Kulturgeschichte im Prisma: Bulgarien vom Altertum bis 1878

Assen Tschilingirov

 

(5) Das Früh Christentum

 

49 Sandsteinrelief aus einer Chorschranke. Ossenowo, 6. Jh., Archäologisches Museum Warna
50 Bück auf die Sophienkirche in Sofia
51 Marmorkapitelle. Gorni Marjan, 6. Jh., Archäologisches Museum Sofia
52 Alte Metropolitenkirche in Nessebar. 5. Jhd.
53 Erzengel Uriel. Enkaustische Malerei in der Grabkammer Nr. 9, Antike Nekropole in Serdica, Mitte 4. Jh.
54 Bodenmosaik aus der Sophienkirche in Sofia. 5. Jh., Archäologisches Museum Sofia
55 Männerkopf aus Obsor. Sandstein, 6. Jh., Archäologisches Museum Sofia
56 Kämpferkapitell aus der frühchristlichen Kirche hei Ljutibrod. Kalkstein, 6. Jh., Bezirksmuseum Wraza

 

Die römische Invasion auf der Balkanhalbinsel wurde von der Ausbreitung einer neuen Religion - des Christentums - begleitet, der in der Folgezeit zunehmend eine überaus wichtige Rolle als formende und sinnbildende Kraft in der Kultur zufiel. Von dieser neuen Religion, die den leblosen Synkretismus der römischen Antike durch neue Ideen verdrängte, gingen die entscheidenden Impulse im Werdegang der europäischen Kunst aus. Sie sollte innerhalb eines sehr weiten Zeitraums dem gesamten kulturellen Leben ihre Prägung aufdrücken und somit der ganzen folgenden Epoche - der christlichen Epoche - ihren Namen verleihen.

 

Schon zwei Jahre nach der endgültigen Eingliederung der Balkangebiete in das Römische Reich begann die Missionsreise des Apostels Paulus, die ihn im Jahre 48 u. Z. über viele Städte der südlichen Balkanprovinzen führte, während in den nördlichen Provinzen bis zu den entferntesten Grenzgebieten - im »Land der Skythen« - der Apostel Andreas das Evangelium gepredigt haben soll. Die ersten christlichen Gemeinden entstanden schon während dieser Missionsreisen, und ihre Zahl wuchs sehr schnell, wie auch die Zahl der Märtyrer. Hagiographischen Quellen zufolge existierten bereits im 1. und 2. Jahrhundert u. Z. in Philippopel (Plowdiw), Beroe (Stara Sagora), Odessos (Warna), Serdica (Sofia), Philippi, Thessalonike, Deultum und Berrhoia (Veria) christliche Gemeinden. Wenn auch die neue Religion sich anfangs fast ausschließlich innerhalb der mittleren und unteren Bevölkerungsschichten ausbreitete, so begann sie allmählich ebenfalls die oberen Schichten der Stadtbevölkerung zu erfassen. Nach den in den Jahren 380 und 381 von Theodosius deml. erlassenen Edikten, die das Christentum zur einzigen legitimen Religion im Römischen Reich erklärten, wurden fast alle Städte der Balkanprovinzen Bischofssitze und den Metropoliten in Thessalonike, Marcianopolis, Serdica und Hadrianopolis unterstellt. Die rasch wachsende Bedeutung dieser Gebiete innerhalb des frühen Christentums läßt sich durch die ständig zunehmende Zahl ihrer Vertreter an den ökumenischen Konzilen belegen. Die große Synode von 342 fand inmitten der Balkangebiete, in der thrakischen Stadt Serdica (Sofia) statt, die als Mittelpunkt des religiösen Lebens bereits eine wichtige Rolle zu spielen begann. Aus den Aufzeichnungen dieser Kirchenversammlungen läßt sich ablesen, welche wichtige und bedeutsame Rolle die Vertreter der Balkanstädte bei der Herauskristallisierung der ideologischen Positionen und der Grundsätze der christlichen Religion und ihres Ritus einnahmen und

 

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wie entscheidend ihr Beitrag für die Durchsetzung der »Orthodoxie« (Rechtgläubigkeit) war.

