das Naturstudium eine wichtige Rolle zu spielen beginnt. Innerhalb des Bildprogramms häufen sich Darstellungen heiliger Krieger, während für die Ikonographie eine Bereicherung des szenischen Beiwerks durch mehrere der Natur entlehnte Motive typisch ist.

 

Das bedeutendste überlieferte Werk der bulgarischen hauptstädtischen Stilrichtung in der Monumentalmalerei des 13. Jahrhunderts sind die Wandbilder der Höhlenkirche des heiligen Johannes des Täufers im Erzengel-Kloster bei Ivanovo (Abb. 106 bis 109), die früher irrtümlich auf Grund der undeutlichen Aufschrift des Stifterbildnisses in Zusammenhang mit Zar Ivan Alexander (1331 —1371) gebracht und um die Mitte des 14. Jahrhunderts datiert wurden. Eine Reihe bisher noch nicht berücksichtigter zeitgenössischer Schriftzeugnisse sprechen jedoch eindeutig für die Entstehung dieses Kunstwerkes zwischen 1232 und 1234. Die neue Datierung, die außerdem von der Untersuchung der Inschriften der Wandbilder gestützt wird, klärt mehrere Probleme, die bislang als unlösbar erschienen und zu weitgehenden Spekulationen - bis zur paradoxen Zuordnung dieser Wandmalerei zum Hesychasmus - führten.

 

Wie die Einweihung der für die Kunstentwicklung des Zweiten Bulgarenreichs wegweisenden Kirche der Heiligen Vierzig Märtyrer in Veliko Tirnovo mit einem entscheidenden historischen Ereignis verbunden war, so muß die Errichtung und Ausstattung der Höhlenkirche von Ivanovo - ebenso eine Stiftung des Zaren Ivan Assen II. und seinem Schutzheiligen, Johannes dem Täufer, geweiht - wiederum aus Anlaß einer bedeutenden Begebenheit erfolgt sein: des spektakulären Pilgerbesuches des bulgarischen Herrschers beim Abt des Erzengel-Klosters in der Nähe von Ivanovo und späteren Patriarchen Joachim von Tirnovo. Mit diesem Besuch wollte Ivan Assen II. der Wende in seiner Außenpolitik - dem Bruch mit der Römischen Kirche und Bündnis mit Nikaia, als dessen Folge die Unabhängigkeit des Patriarchats von Tirnovo verkündet wurde - Nachdruck verleihen und das Ansehen des von ihm zum Patriarchen ausersehenen Kandidaten erhöhen.

 

Während wir von den antikisierenden Tendenzen der höfischen Kunst Tirnovos zu Beginn der 30er Jahre des 13. Jahrhunderts bislang nur durch den bauplastischen Schmuck des Zarenpalastes und der Kirchen der Heiligen Vierzig Märtyrer und der Apostel Petrus und Paulus Kenntnis hatten, worin sich sowohl die Kontinuität der Kunsttradition als auch die Rezeption des antiken Erbes ausdrückt, zeigen die Wandbilder von Ivanovo, deren Zugehörigkeit zur bulgarischen Hofschule unbestritten ist, die Existenz solcher antikisierenden Tendenzen auch in der Monumentalmalerei.

 

Wir besitzen kein weiteres Werk der mittelalterlichen christlich-orthodoxen Monumentalmalerei, bei dem so viele Beziehungen zur antiken Kunst sichtbar werden - angefangen bei den Darstellungen antiker Säulen, Atlanten und Karyatiden an den zahlreichen Architraven und Applikationen im gemalten Architekturdekor der Festszenen bis hin zur bewegten Attitüde der Gestalten und ihrem Verhältnis zueinander. Uns begegnen hier für das Mittelalter völlig neue Kompositionsgesetze, die die Einzeldarstellungen nicht mehr allein einem hierarchischen Prinzip unterwerfen, sondern empirischen Erkenntnissen folgen. Wenn auch auf die flächig-dekorative Darstellungsweise noch nicht ganz verzichtet wird und die konsequente Anwendung der umgekehrten Perspektive als wichtigstes Kunstmittel eine besondere Rolle in der Symbolsprache spielt, so zeichnet sich hier dennoch ein neuer Zusammenhang zwischen den Figuren und ihrer Umgebung ab. Die einzelnen menschlichen Gestalten erreichen oft nicht einmal die halbe Bildhöhe, so daß das Verhältnis zwischen ihnen und den riesig erscheinenden Felsen oder phantasievollen Kulissen fast naturgetreu wirkt - ein Merkmal, dessen vorwärtsweisende Bedeutung innerhalb der mittelalterlichen Malerei kaum zu übersehen ist. Den Architektur- und Landschaftsmotiven wie der menschlichen Figur kommt ein neuer Wert im Bild zu, der nicht nur auf ihren hierarchischen und anekdotischen Funktionen, sondern vielmehr auf ihrer expressiven Kraft als Exponenten der inneren Dynamik der Komposition basiert.

 

Es wäre schwierig, die großzügige Anwendung der zahlreichen Architrave, Karyatiden und Atlanten an den szenischen Hintergrundarchitekturen mit tektonischen oder rein dekorativen Aufgaben zu begründen. Auch ihre Bedeutung im Bildaufbau steht nicht im Vordergrund, obgleich sie, an Schwerpunkten der Komposition aufgestellt, entweder die impulsiv strömende Energie der Kraftlinien aufnehmen (Fußwaschung, Abendmahl) (Abb. 108, 109) oder selbst Ausgangszentren dieser pulsierenden Dynamik bilden (die Gerichtsszene) (Abb. 107). Ihre Bestimmung ist vielmehr mit der Handlung verknüpft. So erscheinen die leblosen Skulpturen im bemalten Architekturdekor dennoch als lebendige, naturalistisch dargestellte menschliche und tierische Wesen in einem schicksalhaften Zusammenhang mit dem Geschehen verbunden. Sie sind, wie der Chor der antiken Tragödie, Zeugen der bedeutsamsten Ereignisse der Evangeliengeschichte und können jeden Augenblick in die Handlung eingreifen. Ihre Darstellungsweise bestimmt eine seltsame und geheimnisvolle Ambivalenz zwischen Realem und Irrealem, die in der ganzen mittelalterlichen Kunst ohne Nachfolge bleibt.

 

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Das ist eine der bedeutendsten Neuerungen, welche die Wandmalerei der Höhlenkirche in Ivanovo von den Werken des byzantinischen Klassizismus der Palaiologenzeit unterscheidet. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß die Vorbilder für die Karyatiden und Atlanten dieselben sind wie für das Vatikanische Menologion aus dem 11. Jahrhundert, wo wir mehrere ähnliche Darstellungen finden, bei denen man Abbildungen antiker Plastiken vermutet, die bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer (1204) öffentliche Bauten und Plätze der byzantinischen Hauptstadt geschmückt haben sollen. In Ivanovo sind jedoch diese vermutlichen Abbildungen der realen antiken Kunstwerke organisch in das Bild einbezogen und, wie jedes andere Detail, logisch begründet und entspringen einer bestimmten Absicht des Künstlers, der sich sogar die fast kanonischen Schemata zu beugen haben.

 

Auch die einzelnen Gestalten stehen in einem völlig neuen Verhältnis zueinander. Die Einheit von Handlung, Ort und Zeit ist durchbrochen. Die Figuren beziehen sich nicht mehr auf ein einziges formales und ideell-geistiges Zentrum, sondern bilden mitunter sogar innerhalb einer Komposition unabhängige Gruppen, die zeitlich und räumlich voneinander getrennte Szenen darstellen (Gefangennahme Christi, die Gerichtsszene). Die Komposition hält kaum Figuren und Architekturkulissen zusammen; sie streben nach allen Seiten und hauptsächlich in Richtung der als Kraftlinien des Bildfeldes dienenden Diagonalen auseinander, um die gelockerten gegenseitigen Bindungen aufzulösen. Als neue Dimension wird in das Bild die Zeit eingeführt, die im Dienst des hervorgehobenen narrativen Prinzips steht, das im Laufe des 13. Jahrhunderts nach und nach das mystagogische Prinzip der christlich-orthodoxen bildenden Kunst verdrängt.

