Kulturgeschichte im Prisma: Bulgarien vom Altertum bis 1878

Assen Tschilingirov

 

(7) Das Erste Bulgarenreich (681-1018)

 

71 Felsrelief bei Madara
72 Kirche Johannes des Täufers in Nessebar. Ende 9. bis Anfang 10. Jh.
73 Stephanoskirche in Nessebar. 10. Jh.
74 Evangelist Matthäus. Fresko, Erzengelkirche in Kastoria, Anfang 10. Jh.
75 Marmorportal. Fragment vom Zarenpalast in Preslaw, 10. Jh., Nationalmuseum Sofia
76 Glagolitisches und kyrillisches Alphabet
77 Gottesmutterkirche in Kastoria. Ende 10. Jh.
78 Nikolaoskirche in Separewa Banja, 10. Jh.
79 Gottesmutter der Deesis. Fresko, Beinkirche des Batschkowo-Klosters, um 1085
80 Heiliger Theodoros. Keramische Ikone, Preslaw, Anfang des 10. Jh., Nationalmuseum Sofia
81 Erzengel. Fresko in der Georgsrotunde in Sofia, um 972
82 Löwe. Relief aus einer Chorschranke, Stara Sagora, roter Schiefer. 9. Jh., Archäologisches Museum Sofia
83 Naumkirche im Erzengel-Kloster am Ochridsee. Gegründet im 10. Jh.
84 Zierleiste und Initiale aus dem Codex Assemani. Tempera auf Pergament, 10. Jh., Vatikan, Cod. Slav. 3, Fol. 157V
85 Evangelist Markus. Miniatur aus dem Ostromir-Evangeliar, Temperafarben mit Blattgold auf Pergament, 1056/1057 (?), Leningrad, Saltykow-Stschedrin-Bibliothek, Fn I, 5, Fol. 126
86 König Boris. Miniatur aus einem Sammelband mit belehrenden Texten des Presbyters Konstantin von Preslaw, Tempera auf Pergament, 10. Jh., Historisches Museum Moskau, Sin. 262, Fol. A
87 Runde Kirche in Preslaw. Anfang 10. Jh., Rekonstruktion
88 Ornamentfriese aus der Runden Kirche in Preslaw. Bemalte und glasierte Keramik
89 Marmorrelieffries aus der Runden Kirche in Preslaw. Nationalmuseum Sofia
90 Die Festung Samuils in Ochrid. Ende 10. Jh.
91 Diakon Isauros. Fresko in der Sweti-Lawrentij-Kirche bei Vodoča, Ende 10. Jh.
92 Gottesmutter Nikopoia (Siegbewirkende). Fresko in der Apsis der Sophienkirche in Ochrid, 9. Jh.

 

Ende der siebziger Jahre des 7. Jahrhunderts zogen Truppen des protobulgarischen Stammesverbandes unter Khan Asparuch südwestwärts, überquerten die Donau und besetzten das Gebiet südlich des Donaudeltas, das von den mit ihnen verbündeten Slawen des Stammes der Sewerer besiedelt war. Im Krieg mit den Arabern gebunden, leistete Byzanz keinen Widerstand. Erst nach der Beendigung der Belagerung Konstantinopels 678 richtete sich das byzantinische Heer unter Kaiser Konstantin IV. gegen die Protobulgaren, die sich in Kleinskythien (Dobrudscha) niedergelassen hatten. Zu Kampfhandlungen kam es dennoch nicht. Die Byzantiner mußten die Belagerung der protobulgarischen Festungen angesichts der Übermacht durch schnellstens herbeigeeilte protobulgarische Elitetruppen aufgeben und flüchten. Die Protobulgaren nahmen sämtliche byzantinischen Festungen zwischen dem Balkan, der Donau und der Schwarzmeerküste einschließlich Odessos ein, deren Verteidigung sie teilweise den ihnen verbündeten Seweren und dem slawischen Stammesbund der sieben Stämme überließen. Im Sommer 681 schloß Byzanz mit dem protobulgarischen Stammesverband einen Friedensvertrag, in dem es auf seine Machtansprüche über die besetzten Gebiete verzichtete und sich zur jährlichen Tributzahlung verpflichtete.

 

So kam es im Jahre 681 zu einer Wende in der politischen und kulturellen Geschichte Südosteuropas. Die fast vier Jahrhunderte andauernde Epoche der Völkerwanderung mit allen ethnischen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen in den weiten Gebieten des Oströmischen Reiches wurde durch die Anerkennung des neugegründeten Bulgarenreichs abgeschlossen. Auf der politischen Bühne trat eine neue Macht hervor, der beschieden war, während des ganzen Mittelalters eine der bedeutendsten Rollen in der Geschichte und besonders in der geistig-kulturellen Entwicklung Südosteuropas zu spielen. Ähnlich wie das zwei Jahrhunderte zuvor auf den Trümmern des Weströmischen Staates gegründete Reich der Franken das Fundament zur Einigung eines Konglomerats unterschiedlicher Völkerstämme in einem Staat schuf, vereinigte auch das sich von den Karpaten und vom Dnepr bis zum Schwarzen, Ägäischen und Adriatischen Meer erstreckende Bulgarenreich die in ihrer ethnischen Zusammensetzung uneinheitliche Balkanbevölkerung: die aus Mittelasien kommenden Protobulgaren, die im 6. und 7. Jahrhundert aus den osteuropäischen Randgebieten umgesiedelten Slawen, die zum Teil romanisierten, zum Teil hellenisierten Einwohner der großen Balkanstädte sowie die infolge zahlreicher

 

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Kriege und Einfälle der Nomadenvölker vermischte und stark reduzierte Urbevölkerung.

 

Durch die Verschmelzung dieser Völkerschaften entstand zugleich mit der inneren und äußeren Festigung des neuen Reiches eine neue ethnische Einheit, die durch die Einführung des Christentums als Staatsreligion im Jahre 865 zu einem gewissen Abschluß gelangte, wobei neben der einigenden Staatsmacht und Religion die neugeschaffene slawisch-bulgarische Schrift als Grundlage der nationalen Literatur und Kunst eine wichtige Bindekraft besaß.

 

Während der Hellenismus und die Römerzeit eine Annäherung der Kulturen Europas und des Vorderen Orients bewirkten, führte die Völkerwanderung zu einer Berührung der Kulturen Mittelasiens und der Ural-Randgebiete mit der antiken europäischen Kultur. Ebenso wie an der Entstehung der mittel- und westeuropäischen Kunst die tief auf italischem und gallischem Gebiet verwurzelten Eigenarten der Kunst der Kelten, Goten und Langobarden beteiligt waren und in der karolingischen, vorromanischen und romanischen Kunst nachwirkten, verbanden sich in Südosteuropa unterschiedliche und ursprünglich weit voneinander entfernte Kultur- und Kunsttraditionen, denen das antike Erbe sowohl innerhalb des slawischen als auch des mittelasiatischen Elements eine eigene Prägung verlieh.

 

Die Slawen führten in Südosteuropa die monumentale Holzarchitektur ein, die - von der antiken und der daneben existierenden protobulgarischen Kunst beeinflußt -, verglichen mit der frühmittelalterlichen nordost- und mitteleuropäischen Holzarchitektur, einen grundsätzlich anderen Entwicklungsverlauf nahm. Die ebenso von den Slawen stammende Holzschnitzerei fand auf dem Balkan eine noch weitere Verbreitung und blieb, durch die Eigenarten der protobulgarischen Plastik mitgeprägt, bis in unsere Zeit auf diesem Gebiet eine traditionelle, charakteristische Kunstgattung.

 

Der Anteil der protobulgarischen Kultur- und Kunsttradition in der mittelalterlichen Kultur des Bulgarenreichs ging über den Rahmen der höfischen Kunst in allen ihren Erscheinungsformen - von den monumentalen Repräsentationsbauten der Herrscherkreise bis zu den Werken des Kunstgewerbes — hinaus und prägte für mehrere Jahrhunderte Symbolik und Formensprache aller Kunstgattungen, aber auch die Kunsttechnik.

 

Als Bewahrer der antiken Tradition erwiesen sich vor allem die Städte der südlichen Balkanhalbinsel, die im 9. und 10. Jahrhundert dem Bulgarenreich einverleibt wurden und im politischen, geistigen und kulturellen Leben des Staates eine bedeutende Rolle zu spielen begannen. Die Kontinuität dieser Tradition auf dem Gebiet der Baukunst, der Malerei und des Kunsthandwerks überlebte alle äußeren und inneren Wirren und Veränderungen im gesellschaftlichen und geistigen Leben, die diese so bewegte Zeit mit sich brachte.

 

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Die frühchristliche Kultur hatte bereits tiefe Wurzeln im fruchtbaren antiken Boden geschlagen und zehrte von seiner Kraft - von den antiken Vorbildern und dem überlieferten Formenschatz aber auch von den aus dem christlichen Osten verpflanzten ikonographischen Prototypen. Die aufwühlenden Ereignisse während der Zeit der Völkerwanderung und die daraus folgenden Zerstörungen unterbrachen die antike Tradition nicht - zumindest nicht im kulturellen Leben der großen Balkanstädte. Auch die folgenschweren Auseinandersetzungen um die Verehrung der Bilder (Ikonen) im 8. und 9. Jahrhundert blieben für die südwestliche Balkanhalbinsel ohne Belang, denn dieses Gebiet wurde genau zu der gleichen Zeit vom unmittelbaren Einfluß Konstantinopels abgeschnitten, so daß es die ikonographische Überlieferung bewahren und an die nächsten Generationen bis in das Spätmittelalter weitervermitteln konnte.

 

 

Die Festigung des Bulgarenreichs und dessen Ausdehnung nach Süden und Südwesten im Laufe des 9. und 10. Jahrhunderts wurde von einer regen Kunst- und Bautätigkeit begleitet, die zu dieser Zeit nach Umfang und Qualität den vordersten Platz in Europa beanspruchen dürfte. Der kulturelle Aufschwung fiel mit der dritten Welle protobulgarischer Ansiedlung zusammen. Die dritte Gruppe protobulgarischer Stämme verließ unter dem Druck der Chasaren ihre Urheimat und kam erst ein Jahrhundert nach der zweiten und größten Siedlerwelle der Protobulgaren, die sich in den Balkangebietcn des Bulgarenreichs zu Beginn des 8. Jahrhunderts niedergelassen hatten. Diese letzte Gruppe, aus dem Zentrum des hunnischen Stammesverbandcs in Mittelasien kommend, besaß ein bedeutend höheres kulturelles Niveau als die beiden ersten Gruppen von Nomadenstämmen. Mit der byzantinischen Kultur nur wenig vertraut, hielten die neuen Ansiedler um so stärker an der Kultur- und Kunsttradition ihrer Heimat fest. Dies erklärt, warum die großangelegte Bautätigkeit in den bulgarischen Städten erst im 9. Jahrhundert einsetzte und der lokalen Bautradition und -technik fremd gegenüberstand. Es war aber auch folgerichtig, daß der Bedarf an Kult- und Repräsentationsräumen erst nach der Festigung des Staates entstand und daß diese Bauaufgaben vorwiegend auf der Basis eigener Tradition verwirklicht wurden.

 

Die ersten protobulgarischen Siedlungen auf der Balkanhalbinsel - die Militärlager Onglos am Donaudelta, Pliska in Ostmösien und der Aul Omurtags am Fluß Titscha (Kamtschija), nahe dem heutigen Dorf Khan Krum - waren lediglich mit Schutzwall und Graben, seltener mit Steinmauern befestigte Nomadenlager oder dauerhafte Wohnbauten.

 

Um die Wende vom 7. zum 8. Jahrhundert wurden die ersten bulgarischen Monumentalbauten errichtet. Der ursprüngliche Große Palast in der Hauptstadt Pliska war eigentlich eine rechteckige, 74 mal 60 Meter große Burganlage mit Ecktürmen,

 

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umlaufendem Erdgeschoß aus Steinquadern und Obergeschossen aus Holz und Ziegeln. Im Jahre 811 wurde diese Anlage mit der ganzen Hauptstadt von den Byzantinern niedergebrannt - sie mußten allerdings dafür mit ihrer größten Niederlage und dem Verlust ihres ganzen Heeres mit dem Kaiser Nikephoros an der Spitze bezahlen; kurz darauf wurden die Reste der Burg abgetragen, und die gewaltigen Steinquader wurden für den Bau der neuen Paläste im Stadtzentrum wiederverwendet.