 

Allerdings mußte die neue Religion in den Balkanprovinzen auch mehreren mystischen Lehren des Altertums Rechnung tragen. Sowohl die Orphik wie auch der Mithras- und der Kabirenkult waren hier tief verwurzelt, so daß es kein Zufall war, daß die Missionsreise des Apostels Paulus zuerst über die ägäische Insel Samothrake an der Küste Thrakiens führte, wo der Mittelpunkt der Kabirenmysterien lag. Diese Mysterien fanden zusammen mit der Orphischen Lehre während der nächsten Jahrhunderte starken Widerhall in der christlichen Gnosis, die sich als eine Mysterienreligion verstehen wollte und der Volksreligion mit Erfolg widersetzte. Das Ergebnis war eine ausgeprägte Polarisierung und Konfrontation beider Hauptrichtungen im frühen Christentum - der Mysterienreligion einer Minderheit von Auserwählten und der breiteste Gesellschaftskreise umfassenden Volkskirche. Die schon zu Beginn der Ausbreitung des Christentums hervorgetretene mystische Tradition blieb bis ins Spätmittelalter als eine Spezies dieses Gebiets bestehen und wurde zum Anlaß andauernder und heftiger Auseinandersetzungen zwischen der offiziellen Kircheninstitution und zahlreichen religiösen Strömungen - von der Markoniter- und Paulikianerlehre bis zu Bogomilentum und Hesychasmus die abseits der orthodoxen Kirche wirkten und vorwiegend aus dieser alten Tradition entsprungen waren.

 

Die große Bedeutung der Balkanprovinzen innerhalb des frühen Christentums läßt sich aber auch an der hohen Zahl kirchlicher Bauten ablesen, die während der ersten christlichen Jahrhunderte ausgeführt wurden. Mitunter wurden bereits bestehende heidnische Tempel umgebaut. Dieses Gebiet war neben dem Christlichen Osten (Syrien und Palästina) und Rom schon vor dem Aufstieg Konstantinopels eines der bedeutendsten Wirkungsgebiete christlicher Kunst, wo einige Formen und Typen der christlichen Baukunst und Ikonographie vorgebildet und durchgesetzt wurden. Bereits während der darauffolgenden Epoche der Bilderstürme machte sich diese formende und maßgebende Rolle der Balkangebiete innerhalb der christlichen Ikonographie sehr deutlich bemerkbar - die tief verwurzelte bildnerische Tradition wurde hier trotz des vorläufigen Sieges der bilderfeindlichen Partei nicht unterbrochen und blieb bis ins Spätmittelalter bestehen, wie auf zahlreichen Bildwerken feststellbar ist, die den Prototypen aus der Zeit vor den Bilderstürmen bis zum Ende des Mittelalters folgten.

 

Die ebenfalls zunehmende politische und strategische Bedeutung der Balkanprovinzen - nach der Verlegung der Hauptstadt des Reiches im Jahre 331 von Rom nach Byzantion/Konstantinopel gehörten sie zum unmittelbaren Hinterland - wirkte sich in einer noch intensiveren Bau- und Kunsttätigkeit aus.

 

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49 Sandsteinrelief aus einer Chorschranke. Ossenowo, 6. Jh., Archäologisches Museum Warna

 

 

Die Teilung des Imperium Romanum im Jahre 395 in ein Weströmisches und ein Oströmisches Reich, das unter dem Namen Byzanz in die Geschichte eingegangen ist, rückte die bulgarischen Gebiete wiederum näher an die historischen Ereignisse heran, da hier, in diesem neuralgischen Zentrum der »zivilisierten« Welt, im 5. Jahrhundert während der Barbarenangriffe das Schicksal Roms entschieden werden sollte. Die hier zuvor - Mitte des 3. und Ende des 4. Jahrhunderts - erfolgte Zerschlagung der volkreichen Barbarenhorden hatte den Untergang Roms zum letztenmal für mehr als ein Jahrhundert verschoben, ließ jedoch schon damals dessen späteren Zusammensturz deutlich erkennen.