 

Auf den Wandbildern von Ivanovo begegnet uns eine Reihe nackter menschlicher Figuren. Ihre Beziehung zur Antike (Abb. 108) demonstrieren in erster Linie die Atlanten, die oft wie akademische Studien erscheinen, deren Haltung und Gesten auf die anderen Figuren übertragen werden (Gefangennahme Christi, die Gerichtsszene) (Abb. 106, 107). Die genaue Beobachtung ergibt, daß dem Aufbau der menschlichen Figur ein sorgfältiges anatomisches Studium vorausging. Zum erstenmal im osteuropäischen Mittelalter begriff ein Künstler die Bedeutung der Antike und die des Naturstudiums und kam zu der wichtigen Erkenntnis ihrer kausalen Bedingtheit.

 

Nicht weniger eng sind auch die landschaftlichen Motive mit der Handlung verbunden. Der sich deutlich von dem dunkelblauen Himmel abzeichnende gelbe, verdorrte Baum, an dem Judas hängt, und der riesige, «ich bedrohlich über dem Henker erhebende Felsen bei der Szene der Hinrichtung Johannes’ des Täufers sind mehr als szenisches Beiwerk; sie spielen eine aktive Rolle sowohl im Kompositionsaufbau als auch in der Handlung und drükken dieselbe Ambivalenz zwischen Realem und Irrealem aus wie die architektonischen Kulissen.

 

Die schöpferische Freiheit des Künstlers sowie die ungemein virtuose Behandlung der Komposition und der Form schließen jeden Zweifel an der Originalität der Malerei von Ivanovo aus. Dies unterscheidet sie grundsätzlich von den meisten Werken der byzantinischen Buchmalerei aus der Zeit der Makedonischen Renaissance im 9.-10. Jahrhundert, wo antikisierende Tendenzen am häufigsten auftreten, sich jedoch im Kopieren altgriechischer Vorbilder oder in der Übernahme von deren Kompositionen erschöpfen. In Ivanovo handelt es sich um die nächste Entwicklungsstufe der christlich-orthodoxen bildenden Kunst, wo die Rezeption der Antike nicht mehr auf eine äußere Nachahmung beschränkt bleibt, sondern zu einem vom immanenten Wesen der Kunstwerke bestimmten Charakteristikum geworden ist. Somit erscheint das renaissanceartige Gepräge der bedeutendsten Stiftungen Ivan Assens II. als eine Fortsetzung der Kunstentwicklung des Ersten Bulgarenreichs, die an dem Punkt wieder einsetzt, wo die Suche nach dem antiken Geist beim Zusammenbruch des Staates unterbrochen wurde. Gleichzeitig orientierte sich die bulgarische Kunst des 13. Jahrhunderts an der humanistischen Strömung in der christlich-orthodoxen Gesellschaft des späten 11. und 12. Jahrhunderts, die in den philosophischen Lehren des hervorragenden byzantinischen Humanisten Michael Pselos (1018-1079) und seines Schülers Johannes Italos (zweite Hälfte des 11.-Anfang des 12. Jh.) zum Ausdruck kommt und nach ihrer Bekämpfung durch die klerikale Reaktion von Byzanz vorübergehend Asyl in den Kreisen um den bulgarischen Zarenhof gefunden zu haben scheint.

 

 

Im Gegensatz zu den antikisierenden Tendenzen, die an Werken der Monumentalmalerei und der Architektur der bulgarischen hauptstädtischen Schule auftreten, zeigen andere Kunstwerke aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine starke Neigung zmm Traditionalismus in Technik, Ikonographie und Stil. Das betrifft nicht nur die weit von Tirnovo entfernten Denkmäler Südwestbulgariens, sondern auch eine Reihe von Kunstwerken, die in der Hauptstadt des Zweiten Bulgarenreichs selbst und in ihrer Nähe zur gleichen Zeit und neben jenen Werken der Malerei entstanden sind, bei denen die stilistischen Neuerungen bereits ausgeprägt erscheinen. Dies trifft an erster Stelle für die Ausmalung mehrerer Höhlenkirchen bei Ivanovo zu, so für die Wandbilder der Kirche im Tal des Herrn (Gospodev-dol). Sehr charakteristisch ist hier die archaische Ikonographie der Szenen Christi Himmelfahrt und Christi Höllenfahrt (Anastasis) sowie ihr monumentaler Stil - Züge, die für das frühe 13. Jahrhundert als Anachronismus erscheinen, wenn sich auch die Plastizität der Form und die Akzentuierung der Lichter sowie die Temperatechnik mit den neuen Entwicklungstendenzen decken.

 

Zugleich sind einige ikonographische Neuerungen festzustellen, die an den Werken der bulgarischen Monumentalmalerei des frühen 13. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Entwicklung der Liturgie auftreten und die Auseinandersetzungen zwischen der orthodoxen Kirche und den ketzerischen Lehren widerspiegeln.

 

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So zeigt die Apsisdekoration der Nikolaoskirche zu Melnik, vermutlich kurz vor 1220 entstanden, eine weitere Entwicklungsstufe der bereits aus dem späten 11. und 12. Jahrhundert bekannten Apsiskomposition mit den zelebrierenden Kirchenlehrern. Die von Xyngopulos als Cheirotonie des heiligen Jakobus identifizierte Szene sollte offensichtlich dem Anspruch der orthodoxen Kirche auf die alleinige Vertretung und Fortsetzung der frühchristlichen Tradition Nachdruck geben, wobei - wie L. Mavrodinova vermutet - eine Beziehung zu dem Antibogomilischen Konzil im Jahre 1211 und zu der Rede des Priesters Kosma gegen die Bogomilen als wahrscheinlich gelten kann.

 

Die Kunstwerke, die den Denkmälern von Trapesiza, Zarevez und Ivanovo chronologisch folgen, zeigen mehrere einzelne stilistische und ikonographische Momente, die für die Malerei der sogenannten Palaiologischen Renaissance des späten 13. Jahrhunderts typisch sind. Ihr in bestimmten Fällen scheinbar zu frühes Auftreten läßt häufig Zweifel an ihrer Datierung aufkommen, auch wenn diese auf unwiderlegbaren Quellen basiert. Andererseits verbinden sich oft gewisse fortschrittliche Tendenzen mit stark archaisierenden Zügen, die besonders für die Kunstwerke Südwestbulgariens symptomatisch sind.

 

Ein Beispiel dafür bieten die Wandbilder der kleinen Friedhofskirche in Berende, westlich von Sofia (Abb. 110, 111), deren Entstehungszeit der Name des Zaren Ivan Assen II. in der Inschrift des bis vor wenigen Jahrzehnten fragmentarisch erhaltenen Stifterbildnisses belegt. So trifft man hier im Bildprogramm sowohl den Medaillonfries von Märtyrerbildnissen als auch die voneinander getrennten Zyklen der Fest- und der Passionsszenen, was ebenfalls für die palaiologische Malerei typisch ist, obgleich - wie die Neuentdeckungen in der Balkankunst zeigen - solche Momente bereits früher isoliert erscheinen. Wesentliche Neuerungen sind auch in der Ikonographie zu verzeichnen, wie zum Beispiel die Darstellung von Christus Anapeson (das wachende Auge), die seit dem 9. Jahrhundert in der Buchmalerei auftritt, jedoch in der Monumentalmalerei zum erstenmal in Berende nachweisbar ist, allerdings ohne bestimmte für die späteren Werke charakteristische Merkmale. Die meisten Widersprüche zeigt jedoch der Stil dieser Wandmalerei. Auf der einen Seite finden wir hier die stark stilisierten und geometrisierenden Formen, die, wie auch die Hervorhebung des Ornaments, für die lokale volkstümliche Interpretation des späten komnenischen Stils kennzeichnend sind (Kurbinovo, 1195). Auf der anderen Seite prägt die Szenen und Figuren in Berende eine expressive Dynamik, begleitet von einem lyrisch-intimen und leicht melancholischen Gesamtausdruck - Eigenarten, die ebenso wie die reich nuancierte helle Farbskala mit stark betonten Lichtern und psychologisch-porträthafter Behandlung der Heiligenbilder in der palaiologischen Malerei des 14. Jahrhunderts vorherrschen.

