Kulturgeschichte im Prisma: Bulgarien vom Altertum bis 1878

Assen Tschilingirov

 

(10) Die osmanische Herrschaft (1396-1878)

 

119 Tombul-Moschee in Schumen. 1744
120 Innenhof der Tombul-Moschee in Schumen
121 Nikolaoskirche in Mariza. 16. Jh.
122a Enkolpion. 18. Jh., Schatzkammer der Metropolitenkirche in Samokow
122b Rückseite mit der Szene von Mariä Tempelgang
123 Symbolische Komposition. Kalksteinrelief an der Außenfassade der Erzengel-Michael- Kirche in Studena, Meister Stojan aus Shedna bei Radomir, 1846
124 Sweta-Petka-Kirche in Sofia. Umgebaut im 16. Jh.
125 Innenansicht der Erzengelkirche in Arbanassi. 17. Jh.
126 Evangeliarbeschlag, Silber, getrieben und vergoldet, Tyrnowo 1712, Kirchenhistorisches Museum Sofia
127 Mariä Himmelfahrt. Fresko in der Beinkirche des Rila-Klosters, 1795, Christo Dimitrow
128 Christus heilt den Gebrechlichen. Fresko von Christo Dimitrow im Rila-Kloster, Kirche der Lukas-Einsiedelei, 1799
129 Stifterbildnisse des Theodor Dogan und seiner Gemahlin Theodora. Fresko von Sachari Sograf im Katholikon des Rila-Klosters, 1844
130 Der Logos. Holzschnitzerei im Katholikon des Roshen-Klosters um 1800
131 Gottesmutterkirche in Kopriwschtiza. 1817
132 Personifikation der Erde. Detail der zyklischen Darstellung des Weihnachtshymnus, Fresko, Georgskirche des Kremikowzi-Klosters, 1503
133 Schmuckseite aus dem Sograf-Oktoechos. Temperafarben auf Papier, Mönch Zwetan, 1617, Sograf-Kloster, Cod. 195
134 Selbstbildnis des Priesters Puntscho. Sbornik des Priesters Puntscho, Miniatur, 1796
135 Konstanzaliew-Haus in Arbanassi, 17. Jh.
136 Das Zimmer der Wöchnerin im Konstanzaliew-Haus in Arbanassi. 17. Jh.
137 Inneres des Filaretow-Hauses in Sherawna. 18. Jh.
138 Moschee und Bibliothek des Osman Pasvantoglu. Widin, Anfang 19. Jh.
139 Türkische Festung bei Belogradtschik, 1837
140 Portal der türkischen Festung bei Belogradtschik, 1837
141 Sograf-Kloster. Athos, gegründet im 10. Jh.
142 Erste Seite der »Slawobulgarischen Geschichte« des Paissij von Chilandar. 1762, Sograf-Kloster, Athos
143 Stifterbildnis des Tschorbadschi Wylko aus Bansko mit dem heiligen Iwan von Rila. Fresko, Kapelle des heiligen Iwan von Rila, Chilandar-Kloster, 1757
144 Bürgerhaus in Melnik. 19. Jh.
145 Kopriwschtiza. Ensemble mit Bürgerhäusern, 19. Jh.
146 Marktplatz von Trjawna mit dem Uhrturm. Mitte 19. Jh.
147 Oslekow-Haus in Kopriwschtiza. 1856
148 Wohnzimmer des Cindlijan-Hauses in Plowdiw. Um 1840
149 Innenansicht des Katholikons im Rila-Kloster
150 Jantra-Brücke bei Bjala. 1865-1867
151 Die Ikonostasis der Metropolitenkirche in Samokow. 1795
152 Der heilige Demetrius bekämpft den Ungläubigen. Detail der Ikonostasis der Sweta-Marina-Kirche in Plowdiw, 19. Jh., Kosta Kolew und Kosta Passikow
153 Hüter der Schwelle. Detail der Holzschnitzerei der Ikonostasis in der Metropolitenkirche in Samokow, 1793
154 Der Pelikan. Detail der Ikonostasis der Sweta-Marina-Kirche in Plowdiw, 19. Jh., Kosta Kolew und Kosta Passikow
155 Kopriwschtiza-Zimmer im Rila-Kloster. Mitte 19. Jh.
156 Kujumdschioglu-Haus in Plowdiw. 1847
157 Rila-Kloster. Innenhof mit dem Katholikon, zweites Drittel des 19. Jh.
158 Salon im Kordopulow-Haus in Melnik. 1754
159 Inneres der Bajrakli-Moschee in Samokow
160 Das Erscheinen beider Tiere. Szene aus dem Apokalypse-Zyklus im Narthex des Katholikons des Klosters Große Lawra auf dem Berge Athos, Sachari Sograf, 1852
161 Salon im Arie-Haus in Samokow. Um 1858
162 Geschnitzte Decke im Arie-Haus in Samokow. Um 1858
163 Bajrakli-Moschee in Samokow. Zweites Drittel 19. Jh.
164 Hadschi-Nikoli-Haus in Weliko Tyrnowo. 1858

 

Mit der Einnahme von Tyrnowo im Jahre 1393 sowie drei Jahre später von Widin gingen die fast ein halbes Jahrhundert andauernden Eroberungskriege der osmanischen Türken gegen das Bulgarenreich zu Ende, das nach dem Tode des Zaren Iwan Alexander 1371 in zwei Herrschaftsbereiche geteilt worden war. Zuvor fielen den Eroberern nacheinander die zahlreichen kleinen Feudalstaaten in den südlichen und westlichen bulgarischen Gebieten sowie der autonome Feudalstaat des Bojaren Dobrotiza im Nordosten Bulgariens in die Hände, die sich im Laufe des 14. Jahrhunderts von der Zentralmacht abgespaltet hatten. So führte die feudale Zersplitterung des von vielen Widersprüchen und Gegensätzen ausgehöhlten hochmittelalterlichen bulgarischen Staates zu seiner Niederlage.

 

Die aus Mittelasien kommenden Türken hatten ursprünglich unter dem Einfluß der Perser und Araber gestanden, von denen sie auch den Islam übernahmen. Mitte des 9. Jahrhunderts zogen sie nach Westen, wo es ihnen 1055 an der Spitze einer Stammesvereinigung unter der Führung des Geschlechts der Seldschuken gelang, Mesopotamien zu erobern, nachdem sie bereits 1040 das Ghasnawiderreich gestürzt hatten. Von dort drangen sie weiter an das Rote Meer und bis Kaschgar vor, besiegten 1071 die Byzantiner bei Manzikert und leiteten die Eroberung Kleinasiens ein. Im 12. Jahrhundert zerfiel ihr ausgedehntes, jedoch wirtschaftlich und politisch uneinheitliches Staatsgebilde in mehrere Feudalstaaten, darunter Irak, Kirman, Syrien und das Rum-Seldschuken-Sultanat von Konja in Kleinasien, das sich um 1300 seinerseits unter dem Druck einer weiteren türkischen Stammesvereinigung mit dem Geschlecht der Osmanen an der Spitze in mehrere Emirate auflöste. Das aus dem Rum- Seldschuken-Sultanat von Konja hervorgegangene Osmanische Reich, benannt nach Sultan Osman I. Ghasi (1288-1326), breitete sich im 14. Jahrhundert erfolgreich weiter westwärts aus. 1326 fiel Bursa, das bis 1365 osmanische Hauptstadt wurde. Der Nachfolger Osmans, Orchan (1326-1354), eroberte 1331 Nikaia, teilte das Reich in Sandschaks (Bezirke) ein und schuf ein stehendes Heer, das Ende des 14. Jahrhunderts durch die Elitetruppen der Janitscharen ergänzt wurde. Als Verbündete von Byzanz in den Kriegen gegen die Bulgaren benutzt, brachten die osmanischen Türken allmählich auch das ganze westliche Kleinasien sowie die Zentralgebiete der Balkanhalbinsel unter ihre Kontrolle und machten 1366 Hadrianopolis (Edirne) zu ihrer Hauptstadt. Nach der Eingliederung der bulgarischen Gebiete in das mittlerweile weit

 

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ausgedehnte Osmanische Reich setzten die Türken ihre Eroberungskriege nach Westen gegen Albanien, Bosnien und Serbien sowie nach Süden gegen das Despotat von Morea und Konstantinopel fort, die nacheinander unter ihre Herrschaft gerieten; Konstantinopel wurde nach seiner Eroberung 1455 unter dem Namen Istanbul die neue Hauptstadt des Osmanischen Reichs. Die Fürstentümer der Moldau und der Walachei und das Krimkhanat erkannten die Oberhoheit der Türken als Vasallenstaaten an. Das von den europäischen Ländern unter Wladislaw III., dem König von Ungarn und Polen, geschlossene Bündnis gegen die Türken konnte ihre Expansion nicht aufhalten - in der Schlacht bei Warna im Jahre 1444 erlitten die Truppen der Verbündeten eine schwere Niederlage. Die Eroberungskriege verlagerten sich nach dem Westen, und erst der Sieg über die Türken bei Wien 1683 brachte die Wende und setzte diesen Kriegen ein Ende.

 

Die Unterwerfung Bulgariens durch die Türken leitete die dunkelste Phase seiner Geschichte ein - die Epoche der fast fünf Jahrhunderte andauernden osmanischen Fremdherrschaft. In einer Zeit, als sich die europäischen Völker zu jener Blüte der Kultur und Entfaltung des schöpferischen Geistes aufrichteten, die wir als Renaissance bezeichnen, fiel das bulgarische Volk entwicklungsgeschichtlich stark zurück. Die Eroberungskriege und die Einnahme bulgarischer Gebiete und Städte waren mit unbeschreiblicher Grausamkeit verbunden. Das ehemals fruchtbare Land wurde verwüstet, mehr als die Hälfte der Dörfer wurden völlig verlassen; die Bevölkerung ganzer Bezirke wurde von den Fremdherrschern in die entlegensten Gegenden der Balkanhalbinsel und gar nach Kleinasien zwangsweise umgesiedelt oder fand in den Bergen Zuflucht. So wurden auch die wenigen am Leben gebliebenen Reste der Bevölkerung der Hauptstadt Tyrnowo, die der grausamen massenhaften Vernichtung nach der Einnahme der Stadt entkommen waren, in verschiedenen Ortschaften in Südostbulgarien und Kleinasien angesiedelt. Zugleich begann eine Neubesiedlung der bulgarischen Gebiete durch türkische Kolonisten aus Kleinasien, die jedoch die menschenleeren Gebiete bei weitem nicht wieder dicht bevölkern konnten.