 

 

Der Werdegang der christlichen Kunst stellt - wie das ganze komplizierte System der christlichen Lehre - ein Ergebnis langer Entwicklung dar. Schritt- und stufenweise haben sich im Verlauf eines ziemlich langen Zeitabschnitts die Formen der Liturgie und der mit ihr eng verbundenen Kunst heraus gebildet. Während dieses Zeitabschnitts, der die ersten 5 Jahrhunderte des Christentums umfaßte und von der reifen Phase des Hochmittelalters durch eine fast 2 Jahrhunderte andauernde Zäsur der Bilderstürme und der Völker Wanderung getrennt ist, lassen sich zwei Entwicklungsstufen unterscheiden. Innerhalb der ersten, die bis zur Erklärung des Christentums als Staatsreligion reichte, bewegte sich die christliche Kunst in dem bescheidenen Rahmen einer Volkskunst.

 

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Die kleineren wie die größeren Christengemeinden begnügten sich mit einer zweckgebundenen Kunst, deren Form- und Symbolsprache der antiken Kunst entliehen wurde. Das Fehlen einer ausreichenden ökonomischen Basis spiegelt sich sowohl in den geringen Ausmaßen der meistens aus nicht dauerhaften Baumaterialien errichteten Kultstätten als auch in ihrer Ausstattung wider, die bescheiden und unauffällig war und keine besondere künstlerische Qualität aufzuweisen hatte.

 

Nach seiner offiziellen Anerkennung als Staatsreligion (391) entfaltete sich das Christentum als eine Reichskirche. Der Kircheninstitution wurden beträchtliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, die sich unverzüglich auf die höchst repräsentativen kirchlichen Bauten auswirkten. Bereits auf Konstantin den Großen (324-337) läßt sich die Errichtung einer Reihe herausragender Kirchenbauten in Rom, im Heiligen Lande und in Konstantinopel zurückführen. So entstanden nun im ganzen Römischen Reich zahlreiche monumentale Kirchen, deren grandiose Ausmaße von späteren Bauten nur selten erreicht wurden. An diesem regen Kirchenbau beteiligten sich auch die Balkanprovinzen. Den Abschluß und zugleich die Krönung des frühchristlichen Kirchenbaus bildete das Zeitalter Justinians (527-565), als den bereits unter Konstantin musterhaft gesetzten überaus hohen Maßstäben und Normen für Monumentalität eine neue Dimension für Prunk und Glanz hinzugefügt wurde.

 

Dieser nur 2 Jahrhunderte andauernden Zeitspanne entstammt eine überwältigende Anzahl von Kirchenbauten - allein innerhalb der gegenwärtigen Grenzen Bulgariens sind bis jetzt über 90 Kirchen der Wissenschaft bekannt geworden. Die meisten davon wurden schon im Frühmittelalter zerstört und sind nur in ihren Fundamenten erhalten, während einige als gewaltige Ruinen den Blick des heutigen Betrachters auf sich ziehen. Nur wenige dieser Bauten haben die Wirren des Zeitalters der Völkerwanderungen überdauert und nach erheblichen Umbauten das Erscheinungsbild der mittelalterlichen Städte entscheidend geprägt. Hierzu gehören die Georgsrotunde und die Sophienkirche in Sofia, die Alte Metropolitenkirche in Nessebar und die Rote Kirche bei Peruschtiza. Wie die frühchristlichen Kirchenbauten aus der Zeit Konstantins weisen auch diese Kirchen alle Besonderheiten auf, die - trotz der gewissen Vielfalt der Bauformen und -typen - eine beispiellose Einheitlichkeit der Kunstauffassung ihrer Schöpfer unter Beweis stellen und in einen neuen funktionsbetonten und monumentalen, doch introvertierten Stil mündeten. Sogar ein kurzer, oberflächlich vergleichender Blick reicht aus, um sofort den gewaltigen Unterschied zwischen den beiden Kunstauffassungen der römischen Baumeister der vor- und der nachkonstantinischen Zeit festzustellen. Der ganze äußerliche Prunk und Glanz, der sich an den Fassaden der prächtigen Bauten aus det Zeit des späten Imperiums im vollen Umfang präsentiert, ist durch eine geradezu puritanisch-strenge Nüchternheit im äußeren Erscheinungsbild der frühchristlichen Kirchenbauten abgelöst worden.

