Kulturgeschichte im Prisma: Bulgarien vom Altertum bis 1878

Assen Tschilingirov

 

(4) Die römische Zivilisation

 

32 Gesichtshelm. Eisen mit Silber, Tschatalka, 1. Jh. u. Z., Bezirksmuseum Stara Sagora
33 Römisches Kastell in Kula. Ende 3. Jh. u. Z.
34 Forum von Nicopolis ad Istrum. Rekonstruktion
35 Männlicher Kopf. Marmor, 4. Jh., Archäologisches Museum Sofia
36 Philosoph. Marmorfigur, Silistra, 2.-3. Jh. u. Z., Archäologisches Museum Sofia
37 Grabrelief. Marmor, 4. Jh., Nationalmuseum Sofia
38 Thrakischer Soldat zu Pferd. Hochrelief, Marmor, Brestnik, 3. Jh. u. Z., Archäologisches Museum Sofia
39 Männlicher Kopf. Mosaik aus der Villa rustica bei Iwailowgrad, 5. Jh. u. Z., Nationalmuseum Sofia
40 Artemis mit Aktaion. Mosaik aus der Villa rustica bei Iwailowgrad, 3. Jh. u. Z., Nationalmuseum Sofia
41 Innenansicht eines römischen Grabmals. Silistra, Ende 4. Jh.
42 Sklavin. Detail der Freskenbemalung des römischen Grabmals in Silistra, Ende 4. Jh.
43 Das Thrakische Mausoleum in Pomorie. 3. Jh. u. Z. (?)
44 Heiliger. Freskenfragment aus der Basilika Nr. 2 in Khan Krum, 4. Jh.
45 Kliment von Ochrid, Fresko, Klimentkirche in Ochrid, 1295
46 Antikes Theater in Plowdiw. Zweites Jahrzehnt im 2. Jh. u. Z.
47 Römische Thermen in Warna. Zweite Hälfte 2. Jh. u. Z.
48 Zirkus. Steinrelief aus Serdica, Ende 2. bis Anfang 4. Jh., Archäologisches Museum Sofia

 

Ende des 3. Jahrhunderts v. u. Z. erwuchs im westlichen Mittelmeerraum eine neue Großmacht, das Römische Reich, das, nachdem es seinen Rivalen und gefährlichsten Gegner, Karthago, geschlagen hatte, sich dem Osten zuwendete, wo die hellenistischen Staaten untereinander um das Erbe Alexanders des Großen kämpften. Die von Rom geführten Eroberungskriege dauerten mehr als zwei Jahrhunderte an, bis schließlich kurz nach der Zeitenwende die gesamte kulturelle Welt Eurasiens und Nordafrikas unter römischer Macht stand. Fast als letzte wurden die thrakischen Gebiete in das Imperium Romanum eingegliedert: nachdem bereits im Jahre 148 v. u. Z. die Provinz Macedonia gegründet worden war, folgte um die Jahre 15 und 46 u. Z. die Gründung der Provinzen Moesia und Thracia beiderseits des Balkangebirges.

 

Die Eroberungskriege wurden mit einer auch für die Antike ungewöhnlichen Härte geführt. Die im Kriege gefangengenommenen Thraker sind wie die Bevölkerung ganzer Siedlungen und Stämme als Sklaven verkauft worden. Bekannt ist eine Episode aus dem Feldzug des römischen Heerführers Marcus Licinius Crassus gegen die Serden im Jahre 28 v. u. Z., als er sämtlichen gefangenen Thrakern einen Arm abschlagen ließ - sicherlich nur eine Episode unter vielen. So war es dann kein Zufall, daß an der Spitze des größten Sklavenaufstandes der Antike - des Aufstandes der Gladiatoren, der in den Jahren 73 bis 71 v. u. Z. Rom erschütterte und erst nach äußersten Anstrengungen des ganzen Imperiums niedergeschlagen werden konnte - ein Thraker, Spartacus, stand. Trotz ihres erbitterten Widerstands unterlagen die Thraker der römischen Übermacht und mußten ihre Selbständigkeit preisgeben, oft jedoch kämpften sie bis zum Ende und zogen den Tod der Knechtschaft vor.

 

Nach der Eingliederung sämtlicher thrakischer Gebiete in das Römische Reich, einschließlich weiter Landstriche nördlich der Donau, wurde eine neue administrative Einteilung der Balkanhalbinsel vorgenommen. Um das Jahr 86 u. Z. wurde Moesien in zwei Provinzen - Moesia superior und Moesia inferior (Ober- und Untermösien) - geteilt. Die Nordgrenze verlief ursprünglich an der Donau, wurde aber später zeitweise an die Karpaten verlegt, während die Südgrenze die Balkanvorgebirge bildeten. Moesia inferior wurde als kaiserliche Provinz mit einem Konsul an der Spitze rasch romanisiert; als Amtssprache wurde das Latein eingeführt. Das war durchaus möglich, da die nach vielen Kämpfen stark dezimierte ursprüngliche Bevölkerung bereits eine Minderheit in der Gesamtbevölkerung darstellte,

 

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während der überwiegende römische Teil sich aus der beträchtlichen Kriegerschar und der neuen Administration zusammensetzte. Durch Kolonisierung füllten sich die menschenleeren, doch für Agrarwirtschaft sehr günstigen Gebiete hauptsächlich mit pensionierten Soldaten, aber auch mit zivilen römischen Ansiedlern und Ausländern. Das Land wurde in Latifundien eingeteilt - darunter auch mehrere kaiserliche Domänen die von Sklaven und Kolonen bewirtschaftet wurden und der Gesellschaft bereits das Gepräge des entwickelten Sklavenhaltersystems gaben. Zugleich nahm mit der Entwicklung der Städte (Munizipien) die Zahl der Handwerker zu, in deren Werkstätten die Sklavenarbeit immer stärker genutzt wurde, während die Besitzer der Werkstätten und größeren Produktionsbetriebe der Nobilität angehörten.