 

Umgekehrt verhält es sich bei der Wandmalerei der Kirche der Heiligen Vierzig Märtyrer in Veliko Tirnovo. Während die vermutlich aus der Entstehungszeit der Kirche (1230) stammenden Fragmente an der Westwand des Naos dem Erdbeben von 1913 zum Opfer gefallen sind, betrachtet die jüngste Forschung die Bemalung des Narthex und die neuentdeckten Fragmente aus dem Westbau nicht mehr als zeitgleich mit der Errichtung des Kirchenraumes, so daß ihre Datierung kurz vor der Mitte des 13. Jahrhunderts als wahrscheinlich gelten kann. Die Szenen der ursprünglichen Bemalung im Naos, die wir jetzt nur anhand von Kopien und wenigen fotografischen Aufnahmen erforschen können, sind eng mit der ikonographischen Tradition des Balkans verbunden, deren ostchristliche Ursprünge bereits A. Grabar hervorgehoben hat. So findet man in der Koimesisszene eine Variante, bei der Christus nicht wie in den meisten mittelbyzantinischcn Darstellungen in der Mitte erscheint, sondern links, hinter dem Kopf der Gottesmutter, ähnlich wie in den Werken aus den südwestlichen Gebieten der Balkanhalbinsel. Die Szenen Jakobs Himmelsleiter und Abrahams Gastfreundschaft folgen gleichfalls der bulgarischen ikonographischen Tradition (Ochrid) und deren frühchristlichen Vorbildern.

 

Die Ikonographie der Synaxarionszenen im Narthex, die wir zum erstenmal in der Monumentalmalerei antreffen, schließt sich der Buchmalerei des 11. Jahrhunderts an, obgleich in Einzelheiten der Bekleidung der dargestellten Personen sowie des szenischen Beiwerks gewisse Reflexe des Zeitgenössischen erkennbar werden. Die bis zum 13. Jahrhundert in der Monumentalmalerei ebensowenig bekannten ikonographischen Typen der stillenden heiligen Anna und heiligen Elisabeth folgen vermutlich, wie die Wandmalerei im Naos, verschollenen Vorbildern des südwestlichen Balkans. Wie bei den übrigen zeitgenössischen Kunstwerken dieses Gebiets ist hier nichts von dem neuen Körper- und Raumgefühl zu spüren, das sich bereits in der Malerei von Ivanovo ankündigt und zu einer Eigenart der spätpalaiologischen Kunst wird. Hier zeigt sich, wie schwer sich die neue Formensprache in einer Kunstlandschaft entfaltet, deren beharrende Tradition tief im Bewußtsein der Künstler verwurzelt ist. Die Neuerungen sind hauptsächlich in der Anwendung der Temperatechnik und im Stil sichtbar, den neben der graphischen Behandlung der Lichter eine weiche Modellierung und erhöhte Plastizität kennzeichnet. Die »emphatische Hervorhebung von Akzenten und Effekten« (Demus) und die häufigen Darstellungen skurriler Formen für die negativen Gestalten, die nach der christlich-orthodoxen Tradition stets im Profil erscheinen, bilden schon ein Charakteristikum der Kunst des späten 13. Jahrhunderts.

 

Das bedeutendste Wandbild aus der Kirche der Heiligen Vierzig Märtyrer und zugleich das Meisterwerk der mittelalterlichen Monumentalmalerei von Veliko Tirnovo ist jedoch die erst 1971 im Westbau der Kirche freigelegte Komposition Elias in der Höhle (Abb. 101), bei der die bereits an mehreren Synaxarionszenen aufgetretene Ausdruckskraft durch die betont malerische Behandlung der Form bis zur äußersten Grenze gesteigert wird. Dieses Wandbild steht im Zusammenhang mit dem Thema »Quellen der Weisheit des heiligen Johannes Chrysostomos«, das das Bildprogramm des Inneren im Untergeschoß des Westbaus beherrscht haben soll,

 

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Berende, Petruskirche, Mitte des 13. Jh. Ostwand

 

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wo die Szenen der Theophanie des Propheten Elias und ihr Pendant, die Theophanie des heiligen Paulus von Theben, als paradigmatisch für die Theophanie des heiligen Johannes Chrysostomos gedacht waren. Die Akzentuierung des symbolischen Gehalts dieser Szenen steht im Einklang mit der frühchristlichen Tradition, der die für das späte 13. Jahrhundert charakteristischen narrativ-didaktischen Züge fremd sind.

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Bojana, Kirche der Heiligen Nikolaos und Panteleimonos, 11. Jh. bis 1259. Längsschnitt und Grundriß

 

 

Indem wir uns der umstrittenen Datierung dieses Wandbildes in die 40er Jahre des 13. Jahrhunderts anschließen, müssen wir es zugleich als eine der ersten Erscheinungen des klassischen Stils der christlich-orthodoxen Malerei akzeptieren, der sich in den 50er und 60er Jahren an einigen der bedeutendsten Bildschöpfungen Bulgariens und Serbiens, in der Bemalung der Kirchen in Morača (1252), Bojana (1259) und Sopoćani (um 1265), repräsentiert. Diese Werke zeichnen sich aus durch einfache, doch eindrucksvolle Inhalte mit klarer Konzeption, ausgewogene Komposition, epische Breite, monumentale und plastische Formen sowie hervorragende ästhetische Qualitäten, wobei die weltliche Note nicht zu übersehen ist. Eine Vorstufe dieses Stils vertreten die zweite Bemalung der Georgsrotunde in Sofia und die Fragmente der ursprünglichen Malerei der Petrus-und-Paulus-Kirche in Veliko Tirnovo (Abb. 94), die in die frühen 30er Jahre angesetzt werden können.

 

Seine volle Ausdruckskraft und höchsten künstlerischen Rang erlangt der klassische Stil der Monumentalmalerei Bulgariens im Wandschmuck der Kirche der Heiligen Nikolaos und Panteleimonos in Bojana bei Sofia (Abb. 115 bis 124). Die kleine Bojarenkirche (Abb. 114), ein quadratischer, stützenloser Kuppelbau aus dem 11. Jahrhundert, wurde laut Stifterinschrift 1259 durch einen zweigeschossigen Anbau, bestehend aus einer gewölbten Gruft im Erdgeschoß und einer Kuppelkirche von ähnlicher Form wie der Ursprungsbau im Obergeschoß, erweitert; zugleich erhielt die ganze Kirche eine neue Ausmalung. Seit ihrer Entdeckung und der Entfernung von späteren Malschichten kurz vor dem ersten Weltkrieg steht diese Wandmalerei im Mittelpunkt der Forschung und gibt trotz einer übersichtlichen Entstehungsgeschichte bis heute Anlaß zu heftigen Diskussionen. Es geht dabei vor allem um die Bewertung dieses Kunstwerkes und seine Einordnung in die bis vor kurzem unzulänglich erforschte Kunst des 13. Jahrhunderts mit ihren anscheinend unüberbrückbaren Widersprüchen zwischen einer konservativen Ikonographie und den in Stil und Technik auftretenden fortschrittlichen Tendenzen. Als problematisch zeigte sich ebenso seine angeblich isolierte Stellung sowohl innerhalb der zur Zeit der Entdeckung unzureichend bekannten Entwicklungslinien der zeitgenössischen Kunst als auch im Vergleich mit den späteren Kunstwerken des palaiologischen Klassizismus, dessen Überbewertung weniger auf seiner ästhetischen Qualität als vielmehr auf einer Zuneigung zu der manieristischen Virtuosität dieser Kunst beruhte.

 

Die klare Anordnung der Bilder in der Kirche von Bojana folgt der strengen Ökonomie der vorangegangenen Epoche und widersetzt sich damit deutlich der im späten 13. Jahrhundert auftretenden Neigung zur Ausdehnung und Komplizierung des Bildprogramms durch Symboldarstellungen und wesentlich erweiterte Zyklen sowie zu einer stärkeren Aufteilung der Wandflächen in mehrere Zonen. Auffallend ist hier das Fehlen liturgischer und rein symbolischer Kompositionen, wie der Apostelkommunion, der Himmlischen Liturgie und der Vision des heiligen Petrus von Alexandrien. Statt dessen wird die Betonung auf solche Darstellungen gelegt, deren Inhalt sich auf das Menschliche im irdischen Leben Christi, Mariä und des heiligen Nikolaos bezieht. So findet man hier neben dem für die geringen Dimensionen der Kirche zu ausladenden Zyklus Kindheit und Passion Christi auch die Szene Mariä Heimsuchung, die im Bildprogramm der zeitgenössischen Kirchen von Byzanz nicht vorkommt und nur in wenigen Fällen aus der durch frühchristliche Tradition beeinflußten Malerei Kappadokiens bekannt ist, dagegen aber in der gotischen Kunst des Abendlandes häufig auftritt. Beim Bildprogramm des Konstantinopeler Kunstkreises ebenso fremd ist die große Zahl heiliger Krieger; sie stellt eine Besonderheit der bulgarischen Kirchenausmalung dar und weist, wie die Einbeziehung der bulgarischen Nationalheiligen, auf autochthone Traditionen hin.