 

Nicht minder monumental waren die Nachfolgebauten aus dem 2. und 3. Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts, als die gesamte mit starken Mauern befestigte Innenstadt von Pliska ausgebaut wurde. Die lediglich als grandiose Ruinen auf uns gekommenen öffentlichen Bauten, in erster Linie die beiden Paläste mit dem basilikalen Thronsaal und die Fortifikationsanlagen, zeigen unverwechselbare Gemeinsamkeiten mit der zeitgenössischen Architektur Armeniens und Irans, ohne jedoch eine unmittelbare Verbindung aufzuweisen. Offensichtlich lagen hier neben ähnlichen Bedingungen und gleicher angestrebter Funktionalität auch gemeinsame Vorbilder zugrunde, die wir bislang noch nicht kennen. Weit schwieriger ist es jedoch, den Ursprung einer Reihe kultischer Bauten zu bestimmen. Uns begegnet hier ein festgelegter Bautypus, der kein Provisorium war und dessen Vorläufer keinesfalls hölzerne Bauten gewesen sein dürfen, sondern monumentale Steinbauten aus der Urheimat der Protobulgaren, allerdings mit erstaunlicher Ähnlichkeit mit mehreren chinesischen Bauten aus einer wesentlich jüngeren Zeit, nämlich der Herrschaft der mongolischen Dynastie Yuan im 15. Jahrhundert.

 

Nicht weniger deutlich ist die Selbständigkeit der bulgarischen Bautechnik und ihre Absetzung von der lokalen und der byzantinischen Tradition auf dem Balkan. Die meisten Gebäude aus dem 9. und frühen 10. Jahrhundert in beiden bulgarischen Hauptstädten, Pliska und Preslaw, sowie in den Stützpunkten an der Titscha, in Madara, Schumen, auf der Insel Päkujul lui Soare, an der Donau und in der Dobrudscha sind in einer Quadertechnik ausgeführt, die sowohl auf dem Balkan als auch in den übrigen Gebieten des Römischen und des Byzantinischen Reichs ungewöhnlich ist. Als Baumaterial wurden riesige, bis zu 1,5 Meter lange, sorgfältig bearbeitete Kalksteinquader verwendet, deren Fundamente durch senkrecht in die Erde gerammte Pfähle und Mörtelguß die notwendige Festigkeit erhielten. Diese Bautechnik unterscheidet sich grundlegend vom syrischen und armenischen Quaderbau, der lediglich eine Verkleidung der inneren Mauerfüllung darstellt. In geringem Umfang begegnet uns diese Bautechnik an der nördlichen Schwarzmeerküste, wo sie allerdings einigen protobulgarischen Volksstämmen zugeschrieben wird, deren Umsiedlung nach dem Südwesten vor der Chasarengefahr im 9. Jahrhundert erfolgte. Daß die Ursprünge der Quadertechnik bei Bauten in den bulgarischen Städten

 

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und an der nördlichen Schwarzmeerküste ebenso wie bei kultischen Bauten in der protobulgarischen Urheimat zu suchen sind, bestätigen die mittelasiatischen Ideogramme an den Quadern, die sich von den römischen, syrischen und armenischen Stempeln und Zeichen grundsätzlich unterscheiden und nur auf bulgarischen Bauten auftreten.

 

 

Ein wesentlicher Bestandteil der gewaltigen Bauanlagen in den bulgarischen Städten aus dem 9. Jahrhundert war ihre ebenso wuchtige wie derbe, äußerst eindrucksvolle plastische Verzierung. Wenn uns auch nur ein sehr geringer Teil der Bau- und Freiplastik aus dieser Zeit überkommen ist, zeigen doch alle erhaltenen Werke eine erstaunliche stilistische Einheitlichkeit, die wir sowohl an den menschenähnlichen Steinfiguren wie auch an mehreren Löwenfiguren aus dem plastischen Schmuck der Paläste feststellen können. Das bedeutendste dieser Werke ist zweifellos das Felsrelief von Madara - das einzige frühmittelalterliche Monumentalrelief Europas, dem die Kunsttraditionen der Thraker (die Votivreliefs des Thrakischen Heros) und Mittelasiens (die Votivfiguren der Halbgöttin Lha-Mo) zugrunde liegen.

 

Der bulgarischen Monumentalplastik steht die Toreutik inhaltlich und stilistisch am nächsten. Dies ist darauf zurückzuführen, daß sie oft Prototypen der monumentalen Kunst zu benutzen pflegte. Die überlieferten Werke dieser Kunstgattung vermitteln ein ziemlich eingehendes Bild von ihrer Entwicklung, wenn uns auch hier die Kenntnis ihrer Ursprungsformen versagt bleibt. Der aus mehreren Tafel- und Sakralgefäßen bestehende Goldschatz von Nagyszentmiklós im Kunsthistorischen Museum in Wien, dessen protobulgarischer Ursprung heute allgemein angenommen wird, ermöglicht aufgrund seiner langen, von der Mitte des 1. Jahrtausends bis ins 9. Jahrhundert reichenden Entstehungsgeschichte, den Werdegang dieser Kunstgattung über mehrere Jahrhunderte hinweg anhand prunkvoller Beispiele zu verfolgen. Bedeutsam ist dabei die Rezeption mittelasiatischer, teilweise unter starken Einwirkungen Ost- asiens und Irans entstandener Formen und Motive. Dieselbe Formenwelt und eine beachtliche Fertigkeit der Ausführung zeigen auch andere Werke der Toreutik, wie der silberne Becher und die Matrize aus Preslaw, aber auch zahlreiche goldene Beschläge, Medaillons, Fibeln und andere Werke der Kleinplastik, die als Schmuck und Amulette weit verbreitet waren.

 

 

Die Protobulgaren brachten ein hochentwickeltes Staatswesen mit, das sie zusammen mit einer zentralisierten Administration in das neugegründete Reich einführten. Das ganze Reich wurde in mehrere große administrative Einheiten, Komitate, geteilt, deren Zahl mit der Eingliederung neuer Gebiete in das Bulgarenreich wuchs und Mitte des 9. Jahrhunderts zehn betrug.

 

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Die Komitate waren zu zwei großen selbständigen Gruppen zusammengefügt - den westlichen oder rechten und den östlichen oder linken Flügel die dem Itschirgu-Boil bzw. dem Kaukhan unterstellt waren, die beide die obersten Stellen in der Staatshierarchie nach dem uneingeschränkte Macht innehabenden Khan einnahmen. Den nächsten Rang bildete der Rat der sechs Großen Boile. Diese Hierarchie spiegelte sich auch im Hofzeremoniell wider: Im Thronsaal saß der Khan inmitten der halbrunden Apsis an der Nordseite, nach Süden blickend;

 

71 Felsrelief bei Madara

Hoch über dem bedeutendsten Heiligtum der Bulgaren in den Felsen gehauen, war es als beschwörende Zauberdarstellung konzipiert: Vermutlich kurz vor dem großen Feldzug der Bulgaren gegen Byzanz 814 entstanden, sollte es dem bulgarischen Khan Krum (803-814) im bevorstehenden Zweikampf mit dem byzantinischen Kaiser Leon V. (813-820) zum Siege verhelfen. Dem Bilde des triumphierenden bulgarischen Herrschers als Reiter über dem von ihm bezwungenen Löwen liegen die Kunsttraditionen der Thraker und Mittelasiens zugrunde. Charakteristisch waren neben den in einem stark ausgeprägten Monumentalstil behandelten Formen auch die heute fehlenden Edelmetallapplikationen, die die bulgarische Kunst aus der mittelasiatischen übernommen hatte, sowie die fast völlig ausgelöschten Inschriften, die eine Art Chronik gewesen sein sollen.

 

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beiderseits von ihm saßen der Itschirgu-Boil rechts und der Kaukhan links, während der Rat der Großboile, den Ämtern entsprechend, davorsaß.

 

In der Staatshierarchie folgten weiter die Tarkhane, die an der Spitze der Komitate standen, sowie eine ganze Reihe von kleinen Boilen aus dem Adel, die unterschiedliche Ämter bekleideten. In außerordentlichen Situationen - wie beispielsweise im Jahre 766 für die Entthronung Khan Sabins oder Anfang des 9. Jahrhunderts, als das neue Recht verkündet werden sollte - wurde ein Großer Rat einberufen, an dem sich die Großen und Kleinen Boile neben dem Adel aus den Komitaten beteiligten.

 

Das System der Staatsteilung in zwei Flügel war vom hunnischen Bund übernommen, wo es bereits im 2. Jahrhundert v. u. Z. durch chinesische historische Quellen bezeugt wird, wonach innerhalb dieses Bundes die bulgarischen Völker den rechten Flügel bildeten. Der protobulgarische Stammesverband Asparuchs, der den Kern des neugegründeten Bulgarenreichs darstellte, ist seinerseits aus dem rechten Flügel des Großbulgarischen Reichs am Asowschen Meer hervorgegangen. Zu ihm kamen später auch Teile des linken Flügels sowie der Stammesaristokratie hinzu, die in den neuen Staat eingegliedert wurden.

 

Diese Teilung brachte durch die beträchtliche politische und wirtschaftliche Autonomie - bei gleichzeitig strenger Staatsdisziplin und Unterordnung unter die Hoheit des Khans - sowohl im Frieden als auch im Krieg eine ganze Reihe von Vorteilen im Vergleich zu der zentralisierten Macht von Byzanz und den europäischen Staaten. Im Krieg stand beiden Flügeln ein hohes Militärpotential zur Verfügung, das aus einem stehenden Heer, aber vor allem aus den Rekruten bestand, die innerhalb kürzester Zeit einberufen und unverzüglich zur Verteidigung gefährdeter Gebiete verlegt werden konnten. Bei Offensiven gestattete dieses System eine unproblematische Kriegführung an zwei Fronten, worin einer der Hauptgründe des Erfolges der Bulgaren in den zahlreichen Kriegen lag, die sie vom 8. bis zum 10. Jahrhundert gegen Byzanz, aber zugleich auch gegen die Awaren und die Magyaren führten. Diese Teilung gewährleistete die weitere Existenz des Bulgarenreichs bei Gefährdung und gar vollständiger Besetzung eines der beiden Staatsteile, wie es bereits vor der Gründung Donaubulgariens geschah und im 10. Jahrhundert noch einmal.

 

 

Zu Beginn des 9. Jahrhunderts wurde im Bulgarenreich ein neues Rechtssystem eingeführt. Laut historischer Quellen wollte der bulgarische Herrscher Khan Krum nach dem Sieg über die Awaren seinen Staat vor der gleichen Niederlage bewahren und zog eine Lehre aus dem Beispiel des Untergangs des Awarenreichs, indem er mit strengsten Strafen Korruption, Verleumdung, Diebstahl und Alkoholismus bekämpfen wollte. Auf diese Weise sollte zugleich das System des Privateigentums gesichert werden, das sich schon durch gesetzt hatte.

 

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Das neue Strafrecht sah eine sehr strenge Bestrafung der bezeichneten Delikte vor, die nun als größte Verbrechen galten: auf nachgewiesene Verleumdung stand Todesstrafe, auf Diebstahl Konfiszierung des gesamten Vermögens und Brechen der Beine des Diebes; weiter sollten sämtliche Weinberge gerodet werden; das Betteln wollte man dadurch unterbinden, daß man den Armen genügend Unterhaltsmittel zur Verfügung stellte. Das neue Recht bekam für das ganze Bulgarenreich Gültigkeit und löste das bislang geltende System subjektiver Rechtsprechung ab.

 

Trotz dieses auf gleiche Weise das private wie das gesellschaftliche Eigentum schützenden Strafrechts blieb im Bulgarenreich weiterhin allein die Naturalwirtschaft bestehen und wurde vom Staat gefördert, ohne durch die Geldwirtschaft abgelöst zu werden. Auch das Sklavenhaltersystem wurde nicht übernommen. Die Sklavenarbeit wurde kaum in Anspruch genommen, während die im Krieg gefangenen Soldaten meistens durch Loskauf befreit oder ausgetauscht wurden.

 

 

Bis zum 9. Jahrhundert war die ganze südliche Balkanhalbinsel einschließlich des Peloponnes dicht mit Slawen besiedelt. Die byzantinische Verwaltung und die dem Konstantinopler Patriarchat treue kirchliche Hierarchie hatte nur noch auf einen schmalen, mehrmals unterbrochenen Streifen an der südlichen und westlichen Ägäisküste mit dem Zentrum Thessalonike Einfluß. Doch besaß die ethnisch höchst uneinheitliche und kulturell auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen stehende Bevölkerung dieser Gebiete auch geistig keine starke Bindung mehr an Byzanz. Die Bevölkerung der großen Städte des südlichen Balkans hatte längst das Übergewicht ihres griechischen bzw. hellenisierten Anteils verloren. Diese Städte waren Anziehungspunkte für die Slawen, die hier assimiliert und zum Christentum bekehrt wurden, zugleich aber den Charakter der Städte neu prägten.