 

Die Provinz Thracia umfaßte die Gebiete im Süden mit dem ganzen Balkangebirge und reichte bis zum Ägäischen Meer, die Gebiete um Propontis ausgeschlossen. Infolge der administrativen Reformen wurde an Thracia auch ein Teil der Provinz Macedonia angeschlossen, so daß die Westgrenze am Nestos (Mesta) und am Ossogowogebirge verlief. Hauptstadt war erneut Philippopel, das nach seinem Aufstieg in der Zeit der makedonischen Herrschaft an Bedeutung verloren hatte, als sich die Provinzverwaltung in Perinthos befand.

 

Dieses Gebiet war zur Zeit der römischen Invasion beträchtlich weit entwickelt im Vergleich zu den wirtschaftlich zurückgebliebenen nördlichen Provinzen des Odrysenreichs. Das Sklavenhaltersystem war herausgebildet, so daß weder in der Landwirtschaft noch im Handwerk besonders große Veränderungen vollzogen wurden. Ein geringer Teil des Großgrundbesitzes blieb in den Händen der in zunehmendem Maße romanisierten thrakischen Nobilität, während den überwiegenden Teil des Bodens römische Latifundienbesitzer beanspruchten.

 

Den administrativen Reformen entsprechend, wurden auch viele Garnisonen verlegt und neu angesiedelt. Für die Verteidigung des Römischen Reiches wurden viele alte Festungen ausgebaut sowie neue Stützpunkte als Militärlager (Kastelle) zur Unterbringung der Garnisonen gegründet, die für »Frieden und Ordnung« zu sorgen hatten und jeden Versuch der unterworfenen Bevölkerung, sich zu erheben, niederschlugen. Unter den vielen Militärlagern in Moesia inferior, meistens an der Donau errichtet, spielten eine wichtigere Rolle Novae, Oescus, Iatrus, Abrittus, Sexaginta Prista, Durostorum und Montana, aus denen später Städte hervorgegangen sind, die mit wenigen Ausnahmen bis zum heutigen Tage bestehen.

 

Alle Militärlager wurden nach den Regeln der römischen Wehranlagen erbaut - meist als Quadrat, in der Mitte der Vorderfront die Porta praetoria, ihr gegenüber die Porta decumana, an den Seiten die Portae principales sinistra und dextra,

 

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32 Gesichtshelm. Eisen mit Silber, Tschatalka, 1. Jh. u. Z., Bezirksmuseum Stara Sagora

 

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33 Römisches Kastell in Kula. Ende 3. Jh. u. Z.

 

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die mit den entsprechenden Straßen verbunden waren, an deren Kreuzung um den Zentralplatz das Praetorium und die übrigen Stabsgebäude (principia), das Lazarett, das Bad und die Wirtschaftsgebäude lagen. Die Festungsmauern waren mit runden oder rechteckigen Wehrtürmen unterschiedlicher Zahl ausgestattet. In nächster Nachbarschaft entstanden die Siedlungen der Zivilbevölkerung (canabae), die ursprünglich mit Handwerkern, Händlern und Landarbeitern, später aber zunehmend auch mit pensionierten Soldaten und ihren Familien besiedelt wurden und sich mit der Zeit zu Städten (Munizipien) entwickelten. Eine große Anzahl der Militärlager entstand an den wichtigsten Landstraßen, die zur Zeit der römischen Herrschaft weitgehend ausgebaut wurden. Sie waren häufig mit Kopfsteinpflaster belegt sowie mit zahlreichen Brücken und Stationen für Pferdewechsel (mutatiae) ausgestattet, zu denen gelegentlich Gast- und Wirtshäuser (tabernae) sowie Wehranlagen mit kleinen Garnisonen gehörten.

 

Neben den beiden Hauptverbindungen, der Via diagonalis - der Straße von Mitteleuropa über Singidunum, Serdica, Philippopel, Hadrianopolis und Byzantion nach Kleinasien - und der Via egnatia - der Straße von Italien nach Kleinasien durch das Binnenland, an der Küste entlang, über Salona, Dyrrhachion, Pelagonia, Thessalonike, Philippi, Abdera, Traianopolis und Byzantion wurden ebenfalls die wichtigste Nord-Süd-Verbindung durch das Balkangebirge am Traianpaß ausgebaut wie auch mehrere das Rhodopen- gebirge überquerende Straßen.

 

Die Landwirtschaft bildete nach wie vor den wichtigsten Lebensunterhalt in den Balkanprovinzen, die Organisation des Arbeitsprozesses wurde jedoch wesentlich verändert. Ein großer Teil des Grundbesitzes in Mösien ging auf die neuerrichteten Militärlager, Kleinstädte (canabae) und Kolonien sowie auf die kaiserlichen Domänen über; ein anderer Teil, der in verlassenen menschenleeren Gebieten lag, wurde neu eingeteilt und den Kolonisten - hauptsächlich pensionierten Soldaten, aber auch Übersiedlern aus Kleinasien und dem Gebiet hinter der Donau - in Besitz gegeben. Nur ein geringer Teil, der früher den Dorfgemeinden gehört hatte, blieb zeitweise in den Händen der hier noch ansässigen Bevölkerung, wechselte aber häufig seine Besitzer und gehörte schließlich ebenfalls den neuen Latifundieneigentümern.