 

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50 Bück auf die Sophienkirche in Sofia

 

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51 Marmorkapitelle. Gorni Marjan, 6. Jh., Archäologisches Museum Sofia

 

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Alles an diesen neuen Bauten ist, im Unterschied zu den früheren extrovertierten Bauten, nach innen - auf die Ausstattung der Kirche - gerichtet, die allerdings den Prunk und Pomp durch alle verfügbaren Mittel auf das höchste steigerte. Goldmosaik, Silber- und Goldapplikationen sowie kunstvolle Bauplastik aus kostbarem Marmor werden in einer verschwenderischen Fülle verwendet, die auch die Pracht vorchristlicher Bauten übertrifft.

 

In der großen Vielfalt der Bautypen, die sich während der frühen Entwicklungsphase der kirchlichen Architektur in allen Teilen der christlichen Welt vorfinden, stellen die Balkanprovinzen keinesfalls eine Ausnahme dar. Die Baumeister und ihre Auftraggeber werden von der überall herrschenden schöpferischen Experimentierfreude mitgerissen. Es ist die Zeit, in der die für mehrere Jahrhunderte gültigen Bautypen allmählich herausgebildet werden, bevor sich ihre Formen als maßgebende und für den gesamten Kirchenbau verpflichtende Normen durchsetzen können. Unter den frühchristlichen Bauten in Bulgarien finden sich fast sämtliche Kirchentypen, die man in die beiden großen Gruppen der Zentralbauten und der Basiliken unterteilt. Innerhalb der Zentralbauten zeichnen sich zwei der bedeutendsten frühchristlichen Bauten im Oströmischen Reich durch ihre Monumentalität und ihre sehr ausgewogenen Proportionen aus: die aus einer vorchristlichen Bauanlage hervorgegangene Georgsrotunde in Sofia, wohl der älteste relativ gut erhaltene - obgleich mehrmals umgebaute - Kirchenbau in den Balkanprovinzen, und die uns jetzt leider nur noch als Ruine überkommene Rote Kirche bei Peruschtiza - eins der seltsamsten und originellsten Baudenkmäler des frühen Christentums, bei dem die an der Stoa des Hadrian in Athen und an San Lorenzo in Mailand vorgebildeten Formen der tetrakonchalen Kuppelkirche eine weitere Entwicklung erfahren haben. Einige Bauten - wie die Kirche bei Ratiaria (Artschar), in Iwanjane bei Sofia und in Dshanawar-tepe bei Warna - zeigen den komplizierten Entstehungsprozeß der Kreuzkuppelkirche in seinen frühesten Phasen und erscheinen somit als wichtige Bindeglieder in der Entwicklungsgeschichte der christlichen Architektur.

 

Viel weiter verbreitet waren jedoch die Basiliken, die den überwiegenden Teil frühchristlicher Bauten bilden. Wie der Zentralbau aus vorchristlichen Prototypen hervorgegangen, zeigt die Basilika eine lange Entwicklung ihrer Formen und Proportionen, die sich vorwiegend im Zusammenhang mit den funktionellen Bedingungen des christlichen Ritus und der Liturgie, aber auch infolge bautechnischer und ästhetischer Überlegungen innerhalb der frühen Phase des Christentums ständig veränderten. So durchlief auch in den Balkanprovinzen des Oströmischen Reiches die Basilika sämtliche Entwicklungsstufen

 

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vom einschiffigen Bau über die dreischiffige flachgedeckte Basilika bis zu dem komplizierten Typ der mehrschiffigen gewölbten Kuppelbasilika mit Querschiff, Atrium und zahlreichen Vor- bzw. Nebenbauten. Die eingehenden Untersuchungen zeigen, daß es sich dabei meist nicht um Übernahme von vorgebildeten Modellen, sondern um eine eigene Entwicklung handelt, in der Thrakien als durchaus schöpferisches Kunstzentrum der frühchristlichen Architektur einen wesentlichen Beitrag geleistet hat.

