Kulturgeschichte im Prisma: Bulgarien vom Altertum bis 1878

Assen Tschilingirov

 

(6) Spätantike und Völkerwanderung

 

57 Römische Festung in Belogradtschik
58 Diokletian. Marmorkopf, Anfang 4. Jh., Nationalmuseum Sofia
59 Enkolpion. Weißmetall (Legierung aus Blei und Kupfer), 6. Jh., Bezirksmuseum Stara Sagora
60 Enkolpion-Staurothek. Gold, getrieben mit Zellenschmelz, letztes Drittel 11. Jh., Nationalmuseum Sofia
61 Heiliger Aretas. Fresko in der Kirche von Bojana, 1259
62 Heiliger Iwan von Rila. Fresko, Johanneskirche in Semen
63 Fußwaschung. Fresko in der Kirche Johannes des Täufers im Erzengel-Höhlenkloster bei Iwanowo, um 1232-1255
64 Johannes-Aleiturgetos-Kirche in Nessebar. 14. Jh.
65, 66 Lobpreisung Gottes. Details mit den Gruppen der Musikanten und der Tanzenden, Fresken im Narthex der Christi-Verklärungs-Kapelle im Chreljo-Turm, Rila-Kloster, 1334 bis 1335
67 Protobulgarischer Krieger. Darstellung auf dem Gefäß Nr. 2 des Goldschatzes aus Nagyszentmikl
ós, Kunsthistorisches Museum Wien
68 Der protobulgarische Kalender. Zeichnung
69 Protobulgarisches Amulett. Bronze, 8.-9. Jh., Archäologisches Museum Sofia
70 Flötenspielerin. Sandsteinrelief, Stara Sagora, 9. Jh., Archäologisches Museum Sofia

 

Die bereits in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts einsetzende Krise im politischen und kulturellen Mittelpunkt des Imperium Romanum - in Rom und Italien deren Ursachen hauptsächlich im Wirtschaftsbereich lagen, wuchs bald zur größten Krise der Sklavenhaltergesellschaft schlechthin an. Die Verlegung der Hauptstadt nach Konstantinopel im Jahre 330 war nur ein erstes Symptom für den Untergang Roms als Weltmacht, dessen politische und wirtschaftliche Bedeutung nach der Teilung des Imperium Romanum noch weiter absank. Dem durch starke innere Widersprüche geschwächten Reich nahte dazu eine gewaltige Bedrohung von außen; die volkreichen Horden der unzähligen Nomadenvölker drängten vom Nordosten und das Persische Reich der Sassaniden seit 226 vom Südosten her zu den Grenzen des Reiches. Wenn auch die ersten Überfälle der Goten, Sarmaten und Markomannen im 3. Jahrhundert zurückgeschlagen werden konnten, so war es dennoch mit dem Frieden ein für allemal vorbei. Die Siege der Römer waren nur provisorisch und wurden mit hohen Verlusten bezahlt — im Jahre 251 fiel sogar Decius auf dem Kampffeld bei Abrittus als erster römischer Kaiser, der während einer Feldschlacht umgekommen ist. Die Goten drangen sehr tief in das Reich ein, zerstörten und plünderten weite Gebiete, und anschließend zogen sie ungehindert mit reicher Beute zurück.

 

Im Jahre 275 sah sich Kaiser Aurelian zum Rückzug hinter den Limes - die Donaugrenze - und zur Freigabe aller davorliegenden Gebiete gezwungen. Nördlich des Balkangebirges wurden anstelle der aufgegebenen Provinz Dacia superior zwei neue Provinzen, Dacia ripensis mit Hauptstadt Ratiaria (Artschar) und Dacia mediterranea mit der Hauptstadt Serdica (Sofia) gebildet und stark militärisch ausgebaut. Die Donaugrenze wurde mit zahlreichen neuen Festungen bestückt, während die inzwischen ausgebesserten strategischen Straßen mehrere befestigte Stützpunkte für den schnellen und sicheren Transport von Truppen erhielten. Auch die meisten Städte im Balkaninneren wurden mit starken Festungsmauern ausgestattet, während die bereits vorhandenen Fortifikationsanlagen erneuert wurden - Beispiele dafür liefern die bis heute zum großen Teil erhaltene Festungsmauer der kaiserlichen Residenzstadt Diokletianopolis (Hissar) sowie Teile der Stadtmauern von Serdica, Philippopel (Plowdiw) und Mesembria (Nessebar).

 

Die innenpolitischen Auseinandersetzungen im Imperium Romanum führten nach der relativen Stabilisierung der Tetrarchie unter Diokletian (284-305) erneut zu Kriegshandlungen zwischen den Teilherrschern.