 

Wie das Bildprogramm, so sind auch die ikonographischen Schemata fest in der Überlieferung verwurzelt. Das betrifft hauptsächlich die Festszenen und das Bild des Pantokrators in der Kuppel (Abb. 119) mit seiner bis über die Schulter erhobenen, segnenden rechten Hand -

 

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ein frühchristlicher ikonographischer Typus, der vom hauptstädtischen byzantinischen Typus mit segnender Hand vor der Brust verdrängt wurde, so daß er seit dem 12. Jahrhundert ausschließlich am Rande des Konstantinopeler Kunstkreises anzutreffen ist (Zypern, Sizilien). Dieses ikonographische Sondergut bewahrt Südwestbulgarien bis ins 17. Jahrhundert (Mariza, Alino, Seslavzi) (Abb. 187); wir finden es auch in anderen Kunstgattungen bis hin zu den in Vidin geprägten Münzen Ivan Srazimirs (1360-1396) (Abb. 152).

 

Nicht weniger unterscheidet sich die Ikonographie der Verkündigung an Maria und der Taufe Christi (Abb. 123) von den uns hauptsächlich durch illuminierte Konstantinopeler Manuskripte überlieferten Beispielen des 12.-13. Jahrhunderts. Der Meister von Bojana folgt der westbulgarischen Kunsttradition, die oft archaische Merkmale der Kunst des Christlichen Ostens aufweist. Die Kontinuität der Tradition ist fast an jedem Bildwerk der mittelalterlichen Kunst Bulgariens faßbar und reicht bis zur Zeit vor dem Bilderstreit zurück. Die Stabilität und die geringe Flexibilität dieser Überlieferung dürfen jedoch keineswegs negativ bewertet werden. Sie bildet die unerschütterliche Grundlage, auf der der Inhalt und die gesamte Formenwelt der christlich-orthodoxen Kunst beruht; diese Kunst erhielt die bildhafte Symbolsprache des frühen Christentums während des ganzen Mittelalters lebendig und schirmte sie gegen die modischen Einflüsse von außen ab, ohne sich gegenüber einer Neubelebung und Bereicherung durch eine psychologische Vertiefung des Inhalts abzuschließen. Innerhalb der scheinbar starren Schemata weisen die Darstellungen eine breite Skala seelischer Bewegtheit auf, bei der jede Gestalt ihre reich nuancierte und präzise Charakterisierung findet.

 

Im Gegensatz zu den Festszenen tragen einige Bilder aus der Vita des heiligen Nikolaos bestimmte Züge, die auf eine gewisse Abhängigkeit von Konstantinopel hindeuten. Doch sind diese ikonographischen Typen, wie N. Mavrodinov nachgewiesen hat, wiederum nicht unmittelbar von byzantinischen Vorbildern übernommen worden, sondern folgen einem uns bekannten Denkmal der Monumentalmalerei, das dem Meister von Bojana als Modell gedient zu haben scheint; bei der Anordnung hat der Künstler die vermutlich auf zwei Wandflächen verteilten, in sich geschlossenen Bildzyklen willkürlich nebeneinandergestellt, ohne dabei die chronologische Abfolge beizubehalten.

 

Daß die Wandmalerei von Bojana hauptsächlich der örtlichen Kunsttradition verpflichtet ist, bezeugt nicht nur die Ikonographie. Auch die zahlreichen Inschriften liefern Beweise für die Zugehörigkeit des Künstlers zur lokalen Schule inmitten der beiden bulgarischen Sprachgebiete - dem westlichen und dem östlichen -, wenn auch der Duktus gewisse Beziehungen zur Hofschule von Tirnovo aufweist. Somit wurden eindeutig jene Spekulationen widerlegt, die den Künstler in Konstantinopel und sogar in Nikaia beheimaten wollten. Ebenso erwiesen sich damit die an eine vermeintliche Künstlerinschrift geknüpften Überlegungen, wonach ein Zusammenhang mit der Wandmalerei in der Kirche der Heiligen Märtyrer in Veliko Tirnovo bestehen sollte, als irrig. Der Versuch, auf Grund der vermutlich aus Konstantinopel stammenden Typen Christus Evergetes und Christus der Chalke (Abb. 124), die hier durch Inschriften genannt sind, den Maler dem Konstantinopeler Kunstkreis zuzuordnen, scheitert an den von den byzantinischen Typen abweichenden Christusdarstellungen. Der Künstler bediente sich der alten ikonographischen Schemata und führte dennoch zugleich eine neue Typologie ein, die als bedeutendste Neuerung der Wandmalerei von Bojana erscheint und sie mit den progressivsten Strömungen der europäischen Kunst des 15. Jahrhunderts verbindet. Unabhängig von der konservativen Ikonographie vollzieht sich hier derselbe Umwandlungsprozeß, der das Streben des Übergangsstils der zeitgenössischen mittel- und westeuropäischen Kunst nach Lebenswahrheit und Realismus kennzeichnet, als dessen Höhepunkt die den Fresken von Bojana chronologisch am nächsten liegenden Plastiken von Naumburg und Straßburg erscheinen.

 

Gegenüber dem Gedanken an Sünde und Bestrafung, der die christliche Kunst des frühen und hohen Mittelalters beherrscht - im Westen wie im Osten -, wird hier das Prinzip von Buße und Vergebung in den Vordergrund gerückt: das Prinzip allumfassender Liebe, wie es das irdische Leben Christi vorzeichnet. Für den Meister von Bojana ist Christus nicht mehr der Herr der Herrlichkeit, der strenge und gnadenlose Richter im Jüngsten Gericht, der in der Kuppel der byzantinischen Kirchen wie am Firmament herrscht oder dessen Ikonen an der Ikonostasis das Allerheiligste vor dem Blick der Gläubigen verbergen. Für ihn ist er der erste unter den Menschen, in dem sich die höchsten menschlichen Tugenden und Ideale vereinigen: die ursprüngliche Reinheit der Seele des Kindes (Abb. 116), die überirdische Weisheit des Knaben im Tempel, die Himmel und Erde beschwörende Willenskraft des Gottesmenschen in der Verklärung ((Abb. 117). Er ist der Duldende und Leidende am Kreuz (Abb. 120), der milde und barmherzige Heiland (Abb. 119), wie er in der Kuppel und in dem Bild links vom Altar erscheint (Abb. 124). Als Menschen erscheinen auch alle Heiligen. Sie gehören dieser Welt an (Abb. 115, 121), erdulden dieselben menschlichen Leiden und fühlen die gleichen irdischen Freuden, sind mit demselben Milieu »zwischen Himmel und Erde« verbunden, das einfach durch den symbolischen dunkelblauen und tiefgrünen Hintergrund gekennzeichnet ist. Ihre Darstellungen stehen in der unteren Zone, in unmittelbarer Nähe zu den Kirchenbesuchern, und ihre Blicke sind auf die Gläubigen gerichtet. Was die ungewöhnlich individualisierten Charakterzüge dieser Heiligen mit Christus verbindet, ist der Ausdruck menschlicher Liebe. Um diesen Ausdruck zu erreichen, hat der Meister von Bojana nicht die gleichen Kunstmittel angewandt wie mehrere Künstlergenerationen vor ihm - von der lakonischen Symbolik des hyperbolisierten Details bis zur geschwätzigen Formensprache der übertriebenen Gestik. Er sucht und erreicht eine synthetische Darstellungsweise,

 

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die sich nicht mit einer äußeren und oberflächlichen Ähnlichkeit zum Naturvorbild begnügt, sondern sich in der vertieften psychologischen Erfassung des reichen seelischen Lebens der Gestalten entfaltet.

 

Mit der Wandmalerei von Bojana wird eine neue Typologie der Heiligen geschaffen. Nach einem langen Weg der Weltabkehr, den die orthodoxe Kunst während mehrerer Jahrhunderte zurücklegte und bei dem die antiken Vorbilder konsequent schematisiert und versteift wurden, eröffnet diese Auffassung eine Entwicklungsphase, die der italienischen Renaissance vorausgeht: die Rückkehr der Kunst zu den Naturvorbildern. Der Meister von Bojana zeigt ein völlig neues Verhältnis zur Umwelt und nimmt das Leben und die Wirklichkeit in die Kunst hinein. Diese tiefgreifenden humanistischen Tendenzen der Wandmalerei von Bojana stehen im Einklang mit der breiten Reformbewegung innerhalb der orthodoxen Kirche, die im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte.