 

Die eroberten bulgarischen Gebiete wurden in das militärisch-feudale System des Osmanischen Reiches eingegliedert. Nach diesem System war das Land Staatsbesitz, über den allein der Sultan verfügte. Ein Teil des Landes wurde von ihm als sein Eigentum einbehalten, ein weiterer Teil wurde islamischen religiösen Institutionen und Stiftungen zur Verfügung gestellt, die von hohen muslimischen Würdenträgern verwaltet wurden; ein dritter wurde verdienten Feldherren und Beamten als Landgüter (Gazi und Milks) gegeben, während der größte Teil dem Militäradel - den Spahis - als nichtvererbbare und zu Steuerabgaben verpflichtende Lehngüter (Timars und Siamets) auf Lebens

 

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dauer als Gegenleistung für ihre Kriegsdienste verliehen wurde. Diese Spahis bildeten die wichtigste Schlagkraft des osmanischen Heeres, die Kavallerie, während die Infanterie aus den sogenannten Janitscharen bestand, die schon als kleine Kinder den christlichen Familien gewaltsam entzogen und der strengsten Zucht unterworfen wurden, so daß sie schließlich zu treuesten, fanatischsten Kriegern wurden, die vor nichts zurückschreckten.

 

Die bulgarischen Bauern bildeten nunmehr den rechtlosen Rajah (Herde), unterdrückt und ausgebeutet wie noch nie. Die Abgaben, Steuern und Gebühren überschritten alle Grenzen des Zumutbaren. Es wurden zahlreiche neue Steuern sowie Frondienste in Friedens- und Kriegszeit eingeführt, darunter die Blutsteuer - die Abgabe der Kinder für das Heer. Dem Rajah wurde verboten, auf Pferden zu reiten und in der Öffentlichkeit bunte Kleider zu tragen; ihm wurde das Recht, vor Gericht Klage zu erheben, entzogen. Das Leben, die Ehre und der armselige Besitz der Bulgaren waren der Willkür der Eroberer ausgesetzt, als deren Leibeigentum sie galten. Schon zu Beginn der osmanischen Herrschaft wurde die Sklaverei wieder eingeführt und die Bewohner ganzer Dörfer wurden als Sklaven verkauft. Zugleich kehrte man zur Naturalwirtschaft zurück, so daß die weiterentwickelte hochmittelalterliche Wirtschaft des Landes einen starken Rückschlag erlitt.

 

 

Die osmanische Eroberung führte eine weitgehende Veränderung im Erscheinungsbild der Städte herbei, wo sich am deutlichsten die Differenzierung zwischen der Baukunst der Fremdherrscher und des unterdrückten bulgarischen Volkes präsentierte. Die Innenstädte wurden weiter ausgebaut, und in ihrer Silhouette dominierten nunmehr die zahlreichen Minarette der Moscheen und eine Vielzahl von Kuppeln, mit denen die Handels- und Kommunalbauten, wie Hammams (Bäder), Karawansereien (Gast- und Wirtshäuser) und Bedestenen (Markthallen) sowie weitere Sakralbauten - Türben (Mausoleen) und Medresen (theologische Schulen) - ausgestattet wurden. Die Feudalherrscher bewohnten hohe befestigte Wohntürme, während die kleinen Hütten aus Holz und Lehm der bulgarischen Bevölkerung am Stadtrand verstreut lagen.

 

In der Entwicklung der Sakralarchitektur der osmanischen Eroberer wirkten sich die persisch-sassanidische, die arabische und nicht zuletzt die byzantinische Kunsttraditionen als maß- und formgebend aus, so daß deren Bautypen und -formen bis zur Unterwerfung der Balkanhalbinsel im 14. Jahrhundert bereits völlig ausgebildet waren. Dennoch führte die Berührung der osmanischen und der bulgarischen Bautradition zu gegenseitigen Beeinflussungen. So übernahm die osmanische Baukunst von der lokalen Bautradition Bulgariens nicht nur Konstruktionsprinzipien im Gewölbe- und Kuppelbau, sondern auch im Mauerwerksbau griff sie auf die dekorative Bautechnik des Kästelmauerwerks

 

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der bulgarischen frühmittelalterlichen Architekturtradition zurück. Einen nicht geringen Einfluß in dieser Richtung übten die bulgarischen Baumeister aus, die fast ausnahmslos für die Errichtung der osmanischen Monumentalbauten zuständig waren. Hingegen änderte sich in den Bautypen der osmanischen Architektur nur sehr wenig. So begegnen uns an den bedeutendsten islamischen kultischen Bauten in Bulgarien fast sämtliche bekannte Bautypen und ihre Varianten in einer sehr reinen und unverfälschten Form, wie auch an den zahlreichen Hammams, Karawansereien, Medresen und Bedestenen, deren architektonische Gestalt Ausdruck der fünf Jahrhunderte andauernden Fremdherrschaft war und - wie die Profanarchitektur der türkischen Wohnhäuser - eine bedeutende formende Rolle in der bulgarischen Kunst spielte.

 

Die große Ausdehnung des Osmanischen Reiches ermöglichte wiederum eine direkte Einflußnahme des Orients und speziell der arabischen Kultur auf die zentrale Balkanhalbinsel, die nicht nur durch die osmanische Vermittlung und Interpretation, sondern unmittelbar auf die bulgarische Dekorationskunst und das Kunsthandwerk erfolgte. Die Art der Raumverteilung und -gestaltung des bulgarischen spätmittelalterlichen Wohnhauses, wie beispielsweise die Trennung der von Männern und von Frauen bewohnten Räume (Seljamlak und Haremlak), die Gestaltung des Chajets (Diele), des Tschardaks (Veranda) und der geräumigen Gärten, sind auf Einflüsse der osmanischen Architektur zurückzuführen. In der Außengestaltung erscheinen zuweilen arabische Spitzbögen, die besonders für die Portale und Fensternischen charakteristisch sind. Ebenso wurden Formen und Farben der türkischen Ornamentik von den bulgarischen Künstlern übernommen und zu einem sehr dekorativen Stil weiterentwickelt, der für die bulgarische bildende Kunst, besonders die Innenarchitektur, des ausgehenden Mittelalters kennzeichnend ist.

 

Unter den Bauten der osmanischen Architektur in Bulgarien beanspruchen die Moscheen einen wichtigen Platz und zählen zu den bedeutendsten Denkmälern islamischer sakraler Baukunst Europas, deren sämtliche Stilrichtungen und Architekturtypen hier exemplarisch vertreten sind. So finden sich in Bulgarien die mehrsäligen, mit Kuppeln überspannten Moscheen (Bujuk-Moschee in Sofia, 1474; Dshumaja-Moschee in Plowdiw, 1423), Bauten mit einem T-förmigen (Imaret-Moschee in Plowdiw, 1444) und auch mit quadratischem Grundriß - flachgedeckt oder mit einer Kuppel auf Trompen - (Banja-Baschi-Moschee in Sofia, 1576; Tombul-Moschee in Schumen, 1744; Ahmed-Bey-Moschee, 1442; Ibrahin-Pascha-Moschee, 1614, beide in Rasgrad) sowie ihre vielen Varianten mit einer Kuppel auf Pendentifs, mit einer Kuppel auf freistehenden Säulen usw. An diesen Bauten waren so berühmte Architekten des Mittelalters wie Sinan (1489-1578/88) beteiligt, zu dessen Werk beispielsweise die Kodscha-Mehmed-Moschee in Sofia (1528) gehört.

 

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119 Tombul-Moschee in Schumen. 1744

 

Während ein wesentlicher Teil der osmanischen kultischen und profanen Bauten urbanistischen Überlegungen zu Beginn unseres Jahrhunderts zum Opfer fielen, konnten einige der bedeutendsten dennoch erhalten werden und fügen sich jetzt in das moderne Städtebild der Großstädte Bulgariens ein - so beispielsweise der Bedesten in Jambol, der Tschifte-Hammam in Plowdiw oder die Festungsanlage in Widin. Sic verleihen den Stadtzentren eine besondere exotische Note. Die Moscheen in Sofia, Plowdiw, Stara Sagora, Rasgrad und Schumen zählen nach wie vor zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten dieser Städte, wenn sic auch nur noch relativ selten für den kultischen Bedarf in Anspruch genommen werden.

 

 

Unter den neugeschaffenen Verhältnissen galt nunmehr allein der Islam als Staatsreligion, während der christlichen bulgarischen Bevölkerung das Bekenntnis ihrer alten Religion stark eingeschränkt wurde.

 

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120 Innenhof der Tombul-Moschee in Schumen

 

 

Das Patriarchat von Tyrnowo wurde abgeschafft und die bulgarische Kirche dem Konstantinopler Patriarchat untergeordnet. Ein jämmerliches Dasein fristete noch das geographisch sehr eingeengte Erzbistum von Ochrid mit seiner im 12. Jahrhundert wiederhergestellten relativen Autonomie; doch wurde auch diese Autonomie schließlich im Jahre 1767 abgeschafft. Die dem Erzbistum von Ochrid untergeordneten Bistümer wurden unter andere Metropolien aufgeteilt, und das Bistum von Ochrid selbst wurde aufgehoben.

 

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Zu der nationalen und religiösen Diskriminierung kam noch die Expansion der griechischen Kirche hinzu mit ihrem erneuten Bestreben, die bulgarische Kirche zu unterwerfen und das bulgarische Volk geistig zu beherrschen.

 

Als Bewahrer der kulturellen Tradition der Bulgaren blieben allein die Klöster übrig, deren Existenz die Urkunden der Sultane zwar formal gewährleisteten, aber die Ausplünderungen und Überfälle durch türkische Soldaten und Räuber, denen die Klöster stets ausgesetzt waren, konnten sie nicht verhindern. Schon Ende des 15. Jahrhunderts wurden die bedeutendsten der während der Eroberungskriege verlassenen Klöster Bulgariens, wie Rila-, Batschkowo-, Kremikowzi- und Dragalewzi-Kloster, wieder besiedelt und saniert. Eine Neubautätigkeit war jedoch strengstens untersagt, und Baugenehmigungen erteilte die türkische Staatskanzlei lediglich für das Wiederherstellen baufälliger Anlagen und nur im Umfang der bereits bestehenden. Hingegen durften die bulgarischen Christen keine großen Kirchenbauten in den Städten besitzen. Sämtliche Monumentalkirchen wurden in Moscheen umgewandelt, und die christliche Bevölkerung mußte sich mit nur sehr wenigen der kleinsten, halb in der Erde vergrabenen Kirchen begnügen. Die Bewohner mancher strategisch wichtiger Gebiete, wie beispielsweise an den Balkanpässen und in dem zum Hinterland der osmanischen Hauptstadt Istanbul (Konstantinopel) gehörenden Rhodopengebiet, wurde zwangsweise islamisiert.

 

Die türkische Eroberung führte zu einer grundsätzlichen Veränderung der Verhältnisse zwischen Volk und Kirche. Der Hochklerus mußte auf seinen privilegierten Status verzichten und verlor seine Reichtümer. Angesichts der gemeinsamen Gefahr verschwanden die auf dem einstigen kirchlichen Machtanspruch beruhenden Gegensätze zwischen Kircheninstitution und Gemeinde. Kirche und Religion wurden zu einem Synonym für Nation und Widerstand gegen die fremdgläubige Herrschaft. Das Gotteshaus verwandelte sich aus der Stätte des gewohnten Rituals zu einem Ort, an dem die unterdrückte Gemeinde Trost finden konnte, zu einem Ort, wo sie sich als eine Gemeinschaft miteinander verbunden fühlte.