 

In den kaiserlichen Domänen sowie in den anderen Großgütern wurde die Sklavenarbeit im vollen Umfang eingesetzt. Infolgedessen steigerte sich die Agrarproduktion rasch, so daß aus den ehedem verlassenen Gebieten der nördlichen Balkanprovinzen große Mengen Weizen und Gerste bereits zur Zeit Neros nach Rom ausgeführt werden konnten. In den kaiserlichen Domänen in Mösien wurde unter ausschließlicher Nutzung der Sklavenarbeit in großem Umfang auch Pferdezucht betrieben (die Domänen nahe Wraza und Widin);

 

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eine der größten Domänen nahe Madara war bedeutender Weinlieferant für die kaiserlichen Weinkeller.

 

Die Zahl der kaiserlichen Domänen in Thrakien war geringer. Sie breiteten sich auf dem ehemaligen Großgrundbesitz der odrysischen Herrscher und anderer thrakischer Fürsten aus. Als Basis des wirtschaftlichen Systems in Thrakien blieben jedoch die Dorfgemeinden (vici comai) neben den wenigen Städten (Munizipien) weiter bestehen.

 

Obwohl im Bergbau - der wie zuvor mit der Metallverarbeitung den zweitwichtigsten Wirtschaftszweig nach der Landwirtschaft bildete - die Sklavenarbeit schon seit mehreren Jahrhunderten voll genutzt wurde, führte die römische Herrschaft auch hier wesentliche Veränderungen ein, hauptsächlich in der Organisation des Arbeitsprozesses und in der Einsetzung neuerer Methoden für die Erzgewinnung. Die Bergwerke gehörten nunmehr vorwiegend dem Kaiser und dem römischen Senat, es wurden aber häufig auch Konzessionen an größere Unternehmer vergeben; dadurch ließ sich wie bei der Agrarwirtschaft ihre Produktion wesentlich steigern. Der durch weitreichende Militarisierung der Nordprovinzen sehr gestiegene Bedarf an Metallerzeugnissen — in erster Linie Waffen und Rüstungen — mußte hauptsächlich von den zahlreichen Werkstätten der Nebensiedlungen nahe den Militärlagern gedeckt werden, die sich mit der Zeit zu großen Produktionsbetrieben entwickelten, wo die Sklavenarbeit ebenfalls in breitem Umfang genutzt wurde. Diese Großbetriebe, auf das ganze Gebiet der Balkanprovinzen verstreut, lösten die früheren Werkstätten ab, die in geringer Zahl bei den thrakischen Fürsten- und Königssitzen, mitunter auch unmittelbar an den Bergwerken lagen. Obwohl ihre Produktion hauptsächlich für den Massenbedarf bestimmt war und sich dadurch von der thrakischer fürstlicher Werkstätten unterschied, die vorrangig prächtige und kunstvolle Waffen herstellten, ging die handwerkliche Tradition nicht ganz verloren und ist sichtbar an mehreren aus dieser Zeit stammenden Prachtwaffen und Rüstungen, aber auch am Schmuck.

 

Während des raschen wirtschaftlichen Aufschwungs nach der Beruhigung der Balkangebiete, der bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts andauerte und durch die Festigung des entwickelten Sklavenhaltersystems gekennzeichnet ist, erhielten mehrere ältere Städte und neuerrichtete Militärlager mit ihren dörflichen Ansiedlungen (canabae) Munizipalrecht mit Selbstverwaltung: so unter Kaiser Traian (98-117) die Städte Serdica (Sofia), Philippopel (Plowdiw), Pautalia (Kjustendil) und Beroe (Stara Sagora), das in Augusta Traiana umbenannt wurde; später Anchialos (Pomorie), Nicopolis ad Nestum (nahe Goze Deltschew), Durostorum (Silistra), Ratiaria (Artschar) und Montana (Michailowgrad). Neu gegründet wurden die Großstädte Nicopolis ad Istrum, Marcianopolis und Traianopolis, während Oescus (nahe Gigen) das Recht einer kaiserlichen Kolonie erhielt.

 

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Mit dem Munizipalrecht bekamen einige von ihnen - wie Serdica, Philippopel und Pautalia, ebenso die meisten Städte an der westlichen Schwarzmeerküste - auch das Münzprägungsrecht.

 

Die Städte wurden in der Regel nach dem Hippodamischen Städtebauschema neu ausgebaut: die Straßen verliefen parallel, an den Himmelsrichtungen orientiert, und schnitten sich rechtwinklig; das Stadtzentrum an der Kreuzung beider Hauptstraßen - cardo maior und decumanus maior die breiter als die Nebenstraßen waren, bildete ein rechteckiger, selten quadratischer, mit Marmorplatten belegter Platz - das Forum. Es war von Säulenreihen und Skulpturen umgeben, durch wenige Stufen über das Niveau der Straßen erhöht und somit als »Fußgängerzone« für sämtliche Verkehrsmittel gesperrt. Um den Platz herum lagen die öffentlichen Bauten, die jeweils eins oder mehrere Quartiere (insulae) einnahmen, die durch vier nebeneinanderliegende Straßen gebildet waren. Unter den öffentlichen Bauten waren am wichtigsten und für alle neuen Städte unentbehrlich das Buleuterion (Stadtrat), das Odeion (Musiktheater) und die Tempel, meistens der kapitolinischen Götterdreiheit - Jupiter Optimus Maximus, luno Regina und Minerva Augusta - sowie Fortuna geweiht. Häufig waren sie auf einer Anhöhe außerhalb der Stadt - auf der Akropolis - errichtet. Es fehlte nicht an Sportstätten (palestrae) und Lehrstätten (gymnasiae); eine wichtige Rolle als Mittelpunkt des öffentlichen Lebens spielten auch die Bäder (thermae) und die Amphitheater beziehungsweise Stadien.