 

In seinem Streben nach Lebenswahrheit führt der Meister von Bojana auch weitere Neuerungen in Stil und Technik ein. Die Zeit als eine neue Dimension der Kunst erscheint - nach ersten Ansätzen in Ivanovo - hier vornehmlich an den Szenen Verkündigung, Verklärung und Anastasis spürbar (Abb. 123, 117, 118, 120). Die Realien des szenischen Beiwerks nehmen zu, die Farbskala wird breiter und reicher, wobei an die Stelle der abstrakten symbolischen Farbwerte nun eine naturnahe Farbwiedergabe tritt. Die Möglichkeiten der Freskotechnik werden sowohl durch zusätzliche il-secco-Behandlung als auch durch raffinierte Lasurtechnik erweitert. Die Verwendung mehrerer dünner, übereinanderliegender, transparenter Lasuren führt zu einem ungewöhnlichen Reichtum an Tönen, so daß eine Modellierung durch feinste Abstufung der Palette die Plastizität der Formen steigert.

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Orbel-Triodion, mittelbulgarisch, zweite Hälfte des 13. Jh.

Öffentliche Bibliothek Leningrad, F.p I 102, Initialen

 

 

Die Wandbilder von Bojana berühren den Betrachter unmittelbar. Trotz ihrer Einfachheit - die jedoch nie zu einer Primitivisierung führt - sind sie zugleich erhaben, ehrwürdig und feierlich, Züge, die sowohl der Hofkunst Tirnovos als auch derjenigen Konstantinopels eigen sind. Sie unterscheiden sich dennoch von der letzteren durch ihren höheren emotionellen Gehalt, durch ihre starke Ausdruckskraft und Menschlichkeit. In den Fresken von Bojana kulminiert die bulgarische mittelalterliche bildende Kunst. Niemals zuvor war sie von gleicher Lebensfreude und Menschlichkeit erfüllt; niemals zuvor und auch später nicht hat sie eine solche Vergeistigung und zugleich so unmittelbare Annäherung an die Natur erreicht. Doch weder der so ausgeprägte Humanismus noch das Streben nach Lebenswahrheit durchbrechen die Schranken der mittelalterlichen Weltanschauung. So tiefgreifend die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen innerhalb der bulgarischen Gesellschaft im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts gewesen sein mögen, sie sprengten den Rahmen des Mittelalters nicht, führten zu keinem Sieg des Individuums und schlugen keine Brücke zur Kultur der Renaissance. Von ihr ist auch die Kunst des Meisters von Bojana durch einen Abgrund getrennt. Seine Kunst lebte konsequent aus der religiösen Sphäre und ließ dem transzendenten Prinzip die Priorität zukommen.

 

 

Die ungünstigen äußeren Bedingungen im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts - die Tatareneinfälle, die dynastischen Streitigkeiten und die verstärkte klerikale Abwehr der humanistischen Bewegung - beeinträchtigten das gesamte kulturelle Leben der bulgarischen Hauptstadt und ihres Einflußbereichs. Die Kunstentwicklung wurde für mehrere Jahrzehnte gelähmt und setzte sich erst in den 20er Jahren des 14. Jahrhunderts, wenn auch in bescheidenerem Umfang, fort. Gleichzeitig begann in die nunmehr von Bulgarien getrennten makedonischen Gebiete die palaiologische Kunst einzuströmen. Die ehemaligen südwestbulgarischen Gebiete erlebten im späten 13. und 14. Jahrhundert eine letzte kulturelle Blüte, die im Zeichen des byzantinischen Spätklassizismus stand, deren hervorragende Bauwerke, wie die Kirche der Gottesmutter Peribleptos in Ochrid (1295), die Niketaskirche in Čučer bei Skopje (nach 1307) und die Gottesmutterkirche in Staro Nagoricino (1318), zu den bemerkenswertesten Denkmälern der Kunstgeschichte von Byzanz gehören. Die zeitgenössischen Arbeiten der einheimischen Maler in Makedonien, wie die Bemalung der Andreaskirche bei Prilep sowie der Kirchen in den Klöstern Kostamonit und Hagios Paulos auf dem Athos, stehen künstlerisch wie technisch auf niedrigem Niveau. Diese Maler versuchten an die neue klassizistische Strömung Anschluß zu gewinnen, jedoch reichte ihr Können dazu nicht aus.

 

Die Vertreter der archaisierenden Kunstrichtung Südwestbulgariens dagegen blieben sowohl vom klassischen Humanismus der Tirnovo-Schule als auch vom Klassizismus der palaiologischen Kunst des späten 13. und

 

Jahrhunderts unberührt. Die großen sozialen und politischen Umwälzungen fanden hier ebensowenig Widerhall wie das Ideengut dieser bewegten Epoche.

 

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Bologna-Psalter, Ravne bei Ochrid, zwischen 1230 und 1241. Universitätsbibliothek Bologna Nr. 2499, Initialen

 

 

Ihre Werke muten daher zeitlos an, und wenn verläßliche Angaben über Entstehung und Stifter fehlen - wie es meistens der Fall ist können sie kaum mit einiger Genauigkeit datiert und eingeordnet werden.

 

Ein typisches Beispiel dafür liefern die Fresken von Semen (Abb. 127 bis 131). Die Wiederherstellung der vermutlich aus dem 10. Jahrhundert stammenden Kirche und ihre zweite Ausmalung ist aller Wahrscheinlichkeit nach um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert anzusetzen. Nach L. Mavrodinova ist die bislang übliche Datierung dieses Kunstwerks in die Mitte des 14. Jahrhunderts nicht mehr haltbar, da es sich bei den in der Stifterinschrift erwähnten Namen des Despoten Dejan und seiner Gemahlin Doja nicht um den Sebastokrator Dejan von Kumanovo und seine Frau, Sebastokratorin Eudokie, die um die Mitte des 14. Jahrhunderts lebten, handeln kann. Doch sind die wenigen Jahrzehnte, die die Malerei damit früher zu datieren ist, für ihre Stilmerkmale kaum von Belang, denn im Vergleich mit der Kunst vom Ende des 13. Jahrhunderts bleiben Stil, Ikonographie und Technik weit zurück und weisen mehrere Besonderheiten auf, die schon für die Kunst vor dem Bilderstreit symptomatisch sind. Das gilt sowohl für die durchlaufenden Friese mit zyklischen Darstellungen, die bereits in der spätantiken Kunst auftreten, als auch für die archaische Ikonographie und Typologie der Heiligen, deren Parallelen vorrangig in Kappadokien, aber ebenso im südwestlichen Balkan anzutreffen sind. Auch der flächig-graphische Stil hat mit der Modellierung und körperlich-räumlichen Behandlung der Malerei des 13. und 14. Jahrhunderts nichts gemein. Das von den frontal aufgereihten Vierzig Märtyrern von Sebasteia in der unteren Zone der Kirche beherrschte Bildprogramm steht ebenso in Zusammenhang mit der lokalen Tradition wie die gesamte Komposition, bei der die Figuren in den oberen Zonen zunehmend verkleinert und in verkürzten Proportionen erscheinen, um optisch einen höheren Raum vorzutäuschen.

 

Dennoch besitzt die Malerei von Semen eine ungewöhnlich starke Ausdruckskraft, die auch innerhalb der christlich-orthodoxen Kunst selten ist. Das wichtigste Kunstmittel ist hier - wie mehrere Jahrhunderte zuvor - die einfache, feste und kräftig betonte Linie, die breit und sicher ist und sich nicht verflüchtigt. Sie trennt einzelne Farbflächen, verstärkt Konturen und gibt dem Ganzen eine strenge Abrundung. Die manieristische Stilisierung der spätkomnenischen Malerei wie auch jeglicher spielerisch sich selbst genügender Zweck bleiben ihr fremd. Die Figuren sind ebenso einfach wie streng, derb und gewaltig. Ihre großen Augen blicken auf den Betrachter mit einer durchaus irdischen, bannenden Kraft und halten ihn in ihrer seltsamen, irrealen Welt fest.