 

 

Die osmanische Eroberung leitete eine neue Phase in der Geschichte der christlichen orthodoxen Kunst Südosteuropas ein, die als postbyzantinisch bezeichnet wird. Nachdem schon im 15. Jahrhundert die Herausbildung nationaler Besonderheiten durch den Antagonismus zwischen der byzantinischen Metropole und den von Konstantinopel entfernten Schulen der einzelnen Balkanstaaten abgeschlossen war, entstanden nunmehr Voraussetzungen zu einer Angleichung der christlichen Kunst in Form und Inhalt innerhalb des weit ausgedehnten Osmanischen Reichs. Gleichzeitig bewirkte die Demokratisierung der kirchlichen Institution auch eine Demokratisierung der kirchlichen Kunst.

 

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121 Nikolaoskirche in Mariza. 16. Jh.

Die halb in der Erde vergrabene kleine tonnengewölbte Dorfkirche an den Nordhängen des Rilagebirges ist für mehrere andere bulgarische Kirchenbauten des 16. und 17. Jh. repräsentativ und zeichnet sich allein durch ihren Freskenschmuck aus, der zu den hervorragendsten Werken der volkstümlichen spätmittelalterlichen Kirchenmalerei Bulgariens gehört; der ebenfalls gewölbte, aber wesentlich geräumigere Westanbau stammt aus dem Jahre 1830, als nach den umfangreichen Reformen im osmanischen Staats- und Religionswesen die kirchliche Bautätigkeit wieder Aufschwung erhielt.

 

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Auf die neuen Gegebenheiten reagierten sowohl die Malerei als auch die Plastik mit ihrer im Vergleich zum Mosaik wesentlich größeren Verständlichkeit und Gegenständlichkeit und damit stärkeren Wirklichkeitsbeziehung.

 

Infolge der Ausrottung und Vertreibung der bulgarischen Intelligenz, darunter auch der hervorragendsten Künstler, entstand eine Lücke, die auch durch mehrere nachwachsende Generationen nicht völlig geschlossen werden konnte. Dennoch brachte die Fremdherrschaft das kulturelle Leben der Bulgaren nicht vollkommen zum Erliegen. Wenn auch die sogenannte Berufskunst nach ihrer bereits im 14. Jahrhundert unterbrochenen Entwicklung das Niveau der vorangegangenen Epochen nicht wieder zu erreichen vermochte, unterstreicht doch eine ganze Reihe von in den ersten zwei Jahrhunderten der Fremdherrschaft geschaffenen Werken, daß die schöpferische Kraft der Bulgaren trotz der überaus ungünstigen Bedingungen nicht völlig versiegte.

 

Starke Impulse erhielt die Volkskunst als ein Ausdruck von nationaler Identität; sie erlangte eine einzigartige Blüte. Im überaus reichen Volksepos wurde die Erinnerung an die Taten der gegen die Eroberer kämpfenden Volkshelden und an die Freiheit immer lebendig gehalten. Auch die Sprache war ein mächtiges Mittel zur Wahrung des nationalen Bewußtseins der Bulgaren.

 

 

Das bulgarische Volk hatte bis zum Spätmittelalter zahlreiche Bräuche neben den damit verbundenen Liedern und Tänzen gepflegt, die aus den uralten Zeiten des Heidentums stammten und die Jahrtausende überdauert hatten. Weder die Vorbehalte der christlich-orthodoxen Kirche noch der muslimischen Machthaber konnten diese tief im Bewußtsein der Bulgaren verwurzelten Handlungen und Rituale ausrotten. Sie sind in ihrer fast unangetasteten und vollständigen Form auch unter der islamisierten bulgarischen Bevölkerung in den entlegenen Gegenden des Rhodopengebirges ebenso wie unter den christlichen Bewohnern der Berge Zentral- und Südostbulgariens sowie Makedoniens - des Balkan-, Rila-, Pirin-, Strandsha- und Sakargebirges - bewahrt worden. Wenn auch einige dieser Bräuche - verbunden mit dem Weihnachtsfest, dem Neuen Jahr, der Mittsommernacht und dem Erntefest - inzwischen christliche Elemente aufgenommen haben und mit den Kirchenfesten in Zusammenhang gebracht wurden, so lassen sowohl der Inhalt der Ritualgesänge als auch die Form der Ritualtänze unmißverständlich ihre Ursprünge in der vorchristlichen Zeit wiedererkennen. Und noch mehr: In diesen Liedern und Tänzen haben sich zahlreiche Rhythmen und Tonarten allein in jenen von der Zivilisation völlig abgeschnittenen Gegenden erhalten, wo die autochthone bulgarische Bevölkerung die mannigfaltigen ethnischen, politischen und religiösen Veränderungen auf der Balkanhalbinsel überlebt hat, so daß ihre Folklore Zeugnisse über die Gemeinschaft der indoeuropäischen Völker aus der Zeit vor der letzten Besiedlung Europas liefert.

 

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122a Enkolpion. 18. Jh., Schatzkammer der Metropolitenkirche in Samokow

Vorderseite mit der Darstellung des Kaiserpaares Konstantin und Helena neben einem Kreuz. Die kleine volkstümliche Miniaturholzschnitzerei des Brustzeichens des Metropoliten von Samokow zeigt abweichende Darstellungen anstelle des üblichen Christus Pantokrator und der Gottesmutter. Auch das ungewöhnliche Hexagramm statt der ovalen Form weicht von der traditionellen Norm ab und spricht für lokale Besonderheiten, die durch folkloristische Einwirkungen und durch Einflüsse der in bulgarischen Klöstern beheimateten spätmittelalterlichen Mystik bedingt sind.

 

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122b Rückseite mit der Szene von Mariä Tempelgang

Beide Darstellungen werden mit der Priesterweihe in Zusammenhang gebracht; in Bulgarien sind aber mit dem Fest der letzten heidnischen und ersten christlichen Kaiser, dem 2i. Mai, viele magische Bräuche vorchristlicher Zeit verbunden, deren Bedeutung hier - mit dem Kreuz und dem Zeichen Salomos, dem Hexagramm als klassischem Symbol der Magie - noch bekräftigt wird und dem bischöflichen Medaillon einen tieferen Sinn verleiht.

 

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Daneben sind viele Wörter der gemeinsamen Sprache dieser Völker bewahrt, deren Sinn inzwischen vergessen ist und die in den Liedern als unverständliche Zaubersprüche verwendet werden; sie stellen die heutige Sprachwissenschaft vor schwer zu lösende Rätsel. Erst in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts konnte die Musikforschung einige Parallelen für die eigentümlichen Tonarten und Rhythmen einer ganzen Reihe bulgarischer Volkslieder und Tänze ermitteln, und zwar im fernen Indien, wo sie ebenfalls der Folklore und der Sakralkunst angehören und viele Jahrtausende überdauert haben. So entspricht der Rhythmus des sehr verbreiteten bulgarischen Volkstanzes »Pajduschko Choro« in 5/16 (2 + 3) mit seiner unregelmäßigen Metrik dem indischen Rhythmustyp Tala Chaturthaka (Tala Nr. 4 nach der Theorie der indischen Musik von J. Grosset), während der in Bulgarien ebenfalls sehr populäre Rhythmus 9/16 (2 + 2 + 2 + 3) des Volksliedes »Nakladoscha zedenkjutu« dem indischen Rhythmustyp Tala Gajalila (Tala Nr. 18) entspricht; der Rhythmus 9/8 (2 + 2 + 1 + 1 + 3) des Tanzes »Panagjursko Choro« hat seine Parallele in Tala Nr. 37, der Rhythmus des bulgarischen Volksliedes »Ogledalize le« mit 10/16 (3 + 3 + 2 + 2) in Tala Turangalila (Tala Nr. 33), der Rhythmus des Tanzes »Ratscheniza« mit 5/16 (2 + 3) in Tala Srindana (Tala Nr. 96) usw. Außer der metrisch-rhythmischen Struktur der bulgarischen Volkstänze existieren auch zahlreiche Parallelen zu den indischen Tonarten Jati, Ragi, Bhairavi usw. Eine gewisse Ähnlichkeit der letzteren mit den sogenannten phrygischen und dorischen Tonarten rückt jetzt die Problematik der Entstehung der altgriechischen Musik in ein neues Licht und liefert neue Beweise für die historischen Grundlagen der Orpheus- Sage und für die bislang allein durch das altgriechische Epos belegten Zusammenhänge zwischen der Musik der alten Griechen und der Thraker.

 

Aber auch die Festrituale selbst, die alle Umwälzungen, Erschütterungen und Katastrophen im gesellschaftlichen Leben in den bulgarischen Gebieten überdauert haben, zeigen unverkennbar ihre uralten Ursprünge: von den Kukeri-Spielen (Austreibung des bösen Geistes während der kältesten Wintertage) und dem German-Zauber (Beschwörung der Geister für Regen) bis zum Nestinarski-Tanz, dem Tanz auf der Feuerglut, die bis zum heutigen Tage in Südostbulgarien erhalten sind. Der letztere Tanz stellt eines der seltensten Überbleibsel der antiken Zauberei in unserer zivilisierten Welt dar; während des inzwischen von der christlich-orthodoxen Kirche usurpierten und den beiden Heiligen Konstantin und Helena geweihten Sommerfestes führen »vom Geist besessene« Frauen unter Musikbegleitung barfuß Tänze über der Feuerglut auf, bis sie ohnmächtig und erschöpft, aber unversehrt zusammenbrechen, wenig verständliche Weissagungen aussprechend.

 

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Unter die vielen Kunstgattungen, die ihre Formensprache vorwiegend von der Folklore entliehen, zählt in erster Linie das Metallhandwerk, das auch während der Fremdherrschaft die alte autochthone bildnerische und handwerkliche Tradition weiterführte. Wenn auch die großen Goldschmiedewerkstätten in Städten wie Istanbul (Konstantinopel) und Thessalonike hauptsächlich für den Bedarf der Oberschicht der Fremdherrscher tätig waren und sich entsprechend umstellen mußten, so blieb dennoch das Metallhandwerk in den kleineren Städten traditionsgebunden und entwickelte sich in der Nachbildung älterer Formen weiter, vor allem unter starkem Einfluß der Folklore. Aus dem 15. bis 17. Jahrhundert sind zahlreiche Kunstwerke erhalten, die, obgleich vorwiegend für den Kirchenbedarf bestimmt, in ihrer Formensprache mehrere neue und dem Christentum fremde Charakterzüge enthalten, deren Ursprung in der Märchenwelt des Volksepos zu finden ist. Unverwechselbar mit ihrer eigenartigen Ornamentik, ihrem Figurenschmuck und den phantasiereichen Formen sind die Kirchengeräte, aber auch die silbernen Schnallen, Armbänder, Ringe und Halsketten, die aus den Goldschmiedewerkstätten von Wraza und besonders Tschiprowzi hervorgegangen sind, das sich bis 1688, als es von den Türken niedergebrannt wurde, zum bedeutendsten Zentrum der Goldschmiedekunst auf dem Balkan neben Thessalonike entwickelte. Die größte Mannigfaltigkeit von Formen ist aber am Frauenschmuck sichtbar, der zum wichtigsten Bestandteil der Volkstracht wurde und so die Farbenpracht der Stickerei zu einem Kunstwerk par excellence ergänzen konnte.