 

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57 Römische Festung in Belogradtschik

 

 

Den Sieg über seinen Gegner Licinius im Jahre 324 feierte Konstantin mit der Gründung der neuen Hauptstadt des Imperium Romanum, die seinen Namen tragen sollte — Konstantinopolis - und deren Weihe im Jahre 330 stattfand. Die neue Hauptstadt wurde innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums unter Beteiligung der Baumeister und Künstler aus dem ganzen Imperium, einschließlich 40000 gotischer Föderalen, ausgebaut. Zur Verzierung der öffentlichen Bauten und der Plätze brachte man hierher - wie seinerzeit nach Rom -

 

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58 Diokletian. Marmorkopf, Anfang 4. Jh., Nationalmuseum Sofia

 

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aus allen unterworfenen Ländern bedeutende Kunstwerke, die Konstantinopel den Ruhm der schönsten und reichsten Stadt im Römischen Reich verleihen sollten - einen Ruhm, den die Stadt bis in das Hochmittelalter hinein durchaus verdiente.

 

Die außen- und innenpolitische Lage des Imperium Romanum war vorübergehend stabilisiert. Die religiösen Auseinandersetzungen und die Verfolgung der Christen wurden beendet - das 313 von Licinius und Konstantin als Folge ihres Sieges über den Christengegner Maximinus Daza erlassene Mailänder Edikt sicherte nunmehr allen Religionen im Römischen Reich die Gleichberechtigung, die allerdings nicht sehr viel später durch das Edikt von 380 zugunsten des Christentums wiederum stark eingeschränkt werden sollte. Die bereits von Diokletian begonnene administrative Reform in den Balkangebieten wurde fortgesetzt. Als Ergebnis entstand anstelle der alten Provinzen Thracia und Moesia inferior die Diözese Thracia, unterteilt in sechs Provinzen: Thracia mit der Hauptstadt Philippopel, Europa mit Eudoxiopolis (ehemals Selimbria), Rhodopes mit Ainos, Haemimunt mit Hadrianopolis, Moesia inferior mit Marcianopolis und Skythia mit Tomoi. Die Gesamtverwaltung wurde einem Vicarius mit dem Sitz in Konstantinopel anvertraut. Im Westteil der Balkanhalbinsel lag die Diözese Moesia mit zehn Provinzen, später in zwei Diözesen - Macedonia und Dacia - unterteilt, die zusammen mit der Diözese Pannonia die Präfektur Illyricum mit der Hauptstadt Sirmium, später Thessalonike und noch später Justiniania Prima (Caričin grad) bildeten. Die Diözese Dacia besaß fünf Provinzen: Dacia ripensis mit Ratiaria als Hauptstadt, Dacia mediterranea mit Serdica, Moesia superior mit Viminacium, Dardania mit Skupi und Prevalitana mit Scodra. Die Reform Diokletians, der zufolge allen römischen Staatsbürgern das Bürgerrecht zuerkannt wurde, führte zur Angleichung aller Städte, unabhängig ihres früheren Status (Munizipien, Kolonien). Zugleich wurde ihre Selbstverwaltung aber stark eingeschränkt — zugunsten der regionalen Gliederung des Reiches, die sich immer deutlicher abzeichnete. Auf diese Weise wurde das Römische Reich schon fast ein Jahrhundert vor seiner offiziellen Teilung gespalten. Dabei zeigten sich die Ostprovinzen, bei denen nunmehr das politische, wirtschaftliche, aber auch das kulturelle Schwergewicht des Reiches lag, als überlebensfähiger und übernahmen die führende Rolle in der Weltpolitik - wenn auch in der nächsten Zeit zunehmend eingeschränkt.

 

 

In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts wurden die Balkanprovinzen erneut zum Schlachtfeld, auf dem das Schicksal des Reiches entschieden werden sollte. Die Kämpfe fanden anfangs jenseits der Donau statt, doch war für lange Zeit der ganze Nordosten des Reiches in ein großes Militärlager verwandelt, und Marcianopolis wurde zur provisorischen Residenz des Kaisers Valens.

 

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Unter dem Druck der Hunnen siedelten sich 376 mit Zustimmung der Römer zahlreiche inzwischen zur christlichen Religion bekehrte Westgoten unter Wulfila als Föderalen in die Gebiete südlich der Donau an, wo sie die Nordgrenze des Reiches als eine Art Pufferzone beschützen sollten. Kurz danach wurden weite Gebiete der Nordprovinzen mit Westgoten besiedelt, die im Jahre 377 zusammen mit den Ostgoten unter ihrem Anführer Fritigern das Balkangebirge überquerten und mehrere Monate lang ungehindert in Thrakien plünderten. Die Schlacht bei Hadrianopolis am 9. August 378 wurde von den Elitetruppen Roms verloren, und Kaiser Valens fiel mit mehr als zwei Dritteln des Heeres. Die Goten zogen sich zurück und setzten alles auf ihrem Wege in Brand. 380 gelang es den römischen Truppen unter Theodosius, die Westgoten zurückzuschlagen, jedoch ohne andauernden Erfolg. Schon 386 und 391 überquerten die Westgoten wieder mehrmals das Balkangebirge und plünderten Thrakien. Unter der Führung Alarichs standen sie im Jahre 395 vor den Mauern Konstantinopels, zogen anschließend nach Griechenland und Italien und eroberten 410 Rom.