 

34 Forum von Nicopolis ad Istrum. Rekonstruktion

 

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Um den Markt (agora), manchmal als zweiter Platz herausgebildet, lagen die Handwerksviertel, die sich mit dem raschen Aufschwung der Balkanstädte in den ersten drei Jahrhunderten u. Z. zu großen Produktionszentren entwickelten, so daß auch der gestiegene Bedarf an Erzeugnissen des Handwerks und Kunstgewerbes weitgehend gedeckt werden konnte und seit dem 3. Jahrhundert u. Z. lediglich Luxuswaren von den Weltzentren der Kunst und des Kunsthandwerks wie Antiocheia (Silbererzeugnisse, Stoffe), Alexandria (Elfenbeinerzeugnisse, Glasgefäße), Rom und Aquileia (Bronzeleuchter) importiert wurden. Die Keramikwerkstätten - wie viele andere größere Produktionsbetriebe außerhalb der Stadtmauern gelegen - haben sich am schnellsten den neuen Bedingungen angepaßt (Serdica, Nicopolis ad Istrum): neben ausreichend Tafelkeramik stellten sie in großen Mengen Leuchter her, die - sehr oft mit importierten oder nachgemachten Matrizen gefertigt - um ein vielfaches preiswerter waren als die Produkte der bis dahin traditionellen Lieferanten, der Werkstätten Athens und Milets.

 

Auch die Skulpturwerkstätten konkurrierten erfolgreich mit der durch hohe Transportkosten sehr teuren Produktion Griechenlands und Italiens. In mehreren Steinbrüchen bei Tyrnowo, Dewnja und in den Rhodopen wurden genügend Kalkstein und Marmor gewonnen, die nicht nur für die gewerbsmäßige Massenproduktion minderer Qualität ausreichten, die bei vielen Abnehmern der gehobenen Mittelschicht als Opfergaben für die Heiligtümer sehr gefragt war, sondern auch für die Ausstattung der unzähligen neuerrichteten öffentlichen Bauten und Plätze mit Kopien bekannter Kunstwerke, wie der Statuen des Praxiteles, Lysippos und des Skopas. Obgleich der überwiegende Teil dieser Kunstwerke schon in den ersten christlichen Jahrhunderten vernichtet wurde und die Reste in den Kalköfen bis zum Spätmittelalter fast völlig verschwanden, sind auch einige wenige Werke erhalten. Sie weisen eine hohe künstlerische Qualität auf, die den bedeutendsten Zeugen römischer Provinzialkunst keinesfalls nachsteht. Hervorragende Leistungen können bei der Porträtplastik vom 2. bis zum frühen 4. Jahrhundert verzeichnet werden, die damals hier wie im gesamten Römischen Reich zu ihrer höchsten Blüte gelangte. Außer mehreren Grabreliefs, die im ganzen Lande verstreut sind und für die Lokalisierung bestimmter Werkstätten ungenügende Angaben bieten, sich jedoch durch weitreichende Angleichung in Stil und Technik auszeichnen, sind auch einige Freiplastiken erhalten geblieben, Meisterwerke, wie die Marmorköpfe Diokletians aus Serdica und einer Frau aus Odessos, die den Wandel vom antiken Illusionismus zum akademischen Klassizismus der späten Kaiserzeit besonders anschaulich darstellen.

 

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35 Männlicher Kopf. Marmor, 4. Jh., Archäologisches Museum Sofia

 

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36 Philosoph. Marmorfigur, Silistra, 2.-3. Jh. u. Z., Archäologisches Museum Sofia

 

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Neben Skulpturen aus einheimischem Marmor, die ehemals Plätze und öffentliche Bauten antiker Städte schmückten und sich jetzt hauptsächlich im Nationalmuseum Sofia befinden - unter denen die fast 3 Meter hohe Demeterstatue aus Oescus, die Statuen des Herakles, des Hermes und der Nike aus den Thermen in Odessos, des Eros aus Nicopolis ad Istrum und des Apollon aus Augusta Traiana besondere künstlerische Qualität aufweisen sind, obgleich nur fragmentarisch erhalten, auch Bronzestatuen und -köpfe überliefert,

 

37 Grabrelief. Marmor, 4. Jh., Nationalmuseum Sofia

 

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die offensichtlich aus lokalen Bronzegießereien hervorgegangen sind, wie der Kopf Apollons aus Serdica, heute ebenfalls im Nationalmuseum Sofia.

 

Den größten Anteil der erhaltenen Werke lokaler Skulpturwerkstätten bilden jedoch die Sepulkraldenkmäler und vor allem die Votivreliefs - Opfergaben, die in zahlreichen Heiligtümern aufgestellt wurden und deren überaus hohe Anzahl für eine Überflutung des Marktes in den ersten Jahrhunderten u. Z. spricht. Meistens stellen sie den sogenannten Heros dar, der auch unter dem Namen Thrakischer Reiter bekannt ist - eine synkretistische Gottheit, bei der Züge der thrakischen Mythologie mit anderen synkretistischen Kulten vermischt sind und die die Polarisation zwischen dem chthonischen und dem solaren Prinzip darstellt. Wenn auch aus diesem Bereich Werke von hoher künstlerischer Qualität nicht fehlen - wie die fast lebensgroße Statue (eigentlich ein Hochrelief) aus Bresnik oder eine Reihe Reliefs aus dem Heiligtum bei Lowetsch, alle im Nationalmuseum Sofia aufbewahrt-, so bleibt die überwiegende Zahl der Votivreliefs im Rahmen der Volkskunst und zeigt die unterste Stufe des mit der Zeit eingetretenen Niedergangs der thrakischen Kunst.