 

Eine entscheidende Rolle für das Lösen der Balkanstädte vom geistig-kulturellen Einfluß Konstantinopels spielten zweifellos die Zwistigkeiten in der Bilderfrage, die zu Beginn des zweiten Viertels des 8. Jahrhunderts in Kleinasien ausbrachen und die Fundamente des Christentums im ganzen Byzantinischen Reich erschütterten. Das 726 erlassene Verbot der Ikonenverehrung erstreckte sich auch auf das europäische Gebiet von Byzanz, wurde hier jedoch von der Bevölkerung abgelehnt, da es ihrer traditionellen bildeifreundlichen Einstellung widersprach. So kam es zu der größten Spaltung der christlichen Bevölkerung auf dem Balkan, die bisher von den starken Auseinandersetzungen innerhalb des frühen Christentums verschont geblieben war - weder die Bekämpfung der arianischen noch der nestorianischen Lehre hatten hier Widerhall gefunden. Um so heftiger brach die Opposition gegen die offizielle Politik des Konstantinopler Patriarchats aus.

 

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So zeigte sich für die fanatischen Ikonenverehrer in den thrakischen Städten sogar die Herrschaft des heidnischen, doch in religiösen Fragen sehr toleranten Bulgarenreichs weniger verhängnisvoll als die bilderfeindliche Zentralmacht von Byzanz.

 

Der Vorstoß Bulgariens weiter südwestwärts in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts führte zur Eingliederung der südwestlichen Schwarzmeerküste, Thrakiens, Westmakedoniens mit den Gebieten am Vardar, wo Protobulgaren aus der pannonischen Gruppe bereits im 7. Jahrhundert gesiedelt hatten, sowie eines großen Teils Thessaliens. Außerhalb des Bulgarenreichs blieben nur die Gebiete um Thessalonike sowie am Unterlauf der Mesta, an der Struma und der Bregalniza. Kurz nach der Jahrhundertmitte schlossen sich auf friedliche Weise an das Bulgarenreich auch mehrere slawische Fürstentümer (Slawinien) in Makedonien und Nordepirus an, so daß die westliche Reichsgrenze bis zur Adria südlich von Dyrrhachion verlief. Es scheiterten alle Maßnahmen, die von Byzanz unternommen wurden, die slawisch-bulgarische Expansion zu verhindern. Weder die Versuche zur Kolonisierung Thrakiens mit kleinasiatischen Griechen und Armeniern, die Justinian II. (685-695 und 705-711) und Michael III. (842-867) unternommen haben, noch die Christianisierung der slawischen Stämme im Gebiet um Thessalonike und am Fluß Bregalniza im 9. Jahrhundert konnten die byzantinische Präsenz in diesem Gebiet verstärken.

 

Die Eingliederung der weiten südwestlichen Gebiete der Balkanhalbinsel in das Bulgarenreich drohte aber das gesamte bestehende Verwaltungssystem des Staates zu sprengen. Die bis zum frühen 9. Jahrhundert erzielte Einheit des Bulgarenreichs, die trotz seiner unterschiedlichen Bevölkerung, die aus Protobulgaren, Slawen und Ureinwohnern, dazu ethnischen Minderheiten wie Griechen und zuletzt auch Armeniern bestand, wurde bislang allein durch die zum größten Teil aus dem protobulgarischen Ade! zusammengesetzte Verwaltung verwirklicht. Zwar wurden schon seit dem 8. Jahrhundert zunehmend einige Ämter mit Slawen besetzt, ihre Zahl war aber sehr gering und ohne große Bedeutung im Staatsapparat.

 

Die zahlreichen slawischen Fürstentümer, die sich im 9. Jahrhundert dem Bulgarenreich anschlossen und das Gleichgewicht der beiden wichtigsten Komponenten der Bevölkerung - Protobulgaren und Slawen - entscheidend zugunsten des slawischen Anteils veränderten, besaßen ein im Vergleich zu den anderen slawischen Stämmen Nordbulgariens bereits weit fortgeschrittenes gesellschaftliches Entwicklungsstadium und standen kurz vor einer Staatsbildung. Sie waren aber durch ihre geographische Lage den Einwirkungen von Byzanz mehr als die anderen ausgesetzt; ein Teil hatte schon die christliche Religion angenommen.

 

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Auch der Anteil der christlichen Bevölkerung stieg mit der Eingliederung der großen thrakischen Städte beträchtlich. Während bis zu Beginn des 9. Jahrhunderts als Christen lediglich gefangene byzantinische Soldaten im Bulgarenreich auftauchten, kamen mit der Einnahme von Serdica (Sofia) 809, Mesembria 812, von Philippopel, Beroe und Philippi im zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts zahlreiche Christen in das Bulgarenreich. Das Christentum fand Verbreitung sogar am bulgarischen Hof. So hatte nun die Bevölkerung Bulgariens außer ihren Sprachunterschieden, bedingt durch ihre verschiedene ethnische Zusammensetzung, auch religiöse Unterschiede, da neben den beiden großen heidnischen Konfessionsgruppen der Slawen und Protobulgaren auch die Christen in mehrere Glaubensgruppen gespalten waren: die orthodoxen Christen waren durch den Bildersturm in zwei Lager getrennt, während daneben noch eine kleine arianische Minderheit als Nachfolger der Wulfilas-Goten sowie nestorianische Armenier existierten.

 

Der Bedeutung dieser Probleme war sich Khan Boris bewußt, als er 852 den Thron der bulgarischen Herrscher bestieg. Ihm gelang es aber auch, sie zu bewältigen, indem er eine Wende im bulgarischen Staatswesen einleitete und den Entstehungsprozeß eines bulgarischen Staates und einer bulgarischen Nation zum Abschluß brachte, der mit der Gründung des Bulgarenreichs 681 begonnen hatte. Boris war der erste bulgarische Herrscher, der die Bedeutung der Religion und der nationalen Kultur als die wichtigste Bindekraft im Staatswesen begriff und sein ganzes Streben darauf richtete, durch mehrere Reformen die Einheit im Bulgarenreich herzustellen.

 

Die chronologisch erste und der Bedeutung nach wichtigste Reform des Boris war die Einführung des Christentums als Staatsreligion im Bulgarenreich. Die Bedeutung des Christentums und der Kirche als erstrangige Bindekraft im Staatswesen hatten schon Konstantin der Große und Justinian I. erkannt und die Kircheninstitution in ihre Politik entsprechend einbezogen und mit ihr verknüpft. Seit Justinian wurde das Christentum auch als die stärkste Waffe gegen die »Barbarenvölker« verwendet. Es war das beste Mittel, diese Völker zu assimilieren und an das Byzantinische Reich zu binden. Um zu vermeiden, daß möglicherweise ein verstärkter byzantinischer Einfluß in Bulgarien durch die griechische Kirchenverwaltung eintreten könnte, gebrauchte Boris alle Mittel der Diplomatie, zwischen beiden Zentren des Christentums - Konstantinopel und Rom - lavierend, um der bulgarischen Kirche die Unabhängigkeit zu sichern. Nach langen Verhandlungen mit dem Konstantinopler Patriarchat ließ er 865 die Taufe der Bulgaren von griechischen Priestern vollziehen, kurz darauf zwang er aber den ganzen griechischen Klerus, das Land zu verlassen, und ersetzte ihn durch Vertreter der römischen Kirchenhierarchie und zugleich den byzantinisch-orthodoxen Ritus durch den römisch-katholischen.

 

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869 war schließlich das Konstantinopler Patriarchat zu Zugeständnissen bereit. Das am 5. Oktober 869 einberufene ökumenische Kirchenkonzil beschloß auf einer außerordentlichen Sitzung am 4. März 870 die Gründung eines autokephalen Bulgarischen Erzbistums, das direkt dem Konstantinopler Patriarchen untergeordnet war, und genehmigte die Besetzung der Priesterämter mit Ausnahme des Erzbischofs durch Bulgaren. Wenig später, im Jahre 893, wurde für den Gottesdienst die slawisch-bulgarische Sprache eingeführt. Den letzten Schritt auf dem Wege zur selbständigen bulgarischen Kirche tat 919 der Nachfolger von Boris, sein Sohn Simeon (893-927), mit der Umwandlung des Bulgarischen Erzbistums in ein autonomes Patriarchat.

 

Die Durchführung dieser Reform war keineswegs unproblematisch. Eine sehr starke Opposition innerhalb des protobulgarischen Adels versuchte schon 865, durch einen Staatsstreich Boris abzusetzen. Obgleich nur von der Minderheit der protobulgarischen Staatsverwaltung unterstützt - von den 100 Boilen des Obersten Rates waren 52 gegen und nur 48 für ihn -, gelang es Boris, sich durchzusetzen. Seine Gegner wurden gnadenlos bestraft: alle 52 Boile wurden mit ihren Familien hingerichtet und ihre Geschlechter auf diese Weise ausgerottet. Damit war aber die Opposition noch nicht endgültig zerschlagen. Als Boris 889 abdankte und sich ins Kloster begab, versuchte sein Nachfolger - sein ältester Sohn Wladimir-Rassate -, die protobulgarische Religion wiederherzustellen. Boris erschien jedoch noch einmal auf der politischen Bühne, kam zurück in die Welt, sammelte seine treuen Mitkämpfer und nahm die Altgläubiger gefangen. Wladimir-Rassate wurde abgesetzt und geblendet, seine Anhänger wurden beseitigt, während die Staatsmacht dem dritten Sohn des Boris, Simeon, übertragen wurde, der als Oberhaupt der bulgarischen Kirche vorgesehen war.

 

Nicht so dramatisch verlief die zweite Reform des Boris - die Verwaltungsreform -, obwohl sie nicht weniger wichtig für das Staatswesen Bulgariens war. Sie erforderte aber einen längeren Zeitraum und konnte während seiner Regierung nicht vollendet werden. Diese Reform galt der verwaltungspolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Integrierung der in das Bulgarenreich neueingegliederten Gebiete der südwestlichen Balkanhalbinsel und sollte darüber hinaus die Beständigkeit und Lebensfähigkeit des gesamten bulgarischen Staatswesens fördern. Der Eingliederung dieser Gebiete in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts folgten vorerst keine Veränderungen im Verwaltungssystem des Staates. Alle Gebiete behielten ihre administrative Struktur bei und wurden als einzelne Komitate an beide Flügel des Bulgarenreichs angeschlossen, wobei ihr Verwaltungssystem byzantinischen Vorbildern entlehnt wurde. Die neue Verwaltungsreform von Boris änderte die traditionelle, bereits vom hunnischen Bund übernommene Gliederung des Staates in zwei Flügel -

 

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einen linken und einen rechten - und schuf einen dritten Teil, Kutmitschewiza - »den dritten Reichsteil« nach den historischen Quellen mit der gleichen Autonomie und demselben Status wie der linke und der rechte Flügel. Boris konnte die große demographische und strategische, aber auch wirtschaftliche Bedeutung des balkanischen Südwestens als Brücke sowohl zu Westeuropa als auch auf dem Wasserweg zum Vorderen Orient richtig bewerten. So vollendete er das Werk seiner Vorgänger, indem er durch die volle Kontrolle über die Hauptverbindung zwischen der Balkanhalbinsel und Italien auf dem Binnenland, die alte römische Straße Via egnatia, das Balkaninnere nach dem Westen öffnete. Diese Südwestgebiete sah Boris als künftiges politisches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum des Bulgarenreichs an. An der strategisch wie wirtschaftlich günstigsten Stelle - der Bucht von Valona -, wo der Abstand zwischen der Balkan- und Apenninenhalbinsel am kürzesten ist, legte er den Grundstein für die Hauptstadt des Bulgarenreichs, Glawniza, und ließ in der Nähe eine der ersten Bischofskirchen bauen. Diese Stadt sollte eine Rivalin von Konstantinopel werden und über die Adria und den östlichen Mittelmeerraum herrschen.

 

Dieser weit in die Zukunft weisende Gedanke des bulgarischen Herrschers konnte jedoch nicht verwirklicht werden. Hingegen wurde die verwaltungspolitische, wirtschaftliche und kulturelle Integrierung der hinzugekommenen Gebiete in der Tat mit beachtenswerter Perfektion durchgeführt - in erster Linie durch die konsequente Kulturpolitik von Boris, aber auch durch den strategischen Ausbau des ganzen Südwestens der Balkanhalbinsel und vor allem der Straße Via egnatia sowie der beiden Knotenpunkte Dewol und Ochrid. Militärisch wie politisch konnte der dritte Reichsteil auch mit seltener Vollkommenheit ausgebaut werden. Seine Armee wurde zur wichtigsten Schlagkraft des Bulgarenreichs und erhielt die Hauptaufgabe in der Kriegführung nicht nur bei Boris’ Nachfolger, Simeon, sondern auch während des ganzen 10. Jahrhunderts. Nun war es möglich, sogar an drei Fronten unabhängig voneinander in Offensive überzugehen — so zum Beispiel schon in den neunziger Jahren des 9. Jahrhunderts: Während der linke Flügel Konstantinopel und der rechte Flügel Thessalonike belagerte, eroberte die Armee des dritten Teils die weiten Gebiete von Thessalien und Epiros, die bereits 896 dem Bulgarenreich eingegliedert wurden.