 

All diese Kampfhandlungen hatten bedeutende ethnische Veränderungen in den Balkanprovinzen zur Folge. Die Landbevölkerung in den nördlichen Provinzen wurde stark dezimiert und zur Übersiedlung nach dem Süden gezwungen, während in den Südprovinzen die Urbevölkerung nur in den entlegenen Gebirgsgegenden und in den Städten erhalten blieb, wo auch die Siedler aus unbefestigten Dörfern eine verhältnismäßig sichere Unterkunft fanden.

 

Im 5. Jahrhundert erschienen auf dem Schauplatz der Balkanprovinzen auch die Hunnen, die in einem volkreichen Bund unter Attila (um 434-453) in breiter Front zugleich das Weströmische und das Oströmische - nunmehr Byzantinische - Reich überfielen, besetzten und weite Gebiete ausplünderten sowie den byzantinischen Kaiser Theodosius II. zur Tributzahlung zwangen. Unter den Verbündeten der Hunnen waren auch die Ostgoten, Heruler und Alanen. Mit diesen Verbündeten zogen zum erstenmal auch die Protobulgaren in die Balkanprovinzen, wo sie sich nördlich des Donaudeltas niederließen und kaum zwei Jahrhunderte später ein neues Kapitel der Geschichte dieses Gebietes einleiten sollten.

 

Der Bund der Hunnen zerfiel gleich nach dem Tode Attilas, die Einfälle der Nomadenvölker in die Balkanprovinzen ließen jedoch nicht nach. So überfielen 461 die Ostgoten die westlichen Provinzen, 462 folgten die Überfälle anderer, als Skythen bezeichneter Nomaden aus dem Nordosten, 466 bis 467 tauchten weitere Hunnenstämme auf, die bis Serdica vorstießen.

 

Die innenpolitischen Kämpfe in Byzanz dauerten auch nach dem Tode Kaiser Laons I. (457-474) an,

 

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59 Enkolpion. Weißmetall (Legierung aus Blei und Kupfer), 6. Jh., Bezirksmuseum Stara Sagora

Der in einer spätantiken, vermutlich gotischen Siedlung nahe Stara Sagora aufgefundene kreuzförmige Brustanhänger zeigt auf der Vorderseite eine in naiv-primitiver Ritztechnik ausgeführte Darstellung der Maria als Orantin mit dem Christuskind vor der Brust. Die für das orthodoxe Christentum ungewöhnliche Bezeichnung Mariä als Mutter Christi anstatt Mutter Gottes steht im Zusammenhang mit dem nestorianischen Glaubensbekenntnis, das trotz seiner Bekämpfung von der Orthodoxie eine weite Verbreitung im christlichen Osten fand.

 

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wobei die Goten einbezogen wurden, während sich schon in den letzten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts eine noch größere Gefahr von außen den Grenzen des Byzantinischen Reichs näherte - die Slawen.

 

 

Die ursprüngliche Heimat der Slawen waren die weiten Gebiete des nordöstlichen Europas zwischen der Oder, der Dwina, dem Ural und dem Unterlauf des Dnepr, wo sie seit den ersten vorchristlichen Jahrtausenden nachweisbar sind. Ihre Nachbarn im Westen waren die germanischen, im Nordosten die finnisch-ugrischen Völker, im Südosten die Skythen und Sarmaten, im Süden grenzten sie in den Karpaten an die Daker. Die antiken Autoren unterscheiden drei große Gruppen der in viele kleine Stämme zersplitterten Slawen: die westliche Gruppe bildeten die Wenden, die östliche die Anten und die südliche die Slawinen, die zwischen den Flüssen Prut und Theiß (Tissa) nördlich der Karpaten angesiedelt waren. Die Slawen selbst kannten eine solche Einteilung nicht und bezeichneten sich alle als Slawin! oder Slawjani. Sie gehörten zu der Gruppe indoeuropäischer Völker aus der autochthonen Bevölkerung Eurasiens, und ihre Sprache weist zahlreiche Überreste der von allen diesen Völkern bis etwa zum 4. Jahrtausend v. u. Z. benutzten gemeinsamen Sprache auf. Innerhalb dieser Gruppe bildeten sich die Slawen als besondere Gruppe relativ spät heraus, als sich im 2. Jahrtausend v. u. Z. die baltischen Stämme abspalteten. Bis zu den ersten Jahrhunderten u. Z. befanden sie sich im Entwicklungsstadium der Urgemeinschaft. Ihr Lebensunterhalt bestand hauptsächlich aus Viehzucht, Jagd und Fischerei, der Ackerbau war ihnen lange unbekannt. Sie waren Polytheisten und nannten ihre Hauptgottheit Perun (dem germanischen Donar entsprechend); weiter wurden von ihnen Daschbog, der Fruchtbarkeitsgott, Weles, der Beschützer der Viehzucht, Lada, die Göttin der Liebe und Jugend, Morana, die Göttin des Todes, und Tschernobog, der Gott des Bösen, angebetet. Schon um die Zeitenwende standen die Slawen in regen Handelsbeziehungen mit dem Römischen Reich; das belegen mehrere Bodenfunde von Münzen in ihrer Urheimat.