 

Die Basilika hatte in den Balkanprovinzen bereits ihre eigene Vorgeschichte, die man an zahlreichen Profanbauten aus der vorchristlichen Zeit - unter anderem in Novae und Serdica - verfolgen kann. Hinzu kamen noch Anregungen und Vorbilder aus dem Christlichen Osten - Syrien und Armenien -, deren Rezeption in einem komplizierten schöpferischen Prozeß vor sich ging. Das Ergebnis war eine Fülle von Varianten der basilikalen Grundtypen, deren Entwicklungstendenz in zwei Hauptrichtungen erfolgte: zu dem auf Tiefenwirkung zielenden langgestreckten Gebäude, das mit der hellenistischen Tradition des Mittelmeerraums verbunden war, und zum anderen zur Akzentuierung der Symmetrie, die zum Zentralbau hinsteuerte. Die Ausstattung der Basilika mit ein oder zwei Kuppeln führte zu einer neuen Bauform, die in der nächsten Entwicklungsphase eine bedeutende Rolle spielen sollte und deren Herausbildung sich in den Balkanprovinzen bis zum späten 9. Jahrhundert hinauszog.

 

Die früheren Basiliken in Bulgarien, von denen fast ausschließlich nur die Grundmauern erhalten geblieben sind, besaßen gewaltige Abmessungen, häufig waren sie ohne Anbauten über 40 Meter lang (Storgosia, Kabyle, Buchowo, Konstantia), wobei die dreischiffigen flachgedeckten Bauten in der Zahl überwiegen. Für die Kunstgeschichte sind allerdings die erst seit dem 5. Jahrhundert auftretenden gewölbten Kuppelbasiliken von größerem Interesse, an denen sich eine Vielfalt von neuen Baulösungen und -formen präsentiert, wie beispielsweise die Herausbildung des Westbaus bzw. der tambourlosen Kuppel (Belowo, Pirdop). Zu einer dritten Gruppe, durch die Basilika am Meer und die Alte Metropolitenkirche in Nessebar sowie mehrere Basiliken in Diokletianopolis (Hissar) vertreten, gehören Bauten, die dem klassisch-hellenistischen Typ der Basilika folgen, doch bereits eine kompliziertere Raumstruktur aufweisen.

 

Unter den Basiliken in Bulgarien gibt es nur sehr wenige, die bis heute im wesentlichen ihre ursprüngliche Bausubstanz erhalten haben. Die bedeutendsten unter ihnen, wie die Alte Metropolitenkirche in Nessebar und die Sophienkirche in Sofia, zeigen jedoch Veränderungen aus dem 9. Jahrhundert in der Baukonzeption, die für die Entwicklung der bulgarischen mittelalterlichen Architektur von großer Tragweite wurden.

 

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Die Monumentalkunst des frühen Christentums wird durch die Einheit von Sinn und Form in allen ihren Erscheinungen bestimmt. Diese Einheit zeigt sich als das wichtigste Gestaltungsprinzip der christlich-orthodoxen Kunst und prägt entscheidend die Malerei und Plastik wie auch das Kunsthandwerk dieser Epoche. Alle schöpferischen Kräfte der Künstler konzentrierten sich auf die Gestaltung der sakralen Innenräume, in denen sich die Christengemeinde versammelte, um das liturgische Mysterium zu erleben. Vor den Baumeistern stand die Aufgabe, die geeigneten Kunstmittel und -formen zu finden, um den Raum zu erweitern und ihm einen den Grundsätzen der christlichen Religion entsprechenden Sinn zu verleihen. Aus dieser neuen Baukonzeption heraus erfolgte die Umgestaltung des Innenraums der hellenistischen Basilika, indem nach und nach die schifftrennenden Architrave durch Arkaden abgelöst wurden, die die Säulenreihen wie den Innenraum anheben und somit den Vertikalismus als eine neue Dimension in die Raumstruktur der Basilika einführen.

 

52 Alte Metropolitenkirche in Nessebar. 5. Jhd.

 

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Den nächsten Schritt in die Richtung einer Verselbständigung des Innenraums bedeutete das Gewölbe, das allmählich die flache Dachkonstruktion ablöste, bis schließlich ein inneres Zentrum des Kirchenraums mit der Kuppel entstand. Auf diese Weise wurde der Fluchtpunkt im Innenraum der Kirche vom östlichen Abschluß der Apsis, der bislang das Prinzip des Horizontalismus betonte, in die Höhe der Kuppel verlegt, so daß eine weitere Komponente des Vertikalismus im Inneren zur Wirkung gelangte. Zugleich vereinigte aber die Kuppel auch formal wie symbolisch die einzelnen in ihren Funktionen differenzierten Innenräume der Kirche, sie verlieh dem Ganzen eine Einheit, die zum Wesensmerkmal der christlich-orthodoxen Baukunst wurde.