 

In nicht geringerem Maße empfingen auch die bemalte Tafelkeramik und die Teppichweberei mit ihrem Reichtum an Farben und Formen Anregungen aus der Folklore und brachten neben der Holzschnitzerei und der Steinmetzkunst in der Innenausstattung selbst der ärmsten Hütten der Landbevölkerung beachtliche genuine Schöpfungen hervor. In der Ornamentik und im figuralen Dekor beschränkten sich die Holz- und die Steinplastik auf eine Reihe von Motiven und Formen, die zwar aus den vergangenen Epochen übernommen worden waren, doch einer neueren volkstümlichen Interpretation unterlagen. So haben weder die Akanthus- beziehungsweise die Weinblätter und -trauben noch die zahlreichen symbolischen Figuren etwas mit ihren antiken und frühchristlichen Prototypen gemein: Sie erhielten ihre Formen aus der Natur und aus der Fabelwelt der Folklore und des Volksepos, wurden phantasiereich stilisiert, auch umfunktioniert, damit sie von den Zeitgenossen verstanden werden konnten.

 

Für die Entwicklung der Formensprache aller Künste darf die islamische Kunst nicht übersehen werden. Ihre Auswirkungen zeigen sich vorrangig in der Ornamentik, aber auch im Kolorit und im szenischen Beiwerk der Fresken und Ikonen.

 

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Vom 16. Jahrhundert an griffen diese Einflüsse auch auf die Goldschmiedekunst und überhaupt in das Metallhandwerk über, wo sie nicht nur das Ornament beherrschten, sondern auch die traditionelle Gestaltung verdrängten und durch neue, für die islamische Kunst Vorderasiens typische Formen und Motive ersetzten. Diese Annäherung zweier grundsätzlich unterschiedlicher Kunstauffassungen ist historisch und geographisch bedingt. Dieselben Künstler und Kunsthandwerker führten nach Bestellungen von Auftraggebern sowohl christlichen als auch islamischen Glaubens Schmuck und kultische Geräte aus, wobei sie sich den Forderungen des jeweiligen Geschmacks anpaßten, so daß ein Reichtum von Motiven und Formen entstand, der in seiner Mannigfaltigkeit den künstlerischen Synkretismus der Spätantike noch übertraf.

 

123 Symbolische Komposition. Kalksteinrelief an der Außenfassade der Erzengel-Michael- Kirche in Studena, Meister Stojan aus Shedna bei Radomir, 1846

Von der christlichen Thematik ist bei der bauplastischen Außenverzierung der Kirchen Südwestbulgariens um die Mitte des 19. Jh. nichts mehr übriggeblieben. Die dekorative Formensprache bedient sich nunmehr lediglich der Bildwelt der Volkskunst. Anstelle christlicher Sinnbilder und Darstellungen von Heiligen begegnet uns hier eine Fülle folkloristischer Symboldarstellungen der Fruchtbarkeit, Freiheit und des Friedens in einer naiven, doch sehr frischen, malerischen und reizvollen Gestaltungsweise, die für die Zeitgenossen anscheinend verständlicher gewesen sein mag als die mittelalterliche Symbolik.

 

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Obgleich Auswirkungen der abendländischen Kunst in Bulgarien schon relativ früh wieder auftraten (Fresken im Poganowo-Kloster aus dem Jahre 1500), blieben sie fast bis zum Ende des 18. Jahrhunderts für die Kunstentwicklung des Landes ohne große Bedeutung. Erst durch die Erweiterung des kulturellen und wirtschaftlichen Austausches mit den Ländern Mitteleuropas im 19. Jahrhundert fingen sie an, zunehmend die Ornamentik und die Formensprache aller bildenden Künste und der Architektur entscheidend mitzuprägen. Ursprünglich beschränkten sich diese Einwirkungen auf die Ikonographie der kirchlichen Kunst, später griffen sie auf die Ornamentik über, in der das abendländische Barock seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und das Empire in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Formensprache der bulgarischen dekorativen Kunst zu beherrschen begann - wenn auch in einer sehr spezifischen lokalen Interpretation.

 

 

Die Folgen der osmanischen Fremdherrschaft für die Kirchenkunst machten sich am deutlichsten in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts bemerkbar. Aus dieser Zeit sind keine Kunstdenkmäler überliefert worden. Die Werkstätten, die für die Kirche - wie auch für den Zarenhof und für die Feudalherren - tätig waren, blieben ohne Aufträge, und ihre Künstler, die die Eroberungskriege überlebt hatten, wanderten nach Serbien, Rumänien, Ungarn und Rußland aus, wo wir einige Spuren ihrer Tätigkeit verfolgen können. Nur wenige Klöster wirkten als Pflegestätten der Kultur und Kunst und bewahrten die Tradition.

 

Im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts, als sich die militärischen Handlungen in die Gebiete westlich Bulgariens verlagerten, regte sich wiederum künstlerisches Leben, das sich jedoch meist auf die Wiederherstellung und Sanierung zerstörter Kirchen und Klosteranlagen sowie deren Ausmalung beschränkte. Zu einer nachhaltigen Belebung der Bautätigkeit kam es erst später, als in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts das Verbot, christliche Kirchen zu errichten, vorübergehend aufgehoben wurde. Allein in der Diözese von Sofia führte dies, zeitgenössischen Berichten zufolge, zur Errichtung und Wiederherstellung von mehr als 300 Dorf- und Klosterkirchen. Doch schon weniger als ein Jahrhundert danach setzte im Zusammenhang mit dem für die Türken ungünstigen Kriegsverlauf in Mitteleuropa eine neue Welle von Verfolgungen der christlichen Bevölkerung ein. Infolge der zwangsweisen Islamisierung, die im späten 17. Jahrhundert das gesamte Rhodopengebiet erfaßte, wurden nach historischen Quellen 218 Kirchen und 33 Klöster dem Erdboden gleichgemacht, während nach dem mißlungenen Aufstand von Tyrnowo 1685 weitere 250 Kirchen nördlich des Balkangebirges zerstört wurden.

 

In der Zeit der osmanischen Herrschaft traten die Klöster auf dem Berge Athos als ein neues Zentrum der christlich-orthodoxen Kunst in Erscheinung, das der

 

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ganzen Balkanhalbinsel sowie den ägäischen Inseln, dem Gebiet der rumänischen Fürstentümer Walachei und Moldau entscheidende Impulse vermittelte. Gleichzeitig erweiterten sich die Beziehungen zwischen den einzelnen Lokalschulen und führten allmählich zu ihrer Verschmelzung. Die Künstler waren zunächst an keine bestimmten Wirkungsstätten gebunden und in ihrer Tätigkeit durch die Grenzen der ehemaligen Feudalstaaten nicht eingeengt.

 

124 Sweta-Petka-Kirche in Sofia. Umgebaut im 16. Jh.

 

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So ist nun ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Bau- und Bildwerken weitentfernter Gebiete feststellbar, wie beispielsweise dem Freskenschmuck einiger moldauischer Klöster und Klöstern in der Gegend von Sofia, in Makedonien und Thessalien oder in einigen Kirchen in Arbanassi, in der Walachei sowie in Südmakedonien.

 

Die nebeneinander wirkenden Künstler glichen ihre technischen, ikonographischen und stilistischen Eigenarten an. Nur Südwestbulgarien blieb bis ins 17. Jahrhundert ein Reservat frühchristlicher ikonographischer Tradition, doch setzten sich dann auch hier allmählich, wie im gesamten orthodoxen Gebiet Südosteuropas, die auf dem Berge Athos entstandenen neuen Typen und Modelle durch. Obgleich für eine Reihe von Bildwerken unverkennbare Beziehungen zu den gleichzeitigen Werken der Kunst der Athos-Klöster bestehen, während zahlreiche Dorf- und Klosterkirchen in Westbulgarien volkstümlich-lokale Besonderheiten zeigen, näherten sich allmählich die verschiedenen Kunstauffassungen in dem Maße an, daß sich die Unterschiede überwiegend nur noch in der Begabung und in den ungleichen Stufen technischen Könnens äußern. Die Künstler blieben mit sehr wenigen Ausnahmen anonym und verliehen ihren Werken kaum individuelle Züge. In den meisten Fällen blieben sie wie im Hochmittelalter hinter ihren Werken versteckt, und nur selten brachten sie ihren Namen, mit einem Gebet verbunden, der Nachwelt zur Kenntnis.

 

Für die bulgarischen Gebiete bildeten sich kein Kunstzentrum und keine Lokalschule heraus, die für ein bestimmtes Territorium Bedeutung erlangt hätten. Außer der Balkanstadt Tschiprowzi, die bis zu ihrer totalen Zerstörung nach dem mißlungenen Aufstand vom Jahre 1688 einen Mittelpunkt der Goldschmiedekunst im 16. und 17. Jahrhundert darstellte und über die ganze Halbinsel bis nach der Walachei und Moldau wirkte, handelte es sich meistens um Gruppierungen von Künstlern, die mit dem vorübergehenden wirtschaftlichen und geistigen Aufschwung einiger Städte, wie beispielsweise Sofias - des »kleinen Athos« - im 15. und 16. Jahrhundert, Nessebars Ende des 16. und Arbanassis in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, verbunden waren. Daneben ist eine Konzentration des Kunsthandwerks - hauptsächlich der Kunststickerei, aber auch der Buchmalerei und der Kleinplastik beziehungsweise der Miniaturholzschnitzerei - in bestimmten Klöstern zu beobachten. Klöster wie das Dragalewzi-, Tscherepisch-, Batschkowo- und das Rila-Kloster entwickelten sich außerdem gleichzeitig zu bedeutenden Zentren einer Bildung und Kultur, die immer mehr weltliche Züge annahm.

 

Während die bulgarische profane Holzbaukunst in der Zeit der osmanischen Herrschaft ihre Blüte erlebte, stagnierte die kirchliche Architektur und wiederholte altbekannte Bautypen. Die Hauptursache liegt im Verbot der türkischen Behörden, christliche Monumentalbauten zu errichten, das erst 1839 endgültig aufgehoben wurde.

 

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125 Innenansicht der Erzengelkirche in Arbanassi. 17. Jh.