 

Die frühesten Kulturen der Slawen, die der Archäologie bekannt geworden sind,

 

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stellen die sogenannte Bug-Dnestr-Kultur sowie die Lausitzer Kultur - die älteste Urnenfelderkultur in Mitteleuropa aus der mittleren und jüngeren Bronzezeit (seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. u. Z.) - dar, durch offene Siedlungen, später auch befestigte Burganlagen mit Holzkonstruktion gekennzeichnet; die Tafelkeramik wies bereits vielfältige Formen und eigentümlichen Kannelurendekor, gelegentlich auch braunrote Bemalung auf. Aus wesentlich jüngerer Zeit stammen die ältesten erhaltenen Werke der Holzplastik, vorrangig Idole (Zbrocz, Neubrandenburg-Fischerinsel); an Schmuck oder Gebrauchsgegenständen sind im gesamten ehemals von Slawen besiedelten Gebiet zahlreiche Fibeln, Kleinplastiken und Waffen aufgefunden worden. Unter dem Druck der Hunnen begannen die Slawen im 4. Jahrhundert, sich nach Westen, Osten und Süden auszudehnen. Im Osten erreichten sie die Oka und den Oberlauf der Wolga, im Westen die Elbe, während im Süden das ganze Gebiet zwischen der Donau und den Karpaten bis zum fünften Jahrhundert schon dicht mit Slawen besiedelt war. Von hier aus hatten sie bereits in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts als Verbündete der West- und der Ostgoten, später der Hunnen, zahlreiche Überfälle auf das Byzantinische Reich unternommen. Um die Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert verstärkten sich die Angriffe. Die Slawen, die jetzt selbständig oder im Bündnis mit den Protobulgaren und Sarmaten auszogen, drangen oft tief in das Landinnere ein. Zum Schutz ließ Kaiser Anastasios 512 seine berühmte Schutzmauer 40 Meilen westlich von Konstantinopel zwischen dem Schwarzen und dem Marmarameer bauen, die jedoch die sich häufenden Angriffe nicht mehr aufhalten konnte.

 

Die Thronbesteigung Justinians 527 leitete eine Zeit ein, in der die Wandlung von der Antike zum Mittelalter sehr deutlich vollzogen wurde. Justinian - der Kaiser zwischen den Zeitaltern - brachte das von Konstantin vorgezeichnete neue Staatsgebilde zur Vollendung und sicherte ihm die erforderlichen Voraussetzungen zum Überleben in Jahren der Gärung, Jahren der größten Veränderungen und Umwälzungen, die die antike Welt erlebte.

 

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60 Enkolpion-Staurothek. Gold, getrieben mit Zellenschmelz, letztes Drittel 11. Jh., Nationalmuseum Sofia

Der vermutlich zum Aufnehmen von Kreuzreliquien bestimmte Miniaturschrcin zeigt auf der Vorderseite eine Darstellung der betenden Gottesmutter Paraklesis mit der segnenden Hand Gottes im Segment an der rechten oberen Ecke und auf der Rückseite eine symbolische Paradiesdarstellung mit dem von Zypressen flankierten Kreuz-Lebensbaum. Ein Werk der Konstantinopler Hofwerkstätten, das als Eigentum eines unbekannten hohen byzantinischen Würdenträgers nach Bulgarien mitgebracht wurde.

 

 

61 Heiliger Aretas. Fresko in der Kirche von Bojana, 1259

62 Heiliger Iwan von Rila. Fresko, Johanneskirche in Semen

 

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63 Fußwaschung. Fresko in der Kirche Johannes des Täufers im Erzengel-Höhlenkloster bei Iwanowo, um 1232-1255.

 

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64 Johannes-Aleiturgetos-Kirche in Nessebar. 14. Jh.

 

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65, 66 Lobpreisung Gottes. Details mit den Gruppen der Musikanten und der Tanzenden, Fresken im Narthex der Christi-Verklärungs-Kapelle im Chreljo-Turm, Rila-Kloster, 1334 bis 1335

 

 

In der umfangreichen Komposition, die sämtliche Wände des Narthex der Kapelle einnimmt und auf der Grundlage des Textes der Psalmen 148, 149 und 150 aufgebaut ist, treten die Darstellungen der Musikanten und Tanzenden hervor, die zahlreiche naturalistische Züge aufweisen und ein authentisches Bild mittelalterlicher bulgarischer Bräuche und Feste geben. So werden hier neben Volkstrachten und Mobiliar auch die verbreitetsten Musikinstrumente gezeigt - Zitra (Zither), Surna (Schalmei), Ljutnja (Laute), Tupan (Großtrommel) und Kastagnette - unter deren Klängen Männer und Frauen einen Ringtanz - »Choro« - aufführen.