 

Der Ausbau von Glawniza und die Verlegung der Hauptstadt des Bulgarenreichs dorthin wurde vom Nachfolger des Boris, dem Zaren Simeon, jedoch verhängnisvollerweise aufgegeben. Anstatt die Idee seines Vaters für den Ausbau des bulgarischen Westens und für die Herstellung einer festen Bindung zu Westeuropa und zum Mittelmeerraum zu verwirklichen, richtete Simeon all seine Ambitionen auf die Herrschaft über Konstantinopel - Träume, die nicht realisiert werden konnten.

 

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Als die Nachfolger auf dem Thron der Bulgaren im letzten Viertel des 10. Jahrhunderts diese Idee wiederum aufgriffen, war der richtige Zeitpunkt längst verpaßt. Es war zu spät, da das Byzantinische Reich bereits seine Vorherrschaft sowohl über die Adria als auch über die südlichen Gebiete der Balkanhalbinsel wiederhergestellt hatte.

 

 

Die Einführung des Christentums als Staatsreligion und der damit verbundene steigende Bedarf an Kirchenbauten im ganzen Land sowie das Repräsentationsbestreben der bulgarischen Herrscherkreise führten zu einer Bautätigkeit, die alle bisherigen Höhepunkte in den bulgarischen Gebieten - auch im Zeitalter Konstantins des Großen und Justinians I. - übertraf und bis in die jüngste Zeit nie wieder erreicht wurde. Wenn auch die bedeutendsten Bauten des Bulgarenreichs aus dem späten 9. und dem 10. Jahrhundert - die Paläste und die Kathedralen in den Hauptstädten Pliska, Preslaw, Prespa und Ochrid - fast ausschließlich als Ruinen und meist nur in ihren Grundmauern erhalten geblieben sind, legen sie dennoch deutlich Zeugnis ab von dem überaus hohen Stand der materiellen und geistigen Kultur im mittelalterlichen Bulgarien. Es überwog anfangs als Grundtypus für die kirchlichen und profanen Bauten die von der Antike übernommene und den neuen Anforderungen angepaßte basilikale Form. Ihre große Verbreitung in Bulgarien zu einer Zeit, als sie in Byzanz längst überholt war, ist eindeutig auf ihr großes Fassungsvermögen zurückzuführen. Die Basilika vermochte den neuen Aufgaben der christlichen Lehre und Liturgie vor allem in den Ländern vollauf gerecht zu werden, wo diese Aufgaben eine große politische Bedeutung hatten, das heißt das Problem der Massenchristianisierung entstanden war.

 

Nach und nach setzte sich aber auch die vom christlichen Osten eingeführte und im benachbarten Byzanz weit verbreitete Bauform der Kreuzkuppelkirche durch. Sowohl der basilikale Bautypus als auch die Kreuzkuppelkirche erfuhren jedoch auf bulgarischem Boden eine eigenständige Entwicklung, die sie durch bestimmte Besonderheiten in Grundriß und Form von den übrigen zeitgenössischen Bauten absonderte. Bereits die ersten kirchlichen Bauten, errichtet im Bulgarenreich nach 865 - die Kathedralen von Pliska und Glawniza -, weisen eigenständige Charakterzüge auf: Portikus, Säulenreihen, Excdren; die runden und ovalen Formen setzen sich durch, ebenso die bauplastische Verzierung, deren Formenwelt antiken Ursprungs ist, jedoch auch starke Einflüsse aus Mittelasien zeigt. Eine weitere Besonderheit, die sich sowohl an zahlreichen Neubauten wie auch an einigen im 9. Jahrhundert völlig umgebauten älteren Basiliken präsentiert, sind die von Arkaden unterbrochenen massiven Mauern zwischen den Schiffen, die an den älteren Bauanlagen - wie der Alten Metropolitenkirche in Mesembria (Ncssebar) und der Sophienkirche in Serdica

 

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(nun mehr dem bulgarischen Sredec) - die bereits existierenden Säulenreihen zwischen den Schiffen ablösten. So wurde eine neue Raumwirkung erzeugt, die weder in der antiken Baukunst der zentralen Balkanhalbinsel noch in der zeitgenössischen Architektur Konstantinopels oder des christlichen Ostens Vorbilder besaß, sondern allein aus der wuchtigen, monumentalen protobulgarischen Palastarchitektur hervorgegangen ist.

 

Im Laufe des 10. Jahrhunderts sonderte sich auch eine lokale Bautechnik ab, die nicht auf konstruktiven, sondern auf neuen ästhetischen Prinzipien basierte. Eine der ersten Erscheinungsformen dieser neuen ästhetischen Prinzipien kann bereits am Mauerwerk der Erzbischofskirche von Pliska festgestellt werden. Die Abwechslung von Quader- und Backsteinreihen an den Außenmauern hat

 

72 Kirche Johannes des Täufers in Nessebar. Ende 9. bis Anfang 10. Jh.

 

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mit dem konstruktionsbedingten römischen gemischten Mauerwerk - Opus mixtum - nur entfernt etwas gemein. Die Backsteinreihen werden hier nicht zum Ausgleich der Hausteinreihen benutzt, denn die sehr sorgfältig vorbereiteten Steinquader erfordern ja keinen Ausgleich. Die Backsteinreihen sind somit allein für dekorative Zwecke verwendet worden. Der Quaderbau und das gemischte Mauerwerk wurden schon im 10. Jahrhundert bei den Bauwerken Bulgariens allmählich durch die Kästelbautechnik und durch die Bautechnik mit eingezogenen Backsteinreihen abgelöst, die eine sehr malerische Wirkung im Erscheinungsbild der bulgarischen Kirchen hervorriefen und einen vollen Gegensatz zu den frühchristlichen Kirchenbauten und den gleichzeitigen Kirchen Konstantinopels mit ihrer betont introvertierten Gestalt darstellten. Diese malerische Wirkung der rot-weiß gestreiften oder karierten Außenmauern der Kirchen wurde noch durch zahlreiche keramische Applikationen sowie durch eine ebensowenig aus technisch-konstruktiven Überlegungen vorgenommene Gliederung der Mauern durch Blendarkaden und Bogenfriese gesteigert, was alles zusammen den »malerischen Stil« der bulgarischen Baukunst einleitete, dessen Denkmale auf dem ganzen Gebiet des mittelalterlichen Bulgarenreichs vom Schwarzen bis zum Adriatischen Meer und im Süden bis Epiros verstreut sind.

 

Der Kulturpolitik von Boris entsprechend, die zeitweise auch von seinem Nachfolger Simeon weitergeführt wurde, legte man das Schwergewicht im Kirchenbau auf die neueingegliederten südwestlichen Gebiete der Balkanhalbinsel - ohne dabei die Errichtung zahlreicher Repräsentativbauten in Preslaw, seit 893 neue Hauptstadt des Bulgarenreichs, zu vernachlässigen. So entstanden neben den bereits im letzten Drittel des 9. Jahrhunderts erbauten Bischofskirchen von Glawniza, Strumica, Kozjak und Ochrid schon um die Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert eine Reihe von Kathedralen in den neueingegliederten oder neugegründeten Bistümern in Südwestbulgarien, wie die von Dewol, Drino pole (Hadrianopolis am Drin, Albanien), Vojusa (Gorno Ljabovo, Albanien), Petra (Kontariotissa in Thessalien), Kostur (Kastoria), Debrischta (bei Drenowo, Makedonien) und viele andere, die zum Teil bis heute erhalten sind.

 

In Preslaw entfaltete sich die Bautätigkeit auf breiter Basis. Die neue Hauptstadt soll laut einer bulgarischen Chronik »binnen 28 Jahren gebaut und geschaffen« worden sein. Wenn auch die zahlreichen öffentlichen Bauten hier nur in ihren Grundmauern erhalten geblieben sind, so besitzen wir dennoch eine kurze Beschreibung dieser prächtigsten aller bulgarischen Städte von dem zeitgenössischen bulgarischen Schriftsteller Joan dem Exarchen. Obgleich sie nicht sehr viele Einzelheiten vermittelt, gibt sie doch den überwältigenden Eindruck des Betrachters wieder:

 

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»Wenn ein Bauer oder ein Armer oder ein Fremder von weither sich den Türmen des Zarenpalastes nähert und sie sieht, staunt er. Tritt er durch das Tor, ist er verwundert und erkundigt sich, und wenn er dann in das Innere kommt, sieht er zu beiden Seiten große Gebäude, mit Stein verziert und mit Holz ausgekleidet. Betritt er den Hof und sieht hohe Paläste und Kirchen, die außen mit Steinen, Holz und Bemalung verziert sind und innen mit Marmor und Kupfer, Silber und Gold, weiß er nicht, womit er das alles vergleichen soll, denn der Arme hat so etwas in seiner Heimat noch nicht gesehen, sondern nur Strohhütten, und ihm ist, als sollte er vor Staunen den Verstand verlieren. Wenn es ihm nun sogar gelingt, den Zaren zu sehen, wie er in seinen perlenbesetzten Gewändern dasitzt, mit einer Kette von Dukaten um den Hals, mit Ringen an den Fingern, mit einem Purpurgürtel und einem von der Hüfte herabhängenden goldenen Schwert, und zu seinen beiden Seiten sitzen die Bojaren mit goldenen Halsbändern, Gürteln und Ringen, und wenn ihn dann jemand nach seiner Rückkehr in die Heimat fragt: ,Was gibt es dort zu sehen?‘, so wird er sagen: ,Ich weiß nicht, wie ich das erzählen soll, eine solche Pracht könnt ihr nur mit eigenen Augen gebührend bewundern!‘«

 

Inmitten der Innenstadt von Preslaw lag das befestigte Palastviertel mit einer Anzahl von Gebäuden, die aus großen Kalksteinquadern errichtet und reich mit Marmorreliefs sowie anderem bauplastischem Schmuck verziert waren. An der Ostseite des sogenannten Großen Palastes entlang führte eine breite, mit Steinplatten gepflasterte Prozessionsstraße zum Nordtor. Noch weiter östlich lag die Ende des 9. Jahrhunderts errichtete Kathedrale — eine fünfschiffige Kuppelbasilika mit Querschiff, deren Bautypus, durch eine Umgangsgalerie bereichert, ein Jahrhundert später von den bedeutendsten Kirchenbauten der Kiewer Rus - der Desjatinkirche und der Sophienkathedrale- übernommen wurde. Kirchen und Klöster lagen sowohl in der Innenstadt wie auch in der Umgebung von Preslaw und prägten das Erscheinungsbild der Hauptstadt des Bulgarenreichs. Diese Klöster wurden zum Inbegriff der kulturellen Entfaltung Bulgariens während des Goldenen Zeitalters des bulgarischen Schrifttums, seiner Kunst und Kultur. Von den zahlreichen Kunstwerkstätten wurde die überaus reiche malerische und plastische Verzierung der öffentlichen Bauten der Stadt geschaffen - allein in den Klöstern Patlejna, Tuslalyk und an der Goldenen Kirche wurden mehrere Werkstätten für bemalte Keramik mit Öfen ausgegraben. Diese Keramik gilt als eine Spezies der bulgarischen Kunst des 10. Jahrhunderts. Die kleinen glasierten Fliesen mit ornamentalen, aber auch sehr häufig figuralen Darstellungen dienten - neben dem Mosaik - zur Verkleidung der Innen- und Außenmauern sowie der Fußböden öffentlicher Bauten, vorwiegend Kirchen, aber auch der Paläste.

 

In ihrer Formensprache findet die reiche Phantasie der Künstler freie Entfaltung;

 

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73 Stephanoskirche in Nessebar. 10. Jh.

 

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74 Evangelist Matthäus. Fresko, Erzengelkirche in Kastoria, Anfang 10. Jh.

 

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75 Marmorportal. Fragment vom Zarenpalast in Preslaw, 10. Jh., Nationalmuseum Sofia

 

 

starke Einflüsse aus Mittelasien und dem christlichen Osten zeigen die Ornamentik wie auch die Ikonographie der dargestellten Heiligen, die asketische und sehr strenge orientalische Typen wiedergibt - beispielsweise die aus mehreren kleinen keramischen Platten zusammengesetzte Ikone des heiligen Theodoros. Der lediglich auf sehr kleinen Fragmenten erhaltene Mosaikschmuck der Kirchen und Paläste enthält neben Mosaikwürfeln aus Smalte mit Blattgold auch kleine bunte Keramikwürfel, die seine Farbskala erweitern und das Kolorit der Bildwerke wesentlich von dem antiker und byzantinischer Mosaike abweichen lassen.

 

Das Schwergewicht der kulturellen Tätigkeit der Preslawer Klöster lag aber auf dem Gebiet des Schrifttums. Sie beherbergten mehrere Skriptorien und stellten die materielle Basis der Preslawer Schule und darüber hinaus der bulgarischen Literatur des Goldenen Zeitalters dar. Ihre geistige Basis aber war das Werk der Slawenapostel Kyrill und Method, der Schöpfer des slawischen - kyrillischen - Alphabets und ihrer Schüler,

 

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die dieses Werk zu Vollendung brachten und die Grundlagen der slawisch-bulgarischen Literatursprache legten.