 

Erhalten ist auch eine verhältnismäßig geringe Zahl Votivreliefs und -platten mit Sujets aus der griechischen Mythologie, aber auch aus anderen synkretistischen Kulten, die für das religiöse Leben in den ersten Jahrhunderten u. Z. im Römischen Reich charakteristisch waren, wie dem aus Kleinasien eingeführten Kult der Großen Göttin (Kybele), der an mehreren bronzenen Votivplatten aus Abrittus (Rasgrad) und Beroe (Stara Sagora) in Erscheinung tritt. Sogar der Mithraskult ist belegt. Neben Reliefs finden sich zahlreiche Werke der Kleinplastik aus Terrakotta, aber auch aus Bronze und Marmor mit dekorativen und kultischen Funktionen; häufig wurden sie auch als Verzierung für Pferdewagen benutzt.

 

Ein bedeutsames Wirkungsfeld für die Skulpturwerkstätten stellte die Bauplastik dar, die an zahlreichen Monumentalbauten, hauptsächlich zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert u. Z. errichtet, vielseitige Anwendung fand. Zu diesem Bereich gehört neben der Monumentalplastik - den bereits erwähnten Freiskulpturen zur Verzierung dieser Bauten - auch sehr viel Dekorationsplastik, wie Relieffriese, Kapitelle und Portale, die geradezu verschwenderisch die öffentlichen Bauten schmückten. Hierbei traten die Steinmetzwerkstätten von Odessos in den Vordergrund, aus denen hervorragende Kapitelle und Ornamentalreliefs stammen, die einst prächtige Bäder und Tempel zierten und später eine neue Verwendung an christlichen Bauten fanden. Einen vielleicht noch höheren künstlerischen Wert weist die Bauplastik aus Nicopolis ad Istrum auf, deren größter Teil an den mittelalterlichen Kirchen Tyrnowos als Spolien wiederverwendet wurde.

 

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38 Thrakischer Soldat zu Pferd. Hochrelief, Marmor, Brestnik, 3. Jh. u. Z., Archäologisches Museum Sofia

 

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Seit dem 2. Jahrhundert u. Z. kam an den Monumentalbauten auch die Mosaikverzierung zunehmend zur Geltung und erreichte im 3. Jahrhundert u. Z. ihre erste Blüte. Vom ganzen Mosaikschmuck an öffentlichen Bauten, der sich gelegentlich auch auf Wände und Decken ausbreitete, sind nur einige Fragmente der Bodenmosaiken erhalten geblieben, unter anderem in Oescus, Augusta Traiana, Odessos, Philippopel und Pautalia, aber auch in reichen Gutshäusern wie der Villa rustica bei Iwailowgrad. Es ist äußerst bedauernswert, daß so bedeutende Werke, die mit zu den besten Leistungen römischer Provinzialkunst zählen, derart fragmentarisch auf uns gekommen sind, denn alle diese Stücke stellen nur geringe Teile umfangreicher Kompositionen dar, deren Ausmaße den riesigen Bauanlagen angepaßt waren. Die Mosaiken aus dem 3. und 4. Jahrhundert u. Z. - der Blütezeit dieser Kunst - bleiben noch dem Illusionismus der hellenistischen Tradition in Sujets und Kunsttechnik verpflichtet, obgleich eine gewisse Vergröberung des Stils bereits angedeutet ist, die zwangsläufig mit der Monumentalisierung der Formen bald auftreten muß. Die Farbskala ist anfangs sehr reich und differenziert, die Mosaiksteine sind noch relativ klein und ergeben eine sehr feine Zeichnung und Nuancierung. Die Sujets der vorwiegend figuralen Kompositionen werden hauptsächlich aus dem Bereich der Mythologie (Iwailowgrad, Pautalia, Augusta Traiana), aber in Ausnahmefällen auch aus dem Theater geschöpft, wie zum Beispiel die Szene aus Menanders Komödie »Achäer« auf dem Bodenmosaik aus Oescus.

 

Ein Rückgang der künstlerischen Qualität beginnt erst seit dem späten 4. Jahrhundert und ist vorrangig auf den enorm gestiegenen Bedarf zurückzuführen, dessen Deckung nur unter den Bedingungen einer Vereinfachung und Vergröberung der bis dahin äußerst aufwendigen Technik möglich war (Philippopel, Odessos).

 

Noch weniger ist von der Monumentalmalerei erhalten geblieben, die als Wandschmuck der öffentlichen und reichen privaten Bauten eine noch größere Anwendung als das Mosaik gehabt haben dürfte. Die Freskenfragmente deuten auf die weite Verbreitung dieser Kunst auch in den ersten Jahrhunderten u. Z. Einige ganze Freskcnensembles aus der Sepulkralkunst haben die vielen Jahrhunderte überdauert und sind fast bis in unsere Tage erhalten geblieben - erst zu Beginn dieses Jahrhunderts wurden sie urbanistischen Zwecken geopfert. Nur die später entdeckten und ausgegrabenen Denkmäler - die Grabkammern von Odessos (Warna) und Silistra - mit ihren Fresken konnten gerettet werden. Die letztere besitzt die bedeutendsten Fresken, obgleich sie mit ihren Genreszenen schon aus der Zeit kurz nach der großen Blüte der hellenistisch-römischen Malerei stammt, die etwa bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts u. Z. andauerte, und die ersten Zeichen des Niedergangs dieser Kunst offenbart:

 

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39 Männlicher Kopf. Mosaik aus der Villa rustica bei Iwailowgrad, 5. Jh. u. Z., Nationalmuseum Sofia

 

 

Der klassizistische Realismus mit seiner Ausgewogenheit und seinem Schönheitsideal ist bereits aufgegeben und durch einen Expressionismus mit übertriebener Gestik, gesteigertem Ausdruck und Verzerrung der bislang harmonischen Proportionen ersetzt worden, wenn auch die technischen Mittel immer noch aus dem hellenistischen Illusionismus stammen.

 

 

Unsere Kenntnisse über die Baukunst und den Städtebau während der ersten drei Jahrhunderte u. Z. in Bulgarien fußen mehr auf Schriftquellen als auf unmittelbarem Studium und Ausgrabungen.