 

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Er, Justinian, war gewiß der erste Kaiser des Römischen - nun Byzantinischen - Reiches, der die Bedeutung dieser Umwälzungen begreifen konnte und sie nicht mehr als vorübergehende Ereignisse abtun wollte, die das ewige Imperium kaum wesentlich beeinträchtigen würden. Er begriff auch, mit welchen Maßnahmen die Wirtschaft wie auch das gesamte Staatswesen den Wandlungen begegnen mußte, um das Imperium zu retten. Justinian war der erste Kaiser, der die gesamten Ressourcen des trotz aller Einschränkungen immer noch gewaltigen Weltreiches für die innere und äußere Festigung verwenden konnte. Von besonderem Gewicht war seine Heeres- und Verteidigungsreform. Sicher war Justinian in dieser Beziehung nicht der erste - schon Diokletian schuf ein Verteidigungssystem, das sich von dem früheren wesentlich unterschied: Anstelle des bis dahin gültigen Systems mit stationierten Truppeneinheiten in Stützpunkten innerhalb des gesamten so umfangreichen Grenzbereichs baute Diokletian ein weitgespanntes Netz von leistungsfähigen Verbindungsstraßen auf, das einen schnellen Transport der Truppen an gefährdete Punkte ermöglichte und es zuließ, von dauerhafter Stationierung zur zeitweiligen Ansiedlung der Grenztruppen überzugehen.

 

Angesichts der zunehmenden Bedrohung der nur noch pro forma existierenden Grenzen des Reiches in seinem ganzen Umfang war eine grundsätzliche Reorganisation des bestehenden Verteidigungssystems dringend erforderlich. Das System der nichtdauerhaften Ansiedlung von Truppen war nicht mehr effektiv genug, um die herausströmenden Völker an den Grenzen aufzuhalten. Es mußte ein neues Verteidigungssystem geschaffen werden, und die ganze Wirtschaft des Landes wurde ihm untergeordnet. An sämtlichen Stützpunkten wurden nun wiederum Garnisonen mit dem Lande durch die Landwirtschaft verbundener Soldaten stationiert; in diesem Sinne wurde auch das Wirtschaftssystem umgestellt, indem man für die Soldatenländereien eine neue Ordnung der Steuerabgaben und eine andere Administration schuf.

 

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Grundsätzliche Veränderungen erfuhr ebenfalls das Bürgerrecht. Es entstand ein neuer Status für die Kolonen, wodurch ihre Freiheiten wesentlich eingeschränkt wurden. Neben der Förderung der Freilassung von Sklaven legte dieser neue Status die Grundlagen zum Übergang von dem schon verbrauchten und unwirtschaftlichen Sklavenhaltersystem zum Feudalismus. Für die innerhalb des Reiches neuangesiedelten Völker entstand ein neues Recht, das ihnen einige Vorteile sicherte und ihre Assimilierung in das aus zahlreichen Völkerschaften bestehende Reich ermöglichte. Gerade diese Reform erwies sich neben der Einführung der Feudalordnung als für das weitere Bestehen des Byzantinischen Imperiums von größter Tragweite und zeigte sich als die wichtigste Voraussetzung für sein Überleben in einem Zeitraum von fast einem Jahrtausend. Zugleich wurde mit der Einräumung zahlreicher Privilegien an beide führenden Institutionen - die Kirche und die kaiserliche Macht - sowie durch ihre enge Verknüpfung im Staatswesen für mehrere Jahrhunderte die Basis des byzantinischen Staates geschaffen.

 

Die Durchsetzung der Reformen Justinians war von einer umfangreichen Bautätigkeit begleitet, die sogar die Konstantins in den Schatten stellte. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten entstanden sowohl die bedeutendsten öffentlichen Repräsentativbauten des Byzantinischen Reiches als auch das gewaltige Verteidigungssystem aus Tausenden neuer oder umgebauter Fortifikationsanlagen im ganzen Reich. Allein innerhalb der gegenwärtigen Grenzen Bulgariens sind in diesem Zusammenhang Hunderte neuer Festungen errichtet worden, deren ausführliches Verzeichnis der byzantinische Geschichtsschreiber Prokopios von Cäsarea hinterlassen hat.

 

Der Erfolg aller dieser Maßnahmen ließ nicht lange auf sich warten. Die Verteidigung des Reiches wurde gewährleistet, und die Grenzen wurden konsolidiert. Byzanz ergriff sogar des öfteren die Initiative und ging zur Offensive über. Bereits in den ersten drei Regierungsjahren Justinians wurden die Slawenüberfälle aufgehalten, und der begabte Feldherr Justinians, der nach Byzanz übergelaufene Slawe Hilwud, ging mit seinen Truppen mehrmals über die Donau, schlug die Slawen und nahm zahlreiche Gefangene, die als Sklaven verkauft wurden. Die Feldherren Beiisar und Narses vernichteten 533 bis 534 das Vandalenreich in Nordafrika, und im Krieg gegen die Ostgoten befreiten sie Italien; die Grenze zu Persien wurde wieder gesichert und der große Samariteraufstand in Palästina mit sehr viel Blutvergießen niedergeschlagen. Gleichzeitig gelang es Justinian mit den Mitteln der Diplomatie, seine nördlichen Gegner zu schwächen, indem er die Rivalität unterschiedlicher Slawenstämme ausnützte, den Krieg zwischen den Anten und Slawinen im Jahre 540 anstiftete und so für wenige Jahre die slawische Gefahr ablenkte.