 

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126 Evangeliarbeschlag, Silber, getrieben und vergoldet, Tyrnowo 1712, Kirchenhistorisches Museum Sofia

 

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127 Mariä Himmelfahrt. Fresko in der Beinkirche des Rila-Klosters, 1795, Christo Dimitrow

Die Darstellung geht aus einem frühchristlichen Apokryph hervor, das durch das Volksepos und schließlich durch zahlreiche Apokryphensammlungen aus dem 17. und 18. Jh. weite Verbreitung fand und wegen seines starken emotionalen Gehaltes in Bulgarien außerordentlich beliebt war. Auch die sehr volkstümliche Formensprache weist enge Beziehungen zur Folklore auf und folgt vorwiegend dem erzählerisch-belehrenden Prinzip, das symbolisch-liturgische völlig vernachlässigend.

 

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128 Christus heilt den Gebrechlichen. Fresko von Christo Dimitrow im Rila-Kloster, Kirche der Lukas-Einsiedelei, 1799

 

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129 Stifterbildnisse des Theodor Dogan und seiner Gemahlin Theodora. Fresko von Sachari Sograf im Katholikon des Rila-Klosters, 1844

Ebenso wie in den vergangenen Jahrhunderten erscheinen auch im 19. Jh. bulgarische Großgrundbesitzer und Viehzüchter als Stifter für die Errichtung und Ausstattung der Kirchenbauten doch zunehmend auch Vertreter des bulgarischen Bürgertums - Großhändler, Handwerker und Besitzer von Manufakturen - wie die reichen Großunternehmer von Kopriwschtiza, die Brüder Tschorbadschi Petko Dugan und Tschorbadschi Theodor Dugan, die den Wandschmuck des Katholikons im Rila-Kloster stifteten.

 

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Die während der zeitweiligen Aufhebung des Bauverbotes errichteten Kirchen sind meistens kleine, einschiffige, gewölbte Hausteinbauten, in den Klöstern mit Sängerkonchen ausgestattet, die halb in der Erde vergraben sind und sich äußerlich kaum von den armen Hütten der Landbevölkerung unterscheiden. Die einzige Ausnahme bildet das monumentale Katholikon des Batschkowo-Klosters (geweiht 1604), das dem athonitischen Bautypus der Trikonchoskirche folgte. Auf eine bauplastische Außenverzierung wurde grundsätzlich verzichtet, und relativ selten wurden lediglich die Innenmauern durch Blendnischen gegliedert. Bei der Innenausstattung spielte nach wie vor die Wandmalerei eine zentrale Rolle. Das Bildprogramm wurde jedoch weitgehend vereinfacht und auf ein Mindestmaß reduziert, wobei die Ikonographie immer häufiger folkloristische Züge aufnahm. An die Stelle der umfangreichen Bildzyklen der hochmittelalterlichen Kirchen traten nun wenige Bildfolgen und einzelne Kompositionen, deren symbolisches Verständnis - wie bei der dekorativen Kunst - meistens einer volkstümlichen Interpretation unterlag. Dasselbe betraf die Ikonenmalerei, bei der ebenfalls eine volkstümliche Formensprache und ein naiver Naturalismus die Oberhand gewannen, ohne daß dadurch eine Einbuße an Expressivität eintrat. Trotz aller Einschränkungen entstanden mehrere bedeutende Kunstwerke, wie die Fresken im Kremikowzi-Kloster, in den Kirchen von Arbanassi, im Refektorium und Katholikon des Batschkowo-Klosters, die zu den Spitzenleistungen der postbyzantinischen Malerei Südosteuropas zählen.

 

Die Buchmalerei stagnierte vom 15. bis zum 17. Jahrhundert und wiederholte die alten, zuweilen frühchristlichen Prototypen, höchste technische Perfektion läßt die Flechtbandornamentik erkennen. Das Durchschnittsniveau blieb jedoch im allgemeinen relativ niedrig und weit hinter den Leistungen des Hochmittelalters zurück. Auch in diesem Bereich kamen Originalität und Unmittelbarkeit von der Folklore, deren derbe und naive, dennoch reizvolle Arbeiten eine starke Anziehungskraft besitzen. Die reich illustrierten repräsentativen Prachthandschriften des Hochmittelalters wurden durch bescheidenere, vorwiegend mit Ornamenten verzierte Bücher für den Kirchenbedarf abgelöst.

 

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Eine Vorrangstellung nahmen allmählich die Bücher mit Sammlungen unterschiedlicher belehrender und moralisierender Texte ein, bei denen der erzählende Stil der hochmittelalterlichen Malerei eine Fortsetzung fand. Charakteristisch für die traditionsgebundene Buchmalerei sind das Evangeliar von Slepče (15. Jahrhundert) im Kirchlichen Museum Sofia und mehrere illuminierte Handschriften des Miniaturmalers und Priesters Joan aus Kratowo (16. Jahrhundert) mit ihren äußerst dekorativen Evangelistenbildnissen und der Flechtbandornamentik sowie einige liturgische Bücher im Sograf-Kloster, darunter der Oktoechos des Mönchs Zwetan aus dem Jahre 1617 mit sehr schönen Initialen und Frontispiz-Ornamenten.

 

130 Der Logos. Holzschnitzerei im Katholikon des Roshen-Klosters um 1800

 

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131 Gottesmutterkirche in Kopriwschtiza. 1817

 

 

Ein reizvolles Beispiel der naiven volkstümlichen Miniaturmalerei ist der Sammelband des Priesters Puntscho in der Nationalbibliothek Sofia aus dem Jahre 1796, dessen Selbstbildnisse des Schreibers und zahlreiche Illustrationen mit biblischen Sujets am besten die Formensprache des ausgehenden Mittelalters und die neuartige Interpretation der bekannten Themen zeigen.

 

 

Seit Ende des 16. Jahrhunderts traten wesentliche Veränderungen im Sozialleben der türkischen Gesellschaft ein, die nach und nach zu einer Auflösung des militärisch-feudalen Systems führten. Die Naturalwirtschaft wurde allmählich von der Geldwirtschaft abgelöst, die Städte gewannen an Bedeutung, und für die bulgarische Bevölkerung entstanden günstige politische und wirtschaftliche Bedingungen, sich an der Produktion intensiver zu beteiligen. Der Handel und das Handwerk gerieten nach und nach wieder in die Hände der Bulgaren, führten zur Steigerung ihres Wohlstandes und erhöhten zugleich den Anteil des bulgarischen Elements in der Stadtbevölkerung.

 

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132 Personifikation der Erde. Detail der zyklischen Darstellung des Weihnachtshymnus, Fresko, Georgskirche des Kremikowzi-Klosters, 1503

 

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133 Schmuckseite aus dem Sograf-Oktoechos. Temperafarben auf Papier, Mönch Zwetan, 1617, Sograf-Kloster, Cod. 195

Seit dem 17. Jh. ist in Bulgarien eine neue, rückläufige Tendenz in der Buchgestaltung zu beobachten, indem sie von der russischen Ornamentik beeinflußt wird. Eines der besten Beispiele dafür liefert das Sograf-Oktoechos (Achttonbuch mit Kirchengesängen).

 

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134 Selbstbildnis des Priesters Puntscho. Sbornik des Priesters Puntscho, Miniatur, 1796

 

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Mehrere bulgarische Siedlungen, die durch bestimmte Dienstleistungen an den türkischen Staat im Zusammenhang mit der Bewachung wichtiger Pässe und Straßen oder mit dem Militärdienst gewisse Privilegien genossen (die sogenannten Militäroder Soldatendörfer, deren Bevölkerung zum Etappendienst verpflichtet beziehungsweise für die Belieferung der türkischen Armee zuständig war), verwandelten sich allmählich in große Produktionszentren. Die Bewohner dieser zu bedeutenden Städten anwachsenden Siedlungen hatten am stärksten das Nationalbewußtsein beibehalten und leisteten den Bestrebungen der Eroberer zur Assimilierung der Bulgaren und Auslöschung des nationalen Elements entscheidenden Widerstand. Anstelle der spontanen Aufstände und Erhebungen der bulgarischen Bevölkerung in den ersten Jahrhunderten der Fremdherrschaft kam es im 17. Jahrhundert zu den ersten auf einer breiten Basis organisierten Aufständen, wie denen von Tschiprowzi 1688 und von Tyrnowo 1685, die mit sehr viel Blutvergießen niedergeschlagen wurden und mit totaler Ausrottung der bulgarischen Bevölkerung in den aufständischen Gebieten endeten. Von der blühenden Balkanstadt Tschiprowzi, einst einem bedeutenden Zentrum der Metallgewinnung und der Goldschmiedekunst, blieb nichts übrig. Die Antwort der Bulgaren auf diese Grausamkeit war die sich schnell ausbreitende und weite Kreise erfassende Heiduckenbewegung, die im späten 17. und im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte.

 

Repräsentativ für die frühe bulgarische Stadtkultur des 17. Jahrhunderts sind vor allem Arbanassi, Bansko, Melnik und Sherawna, die gewisse Privilegien im Handel und in der Produktion genossen. Die ihren Bürgern gewährte Freizügigkeit führte zum raschen Aufstieg und Wohlstand, der sich unverzüglich im Stadtbild widerspiegelte. In Arbanassi und Bansko finden wir die ersten großen und solide gebauten Häuser der Bulgaren während der osmanischen Fremdherrschaft, die nicht mehr vereinzelt erscheinen, sondern regelrecht weitausgedehnte Städte bilden. So zeigen die während des großen Aufschwungs von Arbanassi seit Ende des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts erbauten Bürgerhäuser für Bulgarien völlig neue Bautypen, die zwar mehrere von den Patrizierhäusern der Eroberer übernommene Eigenarten besitzen - wie beispielsweise das festungsartige Mauerwerk, die Trennung zwischen den Wohnbereichen und die Abgeschlossenheit nach außen -, aber in der Innenausstattung mit Holzschnitzereien und Stein- beziehungsweise Stuckplastik in der bulgarischen Volkskunsttradition stehen. Aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammen bedeutende Bauwerke, die zu den Höchstleistungen der dekorativen Kunst Südosteuropas zählen, wie das Filaretow-Haus in Sherawna,

 

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das Kordopulow-Haus in Melnik und das Konstanzaliew-Haus in Arbanassi mit ihren reichverzierten Innenräumen, wo Wandmalerei, Holzschnitzerei und Stuckplastik eine vollendete Synthese erreichen.

 

 

Die feudalen Unruhen im Osmanischen Reich Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts unterbrachen erneut die Entwicklung der Produktivkräfte und hemmten das ganze wirtschaftliche und kulturelle Leben im Lande.

 

135 Konstanzaliew-Haus in Arbanassi, 17. Jh.

 

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136 Das Zimmer der Wöchnerin im Konstanzaliew-Haus in Arbanassi. 17. Jh.