 

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40 Artemis mit Aktaion. Mosaik aus der Villa rustica bei Iwailowgrad, 3. Jh. u. Z., Nationalmuseum Sofia

 

 

Erhalten geblieben sind nur einige wenige, wenn auch äußerst imposante Ruinen, während die Reste von mehreren hundert öffentlichen Bauten ehemals blühender Städte unter einer viele Meter dicken »Kulturschicht« liegen, auf der die modernen Städte Bulgariens erbaut wurden. Nur ein paar antike Städte, wie Nicopolis ad Istrum und Oescus, konnten die großen Umwälzungen im Frühmittelalter nicht überleben und wurden verlassen - diese beiden Städte sind auch die einzigen, die bislang systematisch und umfangreich - obgleich keinesfalls vollständig - ausgegraben wurden.

 

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41 Innenansicht eines römischen Grabmals. Silistra, Ende 4. Jh.

 

 

In den letzten Jahren wurden dazu noch einige der bedeutendsten Ruinen teilweise freigelegt - so die riesigen Römischen Thermen in Warna und das Amphitheater in Plowdiw, das nach seiner Instandsetzung seine Funktionen wieder aufnehmen konnte. Nur zu einem kleinen Teil ließ sich das fast 250 Meter lange Antike Stadion in Plowdiw von Schutt und Asche befreien, da darüber das ganze Stadtzentrum der neuen Stadt liegt. All diese Bauanlagen, wie auch die nur in ihren Grundresten erhaltenen Bauten von Novae, Kabyle, Oescus und Nicopolis ad Istrum, können den Eindruck von der Größe und Bedeutung der römisch-antiken Baukunst vermitteln. Sie alle stammen aus einer Zeit, die in der Kunstgeschichte mit Recht für die höchste Blüte der römischen Architektur gehalten wird, und sie überschatten die Höchstleistungen der Architektur früherer Kulturen - Ägyptens, Babylons und des Hellenismus - mit ihrer Kühnheit, ihren gewagten, überdimensionalen Maßstäben.

 

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42 Sklavin. Detail der Freskenbemalung des römischen Grabmals in Silistra, Ende 4. Jh.

 

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43 Das Thrakische Mausoleum in Pomorie. 3. Jh. u. Z. (?)

Errichtet in der letzten Phase der thrakischen Kunst - während der Römerzeit unterscheidet sich dieses Bauwerk wesentlich von den älteren thrakischen Sepulkralbautcn. Im Sinne der synkretistischen Religionen stellt es nicht mehr eine geschlossene Grabstätte der Herrscher dar, sondern ist zu einem kultischen Bau geworden, in dem die Totenverehrung durch das Volk stattfinden kann.

 

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44 Heiliger. Freskenfragment aus der Basilika Nr. 2 in Khan Krum, 4. Jh.

 

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45 Kliment von Ochrid, Fresko, Klimentkirche in Ochrid, 1295

 

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Sogar die ägyptischen Tempel und Pyramiden wirken im Vergleich mit dem Tempel in Baalbek und den Thermen Caracallas und Diokletians in Rom überholt, während die Paläste Domitians auf dem Palatin in Rom und Diokletians in Salona (Split) mit ihrer Pracht und Monumentalität alle kaiserlichen Residenzen des Altertums, einschließlich die in Babylon und Persepolis, als arme Landsitze erscheinen lassen.

 

Die hauptstädtische Architektur Roms wurde mit all ihren Stilrichtungen, Bautechniken und -formen in den Balkanprovinzen im vollen Umfang übernommen und vorbildhaft benutzt.

 

Die lokalen Bauherren und -meister haben mit ihrer ganzen Kraft den gewaltigen Bauanlagen Traians, der Flavier, Caracallas und Diokletians in Pracht und Größe nachzueifern versucht. Ihre Leistungen blieben in Bulgarien bis zur Neuzeit unerreicht, aber auch ohne Nachfolge. Zum größten Teil schon am Ausgang der Antike zerstört, konnten die Bauten aus der römischen Zeit in Bulgarien - im Unterschied zu der Architektur Roms - nur in geringem Maße den Baumeistern nachfolgender Epochen Vorbilder und Impulse bieten.

 

Die Baukunst der römischen Zivilisation in Bulgarien besitzt keinerlei Beziehungen zu der lokalen Bautradition. Wenn auch in den griechischen Kolonien an der Schwarzmeerküste und mit einigen Bauten aus den letzten vorchristlichen Jahrhunderten ins Balkaninnere hellenistische Bautechniken weitgehend eingeführt waren, so brach die römische Zeit mit der lokalen Tradition endgültig und ließ innerhalb einer langen Zeitspanne einzig und allein die in Rom verwendeten Bautechniken gelten: Opus mixtum (gemischtes Mauerwerk) und Opus caementicum (Quaderbau mit Füllung) - seltener durch reines Backsteinmauerwerk variiert. Auch der Gewölbe- und Kuppelbau wurde neu eingeführt und fand an den Bauten immer häufiger Anwendung.

 

Mit welcher Kraft sich die neuen Formen und Techniken durchzusetzen vermochten, beweisen einige wenige in dieser Zeit entstandene thrakische Kultbauten, wie das Hügelgrab bei Malko Tyrnowo und das Mausoleum bei Pomorie, wo die römische Mischbau- und Gewölbetechnik die lokale überlieferte Bautechnik endgültig abgelöst hat. Die Einwirkungen bleiben aber hier nicht allein auf die Bautechnik beschränkt, sie greifen auch auf Formen und Funktionen der Anlage über; das Mausoleum bei Pomorie unterscheidet sich wesentlich von den älteren thrakischen Sepulkralbauten, auch in seiner Raumgestaltung, die von anderen kultischen Funktionen bestimmt wird. Im Sinne der synkretistischen Religionen stellt der Bau nicht mehr eine geschlossene und unzugängliche Grabstätte der Herrscher dar, sondern ist zu einem kultischen Bau geworden, in dem die Totenverehrung durch das Volk stattfinden kann.