 

Die Entstehung des slawischen Alphabets hatte eine Vorgeschichte, die außerhalb des Bulgarenreichs verlief und vorrangig durch die Anstrengungen der beiden großen rivalisierenden Zentren des Christentums - Roms und Konstantinopels - bedingt war, die slawischen Völker in ihren Einflußbereich einzubeziehen. Zwischen die beiden großen christlichen Imperien - das Frankenreich im Westen und Byzanz im Osten - haben sich im 9. Jahrhundert die ebenfalls mächtigen und volkreichen Slawenstaaten - das Bulgarenreich und Großmähren - wie ein Keil geschoben und erfolgreich ihre Autonomie behauptet. Nach dem Scheitern aller militärischen Unternehmungen zur Bezwingung der Slawen versuchten sowohl die Franken als auch die Byzantiner durch Ausbreitung der christlichen Lehre unter den Slawen, politisch und kulturell Einfluß auf sie zu gewinnen. Die Streitigkeiten zwischen dem römischen Papst und dem Konstantinopler Patriarchen erreichten dabei einen ihrer Höhepunkte und trugen wesentlich zur Entfremdung beider Kirchen bei, die später zu ihrer endgültigen Trennung führen sollte.

 

862 entsandte der großmährische Fürst Rastislav (846-870) eine Gesandtschaft nach Konstantinopel, wo er Rückhalt in seinem Kampf gegen Bayern ersuchte. Er bat um die Entsendung der Missionare, die in slawischer Sprache predigen und die christliche Lehre verbreiten könnten. Damit wollte er den Einfluß der deutschen Geistlichen schmälern, die in der Tradition der römischen Kirche in lateinischer Sprache missionierten. Der byzantinische Kaiser Michael III. und Patriarch Photios entsprachen der Bitte Rastislavs unverzüglich, indem sie das Brüderpaar Konstantin-Kyrill und Method nach Großmähren mit der Aufgabe entsandten, ein slawisches Schrifttum für die mährischen Slawen zu entwickeln und dementsprechend den Gottesdienst in slawischer Sprache abzuhalten.

 

Beide Brüder, Konstantin-Kyrill (827-869) und Method (815-885), stammten aus dem slawisch-griechischen Milieu der stark slawisierten zweitgrößten Stadt des Byzantinischen Imperiums, Thessalonike, und wurden nicht nur durch ihre offensichtlich slawische Herkunft, sondern auch durch die ganze Umgebung für solche Aufgaben gefördert. Zuvor hatte Kyrill in der Magnaura-Schule zu Konstantinopel eine hervorragende Ausbildung als Schüler von Photios erhalten, bekleidete hohe Ämter im byzantinischen Dienst und stand schon mehrmals für wichtige diplomatische Missionen zur Verfügung, während Method als Mönch die Christianisierung der Slawen an der Bregalniza in Makedonien mit Erfolg durchgeführt hatte. Die überaus kurze Zeit, die für die Vorbereitung der Mission in Großmähren in Anspruch genommen wurde, läßt berechtigte Vermutungen aufkommen, daß sowohl ein Alphabet als auch die slawische Übersetzung der Kirchenbücher - in erster Linie der Bücher der

 

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Heiligen Schrift und des Nomokanon (des kirchlich-staatlichen Gesetzbuches)- schon für die Mission unter den bulgarischen Slawen vorbereitet waren. Diese Vermutung wird noch durch die Tatsache gestützt, daß es zwei Alphabete gibt, die Kyrill zugeschrieben werden - das sogenannte kyrillische und das glagolitische Alphabet. Wenn auch das Problem um ihre Urheberschaft in der Forschung stark umstritten bleibt, ist anzunehmen, daß beide von Kyrill geschaffen sind - das ursprüngliche, kyrillische, mußte wahrscheinlich aus kirchenpolitischen Gründen wegen seiner sehr auffälligen Ähnlichkeit mit dem griechischen Alphabet in Großmähren durch das später entstandene glagolitische Alphabet ersetzt werden. Beiden diente aber als Grundlage das griechische Alphabet - die Majuskeln für das kyrillische und die Minuskeln für das glagolitische. Den slawischen Lauten entsprechend, enthielt das neugeschaffene Alphabet außer den 24 Buchstaben, die mit den griechischen übereinstimmen, noch zusätzlich 14, die Gesamtzahl wurde später, vermutlich schon von dem Schüler beider Slawenapostel, Kliment, auf insgesamt 41 erweitert.

 

863 begann die Tätigkeit Konstantin-Kyrills und Methods in Großmähren. Ein großer Kreis von Schülern schloß sich ihnen an. Die nicht ausbleibenden Streitigkeiten mit den deutschen Geistlichen veranlaßten beide Brüder, um die Unterstützung bei Papst Hadrian II. (867-872) nachzusuchen und sich 867 nach Rom zu begeben, wo sic mit großen Ehren empfangen wurden. Dort starb 869 Konstantin und erhielt kurz zuvor das mönchische Schima (Rangabzeichen strengster Askese) und den Namen Kyrill, während Method mit einigen der Schüler, darunter Gorasd, Kliment und Naum, zum Priester geweiht wurde und vom Papst im Schreiben »Gloria in excelsis Deo« die Erlaubnis erhielt, sich für die Verbreitung der christlichen Lehre und für die Abhaltung der Liturgie der slawischen Sprache zu bedienen. Method wurde im gleichen Jahr vom Papst zum Bischof von Pannonien und Großmähren mit Sitz in Sirmium geweiht.

 

76 Glagolitisches und kyrillisches Alphabet

 

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Der Sturz des Fürsten von Großmähren, Rastislavs, 870 führte jedoch zu einer Wende in der Mission der Slawenapostel. Auf Betreiben der Bischöfe von Passau und Salzburg ließ König Ludwig der Deutsche Method in das Kloster Ellwangen einsperren. Erst der neue Papst, Johannes VIII. (872-882), veranlaßte seine Befreiung, verbot jedoch 879 die Verwendung der slawischen Sprache in der Kirche. 880 begab sich Method erneut nach Rom, wo er rehabilitiert wurde, zugleich aber seinen schlimmsten Gegner als Vorgesetzten erhielt, den Weihbischof von Bayern, Vihing, der sofort nach Me- thods Tod 885 den Vollzug des Gottesdienstes und die Predigt in slawischer Sprache verbot. Die Schüler Kyrills und Methods wurden zum Teil aus dem Lande vertrieben, zum Teil eingekerkert und als Sklaven verkauft.

 

Der Bulgarenkönig Boris nahm die 886 im Bulgarenreich eintreffenden Schüler Kyrills und Methods, Kliment, Naum, Angelarij und Lawrentij, gerne in seiner Hauptstadt auf. Weitere Schüler folgten, während andere, darunter der Presbyter Konstantin, aus der Sklaverei losgekauft wurden und über Konstantinopel ebenfalls nach Bulgarien kamen. In der Tätigkeit der Slawenapostel sah Boris das erfolgreichste Mittel, den Einfluß von Byzanz auf das geistige Leben seines Volkes einzuschränken und die Selbständigkeit der bulgarischen Kirche zu erzielen. Während des Konzils zu Preslaw 893 wurde die slawisch-bulgarische Sprache als Amts- und Kirchensprache offiziell im Bulgarenreich eingeführt und löste im Gottesdienst die griechische Sprache völlig ab.

 

Diese Maßnahme traf Byzanz außerordentlich schmerzvoll, da das vom Patriarchen Photios und dem Kaiser Michael III. entwickelte Programm, das eigentlich für die Ausbreitung des byzantinischen Einflusses unter den mährischen Slawen gedacht war, in der tatsächlichen Verwirklichung schließlich die bulgarischen Slawen aus dem Einflußbereich von Byzanz zu reißen drohte. Dem großen Diplomaten Boris gelang es, sich durchzusetzen, und in den kirchlichen Beziehungen zwischen Byzanz und Bulgarien entstand ein Riß, der sich zwei Jahrzehnte später zu einer Spaltung auswuchs.

 

Die mit der Übersetzung der wichtigsten Kirchenbücher bereits von Kyrill und Method begonnenen Bemühungen um die Schaffung einer slawisch-bulgarischen Literatursprache wurden in Bulgarien im vollen Umfang fortgeführt. Neben den Übertragungen auch der restlichen für den Kirchendienst erforderlichen Bücher ins Bulgarische, wie des Triodion und des Menologion, entstanden die ersten Originalwerke bulgarischer Autoren mit einem weiten thematischen Bereich, der sich von didaktischen und hagiographischen Werken über Sammlungen von Sonntagspredigten und kommentierten Perikopenbüchern bis zu polemischen und philosophischen Traktaten erstreckte.

 

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77 Gottesmutterkirche in Kastoria. Ende 10. Jh.

 

 

78 Nikolaoskirche in Separewa Banja, 10. Jh.

 

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79 Gottesmutter der Deesis. Fresko, Beinkirche des Batschkowo-Klosters, um 1085

Das Bild zeigt eine Synthese der Wesenszüge der byzantinischen Monumentalmalerei in ihrer Blütezeit: Die Formen sind extrem vergeistigt, der strenge Ausdruck, vom Mysterium des Todes erleuchtet, entbehrt jeglicher Sentimentalität, auch wenn in ihm die mütterliche Vorahnung vom Leiden am Kreuz und das tiefe Mitgefühl der Fürbitterin für jede leidende, unterdrückte und gepeinigte Kreatur mitschwingen. Die Grenzen zwischen Irdischem und Überirdischem, Realem und Irrealem sind aufgehoben: Das Bildnis hat die vollkommene Selbständigkeit des orthodoxen Kultbildes, der Ikone, erreicht; es ist gleichzeitig Bild einer Person und Symbol des personifizierten Gebets.

 

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80 Heiliger Theodoros. Keramische Ikone, Preslaw, Anfang des 10. Jh., Nationalmuseum Sofia

Eine Besonderheit der Monumentalkunst des Ersten Bulgarenreichs ist die Innenverzierung der profanen und kirchlichen Bauten mit bemalter Keramik. Neben dem selten vertretenen Mosaik und der Freskomalerei zeigt diese vom Vorderen Orient eingeführte Kunsttechnik bereits eigenständige Züge, die für die christliche Kunst Bulgariens während des ganzen Mittelalters von Bedeutung sind: betont dekorative Formen und starke Expressivität. Ein gedämpftes, fein ausbalanciertes Kolorit steigert die innere Spannung, die durch konsequente Frontalität des abgebildeten Heiligen von besonderer Wirkung ist.

 

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81 Erzengel. Fresko in der Georgsrotunde in Sofia, um 972

Eins der wenigen erhaltenen Fragmente der Bemalung aus dem 10. Jh., kurz nach der Wiederherstellung der Kirche anläßlich der Verlegung des Patriarchensitzes nach Sredec (Sofia) im Jahre 972. Die monumentale und expressive Malerei zeichnet sich durch eine helle, leuchtende Farbskala mit breiten Konturen und leichter Modellierung aus. Während bei den Prophetendarstellungen die vorikonoklastische Ikonographie der syrisch-palästinensischen Tradition nahe steht, treten bei den Erzengelfiguren bereits die klassizistisch-antikisierenden Tendenzen der höfischen Kunst Bulgariens hervor, die seit dem 10. Jh. für die kirchliche Kunst kennzeichnend sind.

 

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Dabei ist es heute kaum möglich, die hierfür erforderliche und geleistete Arbeit richtig zu ermessen: Anstelle einer bislang lediglich als Umgangssprache in mehreren, zuweilen stark abweichenden Dialekten existierenden slawischen Volkssprache entstand innerhalb weniger Jahrzehnte eine Literatursprache, deren Reichtum an Vokabeln, Synonymen und grammatischen Formen für den Ausdruck der kompliziertesten Zusammenhänge der Philosophie geeignet war. Diese Literatursprache, deren Basis der Dialekt der bulgarischen Slawen mit nicht geringen Entlehnungen aus dem protobulgarischen Wortschatz bildete, wurde zur Kirchen- und Amtssprache auch der anderen christlich-orthodoxen Slawen, wie der Russen und Serben, sowie der nichtslawischen Rumänen und blieb fast ohne Veränderungen als solche bis in die Neuzeit erhalten, trotz gewichtiger Unterschiede zu den entsprechenden slawischen Dialekten - nicht nur im Wortschatz, sondern vor allem in der Grammatik. Erst die Reform Peters I. in Rußland im 18. Jahrhundert sowie der erweiterte Gebrauch der Volkssprachen in Bulgarien, Serbien und Rumänien seit dem späten 18. Jahrhundert verdrängten nach und nach die slawisch-bulgarische Sprache aus dem öffentlichen Leben. Als Kirchensprache hat sie sich in den slawischen christlich-orthodoxen Ländern jedoch, trotz geringer Zugeständnisse an die modernen Sprachen, bis zum heutigen Tage erhalten.