 

Kurz vor der Mitte des 6. Jahrhunderts nützten jedoch die Slawen zusammen

 

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67 Protobulgarischer Krieger. Darstellung auf dem Gefäß Nr. 2 des Goldschatzes aus Nagyszentmiklós, Kunsthistorisches Museum Wien

 

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mit den Protobulgaren wieder die durch den Krieg mit den Ostgoten unsichere Nordgrenze, griffen 545, 548, 549 und 550 mehrmals das Byzantinische Reich an und drangen bis zum Ägäischen und Adriatischen Meer vor. 551 wiederholten sie ihre Überfälle und zogen vor Konstantinopel. Nahe Hadrianopolis schlugen sie das byzantinische Heer, plünderten das ganze Gebiet um Konstantinopel aus, das bisher von Feinden noch nicht heimgesucht worden war, und kehrten mit großer Beute zurück; im Spätherbst richteten sie ihre Angriffe gegen die Westgebiete der Balkanhalbinsel.

 

Trotz einiger Erfolge der byzantinischen Diplomatie, Kriege unter den protobulgarischen Stämmen anzustiften und ein Bündnis mit den Awaren im Gebiet zwischen der Drava und der Save einzugehen, um die Slawen abzulenken, setzten diese in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts ihre Überfälle auf das Byzantinische Reich mit unverminderter Kraft fort. 578 erreichten sie Hellas, 581 griffen sie Thrakien und die westbalkanischen Gebiete an und begannen sich dort anzusiedeln, 597 belagerten sie zum erstenmal Thessalonike. Auch die Verlegung byzantinischer Truppen von der persischen Front auf die Balkanhalbinsel im Jahre 602 half nichts; ein Aufstand im byzantinischen Heer setzte den Versuchen, die Slawen aufzuhalten, ein Ende. Die Massenansiedlung der Slawen auf der Balkanhalbinsel begann, und innerhalb eines Jahrzehnts besaßen sie das ganze Gebiet bis zum Peloponnes, einen schmalen Streifen an der Ägäis und Thessalonike ausgenommen.

 

Während der Ansiedlung auf der Balkanhalbinsel behielten die Slawen ihre Gliederung in kleinere Stämme bei. Durch gewisse Unterschiede in der Sprache ordnete man sie in zwei große Gruppen - die sogenannte dakische oder bulgarische Gruppe, die sich in den Gebieten des heutigen Bulgariens, Griechenlands und eines Teils von Albanien niedcrließ, sowie die pannonische oder serbische Sprachgruppe, die westlich der Save und Morava bis zur Mündung der Drina im Süden saß.

 

Die Siedlungen der Slawen waren klein, lagen aber sehr dicht nebeneinander, vorwiegend in der Nähe der Flüsse und Seen, die Erdhütten waren aus nicht dauerhaften Materialien errichtet und sehr primitiv. Ebenso primitiv waren auch die Waffen und Geräte; bis zu ihrer Ansiedlung auf der Balkanhalbinsel kannten die Slawen die Töpferscheibe nicht. In erster Linie bestand ihr Lebensunterhalt aus Viehzucht, Jagd und Fischfang, der Ackerbau gewann immer mehr an Bedeutung.

 

Von den Handwerken waren die Töpferei, die primitive Weberei sowie die Tischlerei bzw. Holzschnitzerei verbreitet. Das Gesellschaftssystem war die Sippengemeinschaft auf der Stufe der Militärdemokratie mit einem gemeinsamen Besitz der Produktionsmittel; langsam bildeten sich größere Gruppierungen heraus, die den Übergang zum Staatswesen andeuten.

 

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Bei ihrer Ansiedlung auf der Balkanhalbinsel ließen sich die Slawen hauptsächlich in den bereits von der Bevölkerung verlassenen Gebieten in den nördlichen Provinzen und im Westteil Griechenlands nieder. Die teilweise weiter existierenden Städte Thrakiens, der Schwarzmeer- und Ägäisküste wirkten hingegen als Assimilierungszentren für die slawische Bevölkerung, die hier in Kontakt mit der autochthonen Bevölkerung und ihrer Kultur kam. Von diesen Städten aus begann ein komplizierter Prozeß gegenseitiger Einwirkungen, der einerseits zur Entstehung eines neuen Ethos führte, zugleich aber auch die Übertragung und die Kontinuität der kulturellen Tradition förderte.