 

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46 Antikes Theater in Plowdiw. Zweites Jahrzehnt im 2. Jh. u. Z.

 

 

In breiterem Umfang wurden die neuen Formen und Techniken bei Bauten angewandt, für die aus der früheren Zeit auf dem Balkan keine Vorbilder bestanden - bei den Stadien, Amphitheatern, Thermen. Aber auch viele Verwaltungsgebäude, Theater, Tempel und Lehrstätten weisen in ihren Formen keinerlei Verbindung zu der lokalen Tradition auf und deuten allein auf die Herkunft aus den Zentren des Römischen Reichs hin. Besonders auffallend ist dies bei den Römischen Thermen in Warna und beim Stadion in Plowdiw, wo Grundrisse, Bauformen, aber auch Ausstattung und Gestaltung von den zeitgenössischen Bauten Roms - in erster Linie von den Bauten Traians und der Flavier - übertragen und den örtlichen Gegebenheiten des Terrains entsprechend angepaßt worden sind.

 

In keineswegs geringerem Maße als die öffentlichen Bauten zeigen die reichen Gutshäuser auf dem Lande ihren römischen Ursprung. Diese Wohnsitze reicher Grundbesitzer sind als riesige Komplexe mit zahlreichen Wirtschafts- und Unterbringungsräumen für eine große Anzahl von Sklaven und Dienerschaft, aber zugleich mit repräsentativen Räumlichkeiten für die Herren und ihre Gäste erbaut.

 

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Weder Funktionen noch Formen sind hier in der Vergangenheit vorgebildet, so daß diese Bauten allein römischen Vorbildern folgen. Die Ausführung derartiger Wohnkomplexe steht den prächtigen öffentlichen Bauten nicht nach und schließt häufig sehr kunstvolle Skulpturen und Mosaike ein, die zu den bedeutendsten der Zeit gehören (Villa rustica bei Armira, nahe Iwailowgrad).

 

Die meisten dieser Bauten konnten die Antike nicht überdauern. Weit von den durch starke Mauern geschützten Städten erbaut, wurden sie bereits während der Barbarenangriffe in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts ausgeplündert und zerstört, ohne später wiederaufgebaut zu werden.

 

47 Römische Thermen in Warna. Zweite Hälfte 2. Jh. u. Z.

 

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Aber auch ihre Funktionen wurden während der darauffolgenden Epoche des Feudalismus nicht mehr in solcher Form wiederaufgenommen, so daß sie ebenfalls wie die überwiegende Zahl der öffentlichen Bauten ohne Nachfolge blieben.

 

 

Die Kunst war einer der Bereiche, in denen sich das vielseitige kulturelle Leben der römischen Zivilisation präsentierte. Im Vergleich mit dem kleinen und in sich geschlossenen Kreis der herrschenden Oberschicht der Thraker, durch den Hellenismus bereits erweitert, aber dennoch keineswegs ausgedehnt, umfaßte nun die Nobilität eine wesentlich breitere Schicht der Bevölkerung. Ihre Ansprüche an Luxus und Glanz waren sicher nicht so hochgestellt wie am Hofe thrakischer Herrscher und konnten mit einem bedeutend geringeren Aufwand befriedigt werden, griffen aber zugleich auch auf andere kulturelle Bereiche über, die zuvor sogar für die engsten Kreise der Oberschicht noch nicht erschlossen waren. So blieben alle geistigen Errungenschaften der altgriechischen Klassik, die Bereiche außerhalb der Religion und der bildenden Kunst umfaßten - Philosophie, Poesie, darstellende Künste, Rhetorik -, den Thrakern fremd. Freilich führte der Hellenismus auch im Balkaninneren eine gewisse Erweiterung des geistigen Horizonts herbei, doch öffnete erst das römische Zeitalter die Tore Thrakiens ganz und leitete den festlichen Triumphzug der klassischen Kultur ein. Die kulturellen Umwälzungen begannen bei der thrakischen Oberschicht allerdings während der letzten zwei Jahrhunderte vor der Eingliederung Thrakiens in das Imperium Romanum. So kamen die meisten Odrysenkönige aus dieser Zeit schon als Thronfolger mit der römischen Kultur und Bildung in Berührung, da sie fast ausnahmslos ihre Ausbildung in Rom erhielten und später als Verbündete des Römischen Reiches eine ihm gegenüber freundliche Politik führten. Wir besitzen genügend Zeugnisse über den hohen Grad der Hellenisierung der thrakischen Oberschicht und über ihre Anpassung an die Sitten Roms und die antike Kultur. Doch erweiterten sich die Bevölkerungsschichten, die von dieser antiken Kultur erfaßt werden konnten, erst mit der Einführung der römischen Administration. Diese Administration trat aber weniger als Träger der antiken Kultur, sondern vielmehr als ihr bevorzugter Verbraucher auf und gab somit das Vorbild für eine Gesellschaft, die sich vorrangig als Verbraucher und kaum als Schöpfer der Kulturgüter beteiligte - eine antike »Konsumgesellschaft«. Dieses Charakteristikum blieb für die meisten Kulturbereiche bestehen und entsprach weitgehend der Endphase der römischen Zivilisation, als das reproduzierende Prinzip vor dem produktiven endgültig die Oberhand gewann. Die römische geistige Kultur, die auch in ihrer Blütezeit vor der Zeitenwende mit noch unerschöpfter Frische weniger das Bahnbrechende und vorwiegend das Nachahmende präsentierte,

 

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doch in Prunk und Größe alle Vorbilder zu übertreffen vermochte, konnte nunmehr nichts Neues vollbringen, außer einer bis aufs Höchste getriebenen Perfektion und Verfeinerung, einem Streben nach dem Überdimensionalen, Übermenschlichen, und steuerte auf diese Weise unentwegt auf eine Krise und Katastrophe hin, die nicht mehr lange auf sich warten lassen sollte.