 

In diesem Zusammenhang war die Rolle der Originalwerke bulgarischer Literatur keinesfalls geringer als die der Übersetzungen. Während letztere das Prägen neuer Vokabeln förderten und auf die Struktur der Sprache einwirkten, hielten die Originalwerke die Literatursprache lebendig und verhinderten so ihre Entgleisung ins Abstrakte, ihre Umwandlung in ein totes Schema.

 

Unter den zahlreichen Schriftstellern aus dem Goldenen Zeitalter der bulgarischen Kultur sind besonders hervorzuheben der Presbyter Konstantin, Tschernorisez (Mönch) Chrabar, Joan Exarch, aber vor allem der erste unter den Schülern Kyrills und Methods - Kliment. Geboren um 840 in Bulgarien, begleitete Kliment die beiden Slawenapostel durch alle Stationen ihrer Mission in Großmähren und Pannonien als ihr engster Mitarbeiter, beteiligte sich an der Übersetzung der Kirchenbücher, erhielt 869 in Rom die Priesterweihe und kam mit den anderen Schülern Kyrills und Methods 886 nach Bulgarien. König Boris konnte als Mensch mit großen Erfahrungen und beachtlichem organisatorischem Talent seine Fähigkeiten und Begabungen richtig beurteilen und entsandte ihn umgehend in die südwestbulgarischen Gebiete mit dem Auftrag, die neue Kulturpolitik in dem dritten Rcichsteil durchzusetzen, wobei Kliment zu diesem Zweck der politisch-administrative Verwalter dieses Reichsteils, Dometa, untergeordnet wurde.

 

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Die Mission Kliments in der weit von der Hauptstadt Bulgariens entfernt gelegenen Provinz - dem dritten Reichsteil - war weder Zufall, noch war sie als Verbannung anzusehen. Sie entsprach der Idee des Boris, dieses am meisten durch die Einflüsse von Byzanz gefährdete Gebiet, wo der Hauptakzent der Lehr- und Aufklärungstätigkeit gesetzt werden mußte, voll in das Bulgarenreich zu integrieren. In der Tat gelang es Kliment, hier eine Tätigkeit zu entfalten, die die von Kyrill und Method in Großmähren und Pannonien an Umfang und Intensität übertrifft. In den ersten sieben Jahren bildete Kliment im Pantelejmon-Kloster am Ochrider See 3500 Schüler aus, die den Kern der von Kliment gegründeten Westbulgarischen Schule darstellten. 893 erhielt Kliment von Boris’ Nachfolger, dem Zaren Simeon, als erster Bulgare ein Bischofsamt in der Diözese Südwestbulgarien mit dem Sitz Debrischta (nahe Drenovo im Kreis Kawadarzi), während als Nachfolger in der Lehrtätigkeit ein anderer Schüler Kyrills und Methods, Naum, nach Ochrid kam. Kurz vor seinem Tode 916 kehrte Kliment wieder nach Ochrid zurück, wo er sich im Pantelejmon- Kloster bis zu seinem Ende der Lehr- und Literaturtätigkeit widmete.

 

Kliment war ein Mann der Praxis. So gelang ihm sowohl die Ausbildung zahlreicher Schüler als auch die politische und kirchliche Organisation dieses weiten Gebiets. Seine Schriften sind ebenfalls vorwiegend für den praktischen Bedarf bestimmt - Predigten und Betrachtungen für Sonn- und Festtage. Für dieses Genre in der slawischen Literatur gilt er als Gründer; er war maßgebend beteiligt an der Umwandlung der byzantinischen Literaturform der Ekphrasis (Lobrede) in eine für breite Kreise vorgesehene populäre Form, die in der slawischen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters weit verbreitet war. Kliment wird auch die Rückkehr zum kyrillischen Alphabet und dessen Erweiterung zugeschrieben, die zur Bezeichnung bestimmter, nur für die Sprache der bulgarischen Slawen charakteristischer Laute erforderlich war.

 

 

Parallel mit der schriftstellerischen Tätigkeit, die sich auf die zahlreichen Klöster in der Umgebung von Preslaw und auf das Naum-Kloster am Ochrider See konzentrierte, entstand eine bemerkenswerte Buchmalerei, die jedoch nur in Bruchstücken überliefert ist. Zu den frühesten Denkmälern gehören eine Reihe glagolitischer Handschriften, wie der Codex Zographensis in der Saltykow-Schtschedrin-Bibliothek Leningrad, der Codex Marianus in der Lenin- bibliothek Moskau, der Codex Assemani im Vatikan und das Euchologion im Katharinenkloster vom Sinai, deren Datierung von der heutigen Forschung in der zweiten Hälfte des 9. bis zur Mitte des 10. Jahrhunderts angesetzt und mit den ersten slawischen Übersetzungen von Kyrill und Method in Zusammenhang gebracht wird. Die ikonographischen und stilistischen Beziehungen der Illustrationen dieser Handschriften zur Kunst des christlichen Ostens sind

 

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hauptsächlich auf das langjährige Wirken beider Gründer des slawisch-bulgarischen Schrifttums in den kleinasiatischen Klöstern zurückzuführen, wo die Übersetzungen und die ersten Abschriften kirchlicher Texte angefertigt worden sind. Obgleich der künstlerischen Überlieferung des christlichen Ostens verpflichtet, zeigt der vorwiegend aus Initialen und ornamentalen Zierleisten bestehende Schmuck der Handschriften auch eigene schöpferische Leistungen,

 

82 Löwe. Relief aus einer Chorschranke, Stara Sagora, roter Schiefer. 9. Jh., Archäologisches Museum Sofia

Die Abweichung vom traditionellen Bildprogramm der Chorschranken und das Auftreten stilisierter Tierdarstellungen neben den christlichen Symbolen sind auf die überlieferte mittelasiatische Formensprache zurückzuführen, die während der Übergangszeit immer noch in der bulgarischen Kunst dominierte. Die phantastischen Schöpfungen, in denen die Tiermotive - in erster Linie die protobulgarischen heraldischen Löwen - mit Gestalten von Ungeheuern verschmelzen, haben ihren Ursprung in der Naturreligion der Völker Mittelasiens, wo sie als Symbole der Naturgewalt die Phantasie der Menschen beherrscht haben. Diese Bildwelt prägte weitgehend die Bauplastik nicht nur der profanen, sondern auch der christlichen kultischen Bauten des Ersten Bulgarenreichs und ging von dort auf die ornamentale und figurale Verzierung der kirchlichen Bücher über, deren Ausstattung sie bis zum Spätmittelalter beherrschte.

 

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83 Naumkirche im Erzengel-Kloster am Ochridsee. Gegründet im 10. Jh.

 

 

die sich vor allem in kunstvoll mit dem Ornament verwobenen Tier- und Menschendarstellungen äußern. Diese Motive, die sich zu seltsamen Gebilden phantastischer Formen entwickelten, wurden - dem kyrillischen Alphabet entsprechend umgearbeitet - in spätere Handschriften übernommen und dienten als Grundlage der südslawischen und russischen Buchmalerei des 15. Jahrhunderts mit ihrem teratologischen Stil.

 

Die Prachthandschriften der Preslawer Schule aus der Blütezeit der bulgarischen Buchmalerei sind bis auf sehr wenige nicht erhalten.

 

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84 Zierleiste und Initiale aus dem Codex Assemani. Tempera auf Pergament, 10. Jh., Vatikan, Cod. Slav. 3, Fol. 157V

Die wohl älteste erhaltene slawische Handschrift - ein glagolitisches Evangeliar - folgt den in kleinasiatischen Klöstern entstandenen slawischen Übersetzungen

 

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85 Evangelist Markus. Miniatur aus dem Ostromir-Evangeliar, Temperafarben mit Blattgold auf Pergament, 1056/1057 (?), Leningrad, Saltykow-Stschedrin-Bibliothek, Fn I, 5, Fol. 126

Die vermutlich einem nicht mehr erhaltenen bulgarischen Vorbild folgende Darstellung des Evangelisten Markus in der ältesten russischen Handschrift zeigt einen der mittelbyzantinischen Ikonographie fremden und ungewöhnlichen Evangelistentypus, der mit seiner exaltierten Haltung und dem daneben abgebildeten Evangelistensymbol der frühchristlichen Auffassung entspricht, wonach die Evangelisten als erleuchtete Vermittler der göttlichen Weisheit und nicht als menschliche Zeugen - wie in der mittelbyzantinischen Konzeption - erscheinen.

 

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Es existieren jedoch russische Abschriften, die weitgehend originalgetreu den bulgarischen Prototypen gefolgt sind. Stil und Ikonographie, die sich grundsätzlich vom Byzantinischen unterscheiden, lassen wiederum mehrere Eigenschaften der Kunst des christlichen Ostens hervortreten, die durch Vermittlung der kleinasiatischen Klöster sowie durch eine ununterbrochene Traditionskette in Bulgarien lebendig geblieben sind und nie den verheerenden Folgen des Bilderstreits ausgesetzt waren. Im Unterschied zu den höfischen Malern Konstantinopels bestand für die bulgarischen Miniatoren in der Zeit nach dem Bilderstreit keine Notwendigkeit, neue ikonographische Typen zu schaffen. Sie entwickelten die überlieferten Vorbilder weiter und prägten ihnen ihre künstlerischen Auffassungen auf. Das zeigen am deutlichsten die Initialen, deren Ornamentik weitgehend mit dem mittelasiatischen Tiergeflecht durchsetzt ist. Nicht weniger aufschlußreich für die bulgarische Kunstauffassung sind Typologie und Ikonographie der Evangelistendarstellungen. Die Evangelisten erscheinen nicht wie in Byzanz in ruhiger und konzentrierter Stellung, wie antike Philosophen in ihre Schriften vertieft oder nachdenkend, sondern in einer exaltierten Haltung, den Blick nach oben, zu ihren Symbolen gerichtet. Es handelt sich hier keinesfalls nur um zwei bildnerische Varianten ein und desselben Schemas; vielmehr treten zwei grundsätzlich unterschiedliche theologische Konzeptionen zutage: die durch die Mystik der östlichen Symbolsprache geprägte frühchristliche Konzeption des Evangelisten als eines erleuchteten Vermittlers der göttlichen Weisheit und die mittelbyzantinische, die in den Evangelisten lediglich menschliche Zeugen darstellt.

 

 

Zu Beginn des 10. Jahrhunderts brachte die bulgarische Monumentalkunst eine neue Stilrichtung hervor. Am bauplastischen Schmuck der öffentlichen Bauten Preslaws trat eine bis dahin unbekannte klassizistisch-antikisierende Tendenz in Erscheinung. Obgleich schon die ersten bulgarischen christlichen Bauten - die Erzbischofsbasilika in Pliska und die Bischofskirche in Glawniza - mit ihren Portalen, Säulenreihen, Exedren und der Wiederanwendung all der anderen antiken Formen bei der inneren, aber vor allem bei der äußeren Verzierung der Kirchenbauten auf eine Besinnung auf die Antike hindeuteten, erfaßte dieser Klassizismus erst an den Bauten des frühen 10. Jahrhunderts nach und nach die gesamte Bauplastik. Dieser Stilwandel ist zunächst an den marmornen Relieffriesen des Palastes und der Kirche Gebe-klisse sichtbar. Mehrere symmetrisch aufgebaute quadratische Bildfelder sind mit stilisierten pflanzlichen Motiven geschmückt. Ihre Formen und ihre präzise Ausführung erinnern an die besten Werke byzantinischer Bauplastik aus dem Zeitalter Justinians I., doch hat sich das Ornament weiterentwickelt. Diese klassizistische, renaissanceartige Tendenz, die für die Zeit der höchsten Blüte der bulgarischen Kunst

 

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86 König Boris. Miniatur aus einem Sammelband mit belehrenden Texten des Presbyters Konstantin von Preslaw, Tempera auf Pergament, 10. Jh., Historisches Museum Moskau, Sin. 262, Fol. A

Im Unterschied zu vielen russischen Kopien und Nachbildungen bulgarischer Kirchenbücher aus dem 10. Jh. mit ihrem Bildschmuck zeigt der in Moskau aufbewahrte Kodex - wie auch der angeblich aus dem Jahre 1073 stammende Sbornik des bulgarischen Zaren Simeon - eine bulgarische Originalhandschrift, die aus den hauptstädtischen höfischen Skriptorien des Ersten Bulgarenreichs hervorgegangen ist und deren Titelminiatur den bulgarischen König Boris in einem Rahmen aus friesartigen Ornamentleisten zeigt, die für die dekorative Kunst von Preslaw kennzeichnend sind und deren bemalte Kapitelle den bauplastischen Schmuck der Kirche im Kloster Patlejna bei Preslaw nachbilden.