 

 

Diese Unruhen brachen als Folge des Verfalls des militärisch-feudalen Systems aus und nahmen die Form separatistischer Bewegungen verschiedener Gebietsverwalter mit Unterstützung des Heeres an, die alle ihre feudalen Privilegien nicht abtreten wollten. Durch das ganze Land zogen plündernd und brandschatzend Einheiten entlaufener und nicht mehr unter Kontrolle der Zentralregierung stehender Soldaten, die sogenannten Kirdschali, sowie muslimische Räuberbanden, die Daali, während mehrere Stadtverwalter - wie Osman Pasvantoglu in Widin und Ali Pascha in Janina - die Macht usurpierten, indem sie sich zu unabhängigen Herrschern erklärten und den Druck auf die christliche Bevölkerung verstärkten. Am Kampf gegen die Raubüberfälle beteiligten sich auch die Bulgaren; ihnen wurde das Recht zur Selbstverteidigung zuerkannt und genehmigt, Waffen zu tragen. Jahrzehntelang war die Balkanhalbinsel ein Schauplatz erbitterter Kämpfe. Zahlreiche Städte, Dörfer und Klöster wurden ausgeplündert und in Brand gesetzt; viele - wie beispielsweise Arbanassi - konnten sich davon nicht wieder erholen.

 

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137 Inneres des Filaretow-Hauses in Sherawna. 18. Jh.

 

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138 Moschee und Bibliothek des Osman Pasvantoglu. Widin, Anfang 19. Jh.

 

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139 Türkische Festung bei Belogradtschik, 1837

 

 

Schließlich gelang es der osmanischen Zentralmacht, die Oberhand zu gewinnen und mehrere Reformen durchzusetzen: 1825 bis 1824 wurde das Lehnsystem abgeschafft und 1839 das Recht auf Religionsfreiheit, Privatbesitz und Ehre allen Untertanen des Reiches zugesichert, so daß auf diese Weise auch der bulgarischen Bevölkerung die Möglichkeit für eine beschleunigte wirtschaftliche, geistige und kulturelle Entwicklung gegeben wurde.

 

Der Strom bulgarischer Zuwanderer in die Städte verstärkte sich seit dem späten 18. Jahrhundert, so daß sie bald mehr als die Hälfte der gesamten Stadtbevölkerung bildeten.

 

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Das neue Bürgertum erlangte allmählich auch im wirtschaftlichen und politischen Bereich ein größeres Gewicht. Nach und nach gewann die handwerkliche Produktion der Bulgaren eine führende Stellung im Osmanischen Reich. Die Textilmanufaktur der Balkanstädte wurde nicht nur zum Hauptlieferanten der türkischen Armee, sondern beherrschte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts den ganzen Markt des Reiches.

 

140 Portal der türkischen Festung bei Belogradtschik, 1837

 

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Die landwirtschaftliche Produktion ging während des Zerfalls des türkischen Feudalsystems mit dem zugleich einsetzenden Bodenverkauf allmählich ebenfalls in die Hände der Bulgaren über.

 

Dem Streben nach nationaler Unabhängigkeit der nunmehr wirtschaftlich und politisch erstarkten bulgarischen Bevölkerung, das im 18. Jahrhundert zu einer Bewegung für nationale Wiedergeburt führte, ging der Kampf für eine selbständige Kirche voraus - für die Befreiung von der Vormundschaft der griechischen Kirche mit ihren erneuten Versuchen, die Bulgaren geistig zu unterwerfen und zu assimilieren. So stand die frühe Phase der bulgarischen nationalen Wiedergeburt im Zeichen einer aufklärerischen Tätigkeit. Die bulgarischen Gemeinden im ganzen Land wählten Gemeinderäte aus Vertretern der Zünfte, der Händler und der Großgrundbesitzer, die für Verhandlungen mit der türkischen Verwaltung, aber auch für die kirchlichen Fragen zuständig waren und einen Kampf zur Besetzung der unteren und oberen Kirchenämter durch bulgarische Geistliche begannen, der sich über viele Jahrzehnte hinzog und mehrere Stufen erreichte, bis schließlich im Februar 1870 ein Erlaß des Sultans ’Abd al-’Aziz (1861-1878) der bulgarischen Kirche die Autonomie in der Form eines selbständigen Exarchats zuerkannte.

 

 

Der wirtschaftliche Aufschwung führte zugleich eine Blüte der Kultur und Kunst herbei. Die Bildung, bis zum 18. Jahrhundert allein in den Klöstern konzentriert, breitete sich rasch aus und nahm weltliche Züge an. Im 19. Jahrhundert entstanden die ersten weltlichen Schulen; innerhalb weniger Jahrzehnte wurden in sämtlichen Städten und in vielen Dörfern Schulen errichtet, während immer mehr Bulgaren eine Hochschulbildung im Ausland erhielten.

 

Die sich bis Ende des 18. Jahrhunderts ausschließlich im Bereich der Kirche entwickelnde Literatur sprengte den einengenden Rahmen des Religiösen. Schon seit dem späten 17. Jahrhundert löste die Volkssprache nach und nach die altbulgarische Kirchensprache ab - in erster Linie in den zahlreichen Sammlungen kirchlicher und belehrender Texte, die den Hauptanteil der übersetzten und der eigenen Literatur bildeten und deren Verbreitung durch den Buchdruck stark zunahm. Es wuchs das Interesse an der bulgarischen Geschichte und Vergangenheit. So ist es kein Zufall, daß die bedeutendste Schöpfung der bulgarischen Literatur des 18. Jahrhunderts zugleich als erstes Werk der neubulgarischen Literatur sowie als eine Art Proklamation der bulgarischen nationalen Wiedergeburt gilt. Die »Slawisch-bulgarische Geschichte« des Priestermönches Paissij (1722-1798) vom Kloster Chilandar auf dem Berge Athos stellt ein literarisches Werk dar, das sich einer enormen Popularität unter dem bulgarischen Volk erfreute und auf die gesamte bulgarische Kultur des 19. Jahrhunderts eine starke Wirkung ausübte.

 

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141 Sograf-Kloster. Athos, gegründet im 10. Jh.

 

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142 Erste Seite der »Slawobulgarischen Geschichte« des Paissij von Chilandar. 1762, Sograf-Kloster, Athos

 

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143 Stifterbildnis des Tschorbadschi Wylko aus Bansko mit dem heiligen Iwan von Rila. Fresko, Kapelle des heiligen Iwan von Rila, Chilandar-Kloster, 1757

 

 

Ihm folgten weitere Schriften didaktischen, historischen und polemischen Charakters, darunter die in sehr lebhafter Sprache verfaßte und mit Frische und Unmittelbarkeit des Ausdrucks erfüllte 'Lebensgeschichte des Bischofs Sofroni von Wraza (1739-1813), »Leben und Leiden des sündigen Sofroni«. Auch die Anfänge einer weltlichen Lyrik in moderner bulgarischer Volkssprache wie auch eines Theaters sind bereits vor der Mitte des 19. Jahrhunderts vorhanden.

 

Die Kultur der bulgarischen nationalen Wiedergeburt ist eine städtische Kultur. Der allgemeine wirtschaftliche und politische Aufschwung zeichnete sich vorwiegend im Erscheinungsbild der Städte ab. Die Zunahme des bulgarischen Anteils ihrer Bevölkerung veränderte weitgehend ihren Charakter. Eine von den türkischen Städten völlig unterschiedliche Struktur wiesen die mittlerweile

 

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zu großen Städten mit nur bulgarischer Bevölkerung angewachsenen privilegierten Bergdörfer auf, wie beispielsweise Bansko, Kotel, Sherawna und Kopriwschtiza, wo sich Gewerbe und Handel neben einem regen geistigen Leben entwickelten. Ihre Wohnhäuser zeigten neue Bautypen, die auf beachtlichen und ständig wachsenden Wohlstand hindeuteten.

 

144 Bürgerhaus in Melnik. 19. Jh.

 

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Die Bautätigkeit entfaltete sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in breitem Maße - es wurden in rascher Folge viele große Kirchen, Uhrtürme, Schulen, prächtige Wohnhäuser und mehrere Ingenieuranlagen errichtet. Die Handwerks- und Handelsviertel dehnten sich über lange Strecken aus, wo auf ganzen Straßen zahlreiche Werkstätten und Lagermagazine entstanden. Das Stadtbild paßte sich den Naturgegebenheiten an - die Städte wurden meist an Bergabhängen erbaut, die Straßen verlaufen krumm und folgen dem unebenen und zuweilen steilen Bodengefälle,

 

145 Kopriwschtiza. Ensemble mit Bürgerhäusern, 19. Jh.

 

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doch schaffen sie auf diese Weise eine große Abwechslung. Handwerk, Handel und große Werkstätten wurden in unterschiedlichen Stadtbezirken untergebracht; ein Stadtzentrum mit einem großen Platz war nicht immer vorhanden;

 

146 Marktplatz von Trjawna mit dem Uhrturm. Mitte 19. Jh.

 

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häufig bildete er jedoch den Stadtkern und prägte mit seiner Gestaltung entscheidend das Stadtbild, wie beispielsweise in Trjawna. Seine Dominante war aber nunmehr der hohe Uhrturm, der als Symbol des weltlichen Prinzips erschien - ein Ausdruck der Vorrangstellung des Bürgertums im öffentlichen Leben. Oft waren die Wohnhäuser zwangsläufig mit den Werkstätten oder mit den Läden verbunden - dennoch vermischten sich die Sphären des privaten Lebens und des Gewerbes nicht.

 

147 Oslekow-Haus in Kopriwschtiza. 1856

 

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148 Wohnzimmer des Cindlijan-Hauses in Plowdiw. Um 1840

 

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Hohe Mauern trennten den Wohnbereich mit dem Garten von der Außenwelt. Die Gestaltung dieser Privatsphäre wurde immer mit großem Kunstverständnis und ausgeprägtem Schönheitssinn vorgenommen. Die Natur mit dem schönen Blumengarten, den schattigen Bäumen und dem Brunnen mit immer fließendem Wasser war in diese Gestaltung stets einbezogen, so daß eine Einheit zwischen Bauten und Natur bestand, als seien die Bauten aus dem Gartenboden herausgewachsen. So fügten sich auch die Baumaterialien — Holz, Naturstein, Backstein - mit ihren Naturfarben unmittelbar in das Ganze ein, ohne WiderSprüche oder Disharmonien zu erwecken.

 

149 Innenansicht des Katholikons im Rila-Kloster

 

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Hinzu kam die seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer häufiger auftretende ornamentale farbige Verzierung der Außenfassaden der Wohnhäuser, die einen persönlichen Akzent in die Gestaltung einbrachte, während die Innenausstattung mit Stuck, Holzschnitzerei und Wandmalerei noch prächtiger wurde.

 

Unter mehreren Wohnhaustypen, die sich im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts herausbildeten, nehmen das mehrgeschossige Berghaus vom Rhodopengebirge und das Plowdiwer Wohnhaus einen bedeutenden Platz ein. Das letztere entwickelte sich zu dem prächtigen Bürgerhaus der Zeit der bulgarischen nationalen Wiedergeburt und zum Symbol des Selbstbewußtseins wie der wirtschaftlichen Macht des bulgarischen Bürgertums schlechthin. Als eine Synthese aller Monumentalkünste - Architektur, Malerei, Holzschnitzerei, Stein- und Stuckplastik sowie Metallhandwerk - drückte es den bedeutendsten bulgarischen Städten dieser Zeit, wie Plowdiw, Kopriwschtiza, Samokow, Karlowo, Sherawna und Trjawna, eine eigene Prägung auf. Neben den Kirchen, die immer geräumiger und schöner wurden, beherrschten nunmehr die Uhrentürme und großen Schulen die Stadtsilhouette, außerdem die sogenannten Tschitalischta - eine Art Kulturhäuser mit Bibliotheken und Theaterbühnen, deren Verbreitung im ganzen Land außergewöhnlich groß war und bis zum heutigen Tage traditionell blieb.