 

 

Ihre Überfälle auf die Balkanhalbinsel unternahmen die Slawen schon im frühen 6. Jahrhundert gemeinsam mit den Protobulgaren, die allerdings von den byzantinischen Geschichtsschreibern unterschiedlich bezeichnet werden: als Sarmaten, Hunnen, Mösier, Kutiguren, Utiguren, aber auch als Bulgaren. Dabei handelte es sich hier ausschließlich um Volksstämme eines Bündnisses mit dem gemeinsamen Namen Bulgaren, die der Turko-Altai-Sprachgruppe neben den Chasaren, Hunnen, Awaren, Kumanen und Petschenegen angchörten und deren Urheimat Mittelasien war. Politisch und kulturell war ihr Schicksal am engsten mit den Hunnen verknüpft, mit denen sie mehrmals und zuletzt in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts eine politische Gemeinschaft innerhalb des hunnischen Völkerbundes bildeten. Auch wiesen die vielen Stämme der Protobulgaren unterschiedliche Stufen in ihrer politischen, sozialen und kulturellen Entwicklung auf, die eine weite Spanne von den in Städten ansässigen Stämmen Mittelasiens, Nachfolgern einer hohen geistigen und materiellen Kultur mit ausgeprägtem Staatswesen und sozialer Differenzierung, bis hin zu den Nomaden an der Peripherie des von ihnen besiedelten Gebietes umfaßte. Die Ausdehnung dieser Völkerschaften und ihre Bewegung nach Osten, wo sie in ständige Auseinandersetzungen mit den Chinesen und Koreanern verwickelt waren, und nach Westen seit dem 4. Jahrhundert hatten für die Geschichte schwere Folgen, da sie die große Völkerwanderung des frühen Mittelalters verursachten, bei der die Hunnen die Hauptrolle spielten. An dieser Bewegung beteiligten sich die verschiedenen bulgarischen Stämme in unterschiedlicher Weise. Der größte Teil der Stammesaristokratie blieb bis zum späten 8. Jahrhundert noch in Mittelasien, als erster spaltete sich ein Stamm zwischen 351 und 389 ab und ließ sich in Nordarmenien nieder, während die meisten Nomaden das Gebiet nördlich und östlich des Asowschen Meeres besiedelten, wo sic die autochthone Bevölkerung der Sarmaten assimilierten. Von hier aus unternahmen sie gemeinsam mit den Hunnen Angriffe gegen Byzanz und Westrom. Nach dem Zerfall des Hunnenbundes Mitte des 5. Jahrhunderts zogen die Protobulgaren in die Gebiete um das Asowsche

 

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Meer und in den Steppen Südrußlands zwischen dem Unterlauf der Donau und des Dnepr zurück, während ein kleiner Teil von ihnen in Italien und ein weiterer in Pannonien blieb, wo er zeitweilig unter die Herrschaft der Awaren geriet. Aus dem Gebiet nordöstlich der Donau fielen die westlichen Protobulgaren im 6. Jahrhundert häufig gemeinsam mit den Slawen in das Byzantinische Reich ein, während die östlichen Stämme nach kurzer Abhängigkeit vom Türkischen Khaganat im Jahre 632 ein Bündnis unter der Führung ihres Khans Kubrat schlossen. Dieses Gebiet wird von den byzantinischen Geschichtsschreibern als Großbulgarien bezeichnet. Hauptstadt war Phanagoria am Asowschen Meer. Nach dem Tod Kubrats (nach 651) ging die Macht in die Hände seines ältesten Sohnes Bajan (Besmer) über, kurz darauf spaltete sich jedoch Großbulgarien - ein Teil der Volksstämme geriet unter die Hoheit der Chasaren, ein anderer Teil bildete um das Wolgagebiet einen Staat, der bis zum 13. Jahrhundert existierte und dann von den Tataren aufgelöst wurde; die westliche Gruppe unter dem dritten Sohn, Asparuch (Isperich) blieb anfangs im Gebiet zwischen dem Dnepr und der Donau und zog von dort in den siebziger Jahren des 7. Jahrhunderts südwestwärts. Kurz zuvor ließ sich ein weiterer Teil des Stammesverbandes unter dem Khan Kuver in Pannonien und anschließend in Makedonien nieder.

 

Über die Kultur der Protobulgaren in ihrer Heimat ist uns sehr wenig bekannt. Während sich die Nomadenstämme auf einer relativ niedrigen Entwicklungsstufe befanden, wiesen die Stämme Mittelasiens ein sehr hohes kulturelles Niveau auf und gehörten derselben Kultur wie die Oberschicht der Hunnen - Xiong-no in den chinesischen Chroniken - an, über die wir durch zahlreiche Quellenberichte chinesischer, iranischer, armenischer und arabischer Geschichtsschreiber unterrichtet sind. Daraus ist zu entnehmen, daß sie große Städte und eigenes sakrales Schrifttum besaßen. Innerhalb eines beträchtlichen Zeitraums sind auch Einflüsse des hunnisch-bulgarischen Kulturbereichs auf die chinesische Kultur feststellbar.