 

Der archaisierenden Stilrichtung, die das Bindeglied zu der Kunst während der osmanischen Herrschaft darstellt und zuweilen volkstümliche Züge annimmt, gehören auch mehrere Freskenensembles des 14. Jahrhunderts, wie die Ausmalung der Kirchen in Matejče, des Markov-Klosters sowie des Erzengel-Klosters bei Tran, an. Ihre Bedeutung erschöpft sich jedoch nicht in der Ausstrahlung auf die Monumentalmalerei; von ihr ist auch eine ganze Reihe von Werken der Buchmalerei des 13. und 14. Jahrhunderts inspiriert. An erster Stelle wäre hier das Dobrejscho-Evangeliar (Nationalbibliothek Sofia) (Abb. 132, 133) zu erwähnen - ein bezeichnendes Beispiel der Unmittelbarkeit und Ausdruckskraft der Volkskunst, aber auch einer langen und ununterbrochenen Tradition, die bis in die Zeit vor dem Bilderstreit zurückreicht. Dieses Manuskript bietet gleichfalls mit seinen Initialen eine der frühen Erscheinungsformen des sich im 13. Jahrhunderts vollständig entfaltenden teratologischen Stils, dessen erste Ansätze bereits an den glagolitischen Manuskripten des 9.-10. Jahrhunderts zu beobachten sind und der die Buchmalerei des westlichen Balkans eine Zeitlang beherrschen sollte. Während bis zum Beginn des 13.Jahrhunderts die geometrische Form immer noch dominiert und die vereinzelten phantastischen Motive im Hintergrund bleiben, gelangt der teratologische Stil um die Jahrhundertmitte an den illuminierten Manuskripten des Bologna-Psalters, des Orbel-Triodion und des Radomir-Psalters zur höchsten Blüte (Abb. 134). Die Buchverzierung konzentriert sich auf das Ornament; bildliche Illustrationen wie die Evangelistenbildnisse treten selten auf. Die phantastischen Darstellungen breiten sich von den Initialen auf die Zierleisten aus und drängen das pflanzliche Ornament in eine Nebenrolle. Ende des Jahrhunderts treten sie jedoch wieder zurück und werden allmählich durch das Flechtbandornament des sogenannten »Balkanstils« abgelöst. Der letztere, in mehreren Manuskripten wie dem Hexaemeron im Historischen Museum Moskau (1263), dem Tirnovo-Evangeliar in der Kunstakademie Zagreb (1273) sowie den Evangelistaren Nr. 842 und 849 in der Nationalbibliothek Sofia (13. Jh.) vertreten, entwickelt sich anfangs parallel mit dem teratologischen Stil, bleibt aber bis ins 16. Jahrhundert in Gebrauch. Sein Erscheinungsbild wird von dem schmalen doppelten Flechtband bestimmt, das durch zahlreiche Kombinationen verschiedenartige geometrische Formen bildet und mit stilisierten pflanzlichen Motiven, wie Ranken und Palmetten, endet. An den späteren Werken, wie dem Evangeliar Nr. 470 in der Nationalbibliothek Sofia (1342),

 

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kompliziert sich die Ornamentik des Balkanstils zunehmend und erreicht im umfangreichen Œuvre der Skriptorien des westlichen Balkans ihre höchste Vollendung. Gleichzeitig wird die Temperatechnik durch Aquarellfarben abgelöst; die Palette bereichert sich, und im Unterschied zu den intensiven und leuchtenden Tönen der früheren Werke wird eine gedämpfte, dennoch fein abgestimmte Farbigkeit angestrebt.

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Psalter, zweite Hälfte des 14. Jh. Lenin-Bibliothek Moskau, Sevastijanov 5/M 1454, Initialen

 

 

Das 14. Jahrhundert Monumentalmalerei

 

Die bulgarische Monumentalmalerei des 14. Jahrhunderts spiegelt das widerspruchsvolle geistige Leben dieser Zeit. Die Kunstwerke zeigen höchst unterschiedliche Qualität - neben zahlreichen Werken der archaisierenden Stilrichtung, die sich der Volkskunst nähern, wie die Wandmalerei der Theodoroskirche in Boboschevo und der Nikolaoskirche in Kalotino, stehen die Schöpfungen einer höchst raffinierten höfischen Kunst, die bereits manieristische Züge aufweist. Allerdings können die Merkmale dieser Richtung wegen der Zerstörung der bedeutendsten hauptstädtischen Denkmäler nur anhand eher zufällig erhalten gebliebener provinzieller Kunstwerke deutlich gemacht werden, zu denen die dritte Bemalung der Georgsrotunde in Sofia und die Verklärungskapelle des Chreljo-Turms im Rila-Kloster (um 1335) zählen (Abb. 135 bis 137). Diese Fresken sind von einer leidenschaftlichen Bewegtheit erfüllt, bei der der überaus ekstatische Ausdruck der Figuren durch eine übertriebene Gestik noch gesteigert wird. Die Künstler suchen die kompliziertesten Recourcen und Blickpunkte, um ihr vollendetes Können technisch bravourös zur Schau zu stellen. Das Bildprogramm zeichnet sich durch spekulative Kompliziertheit aus und reflektiert das reiche theologische Gedankengut einer aristokratischen Schule. Die Komplizierung der Formen und Sujets tritt uns sowohl bei den das ganze Kircheninnere beherrschenden Themen der heiligen Weisheit sowie des 149. und 150. Psalms im Naos und Narthex der Verklärungskapelle im Chreljo-Turm als auch in der umfassenden Symbolik der einzelnen Szenen und Kompositionen, wie des Christus Anapeson in Ljutibrod sowie des Mandylions und Melismos in Tscherven, entgegen. Selbst die traditionellen Schemata der Festszenen werden um mehrere Details bereichert, wie die Beweinung Christi in Dolna Kamenica (zwischen 1323 und 1332), die mit ihrer Dramatik und gesteigerten Dynamik innerhalb dieses thematischen Bereichs einen Höhepunkt bildet.

 

Die sich bereits im 13. Jahrhundert anbahnende Annäherung der Darstellungen an eine empirische Beziehung zur Wirklichkeit ist im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts weiterhin stilbestimmend. Doch mündet diese Entwicklung durchaus nicht folgerichtig in einen Realismus reinster Form. Die Figuren bewegen sich in einem sich immer mehr verselbständigenden Raum, der als phantastische Kulisse erscheint und bei dem die Zahl der aus der Natur entlehnten Motive zugenommen hat, obgleich sie, durch die Anordnung und die umgekehrte Perspektive optisch verzerrt, kaum noch einen Zusammenhalt mit dem Naturvorbild erkennen lassen. Es entsteht eine irreale Formenwelt, die den Betrachter verwirrend und abschreckend anmutet. Durch die Zunahme psychologischer und optischer Blickpunkte innerhalb der Komposition wird der Zugang weiter erschwert. Die Kraftlinien sind auf Fluchtpunkte gerichtet, die sich außerhalb der Szenen befinden; ihre zackenartige Bewegung erzeugt eine pulsierend-schmerzhafte Rhythmik, die zum Selbstzweck ausartet. Die Dynamik des Dargestellten führt zu einer Ekstase, die der inneren Spannung und Unruhe dieser bewegten und tragischen Epoche mit ihrer durch die Erwartung vom Weltuntergang beherrschten Stimmung entspricht.

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Psalter, 14. Jh. Nationalbibliothek Sofia, SNB 3, Initialen

 

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Buchmalerei

 

Dieselben Stilmerkmale kehren auch in der Buchmalerei der Tirnovo-Schule wieder, die in der Regierungszeit des Zaren Ivan Alexander (1331-1371) ihre letzte Blüte erlebte. In den höfischen Skriptorien entstanden eine Reihe von prachtvollen illuminierten Manuskripten, von denen sich drei der bedeutendsten erhalten haben: die im Auftrag des Zaren entstandenen Kodizes der Manasses-Chronik im Vatikan (1345) und des Ivan-Alexander-Evangeliars im Britischen Museum (1356) (Abb. 144 bis 146) sowie der Tomic-Psalter in Moskau (um 1360) (Abb. 143). Neu bei der Gestaltung dieser Kunstwerke ist zunächst die Bereicherung und Erweiterung des Bildprogramms mit ausgedehnten Zyklen, darunter auch zum ersten Mal dem Zyklus des Akathistos-Hymnos im Tomic-Psalter; die Zahl der von Vorstellungen vom Weltuntergang beeinflußten Bildkompositionen nimmt zu. Durch den Geschmack der nunmehr in den Vordergrund getretenen Auftraggeber aus dem Zarenhof und der Aristokratie verwandelt das liturgische Buch sich in einen wertvollen Kunstschatz, dessen Repräsentationswert durch zahlreiche Stifterbildnisse (Abb. 146) - allein im Londoner Evangeliar sind es sieben - betont wird. Während sich die archaisierende Stilrichtung der Buchmalerei mit ihrer teratologischen und Flechtbandornamentik im Westen des Bulgarenreichs weiterhin an der vorherrschenden Lokaltradition orientiert, bedient sich die Tirnovo-Schule spätantiker und byzantinisch-klassischer Vorbilder. So folgt das Londoner Evangeliar einer verlorengegangenen antiochenischen Vorlage, deren spätere Kopie das Evangeliar in der Pariser Bibliotheque Nationale, gr. 74, darstellt. Obgleich mehrere Miniaturen auch hier, wie in den anderen Prachthandschriften der Hofschule von Tirnovo, als hervorragende selbständige Schöpfungen bulgarischer Künstler gelten dürfen, ist ein entscheidender Umbruch der Tirnovo-Schule in Stil und Form nicht zu übersehen: Die byzantinischen Einflüsse breiten sich durch den Neobyzantinischen Stil immer deutlicher aus und verschmelzen mit den lokalen Besonderheiten zu einem Kunstgebilde, dessen Originalität zweifelhaft erscheint und dessen künstlerische Leistungen oft im Konventionellen steckenbleiben.