 

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und Kultur in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts stilbestimmend wirkte, entfaltete sich an der kurz vor 907 vollendeten Runden Kirche von Preslaw mit voller Kraft. Hier, an dem bedeutendsten Bauwerk des Ersten Bulgarenreichs, kehren eine ganze Reihe von Formen und Ornamenten der spätantiken Kunst wieder, die sich durch Klarheit, Deutlichkeit und Ausgewogenheit auszeichnen. Alle diese Formen sind den antiken Vorbildern nicht einfach nachgeahmt, sondern sie sind weiterentwickelt und nachempfunden. An der Säulenordnung treffen wir Friese mit stark stilisierten drei-, fünf- und siebenblätrrigen Palmetten und Halbpalmetten, Trauben, Akanthus- und Weinblattranken. Das antike Ornament ist schöpferisch umgestaltet, um den Empfindungen des 10. Jahrhunderts zu entsprechen. Das Akanthusblatt verwandelt sich im Sinne der christlichen Symbolsprache in eine akanthisierende Palmette, eine Halbpalmette oder in das ebenso von den Akanthusformen beeinflußte stilisierte Weinblatt. Dieser Prozeß setzte bereits in justinianischer Zeit ein, stagnierte jedoch während der darauffolgenden starken Geometrisierung der Naturformen, die bald größtenteils durch abstrakte geometrische Figuren abgelöst wurden. Das Zurückgreifen auf pflanzliche Naturformen der Antike für den bauplastischen wie für den keramischen Schmuck der Bauwerke Preslaws stellt eine Besonderheit dieser bulgarischen Renaissanceströmung zu Beginn des 10. Jahrhunderts dar. Sic unterscheidet sich wesentlich von der sogenannten Makedonischen Renaissance der zeitgenössischen byzantinischen Kunst, bei der die Wiederbelebung der Antike nicht über den Rahmen der Buchillustration und der Kleinkunst hinausging.

 

Nicht nur Motive und Ornamentik der Preslawer Bauten des 10. Jahrhunderts knüpfen an antike Vorbilder an, auch ihre Anordnung erfolgt im Sinne der antiken Kunst. Die Einführung der Säule mit vorwiegend dekorativer Funktion bei der Außengestaltung des Atriums der Runden Kirche und die Gliederung seiner Innenwände in einzelne halbkreisförmige Exedren sowie das Errichten antiker Portale an allen Eingängen stellen Eigenarten der römischen Antike dar,

 

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die sich in der zeitgenössischen Kunst Konstantinopels nicht finden lassen. Ebenso antikisch ist das Vorherrschen der ovalen und halbzylindrischen Form. Die Vorliebe für solche Formen ist ein weiteres Kennzeichen der Kunst der bulgarischen Renaissance des 10. Jahrhunderts, das den Unterschied zu den polygonalen Apsiden und Tambouren sowie zu der gebrochenen Linie der Silhouette bei den Kirchen Konstantinopels sofort verdeutlicht. Sie begleitet die bulgarische Baukunst auch weiterhin und entfaltet sich an der Außenverzierung der hochmittelalterlichen Kirchen mit voller Kraft.

 

Eine der wichtigsten Besonderheiten der klassizistischen Richtung der bulgarischen Kunst des 10. Jahrhunderts ist die Rückbesinnung auf das menschliche Maß sowohl bei den Bauten als auch bei der Komposition der Wandbilder und der Ornamentik. Damit wurden - im Gegensatz zu den wuchtigen Riesenormen der protobulgarischen Paläste und der ersten christlichen monumentalen

 

87 Runde Kirche in Preslaw. Anfang 10. Jh., Rekonstruktion

 

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88 Ornamentfriese aus der Runden Kirche in Preslaw. Bemalte und glasierte Keramik

 

 

Bauten im Bulgarenreich - Ausgewogenheit und Harmonie angestrebt, wobei die menschliche Gestalt, wie bei der griechischen Antike, als Maßstab diente. An diesem Maßstab hält auch die plastische und bemalte Verzierung fest, die üppig-monumentale Formen wie auch Kontraste und den Glanz intensiver Farben vermeidet, um ihr Schönheitsideal im Rhythmus der ausgewogenen Formen sowie der harmonisch abgestimmten Farbpalette zu finden.

 

Wenn der neue antikisierende Stil der bulgarischen Monumentalkunst des 10. Jahrhunderts die ästhetischen und künstlerischen Prinzipien der spätantiken Kunst weiterentwickelte und nicht eine byzantinische Umformung darstellt, so deshalb, weil die jüngere Generation der Bildhauer und Maler ihre Anregungen in den bulgarischen Gebieten von Histros, Marcianopolis und Nikopolis ad Istrum bis Philippi und Stobi fand, die reich an antiken Denkmälern hoher Qualität waren. Der klassizistischen Strömung des 10. Jahrhunderts entsprechend, übernahmen die bulgarischen Künstler antike Formen in einer schöpferisch bewußten Verwandlung, die nur für diese Epoche und diese Kulturlandschaft typisch ist.

 

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89 Marmorrelieffries aus der Runden Kirche in Preslaw. Nationalmuseum Sofia

 

 

Solche Formen sind an den zeitgenössischen Bauten Konstantinopels undenkbar; ebenso sind bis zur letzten Renaissance der antiken Kunst im Byzanz des 14. Jahrhunderts keine Säulenreihen und Friese mit plastischem Schmuck an byzantinischen Bauten zu finden. Während sich in der Kunst Konstantinopels die Verbindung mit der Antike auch weiterhin lediglich auf die Buchillustration und die Kleinkunst erstreckte, erfaßte die klassizistisch-antikisierende Tendenz in Bulgarien alle Gebiete der Architektur und Monumentalkunst.

 

 

Die unmittelbaren Bindungen an die frühchristliche Kunsttradition sowie der Rückgriff auf antike Formen und deren Naturtreue und Harmonie unter Zugrundelegung eines auf den Menschen bezogenen Maßes waren für die bulgarische Renaissance des 10. Jahrhunderts nur zwei von mehreren Aspekten, die den großen kulturellen Aufschwung - das »Goldene Zeitalter« - charakterisierten. Es war von fundamentaler Bedeutung, daß die Triebkraft dieses Aufschwungs die Zentralmacht des autokratischen Herrschers war, die in sich die Führung des Staates in seiner größten Ausdehnung in der Geschichte und außerdem die Oberhoheit über die unabhängige bulgarische Kirche unter einem autochthonen Patriarchen vereinigte. Tatsächlich ist die bulgarische Renaissance auf das engste mit Simeon, dem »Zaren der Bulgaren und Griechen«, verbunden. Er wurde von seinen Zeitgenossen nicht nur als »der mächtigste Herrscher«, sondern auch als »neuer Ptolemäus« gepriesen, der in seinen Palästen alle göttlichen Bücher gesammelt habe. Der Bischof von Cremona, Liutprand, drückte seine Bewunderung aus, als er vom Studium Simeons in der Magnaura-Schule zu Konstantinopel berichtete, wo sich der zukünftige Herrscher Bulgariens mit den Werken des Demosthenes und des Aristoteles beschäftigt habe. Alle zur Zeit des Zaren tätigen Übersetzer und Autoren bulgarischer Bücher betonten ausdrücklich, daß ihre Werke auf seine Veranlassung geschrieben wurden. Wie groß seine Bedeutung für die humanistischen Tendenzen des Goldenen Zeitalters auch gewesen sein mag, man darf dennoch nicht vergessen, daß dieser Herrscher als Exponent einer bestimmten Schicht der bulgarischen Gesellschaft hervortrat.

 

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Die gesamte kulturelle Tätigkeit vollzog sich im Rahmen des Frühfeudalismus, da der Entwicklungsstand der Produktivkräfte für die Herausbildung einer starken Bürgerschicht nicht ausreichte. So beschränkte sich diese Kulturblüte auf den Kreis des Hofes und des Hochklerus, ohne starke Auswirkungen auf die breiten Bevölkerungsschichten zu haben.

 

Der kulturelle Aufschwung im Goldenen Zeitalter Bulgariens war von der Festigung des Reichs und seiner größeren Bedeutung auf der politischen Bühne Europas, besonders aber von einer Umwälzung der wirtschaftlichen Struktur des Landes begleitet, die mit der Durchsetzung der Feudalverhältnisse verbunden war. In andauernden und häufig weit über die diplomatische Tätigkeit hinaus in heftige kriegerische Auseinandersetzungen reichenden Machtkämpfen mit Byzanz, die dem von Boris geschlossenen 40 Jahre dauernden Frieden folgten, gelang es Simeon, die Macht Bulgariens zu behaupten, obgleich sein Ziel - die Unterwerfung Konstantinopels und die Herrschaft über das ganze Byzantinische Imperium - unerreicht blieb. Ihm gelang es ebenfalls nicht, die byzantinische Anerkennung weder für seinen dem Kaisertitel entsprechenden Zarentitel noch für den Patriarchentitel des Oberhauptes der selbständigen bulgarischen Kirche zu erzwingen. Der Tod Simeons 927 setzte diesen Ambitionen ein Ende. Der kurz darauf folgende Friedensschluß sicherte freilich durch Vertrag seinem Nachfolger Peter sowohl den Zarentitel als auch - durch die Vermählung mit der Enkelin des byzantinischen Kaisers Romanos Lakapenos, Marie-Irene - eine Bindung an die herrschende byzantinische Kaiserdynastie, ohne ihm aber Vorrechte auf den Thron des byzantinischen Kaisers einzuräumen, denn nach dem byzantinischen Staatsrecht war die Thronnachfolge auf diese Weise ausgeschlossen. Ohne praktische Auswirkung für Bulgarien blieb auch die durch den Friedensvertrag bestätigte Anerkennung des Patriarchentitels des bulgarischen Kirchenoberhauptes. Sie erfolgte allein durch die byzantinische Staatsmacht, während das Konstantinopler Patriarchat jegliche Anerkennung des selbständigen Bulgarischen Patriarchats verweigerte; ja es lehnte sogar ab, das über die bulgarische Kirche verhängte Schisma aufzuheben. Dies führte zu weiteren Konfrontationen zwischen beiden Kirchen, die ein Jahrhundert später für Bulgarien verheerende Folgen haben sollten.

 

Der trotz des Schismas begonnene Prozeß einer allmählichen Byzantinisierung der bulgarischen Kirche, die Einführung der Feudalordnung innerhalb der kirchlichen Institution nach dem Tode Simeons und die rasche Ausbreitung mehrerer gegen die offizielle Kirche gerichteter religiöser Lehren rief auch auf geistig-religiösem Gebiet eine Spaltung hervor. Die Bistümer und Klöster entwickelten sich zu den reichsten Feudalbesitzern, die große Macht über die ihnen untergeordnete Bevölkerung auszuüben vermochten.

 

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Als eine Reaktion gegen den äußeren Glanz und die zunehmende Verweltlichung der kirchlichen Institution regte sich auch innerhalb der Kirche eine starke Opposition, die ihren Ausdruck in der vom heiligen Iwan von Rila (um 876-946), dem bedeutendsten bulgarischen Einsiedler, eingeleiteten Massenbewegung der Resignation und der Flucht aus dem öffentlichen Leben fand.

 

90 Die Festung Samuils in Ochrid. Ende 10. Jh.

 

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Von inneren Widersprüchen geschwächt und von allen Seiten bedroht, fiel der Ostteil des Bulgarenreichs mit der Hauptstadt Preslaw 972 dem Ansturm der Byzantiner zum Opfer. Damit war allerdings der Zweikampf beider Großmächte Südosteuropas keinesfalls zu Ende, und es trat bald eine Wende ein. Trotz der Eingliederung des ganzen Ostteils Bulgariens und der Gefangennahme des bulgarischen Zaren Boris II. mit seinem Bruder Roman in Konstantinopel gelang cs den Byzantinern nicht, die südwestlichen Gebiete Bulgariens - den dritten Reichsteil - zu unterwerfen, die weiterhin unter der Kontrolle der bulgarischen Zarendynastie blieben. David, Moissej, Aaron und Samuil - die vier Söhne von Nikola, dem Verwalter dieses Gebietes, einem Enkel des bulgarischen Königs Boris I. und einem Vetter Simeons - bildeten eine Regentschaft ursprünglich mit dem Sitz in Sredec (Sofia), später in Prespa und schließlich in Ochrid, wo auch der bulgarische Patriarch seinen Amtssitz hatte. Von hier aus wurde der Kampf gegen Byzanz weitergeführt, der schon 976 zum Anschluß sämtlicher von Byzanz eroberten Gebiete an das Bulgarenreich führte. Innerhalb der beiden nächsten Jahrzehnte breitete sich der Krieg wieder auf die byzantinischen Gebiete von Südostthrakien über Sterea Hellas, Südepiros und Thessalien bis hin zum Peloponnes aus. An der Spitze Bulgariens stand neben dem Regenten Samuil auch der inzwischen von Konstantinopel geflüchtete Nachfolger des verstorbenen Boris II., Roman. Nach dessen Tod 996/997 erhielt Samuil vom bulgarischen Patriarchen die Zarenkrone.