 

 

Zu den vielen Ingenieuranlagen aus der Zeit der bulgarischen nationalen Wiedergeburt gehören mehrere Brücken, vor allem die von Nikola Fitschew errichteten in Lowetsch und bei Bjala, die nicht nur durch ihre hohe technische Leistung, sondern auch durch die kunstvolle Gestaltung einen besonderen Platz in der Baukunst Südosteuropas einnehmen.

 

Im Kirchenbau kam man wieder zu der weiträumigen Basilika zurück. Es trat erneut eine Tendenz zur Verselbständigung des Kirchenraumes auf. Dieser Prozeß läßt sich an einer ganzen Reihe von Kirchenbauten verfolgen, die von einer Bauhütte unter dem Meister Pawel aus Krimin in Südwestmakedonien ausgeführt worden sind. Am Beginn ihrer Tätigkeit stand das 1802 bis 1803 errichtete Katholoken des bulgarischen Klosters Sograf auf dem Berge Athos, während das letzte Meisterwerk das Katholikon des Rila-Klosters aus den Jahren 1833 bis 1834 war. Die anderen Bauhütten aus dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, wie die zahlreiche Gruppe der Baumeister aus Brazigowo und schließlich der bedeutendste bulgarische Architekt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Nikola Fitschew (1800-1881), knüpften an die Ergebnisse der Werkstatt des Baumeisters Pawel an und führten die Tendenz zur Verselbständigung des Kirchenraumes weiter fort. Die dreischiffige Struktur der Kirchen wurde allmählich allein durch den Grundriß sichtbar:

 

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Die Säulen wurden immer schlanker, die Gewölbe und Kuppeln höher und umspannten nunmehr einen weiten, durch mehrere Fenster beleuchteten einheitlichen Raum, der einer Hallenkirche ähnelt. In diesem Raum, dessen Wände durch zahlreiche Fenster, Nischen und Lisenen gegliedert waren, verlor die Monumentalmalerei nach und nach ihre Bedeutung und spielte nach der Mitte des 19. Jahrhunderts als Ornamentalverzierung eine untergeordnete dekorative Rolle.

 

150 Jantra-Brücke bei Bjala. 1865-1867

 

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151 Die Ikonostasis der Metropolitenkirche in Samokow. 1795

 

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152 Der heilige Demetrius bekämpft den Ungläubigen. Detail der Ikonostasis der Sweta-Marina-Kirche in Plowdiw, 19. Jh., Kosta Kolew und Kosta Passikow

In dem Kampf um die Selbständigkeit der bulgarischen Kirche und ihre Befreiung von der Assimilierungspolitik des griechischen Konstantinopler Patriarchats griff im zweiten Viertel des 19. Jh. auch die bildende Kunst ein. So erscheint auf der holzgeschnitzten Ikonostasis der Plowdiwer Metropolitenkirche der vom heiligen Demetrius bekämpfte Ungläubige in der Nationaltracht eines Griechen - eine sehr deutliche Anspielung auf die religiösen Auseinandersetzungen zwischen Bulgaren und Griechen.

 

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Als Hauptakzent der Innengestaltung und Mittelpunkt des kirchlichen Innenraums trat seit Ende des 18. Jahrhunderts allmählich die holzgeschnitzte Ikonostasis - die Bilderwand - hervor. So entwickelte sich die Holzschnitzerei im 19. Jahrhundert zu einer der wichtigsten Kunstgattungen und erlangte in den Werken der bedeutendsten Meister der Kunstschulen von Samokow, Trjawna, Bansko und Debar ihre höchsten Leistungen, darunter die Ikonostasen der Metropolitenkirche in Samokow, der Erzengelkirche in Trjawna, der Sweta-Marina-Kirche in Plowdiw, der Gottesmutterkirche in Pasardshik und des Katholikons im Rila-Kloster.

 

Der Aufschwung der bulgarischen Malerei zur Zeit der nationalen Wiedergeburt begann schon Ende des 18. Jahrhunderts, als in den wichtigsten Kunstzentren Bulgariens - Samokow, Trjawna und Bansko - Malerwerkstätten entstanden, die zu bedeutenden Lokalschulen der kirchlichen Ikonen- und Freskomalerei anwuchsen. So gründeten Witan Kojuw (um 1785-1848) in Trjawna, Toma Wischanow-Molera (um 1750 bis kurz nach 1812) in Bansko und vor allem Christo Dimitrow (1746-1819) mit seinen Söhnen Dimiter Sograf (1796-1860) und Sachari Sograf (1810-1853) in Samokow regelrechte Künstlerdynastien, die mit ihren Schülern und Gehilfen über mehrere Generationen bis zur Befreiung Bulgariens 1878, in vielen Fällen aber auch darüber hinaus, das künstlerische Leben Bulgariens prägten und den Übergang von der kirchlichen zu der weltlichen Malerei einleiteten.

 

Eine besondere Bedeutung über die Grenzen Bulgariens hinaus erlangte das künstlerische Œuvre des Malers Sachari Sograf, der als Vollender der christlichen Kunsttradition gilt und dessen letztes Werk - die Fresken im Narthex des Katholikons der Großen Lawra auf dem Berge Athos aus dem Jahre 1852 - als abschließendes Werk der Kirchenmalerei des christlich-orthodoxen Mittelalters vor dem Anbruch der neuen Zeit gelten dürfte.

 

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153 Hüter der Schwelle. Detail der Holzschnitzerei der Ikonostasis in der Metropolitenkirche in Samokow, 1793

An den Ikonostasen der spätmittelalterlichen bulgarischen Kirchen erscheint eine Reihe von Symbolen, deren Ursprung in der frühchristlichen Zeit liegt. Während der Auseinandersetzungen des Christentums mit den zahlreichen synkretistischen Religionen und den bedeutendsten philosophischen Lehren der antiken Welt, aber auch mit der mittelalterlichen Mystik entstanden, verkörpern diese Symbole die Idee vom Heilsmysterium der menschlichen Seele, ihren Weg zur Auferstehung und zu Gott. Zu den hervorragendsten Kunstwerken, in denen diese Idee ihre beste Verwirklichung findet, zählt die 1793 geschnitzte Ikonostasis der Metropolitenkirche in Samokow. Hier zeigen sich viele Symboldarstellungen, die zwar mit den Kunstmitteln des Spätbarock und des Klassizismus geschaffen sind, doch von einer uralten Formensprache Zeugnis geben. Ihre Bindungen zu den geistigen Zentren sowohl der antiken Philosophie als auch der spätmittelalterlichen christlich-orthodoxen Theologie sind nicht zu übersehen, wie das Symbol des Hüters der Schwelle, der in allen mystischen Lehren den Uneingeweihten den Weg zum Allerheiligsten versperrt.

 

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154 Der Pelikan. Detail der Ikonostasis der Sweta-Marina-Kirche in Plowdiw, 19. Jh., Kosta Kolew und Kosta Passikow

Der sehr dekorativen Komposition - einem Meisterwerk der Holzschnitzer aus Mezowo — liegt eine mittelalterliche Fabel zugrunde, die auch in den Hymnen zum Ostergottesdienst ausgedrückt wird: Der Pelikan belebt seine toten Kinder durch die Ströme seines eigenen Blutes - hier in einer erweiterten Form dargestellt, indem sich der Pelikan im Zweikampf mit der Schlange selbst opfert, um seine Kinder zu retten. Auf diese Weise wird das Opfer Christi versinnbildlicht, der durch sein Blut und seinen Leib die Menschen von den Sünden erlöst hat.

 

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Zum letztenmal präsentierten sich hier die Kompositionsprinzipien und die Kunstauffassung der christlichen Epoche im vollen Umfang, bevor sie auch in Südosteuropa vom Akademischen Naturalismus verdrängt wurden. Beides, Prinzipien und Kunstauffassung, wirkten nicht mehr zeitgemäß und mußten dem neuzeitlichen Geist ihren Platz abtreten.

 

155 Kopriwschtiza-Zimmer im Rila-Kloster. Mitte 19. Jh.

 

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Ihren höchsten Rang und die größte Aussagekraft erlangte die Monumentalkunst der bulgarischen nationalen Wiedergeburt auf dem Baukomplex des Rila-Klosters, der zugleich auch am klarsten ihre Bau- und Kompositionsprinzipien verdeutlicht. Ein Großbrand vernichtete am 13. Januar 1833 die alten Teile der Klosteranlage. Mit Spenden vom ganzen bulgarischen Volk und mit Beteiligung der Künstler aus allen Teilen des Landes entstand innerhalb weniger Jahre der wohl bedeutendste Bau Südosteuropas aus dem 19. Jahrhundert. Die äußerst monumentalen Flügel der Klosterbauten mit den Mönchzellen, Gästezimmern, Kapellen und verschiedenen Wirtschaftsräumen umrahmen von allen Seiten den in der Form eines Vierecks gestalteten Klosterhof, in dessen Mitte das neue Katholikon sowie der alte, im 14. Jahrhundert erbaute Wehrturm liegen. Gegenüber den strengen, festungsähnlichen Außenfassaden der Klosteranlage empfängt uns im Innenhof eine durchaus intime, Wärme und Unmittelbarkeit ausstrahlende Architektur, deren Reiz in den abwechslungsreichen Formen sowie in der Schönheit der Synthese aller Monumentalkünste besteht. So treten hier gleichberechtigt nebeneinander dekorative Wandmalerei, Plastik, Holzschnitzerei sowie Metallhandwerk und verleihen den stark gegliederten Bauformen größeren Ausdruck. In den Innenräumen steigert sich die Aussagekraft der Monumentalkunst noch weiter. Unabhängig davon, ob es sich um repäsentative Gästezimmer handelt, die von Bürgern bedeutender bulgarischer Städte, wie Kopriwschtiza, Tschirpan, Kjustendil, Samokow und Sofia ausgestattet wurden, oder um das Interieur der Klosterkirche und -kapellen, alles strahlt Harmonie, Lebensfreude und Schönheit aus, die von der Unmittelbarkeit der Volkskunst geprägt ist.

 

Der sehr malerische und lebensbejahende Monumentalstil der Kunst aus der Zeit der bulgarischen nationalen Wiedergeburt begegnet uns an den meisten öffentlichen und privaten Bauten Bulgariens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts unabhängig von ihren Funktionen und Bauherren.