 

 

Ikonenmalerei

 

Ebenso wie die Monumental- und Buchmalerei stand die Ikonenmalerei im Zweiten Bulgarenreich in hoher Blüte. Obgleich uns nur wenige sicher datierte und lokalisierbare Werke überliefert sind, so bezeugen doch ihre künstlerische Qualität sowie die Mannigfaltigkeit ihrer Themen und unterschiedlichen Ausdrucksmittel die zunehmende Bedeutung dieser Kunstgattung. Auch auf dem Gebiet der Ikonenmalerei liefern Tirnovo und Südwestbulgarien entscheidende Anregungen für die Ikonographie und künstlerische Gestaltung. Darüber hinaus zeichnen sich bereits im 13. Jahrhundert weitere Kunstzentren ab; neben den stark ausgeprägten Merkmalen der traditionsbedingten Lokalschulen treten immer deutlicher auch Einflüsse der byzantinischen Kunst - sowohl von Konstantinopel als auch von Thessaloniki - hervor.

 

Unter den Werken aus der Blütezeit der TirnovoSchule im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts kommt der Mandylion-Ikone in der Kathedrale von Laon der erste Platz zu (Abb. 99). Ihre epigraphischen Besonderheiten wie auch die Ikonographie und die stilistischen Merkmale kennzeichnen sie als eine Arbeit der Tirnovo-Schule; hinzu kommt die Typologie der Christus-Darstellung, die den engen Zusammenhang mit den humanistischen Strömungen der bulgarischen hauptstädtischen Kunst unterstreicht.

 

Gleichzeitig bewahren einige Kunstwerke sowohl der östlichen Grenzgebiete als auch Südwestbulgariens neben der archaisierenden Ikonographie die monumentale Strenge und den Expressionismus der vorangegangenen Epoche. Die oft überdimensionalen Darstellungen zeichnen sich durch ungewöhnliche Ausdruckskraft aus und vermögen auf den Betrachter eine fast magische Wirkung auszuüben. Dies belegt vor allem die doppelseitige Ikone aus Nessebar (Abb. 125, 126), die trotz mehrfacher späterer Übermalungen und Retuschen alle stilistischen Wandlungen durch die Unmittelbarkeit ihres Ausdrucks und ihre ursprüngliche Frische der Empfindung überdauert hat. Auch bei den Übermalungen im 17. und 18. Jahrhundert, ebenso wie an der durch Stifterinschrift 1342 datierten Ikone vom Eleusa-Kloster (Abb. 149) oder der in ihrer Erstfassung vermutlich aus dem frühen 14. Jahrhundert stammenden Pantokrator-Ikone vom Kremikovzi-Kloster, werden - wie die Röntgenaufnahmen erkennen lassen - sowohl die Ikonographie und Typologie fortgeführt als auch die stilistischen Merkmale nachgeahmt. Wie beständig die alte Ikonographie ist, zeigt auch die in der TretjakowGalerie Moskau auf bewahrte Anastasis-Ikone (13. Jh.) (Abb. 98) - ein Werk der Tirnovo-Schule, das ein in Bulgarien sehr verbreitetes ikonographisches Schema aus der Zeit vor dem Bilderstreit wiedergibt, es jedoch mit der neuen Typologie bereichert und der zeitgenössischen humanistischen Strömung entsprechend umgestaltet.

 

Monumentalität zeichnet auch die Ikonen der südwestbulgarischen Schule des 13. und 14. Jahrhunderts aus, die sich durch eine weichere Modellierung und Steigerung der Plastizität von dem graphischen Stil der Monumentalmalerei abheben. Gleichzeitig läßt sich hier das Streben nach einem Naturalismus feststellen, der im 14. Jahrhundert in Einzelfällen - wie bei den Ikonen des heiligen Ivan von Rila im Rila-Kloster (Abb. 142) und des Apostels Andreas (Nationales Kirchenmuseum Sofia) - wiederum in die bildende Kunst Bulgariens einbricht.

 

Im 14. Jahrhundert ist fast überall ein entscheidender Wandel der Kunstmittel und des Stils zu beobachten. Bereits zu Beginn des Jahrhunderts setzte sich, ausgehend von der palaiologischen Malerei, im Zeichen einer vollendeten Technik die Hervorhebung der Lichter durch, indem die konvexen Teile immer öfter durch Hellocker oder weiße Kreide, als feine Striche aufgetragen, plastisch modelliert erscheinen.

 

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Die Falten der Bekleidung werden gleichermaßen sorgfältig behandelt und gewinnen dadurch ebenfalls an Plastizität, wobei sich die Dynamik der Gesten auf den rhythmischen Faltenwurf überträgt.

 

 

Parallel zur italienischen Kunst des Trecento und doch unabhängig von ihr ist an den Darstellungen eine Übertreibung der Gefühle zu beobachten - durch Deformierung der Figuren und Betonung der Gesten und des Ausdrucks wird eine weitere Steigerung ihrer Wirkung erzielt. Wir finden diese Tendenz bereits an den Werken des späten 13. Jahrhunderts vorgebildet (Abb. 125) (Gottesmutter Gorgoepikos an der doppelseitigen Ikone aus Nessebar); sie nimmt im folgenden Jahrhundert ständig zu und bildet ein Charakteristikum dieser Zeit.

 

Seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts werden an den Ikonen der südwestbulgarischen Schule die Einflüsse der palaiologischen Kunst immer deutlicher ablesbar, besonders in Makedonien, wo eine indirekte Verbindung zu den byzantinischen Kunstzentren bestand. Diese Einwirkungen zeigen sich in vollem Umfang an der doppelseitigen Ikone aus dem Poganovo-Kloster (Abb. 147, 148), die als eins der hervorragendsten Werke der spätpalaiologischen Kunst gilt und für die weitgehende Angleichung der Kunstmittel und Stilmerkmale auf dem gesamten Balkan am Vorabend der osmanischen Besetzung kennzeichnend ist.

 

 

Plastik

 

Die Plastik entwickelt sich in der Zeit des Zweiten Bulgarenreichs weiterhin vor allem durch die monumentale Innenausstattung der Bauten, obwohl sich zugleich die Figuralplastik allmählich verselbständigt. Einige der wichtigsten Entwicklungstendenzen treten bereits an den frühesten überlieferten Denkmälern, den Reliefs der Marmorikonostasis aus der Burgkirche in Zepina (frühes 13. Jh.) (Abb. 105, 104), auf: Neben den für die folgende Periode symptomatischen antikisierenden Ornamenten erscheinen Züge der abendländischen Ikonographie, die auch weiterhin eine bedeutende Rolle spielt. Eine Reihe von Holzreliefikonen aus dem südwestlichen Balkan zeigen eine zunehmende Plastizität des Reliefs und seine Verselbständigung gegenüber dem Hintergrund. Gewisse stilistische und territoriale Zusammenhänge veranlaßten N. Mavrodinov schon in den 30er Jahren, diese Gruppe als Werk einer lokalen Schule aufzufassen, was die spätere Forschung durch die Erschließung weiterer Denkmäler bekräftigen konnte. Charakteristisch für sie ist sowohl die Anlehnung an die frühchristliche Tradition - besonders stark in Kastoria, Ochrid und am Prespasee, dem Ursprungsgebiet der meisten dieser Arbeiten - als auch das noch deutlicher gewordene Einströmen abendländischer Ikonographie und Technik, die während der lateinischen Herrschaft nicht nur in den Randgebieten des Bulgarenreichs spürbar werden, sondern durch die intensiven Verbindungen mit der römisch-katholischen Kirche auch auf die Kunst der wichtigen kirchlichen Zentren Bulgariens übergreifen. Neben den beiden Holzreliefikonen des heiligen Georg im Byzantinischen Museum Athen und in der Georgskirche in Omorphoklista (Gališta) bei Kastoria ist das Hochrelief des heiligen Kliment in Ochrid das Meisterwerk innerhalb dieser Gruppe (Abb. 105), die weiterhin eine Reliefikone des heiligen Demetrios aus Kastoria sowie eine in Flachrelief ausgeführte Verkündigung an der sogenannten Andreastür im Belgrader Nationalmuseum einschließt. Die jüngste Forschung neigt dazu, diese in ihrer Datierung umstrittenen Kunstwerke innerhalb des 13. Jahrhunderts anzusetzen, wodurch sich ihre mannigfaltigen Stilunterschiede erklären ließen. In den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts hört offensichtlich die Tätigkeit dieser Schule auf, so daß mit dem Auftreten der palaiologischen Kunst in den südwestlichen Gebieten Bulgariens jegliche Zeichen ihrer Existenz fehlen.