 

Die symbolische Bedeutung des neuen visuellen und architektonischen Zentrums im Innenraum der Kirche - der Kuppel - sollte darüber hinaus mit Hilfe der Monumentalkünste Malerei, Mosaik, Bauplastik und Kunsthandwerk durch eine Reihe bildlicher Darstellungen hervorgehoben werden. So entstand mit der Zeit für die Fresken- und Mosaikausstattung des Innenraums ein kompliziertes Bildprogramm, das in vielen Zügen und Einzelheiten bereits vor der Zeit des Bildersturms herausgebildet wurde, seine volle Entfaltung jedoch erst in der darauffolgenden Epoche nach dem Bilderstreit erfuhr. Die »schöne« Kunst als Selbstzweck wurde durch eine Synthese der Monumentalkünste im Interieur des Bauwerks abgelöst: Malerei und Plastik der frühchristlichen Epoche, aber in der christlich-orthodoxen Kunst auch darüber hinaus, erscheinen als baugebundene Kunst. Ihre Aufgabe besteht weniger in der Verschönerung des Raumes, als vielmehr darin, den Ausdruck seines christlichen Symbolgehalts zu betonen.

 

 

Zahlreiche Grabkammern auf den christlichen Friedhöfen antiker Städte wie Serdica (Sofia), Odessos (Warna), Pautalia (Kjustendil) und Diokletianopolis (Hissar) sind mit umfangreichen Fresken oder gar mit Mosaiken (Diokletianopolis) aus der wichtigsten Entwicklungsphase der frühchristlichen Monumentalkunst - der Zeit der Herausbildung der christlichen Form- und Symbolsprache im 4. bis 6. Jahrhundert - geschmückt. Auf diesen kultur- und kunstgeschichtlich bedeutenden Fresken- bzw. Mosaikensembles wird die ganze Wandlung sichtbar, der die bildende Kunst während der Spätantike ausgesetzt war. Bildrepertoire und Technik unterscheiden sich anfangs kaum von den Werken vorchristlicher Kunst, wie beispielsweise bei der Grabkammer in Silistra. Die christliche Kunst bediente sich sämtlicher Symboldarstellungen, Formen und Ornamente der antiken Kunst, auch ganzer Bildschemata und Kompositionen, bevor sie ihre eigenen prägen konnte. Es nahm die Anwendung christlicher Symbole wie Kreuz und Christusmonogramm zu, und allmählich wurde der antike Illusionismus durch einen Expressionismus abgelöst.

 

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53 Erzengel Uriel. Enkaustische Malerei in der Grabkammer Nr. 9, Antike Nekropole in Serdica, Mitte 4. Jh.

 

 

Dieser Entwicklungsprozeß läßt sich anhand einer ganzen Reihe von Baudenkmälern verfolgen, die meisten sind leider nur in Fotoaufnahmen und Kopien, seltener im Original erhalten. So vertreten die Fresken der Grabkammer Nr. 9 in Serdica - erlesene Meisterwerke der antiken illusionistischen Malerei - die früheste Phase dieser Entwicklung: Sowohl die nach dem antiken Schönheitsideal gebildeten Erzengelgestalten als auch das feine und durchsichtige Kolorit des antiken Illusionismus treten hier zusammen mit einer komplizierten Symbolsprache hervor, die ihren Ursprung in der christlichen Gnosis hat und schon nach der Synode von Laodikeia 565 von der offiziellen kirchlichen Kunst verdrängt wurde.

 