 

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156 Kujumdschioglu-Haus in Plowdiw. 1847

 

157 Rila-Kloster. Innenhof mit dem Katholikon, zweites Drittel des 19. Jh.

Während des ganzen Mittelalters spielten die zahlreichen Klöster in Bulgarien eine hervorragende Rolle, nicht nur als Bastionen der Orthodoxie, sondern auch im geistigen und künstlerischen Leben des Landes. Mit der Christianisierung Bulgariens (865) wurden die ersten Klöster in der Nähe der Hauptstädte Pliska und Preslaw zu Sammelpunkten der bulgarischen nationalen Kultur und des kyrillisch-slawischen Schrifttums, aus denen unzählbare Handschriften hervorgegangen sind, die in viele slawische Staaten bis hin ins ferne Rußland verbreitet wurden. Den klösterlichen Kunstwerkstätten entstammen viele Werke der Ikonenmalerei und des Kunsthandwerks — Zeugnisse einer tausendjährigen Tradition, die auch während der langen Perioden der Fremdherrschaft nie erlosch. Unter den Osmanen entstanden in mehreren Klöstern - so etwa im Rila-, Preobrashenie-, Batschkowo- und Drjanowo-Kloster - bulgarische Schulen, die während der Aufklärung eine große Rolle spielten und zu Zentren der nationalen Befreiungsbewegung wurden.

 

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158 Salon im Kordopulow-Haus in Melnik. 1754

 

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159 Inneres der Bajrakli-Moschee in Samokow

 

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160 Das Erscheinen beider Tiere. Szene aus dem Apokalypse-Zyklus im Narthex des Katholikons des Klosters Große Lawra auf dem Berge Athos, Sachari Sograf, 1852

In seinem letzten und bedeutendsten Kunstwerk bricht Sachari Sograf endgültig mit dem erzählerisch-belehrenden Stil des Spätmittelalters und kehrt zur Symbolsprache des Frühchristentums zurück. Trotz geringer Zugeständnisse an die volkstümliche Formensprache der Neuzeit sind seine Fresken bewußt dekorativ-flächig gehalten; sie verzichten auf naturalistische Plastizität und folgen konsequent dem Gesetz der Einheit von Handlung, Zeit und Ort. Die Bilder bleiben Symbole des Unsichtbaren und Undarstellbaren - sie sind lediglich ein Hinweis auf das Übersinnliche und Übernatürliche. So haben weder das grüne Lazur noch das Ultramarin, die Sachari Sograf in seinen apokalyptischen Landschaften benutzte, etwas mit den Farbtönen der Natur gemeinsam. Durch diese abstrakten und »unnatürlichen« Farben wird aber noch einmal darauf hingewiesen, daß die Darstellungen eine andere Welt nachbilden, die sich grundsätzlich von unserer sichtbaren Welt unterscheidet.

 

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So treffen wir dieselbe Ornamentik, die gleichen geschwungenen Linien, Giebel, Säulenreihen, Kompositionsprinzipien und -formen sowohl an den palastähnlichen Bürgerhäusern von Plowdiw, Kopriwschtiza und Samokow wie auch an den nicht so reichen Häusern, an den bulgarischen Schulen und an den türkischen Verwaltungsbauten, an den Kirchen, sogar an den kultischen Bauten anderer Religionen - die Synagoge und die Moschee von Samokow zeigen am deutlichsten die Expansion dieses bulgarischen nationalen Kunststils vor der Mitte des 19. Jahrhunderts, die mit der Expansion des bulgarischen Bürgertums in der Wirtschaft im Einklang stand.

 

 

Die Formensprache des Monumentalstils aus der Zeit der bulgarischen nationalen Wiedergeburt bildete sich während des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts heraus. Neue Anregungen erhielt sie vorwiegend aus Mitteleuropa - in erster Linie direkt aus Österreich und Frankreich, aber auch durch die zeitgenössische russische Kunst. Diese Anregungen und Einwirkungen Europas, die mit den ständig zunehmenden Handelsbeziehungen ins Landesinnere gelangten, wurden jedoch von den bulgarischen Künstlern — Baumeistern, Malern, Holzschnitzern und Bildhauern - keinesfalls mechanisch übernommen (wie es dann in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts geschah), sondern sie wurden in einem komplizierten Prozeß der Rezeption bewußt umgearbeitet und angeeignet. Es ist nicht sehr schwer, den Prototyp für das Bauschema sowie für einige Konstruktionsprinzipien und Bauformen mehrerer Bürgerhäuser in Plowdiw, Samokow und Kopriwschtiza, im Stadtpalast des Prinzen Eugen von Savoyen, dem berühmten Belvedere in Wien, zu entdecken;

 

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161 Salon im Arie-Haus in Samokow. Um 1858

 

 

beispielsweise die Form des Eingangsportikus oder die symmetrische Anordnung der Räume beiderseits des Vestibüls und die Gestalt des Festsaals im Obergeschoß in seiner klaren, axialen, rhythmischen Raumteilung. Die Ausführung der Vorbilder mit traditionellen Kunstmitteln und Baumaterialien - geschnitztem Holz, Stuck und Fachwerkmauern, von außen und innen mit dekorativen Fresken verziert - ist jedoch spezifisch und unverkennbar bulgarisch. Wenn auch in der Ornamentik immer häufiger barocke Voluten Aufnahme finden, werden diese Formen von den Malern der Samokow- und Trjawna-Schule ihren eigenen Gestaltungsprinzipien untergeordnet und verschmelzen mit den bunten Feldblumen des einheimischen Ornaments zu einer Mannigfaltigkeit von phantastischen Formen und strahlenden Farben,

 

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162 Geschnitzte Decke im Arie-Haus in Samokow. Um 1858

 

 

die den optimistischen und sehr malerischen Monumentalstil der bulgarischen nationalen Wiedergeburt kennzeichnet. Auch die äußerst dekorativen, in Freskotechnik ausgeführten Landschaftsbilder, die die Innenwände der Bürgerhäuser schmücken, zeigen die Paläste, Häfen und Stadtansichten ferner Länder auf eine Weise, die keinerlei Gemeinsamkeiten mit der zeitgenössischen Malerei Europas aufweist, sondern ihre Ursprünge in der überlieferten Formensprache der bulgarischen volkstümlichen Kirchenmalerei hat - so wie auf den Decken der repräsentativen Räume die riesigen holzgeschnitzten Rosetten, die im Sinne der autochthonen Tradition in mehrstrahlige Sonnen umgestaltet werden.

 

Die Hauptfassade der Bürgerhäuser, Kirchen und öffentlichen Bauten wird

 

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durch die geschwungene Linie eines eigenartigen Giebels akzentuiert, der — wie die aufgelockerte und geschwungene Linie überhaupt - zu den charakteristischsten Formen des Monumentalstils der bulgarischen nationalen Wiedergeburt gehört. Auch die vertikalen Flächen der Fassaden verlieren ihre starre klassizistische Strenge allmählich durch die aufgelockerten Formen und Linien.

 

163 Bajrakli-Moschee in Samokow. Zweites Drittel 19. Jh.

 

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Diese Entwicklung bleibt auch der Innenarchitektur nicht fremd - sogar die steife und strenge Gestalt der Bilderwand im Kircheninneren läßt sich von den überall gültigen neuen Tendenzen der Raumgestaltung und von der geschwungenen Linie beherrschen.

 

 

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zu weiteren wesentlichen Veränderungen im Wirtschaftsleben des Osmanischen Reiches. Nach dem Krimkrieg 1853 bis 1856 mußte die Türkei ihre Tore und Märkte dem Anstrom der westeuropäischen Waren öffnen. Die Konkurrenz der billigen Fabrikproduktion ruinierte einen wesentlichen Teil des bulgarischen Handwerks, das sich nicht so schnell auf die neue Technik umstellen konnte. Die Unzufriedenheit breitete sich innerhalb des bulgarischen Bürgertums rasch aus - zusammen mit dem immer deutlicheren Streben nach politischer und wirtschaftlicher Unabhängigkeit und nach Selbständigkeit, das nach der Jahrhundertmitte die Form einer nationalen Revolution annahm und seinen Höhepunkt im Aprilaufstand 1876 erreichte.

 

Alle Künste - vor allem die Publizistik und die Literatur - standen im Zeichen der Nationalrevolution. Bedeutende Schriftsteller traten hervor - in erster Linie die Dichter Christo Botew, Ljuben Karawelow, Petko Slawejkow und Iwan Wasow, die Publizisten Georgi Rakowski, Iwan Bogorow und Peter Beron, dazu die Dramaturgen Wassil Drumew und Dobri Wojnikow, während an der Spitze der Organisationstätigkeit für den Aufstand der hervorragende bulgarische Revolutionär und Staatsmann Wassil Lewski stand.

 

Der politischen Vorbereitung des Aufstands ging eine weitreichende Literatur- und Aufklärungsarbeit voraus, die durch das Sammeln und Veröffentlichen mehrerer Werke der bulgarischen Folklore eingeleitet wurde, deren bedeutendste Leistungen in den Sammlungen bulgarischer Volksepen des kroatischen Archäologen Stefan Verković, bulgarischer Volkslieder der Brüder Konstantin und Dimiter Miladinow sowie bulgarischer Fabeln und Sprüche Petko Slawejkows enthalten sind. Die bulgarische Vergangenheit lebte in diesen Sammlungen uralter Epen, Sagen und Ritualgesänge aus der vorchristlichen Epoche, die in den entlegensten Gegenden Bulgariens erhalten geblieben waren, wieder auf und stellte der europäischen Altertumswissenschaft einige schwierige Probleme, deren Lösung erst die Archäologie in der jüngsten Zeit zu bringen begann.

 

1869 bildete sich im rumänischen Exil die Bulgarische Gelehrtengesellschaft, aus der später die Bulgarische Akademie der Wissenschaften hervorging und deren Aufgaben vorerst in der Publizistik ein breites Feld fanden. Ebenfalls im rumänischen Exil entfaltete sich die vielseitige schriftstellerische Tätigkeit Rakowskis, Karawelows, Botews und Wasows.

 

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164 Hadschi-Nikoli-Haus in Weliko Tyrnowo. 1858

 

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Die Lyrik Botews und Wasows bereicherte nicht nur die moderne bulgarische Literatursprache, sondern steigerte zum erstenmal seit mehreren Jahrhunderten die internationale Bedeutung der bulgarischen Literatur. Im Werk der bildenden Künstler, zu denen bereits die an ausländischen Akademien ausgebildete Generation gehörte - wie die Maler Nikolai Pawlowitsch und Stanislaw Dospewski -, nahmen die Historienmalerei und die politische Karikatur den ersten Platz ein.

 

Der mit großer Grausamkeit niedergeschlagene Aprilaufstand 1876 erregte die Öffentlichkeit ganz Europas und rief ihre Sympathie für das unterdrückte bulgarische Volk hervor. So kam es nur ein Jahr später zum Russisch-Türkischen Krieg 1877 bis 1878, der zum Befreiungskrieg wurde und am 3. März 1878 mit dem Friedensvertrag von San Stephano endete, in dessen Folge Bulgarien seine Unabhängigkeit wiedererlangte.

 

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