 

Wenn auch nur in geringer Anzahl und sehr fragmentarisch erhalten, belegen dennoch die Werke der hauptstädtischen Plastik des Zweiten Bulgarenreichs, daß in den zentralen Gebieten des Balkans die abendländischen Einflüsse in gleicher Weise wie im Südwesten wirksam gewesen sind. Die Ikonographie und Typologie der Heiligen bei einigen Fragmenten von Reliefs, wie dem Reliefkopf des heiligen Petrus (?) aus Tscherven (13. Jh.) (Abb. 102), knüpfen an die traditionell-expressive Kunst der vorangegangenen Epoche an, die Technik des Hochreliefs ist aber für diese Kunstlandschaft völlig neu und bietet weitere Möglichkeiten zur Vertiefung der psychologischen Behandlung der Gestalten.

 

Entwicklungsgeschichtlich wie künstlerisch wohl das wichtigste Werk dieser Periode ist das kleine bronzene Hochrelief der Gottesmutter Hodegetria aus Michajlovo, (Abb. 113)

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Nikons-Taktikon, Tirnovo, zweite Hälfte des 14. Jb.

Museum Rila-Kloster, I/16, Initialen

 

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ursprünglich eine Matrize für getriebene Reliefikonen beziehungsweise Diptychen oder Triptychen. Mit seinen stark ausgeprägten antikisierenden Tendenzen zeigt dieses Kunstwerk die ersten Ansätze der Renaissance in der Plastik im gesamten Bereich des orthodoxen Ostens - eine Entwicklung, die sich auf dem Balkan unabhängig von der italienischen Kunst des Ducento vollzieht und zeitlich der Protorenaissance-Plastik der Toskana voraus ist. Das überaus hohe Relief ist kaum mit dem Hintergrund verbunden und wird viel stärker von Eigenarten einer freien Plastik bestimmt; die traditionelle umgekehrte Perspektive bei der Darstellung des Suppedaneums ist aufgegeben und durch eine naturgetreue Wiedergabe ersetzt. Schließlich ist die Haltung der Gottesmutter durch das nach hinten gewendete linke Bein so gelockert, daß sie auffällig von dem tausendjährigen Kanon abweicht. Die Straffheit und Strenge der »spröden Derbheit« (R. Lange) ist nunmehr durch eine Unmittelbarkeit abgelöst, bei der das Menschliche im innig-natürlichen Verhältnis zwischen Mutter und Kind im Vordergrund steht. Dennoch sind weder die Haltung noch das reiche Faltenspiel, das die Schönheit des Körpers erkennen läßt, der Natur entnommen. Als Vorbilder kommen vielmehr antike Plastiken in Frage, von denen auch der byzantinischen Darstellungen fremde Faltenbausch unter dem Kinde herstammen soll. Hier zeigt sich wiederum der für alle Kunstgattungen gültige Hauptunterschied in der Auffassung der beiden wichtigsten Kunstschulen des mittelalterlichen Bulgarien, der hauptstädtischen und der südwestbulgarischen: Während die letztere immer wieder an den expressiven Naturalismus ihrer eigenen Überlieferung anknüpft, sucht die Tirnovo-Schule des 13. und 14. Jahrhunderts - wie die Preslav-Schule des 10. Jahrhunderts - ihre Vorbilder in der Antike und sieht in deren Rezeption die Voraussetzungen für die Verwirklichung ihrer Idealkonzeptionen.

 

Trotz der Unterbrechung der antikisierenden Strömung im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts, die besonders die Entwicklung der Plastik beeinträchtigte, läßt sich auch im folgenden Jahrhundert eine zunehmende Verselbständigung der Plastik beobachten. An erster Stelle darf die fragmentarisch erhaltene Relieffigur des Christus Pantokrator aus Nessebar erwähnt werden (Abb. 112). Hier macht sich - wie an einem ähnlich fragmentarischen, jetzt verschollenen Christus-Relief aus dem Nikolaos-Kloster an der südlichen Schwarzmeerküste - die vorletzte Stufe der Emanzipation der christlich-orthodoxen Plastik bemerkbar: Die sich den Vorbildern von Elfenbeinreliefs anschließende Figur wirkt folienhaft ausgeschnitten und völlig vom Hintergrund gelöst, so daß sie nahezu frei stehend erscheint; lediglich die geringen Dimensionen und die betont flache Modellierung verhindern eine ausgesprochen illusionistische Wirkung im Sinne der antiken Kunst, die hier nicht aus Mangel an Fertigkeit, sondern aus den immer noch schwerwiegenden ideellen Überlieferungen heraus vermieden wurde. Zwar wurden innerhalb der weiteren Entwicklung der bulgarischen Plastik im späten 14. Jahrhundert auch diese Überlegungen überwunden, und die Freiplastik gewann schließlich völlige Eigenständigkeit, doch wird diese neue Stufe - wie die marmornen Fragmente der Heiligenfiguren aus Veliko Tirnovo zeigen - erst in einer Zeit des allgemeinen Verfalls der Kunst erreicht. Die Plastik der Tirnovo-Schule ist nun längst von dem stürmischen Zug der zeitgenössischen italienischen Kunst überholt worden und trägt eklektisch-provinzielle Züge, sehr deutlich an der Sepulkralplastik ablesbar.

 

Die dekorative Holzplastik entsteht hauptsächlich bei der Gestaltung von Ikonostasen und Kirchentüren. Die frühesten erhaltenen hölzernen Ikonostasen und Ikonostasisfragmente stammen - wie die meisten figuralen Holzplastiken - aus dem Gebiet um den Prespasee und Ochrid. Typisch für dieses Kunsthandwerk ist die in das späte 13. Jahrhundert zu datierende Ikonostasis aus der Kleinen Anargyrienkirche in Ochrid, deren Ornamentik enge Beziehungen zur Buchmalerei aufweist.

 

 

Kunsthandwerk

 

Auf Grund der wenigen erhaltenen Denkmäler des kirchlichen Kunsthandwerks aus dem Zweiten Bulgarenreich lassen sich nur bedingt Schlüsse auf dessen stilistische und formale Entwicklung ziehen. Bei allen überlieferten Arbeiten ist jedoch eine starke Traditionsgebundenheit vorherrschend. So weisen die Silberbeschläge der Ikonen aus Ochrid, Tirnovo und Nessebar (Abb. 149, 150) ikonographische und stilistische Merkmale der Kunst der vorangegangenen Epoche auf, wenn auch gewisse manieristische Züge, zusammen mit einer Verhärtung und Versteifung der Form, auftreten, die die gesamte Kunst Bulgariens im späten 14. Jahrhundert kennzeichnen.

 

Noch konservativer ist die kleine Metallplastik des Zweiten Bulgarenreichs. Ihre Erzeugnisse - Schmuck, Miniaturikonen, Siegel und Münzen - bleiben völlig im Banne der Überlieferung, unbeeinflußt vom Stilwandel der byzantinischen palaiologischen Kunst. Die bulgarischen Goldschmiede greifen immer wieder zu den tradierten zoomorphen Motiven und zu der frühchristlichen Ikonographie ihrer Prototypen, wie der Gottesmutter Hodegetria, des Christus Pantokrator und des heiligen Demetrios aus der Demetrioskirche in Thessaloniki, die an den Siegeln und Münzen bis Ende des 14. Jahrhunderts vielfach nachgebildet werden. (Abb. 151, 152)

 

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