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Die späteren Freskenensembles zeigen die ständig zunehmende Rolle des Expressionismus, aber zugleich auch einen fortschreitenden Untergang, der mit einer Vergröberung und Vereinfachung der Zeichnung, einer Verarmung des Kolorits und auch einer Geometrisierung der Ornamentik in Erscheinung tritt. Die antike Formenwelt und Bildtradition wird allmählich von den christlichen Bildwerken verdrängt. Einen wesentlichen Fortschritt in der Entwicklung zeigten die erst in den letzten Jahrzehnten verlorengegangenen Fresken der Roten Kirche bei Peruschtiza, der antiken Stadt Sebastopolis. Obgleich viele Überreste der hellenistischen Tradition in der feinen und reich nuancierten Farbpalette noch spürbar waren, fand man hier sehr deutliche Spuren ostchristlicher Einwirkungen, die mit den zahlreichen Symboldarstellungen der Genien und des Gotteslammes den engen Zusammenhang des zentralen Balkans mit den führenden Zentren des frühen Christentums — Syrien und Palästina - unter Beweis stellen. Der Bilderstreit hat die meisten dieser bildlichen Darstellungen vernichtet, die Fresken der Roten Kirche blieben jedoch - wie viele nicht mehr erhaltene Kunstwerke aus den südwestlichen bulgarischen Gebieten — von den Bilderstürmen unberührt und konnten die ikonographische Tradition an die nächsten Generationen bis zum Spätmittelalter vermitteln.

 

Während all diese Kunstdenkmäler hauptsächlich die Entwicklung der Ikonographie und überhaupt der christlichen Formensprache in Bulgarien verdeutlichen, zeigen eine Reihe von Bildwerken, an erster Stelle die Freskenfragmente aus der Basilika bei Khan Krum (Tschatalar), die vollendete Entfaltung des expressiven Stils der christlichen Malerei: Der antike Illusionismus ist hier endgültig überwunden, die Formen werden durch kräftige Konturen nur angedeutet und bewußt verzerrt, um dadurch mit dem Ganzen einen starken Ausdruck zu erzielen; das Kolorit hat nur sehr wenig Gemeinsames mit der Wirklichkeit der Natur und erscheint vorrangig mit symbolischem Wert. Das sind allerdings die Eigenarten des völlig herausgebildeten Stils der christlich-orthodoxen Malerei im Hochmittelalter, die wir hier mehrere Jahrhunderte früher bereits vorgebildet finden. Alle diese Eigenarten überlebten die folgenschwerste Krise der Kunst des orthodoxen Christentums - die Bilderstürme - und wurden von den Malern der nächsten Epoche im vollen Umfang übernommen. Sie prägten die ganze spätere Kunstentwicklung im bulgarischen Mittelalter und blieben bis zum Ende der christlichen Epoche als Spezies der bulgarischen Kunst schlechthin.

 

Auch die zahlreichen Bodenmosaikfragmente aus den frühen christlichen Baudenkmälern Bulgariens liefern umfangreiche Belege für den Werdegang der christlichen Ikonographie und des expressiven Stils. Die frühesten christlichen Mosaike bezeugen bereits den fortschreitenden Niedergang dieser Kunst, denn im Vergleich zu den Meisterwerken aus dem 3. und frühen 4. Jahrhundert

 

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54 Bodenmosaik aus der Sophienkirche in Sofia. 5. Jh. Archäologisches Museum Sofia

 

 

(die Mosaiken aus Armira und Augusta Traiana) erscheint die Zeichnung viel gröber und primitiver, die Farbskala ärmer und eintöniger. Nur selten noch werden Figuralmotive benutzt, zugleich jedoch werden die antiken Vorbilder weitgehend vereinfacht, zuweilen sogar mißverstanden (das Bodenmosaik der ursprünglichen Kirche unter der Sophienkirche in Sofia). Ehe sich eine eigene Ornamentik und Ikonographie herausgebildet haben, wird weiterhin noch lange die traditionelle hellenistische Ornamentik verwendet, gleichzeitig aber stark geometrisiert und zunehmend vereinfacht (Bodenmosaikfragmente der Stadtbasilika in Odessos/Warna). Die leuchtende Farbigkeit der antiken Vorbilder wird nur zu Beginn der frühchristlichen Epoche übernommen (Bodenmosaikfragmente aus Marcianopolis);

 

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55 Männerkopf aus Obsor. Sandstein, 6. Jh., Archäologisches Museum Sofia

 

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später reduziert sich die Farbskala nach und nach auf nur wenige Töne ohne Nuancen und wirkt nunmehr ausschließlich durch die starken Farbkontraste, die demselben Expressionismus wie die Monumentalmalerei entspringen und der gleichen Entwicklung folgen (Pautalia).