 

Einen Beweis für das hohe Niveau der Astronomie und Mathematik liefert der Kalender, der von dem Jahr 4768 v. u. Z. bis zum 10. Jahrhundert u. Z. benutzt wurde und als eine der vollkommensten Leistungen der Mathematik des Altertums angesehen wird. Als Grundlage dieses Kalenders diente der zwölfjährige Jupiterzyklus, die Schalttage wurden in einem hundertundzwanzigjährigen Zyklus mit höchster Präzision berechnet. Diesen Kalender - der älter und perfekter als der chinesische und der chaldäische, ganz zu schweigen von dem Julianischen, war - erbten die Protobulgaren von der alten Zivilisation Mittelasiens zusammen mit ihrem Schrifttum.

 

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68 Der protobulgarische Kalender. Zeichnung

 

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69 Protobulgarisches Amulett. Bronze, 8.-9. Jh., Archäologisches Museum Sofia

 

 

Bis zum Mittelalter blieb jedoch lediglich der Kalender erhalten, wie auch die Tradition, wichtige Ereignisse der Geschichte in Steintafeln zu meißeln. Von den Kenntnissen der Astronomie und der Astrologie blieb sehr wenig erhalten, dennoch berichten die byzantinischen Geschichtsschreiber übereinstimmend, daß die Protobulgaren vor jeder größeren Entscheidung, einer Kampfhandlung etwa, die Sterne befragt haben sollen. So nützten sie laut einer byzantinischen Chronik während eines ihrer Überfälle gegen Byzanz im 6. Jahrhundert auch die Sonnenfinsternis aus, von der sie im voraus gewußt hatten, um aus der Panik der feindlichen Soldaten für sich Vorteil zu ziehen. Diese astrologische und astronomische Praxis ging gleich nach der Christianisierung im 9. Jahrhundert zusammen mit sämtlichen magischen Handlungen der mehrere Jahrtausende alten Tradition verloren.

 

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70 Flötenspielerin. Sandsteinrelief, Stara Sagora, 9. Jh., Archäologisches Museum Sofia

 

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Auch von dem Kalender sind nur wenige Handschriften in tibetischen und mongolischen Klöstern erhalten geblieben, wie ebenfalls eine spätere slawische Übersetzung der protobulgarischen Chronik mit den Herrschernamen bis zum 28. 4. 777.

 

Ein hohes Niveau zeigten die Goldschmiedearbeiten der protobulgarischen höfischen Meister, aber auch der Schmuck und die Metallbeschläge der Nomaden. Sehr große Unterschiede sind im Wohnungsbau feststellbar: Während für die mittelasiatischen Stämme schon lange vor der Zeitenwende große Städte und bedeutende öffentliche Monumentalbauten nachweisbar oder durch historische Quellen bekannt sind, wohnten die Nomaden in Jurten (Zelten) in provisorischen Lagern.

 

Die Stammesaristokratie Großbulgariens hatte schon in ihrer Urheimat Gelegenheit, die antike Kultur aus Vorderasien wie der nördlichen Schwarzmeerküste und Byzanz unmittelbar aufzunehmen. Somit befand sie sich in einer ähnlichen Lage wie die herrschende Schicht des Arabischen Kalifats zur Zeit der Omajjaden und Abbasiden, die der antiken Kultur entsprechende Formen entlehnte, um ihren Herrschaftsanspruch im Land alter Traditionen zu unterstreichen. Die Wechselbeziehungen der Kultur des achämenidischen und sassanidischen Irans sowie Mesopotamiens mit Zentralasien sind seit langem bekannt. Andererseits sind die Kontakte der protobulgarischen Stammesaristokratie mit Byzanz Gegenstand zahlreicher Berichte byzantinischer Chronisten. Aus ihnen erfahren wir, daß der spätere Herrscher Großbulgariens, Khan Kubrat, zu Beginn des 7. Jahrhunderts in Konstantinopel seine Ausbildung erhalten und den christlichen Glauben angenommen hatte. Wiederum byzantinischen Chroniken zufolge unternahm der Anführer des bulgarischen Stammes der Kutriguren, Khan Grod, im Jahre 528 einen mißglückten Versuch zur Christianisierung seines Volkes. Diese frühen Kontakte der Protobulgaren mit der christlichen Religion waren einer der Gründe ihrer gegenüber den Christen in den neubesiedelten Gebieten des Balkans geübten weitgehenden konfessionellen Toleranz, die den Boden zur Einführung des Christentums als Staatsreligion vorbereitete.

 

Vom Kult der Protobulgaren besitzen wir sehr geringe Kenntnisse. Es gilt aber als sicher, daß sie Monotheisten waren und über einen voll entwickelten sakralen Ritus sowie eine prunkvolle sakrale Kunst verfügten. Ihre Gottheit nannten sie Tangra oder Tengri. Die Fundamente ihres Glaubens waren der Ahnenkult und der Determinismus, der alle Erscheinungen des Lebens im Mikro- und Makrokosmos durchdrang und insofern den Erkenntnissen kausaler Zusammenhänge in Astronomie und Mathematik vorausging.

 

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