 

In diesem Sinne waren gerade die darstellenden Künste, auch die Musik und der Tanz, diejenigen Kulturbereiche, die den Vorrang in der Aufmerksamkeit und die Vorliebe der Gesellschaft genossen. Im Mittelpunkt des öffentlichen Lebens standen die Theater, die auch in den kleinsten Städten nicht fehlten und deren Vorstellungen, meistens durch Wandertruppen ausgeführt, zu den wichtigsten Ereignissen zählten, lange bevor die Gladiatorenkämpfe zu Hauptereignissen wurden, die als letzte Stufe der Degenerierung der darstellenden Künste, aber auch als äußerste Steigerung des Reizes der Nerven und der niedrigen Instinkte auf ihre Art die Katharsis der antiken Tragödie bei weitem übertrafen.

 

48 Zirkus. Steinrelief aus Serdica, Ende 2. bis Anfang 4. Jh., Archäologisches Museum Sofia

 

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Im Theaterrepertoire wurden die neue attische Komödie wie auch Euripides bevorzugt, während die zeitgenössische Kunst lediglich mit Pantomimen vertreten war. Rom war nicht imstande, den klassisch-griechischen Autoren - wie auch den Bildhauern von Hellas - etwas Gleichwertiges gegenüberzustellen, leistete jedoch Wesentliches für ihre Verbreitung und Popularisierung bis in die entferntesten Winkel.

 

Stand und Verbreitung der Poesie in den Balkanprovinzen während der römischen Herrschaft sind aus vielen Textfragmenten entnehmbar, die zweifellos auf klassisch-hellenische Vorbilder hindeuten und meist in griechischer Sprache, seltener in Latein verfaßt sind. In Inhalt und Form sind diese Werke fast ausschließlich Nachahmungen altgriechischer Lyrik und weisen keinen hohen künstlerischen Wert auf. Zu den Originalschöpfungen zählen mehrere Epigramme, die vorwiegend auf Grabsteinen zu finden waren und ebenfalls starke Einwirkungen der römischen zeitgenössischen Literatur erkennen lassen.

 

Die Musik und der Tanz verließen die sakrale Sphäre der Mysterienspiele, wo sie einem sehr engen und geschlossenen Kreis zugänglich waren, und breiteten sich in die Öffentlichkeit aus. Die Musik begleitete sämtliche Theatervorstellungen, sakralen Handlungen, Sportveranstaltungen und Gladiatorenkämpfe, aber auch private Feierlichkeiten innerhalb des Familienkreises. Am häufigsten wurden die Kithara und die Lyra gespielt - Saiteninstrumente, bei denen die Saiten über einen gebogenen hölzernen Schallkasten gespannt waren. Von den Blasinstrumenten waren der Aulos und die Syrinx, einmal aus zwei zylindrischen Röhrchen mit doppeltem Rohrblatt, zum anderen aus mehreren Pfeifen von unterschiedlicher Größe bestehend, sehr verbreitet, während unter den Schlaginstrumenten Tympanum und Cymbal am meisten vertreten waren, die alle an zahlreichen Werken der bildenden Kunst dargestellt wurden. Nicht zufällig erhielt der Thrakische Heros - die am weitesten verbreitete thrakische Gottheit der römischen Zeit - wie zuvor Orpheus als wichtigstes Attribut neben dem Speer die Kithara, und die Nymphen wurden auf den unzähligen Votivreliefs in ihren Heiligtümern stets im Reigen dargestellt.

 

Zu den Errungenschaften der Zivilisation gehörte auch der hohe Stand der Bildung. Für die Ausbildung der adligen Jugendlichen beider Geschlechter gab es in den Städten viele Lehrstätten (gymnasiae), wo die Hauptfächer der klassischen Geisteswissenschaften und Kunst gelehrt und gelernt wurden. Für die parallele Entwicklung der körperlichen mit der geistigen Kultur gab es eine große Anzahl von Sportstätten (palaestrae).

 

 

Mehrere vereinzelte Hinweise besitzen wir auch über die Entwicklung der Medizin und Technik. Es gab bereits einen ausgeprägten Ärztestand, über den in den meisten Städten Angaben vorhanden sind. An der Spitze dieses Standes in jeder Stadt war ein Hauptarzt (archiatros).

 

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Bekannt sind die Namen von einigen Ärzten, auch von Tierärzten (hippoiatros), mehreren sind aus Dankbarkeit Gedenktafeln und Reliefs in den Tempeln Apollons und Asklepios’ oder in anderen Heiligtümern aufgestellt worden. In Grabkammern von Chirurgen in Dionysopolis und bei Popowo fanden sich unter dem Begräbnisinventar auch medizinische Instrumente.

 

Über den hohen Stand der Technik liefern mehrere Bewässerungsanlagen mit Aquädukten und langen Wasserleitungen in den Städten Beweise wie auch das komplizierte Beheizungssystem (Hypokausten), mit dem zahlreiche Bauten ausgestattet waren. In den Stadtzentren gab es eine große Anzahl von Sonnenuhren, von denen einige auch überliefert sind - eine solche Uhr (horoscopion) ist von den Gebrüdern Laomedon und Glaukias, Baumeistern in Pautalia (Kjustendil) und Söhnen des Straron im 2. Jahrhundert u. Z. an der Agora der Stadt errichtet worden.

 

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