 

Nicht minder deutlich ist die Wandlung vom antiken Illusionismus zum christlichen Expressionismus in der Freiplastik ausgeprägt. Wenn sich auch die frühesten Beispiele in Bulgarien - die Skulpturen des Guten Hirten in den Archäologischen Museen in Orjachowo und Plowdiw - stilistisch und technisch von den Werken römischer Profanplastik nicht unterscheiden und lediglich ihre Thematik die Verbindung mit dem Christentum belegt, so tritt an einigen plastischen Bildwerken der Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert schon eine sehr weit fortgeschrittene Tendenz zu einem Expressionismus in Erscheinung. Die stilisierten und schematisierten Gesichtszüge der Männerköpfe aus Obsor und am Leuchter aus Odessos zeigen - ähnlich den Freskenfragmenten aus Khan Krum - einen ekstatisch-starren Ausdruck, der auf den Betrachter den Eindruck einer geheimnisvollen Mysterienhandlung ausübt. Die Prinzipien der traditionellen Formgestaltung und des antiken Schönheitsideals sind hier völlig überwunden. Alles ist dem Ausdruck untergeordnet: die Form bildet mit dem Zweck und Sinn ein Ganzes, das in seiner symbolischen Sprache unmittelbar zu wirken vermag.

 

Sehr ähnlich verlief die Entwicklung bei der Bauplastik. Auch hier wurde anfangs die Ornamentik, wie die ganze Formensprache überhaupt, von der hellenistisch-römischen Tradition übernommen und die antike Tradition weitergeführt. Bis zum Zeitalter Justinians kopierte man für die Kapitelle und die Relieffriese vorchristliche Modelle, hin und wieder mit christlichen Symbolen bereichert: dem Kreuz, dem Christusmonogramm, aber auch anderen Symboldarstellungen aus dem inzwischen erweiterten Repertoire der christlichen Bildsprache. Die Ornamentik steigerte sich adäquat der technischen Vollkommenheit der ganzen Bauplastik - die Perfektion wurde auf das Höchste getrieben: das Kapitell und der Relieffries wurden durch zarteste Durchbrucharbeit völlig entmaterialisiert und übten nunmehr auf den Betrachter eine den Goldmosaiken ähnliche Wirkung aus - als wenn die Mauern im flackernden Licht-und- Schatten-Spiel der brennenden Kerzen mit Leben erfüllte Bilder wären.

 

Nach und nach zeigten sich die Werkstätten am Marmarameer nahe Konstantinopel als führend und lieferten für einige der bedeutendsten christlichen Bauten in Bulgarien die gesamte bauplastische Ausstattung, die zugleich den Provinzwerkstätten Anregungen zur Nachbildung und zum Nacheifern gab.

 

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56 Kämpferkapitell aus der frühchristlichen Kirche hei Ljutibrod. Kalkstein, 6. Jh., Bezirksmuseum Wraza

 

 

Parallel hierzu entwickelten aber einige Werkstätten im Balkaninneren eine gegenüber dem Drang zur Perfektion und Entkörperlichung der hauptstädtischen Kunst gegenläufige Tendenz. Es handelt sich dabei besonders um Tierdarstellungen - wie bei den Kämpfern und Kapitellen von Ljutibrod und an den Reliefplatten von Ossenowo. Es bestehen keinerlei Verbindungen zwischen diesen derben und primitiven Darstellungen, wo das Sinnbildliche durch das Phantastisch-Erzählerische verdrängt wird, und den Darstellungen an den zeitgenössischen Kapitellen von Thessalonike und Konstantinopel, die vom Geist der hellenistischen Antike geprägt sind und das Endstadium einer langen Entwicklung widerspiegeln. Die Figuren aus Ljutibrod und Ossenowo wurzeln in der volkstümlichen vorchristlichen Tradition. Diese überaus zählebige Stilrichtung ist jedoch nur an Bauwerken entlegener Ortschaften zu beobachten,

 

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die von der hauptstädtischen Kunst nicht beeinflußt sind. Sie ist durch eine bewundernswerte Frische und Unmittelbarkeit des Ausdrucks gekennzeichnet und besitzt für die weitere Kunstentwicklung außerordentliches Gewicht. Ihre Spuren sind noch bis ins Spätmittelalter zu verfolgen. Die Volkskunst tritt immer wieder in Erscheinung, um die erstarrten und verdorrten Nachbildungen einer zu schablonenhafter Routine entarteten Tradition zu beleben.

 

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