 

Die praktisch schon ein Viertel Jahrhundert zuvor begonnene und noch fast zwei Jahrzehnte weiter andauernde Regierung Samuils bildete neben der Herrschaft Simeons einen der großartigsten und glorreichsten, aber zugleich wohl einen der tragischsten Abschnitte bulgarischer Geschichte. Infolge seiner überaus starken Energie und des beachtlichen Talents eines tapferen, obwohl sehr ungestümen Feldherrn wuchs die Macht des Bulgarenreichs aufs neue an und breitete sich nunmehr in den achtziger und neunziger Jahren des 10. Jahrhunderts noch weiter nach Süden und Westen aus als in der Zeit Simeons; ganz Thessalien mit Larissa, Sterea Hellas und Nordepiros mit Dratsch (Dyrrhachion) wurden dem Bulgarenreich einverleibt. Obwohl der byzantinische Kaiser Basileios II. gegen Bulgarien alle byzantinischen Ressourcen in einem mehr als vier Jahrzehnte andauernden Krieg konzentrierte und in der Kriegführung zu Mitteln griff, die keiner seiner Vorgänger und Nachfolger angewandt hatte, gelang es ihm nicht, die militärische Macht Bulgariens zu brechen. Für diese in ihrer Grausamkeit exemplarische Kriegführung ist eine Episode in der Geschichte festgehalten, die dem byzantinischen Kaiser für immer den stolzen Beinamen »Bulgarentöter« verlieh: Laut historischer Quellen ließ Basileios alle 14000 bulgarischen gefangenen Soldaten nach der Schlacht von Belassiza im Jahre 1014 blenden,

 

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wobei er lediglich jeweils einem von hundert ein Auge ließ, damit dieser seine Kameraden nach Hause führen konnte. Es wird in der Chronik weiter berichtet, daß beim Anblick seiner geblendeten Soldaten Samuil einen Herzanfall bekommen habe, der wenige Tage später seinen Tod verursachte.

 

Auch solche Mittel erwiesen sich jedoch als unzureichend und brachten Basileios II. den Sieg nicht. Bedeutend erfolgreicher waren die von Byzanz angestifteten Intrigen, die innerhalb des Feudalstaates Samuils zur Spaltung führten. So gelang es Basileios nicht nur, mit Hilfe des Metropoliten von Bdin (Widin) den Nordteil des Bulgarenreichs abzuspalten, sondern auch selbst den Schwiegersohn Samuils, den Verwalter von Dyrrhachion, mit großzügigen Versprechungen auf byzantinische Staatsdienste und Würden zum Verrat zu überreden.

 

Die inneren Machtkämpfe in Bulgarien nach dem Tode Samuils, die in einem Zeitraum von vier Jahren zu doppeltem Wechsel auf dem Thron der bulgarischen Zaren führten, erhöhten die Chancen der Byzantiner, die nicht unbeteiligt diese Krise verfolgten. Schließlich fiel 1018 während der Belagerung von Dyrrhachion durch die bulgarische Armee auch der letzte Vertreter der alten bulgarischen Dynastie, Zar Iwan Wladislaw, einem Verrat zum Opfer und hinterließ einen minderjährigen Nachfolger. Basileios leitete umgehend Friedensverhandlungen ein, die auf bulgarischer Seite von der Zarin und dem Patriarchen geführt wurden. Nach langen Verhandlungen kam es zu einer Friedensvereinbarung und zu einem dynastischen Bündnis zwischen beiden Staaten, Byzanz und Bulgarien. Bulgarien sollte seine politische und kirchliche Autonomie behalten. Sämtliche Feudalherren blieben im Besitz ihrer Ländereien und Vorrechte, sollten aber dem byzantinischen Kaiser den Treueid schwören. Die Mitbeteiligung der bulgarischen Zarendynastie an der Macht sollte durch Vermählung der bulgarischen Prinzessinnen mit den Thronfolgern von Byzanz gewährleistet werden. Der bulgarischen Kirche blieb die Autonomie über das ganze Gebiet des Bulgarenreichs zur Zeit Simeons nach dem Friedensvertrag von 927 erhalten, ihrem Oberhaupt sollte lediglich der Titel »Patriarch« vorenthalten und in »Erzbischof« umgewandelt werden; die Wahl eines Erzbischofs blieb aber weiterhin das Recht der bulgarischen Synode. Damit wurde vorerst dem dreieinhalb Jahrzehnte andauernden Machtkampf zwischen Byzanz und Bulgarien ein Ende gesetzt.

 

 

Es ist bemerkenswert, welch eine Fülle an schöpferischen Leistungen in der Kunst den stürmischen Aufstieg Bulgariens unter Samuil trotz der andauernden Kriege begleitete und sich bis zur letzten Phase der totalen Isolierung des Bulgarenreichs entfaltete.

 

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Die Verlagerung der Staatsmacht und der kirchlichen Obrigkeit in die ehemals südwestlichen Randgebiete des Landes, die nunmehr zu einem Mittelpunkt des öffentlichen, politischen und kulturellen Lebens wurden, bewirkte zugleich eine Übersiedlung der Künstler. So ist es uns nun möglich, auch die Wanderung der höfischen Malerwerkstatt von den siebziger bis in die neunziger Jahre des 10. Jahrhunderts durch alle ihre Zwischenstationen zu beobachten, wo trotz verheerender Auswirkungen der Kriege zahlreiche Zeugnisse ihrer Tätigkeit überliefert sind. Zugleich können wir auf diese Weise den letzten Stilwandel der bulgarischen bildenden Kunst vor der Jahrtausendwende verfolgen, der durch gegenseitige Einwirkungen des Klassizismus der Preslawer Schule und des Expressionismus der westbulgarischen Gebiete gekennzeichnet ist; letzterer besaß eine lange, bis in die Zeit vor den Bilderstürmen zurückreichende Tradition. Durch diese gegenseitige Befruchtung kam es zu einer neuen Kunstauffassung, es entstand eine neue Ästhetik, die ihre Gültigkeit für die bulgarische Kunst bis zum Ausgang des Mittelalters behielt und während der zweiten Blüte der bulgarischen Kultur im 13. Jahrhundert die ganze Kunsttätigkeit prägte.

 

Die um 972 entstandenen Fresken der zeitweilig zur Patriarchenkathedrale gewordenen Georgsrotunde in Sredec (Sofia), von denen relativ gut heute allein die riesengroßen Engelbildnisse erhalten geblieben sind, gehören zu den ersten Arbeiten dieser höfischen Werkstatt nach der Auswanderung, sie zeigen die wichtigsten Charakterzüge dieses Stilwandels: Das antike Schönheitsideal wird durch eine innere, geistige Schönheit bereichert. Die Gesamtproportionen, die Ausgewogenheit der Komposition und die harmonischen Bewegungen der Figuren werden den Regeln und den Gesetzen der antiken Kunst untergeordnet, zugleich treten aber erneut ein Monumentalismus und eine Akzentuierung des Ausdrucks hervor, die nichts mit der Antike gemeinsam haben - die Augen und besonders die Pupillen werden überproportional vergrößert dargestellt, der Blick erhält dadurch eine bannende Kraft, die auf den Betrachter eine außerordentlich starke Wirkung ausübt. An der nächsten Station derselben Werkstatt - der zweiten Ausmalung der Bischofskirche zu Strumica nahe Vodoča - treten diese Charakterzüge an den monumentalen Fresken noch deutlicher hervor. Auf dem Bildnis des Diakons Isauros finden wir die bereits vollzogene Umwandlung des Bildnisses zu einer Ikone; das Bild verliert immer mehr von seiner realistischen Substanz, es hört auf, Widerspiegelung der Natur zu sein, und verwandelt sich in ein eigenes Wesen, in die Verkörperung einer Idee. Am aufschlußreichsten ist jedoch der Stilwandel an den Sanktuariumsfresken der Sophienkirche in Ochrid (um 997) feststellbar, wo nebeneinander die wohl bedeutendsten Werke beider Stilrichtungen vertreten sind: die Reihe mit Bildnissen der Kirchenlehrer, ein Werk der Preslawer Hofwerkstatt, und das expressive Marienbild in der Apsis, ein Meisterwerk der westbulgarischen Malerschule,

 

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91 Diakon Isauros. Fresko in der Sweti-Lawrentij-Kirche bei Vodoča, Ende 10. Jh.

Die zur zweiten Malschicht der Bischofskirche zu Strumica gehörenden fragmentarisch erhaltenen Diakondarstellungen entstammen derselben höfischen bulgarischen Werkstatt, aus der ein Teil der Fresken in der Georgsrotunde in Sofia und der Sophienkirche in Ochrid hervorgegangen sind, und führen dieselben klassizistisch-antikisierenden Tendenzen der Preslaw-Schule fort, zeigen zugleich aber eine noch stärkere Akzentuierung des Ausdrucks, die durch eine Überproportionierung der Augen und Pupillen erzielt wird, wodurch dem Blick der Heiligen eine bannende Kraft verliehen wird.

 

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bei dem die fast tausendjährige Tradition der christlichen symbolischen Bildsprache unvermindert stark zum Ausdruck kommt.

 

Die einzig- und eigenartigen Leistungen auf dem Gebiet der Baukunst äußern sich in der endgültigen Durchsetzung des extrovertierten malerischen Baustils, der um die Jahrtausendwende an den Kirchen von Kostur (Kastoria), aber auch an zahlreichen anderen Bauten im ganzen Bulgarenreich seine Blüte erreicht. Glatte und graue Außenmauern finden sich an den Kirchenbauten nicht mehr - die großen Flächen werden durch die weiß-roten Streifen der Mischtechnik oder die miteinander abwechselnden Streifen von Backsteinen und Mörtel bei der Bautechnik mit eingezogenen Zwischenreihen belebt; gelegentlich erscheint auch das Kästelmauerwerk, wodurch an den Fassaden der Kirchen verschiedenartige Figuren und Ornamente erzeugt werden, zuweilen unter Anwendung von keramischen Inkrustationen. Alles drückt Lebensfreude und Optimismus aus, die kaum mit der perspektivlosen, schicksalhaften Verurteilung des Bulgarenreichs vereinbar sind. Oder war eben diese Lebensfreude, der ungebrochene Glaube an die Zukunft das, was die Künstler und das Volk über alle enormen Anstrengungen der unendlichen Kriege hinweg überdauern ließ?

 

Zu den bedeutendsten Leistungen der Kunst während der letzten Jahrzehnte des Bulgarenreichs gehört auch die Literatur. In sämtlichen Skriptorien Bulgariens hielt die Anfertigung prachtvoller Codices für den gestiegenen Bedarf an Kirchenbüchern unvermindert an. Die Christianisierung der Kiewer Rus Ende der achtziger Jahre erweiterte die Aufgaben der bulgarischen Skriptorien wesentlich. Dem Beispiel des Königs Boris folgend, jagte der russische Fürst Wladimir alle griechischen Geistlichen schon kurz nach ihrer Ankunft wieder aus Kiew hinaus, trennte sich von seiner byzantinischen Gemahlin Anna - der Schwester Basileios II. -, die er mit der Taufe zur Frau bekommen hatte, und schickte sie ins Kloster. Kurz darauf ließ Wladimir bulgarische Missionare in die Kiewer Rus holen, die in weniger als vier Jahrzehnten eine nicht mehr wegzudenkende Basis für die slawisch-bulgarische Sprache in der russischen Kirche schufen.

 

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92 Gottesmutter Nikopoia (Siegbewirkende). Fresko in der Apsis der Sophienkirche in Ochrid, 9. Jh.

Die komplizierte frühchristliche Symbolsprache, die sich in den westbulgarischen Gebieten bis zum Spätmittelalter hält, beherrscht Bildprogramm und Inhalt der ganzen Kirchenmalerei. So liegt der gesamten Bildgestaltung der Gedanke von der Aufeinanderbezogenheit der himmlischen und der irdischen Kirche zugrunde, die erstere durch Christus Pantokrator mit den Himmelsmächten und die letztere durch die Gottesmutter mit den Aposteln vertreten. Als Symbol für die gottmenschliche Natur Christi erscheint das Bild des Christuskindes in der Form eines Medaillons.

 

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Diese Sprache ist auch nach dem neuerlichen Einzug byzantinischer Geistlicher in Rußland Ende der dreißiger Jahre des u. Jahrhunderts ebenso wie die sehr weit verbreiteten bulgarischen Kirchenbücher beibehalten worden. Auf diese Weise blieb ein großer Teil der von Kyrill und Method und ihren Schülern geschaffenen Übersetzungen in einer Zeit erhalten, als in Bulgarien die Verfolgung der bulgarischen Sprache bereits einsetzte, wodurch im Lande selbst fast die gesamte bulgarische Literatur vernichtet wurde.

 

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