Die protobulgarische Periode der bulgarischen Geschichte

Veselin Beševliev

 

IV. DAS LEBEN UND DIE KULTUR DER PROTOBULGAREN

 

6. Die Sitten und Gebräuche  393

a. Die Polygamie  393

b. Die Kleidung und Haartracht  396

c. Die Nahrung  400

d. Die Wohnung und die Siedlung  401

e. Die Bestattungssitten  403

f. Militaria  410

g. Ackerbau, Viehzucht, Industrie und Handel  412

h. Das Strafrecht  414

i. Die Orientierung nach Süden und die Ehrenseite  418

j. Die bulgarische Zeitrechnung  420

k. Das Gastmahl des Bulgarenherrschers  421

l. Die vom byzantinischen Kaiserhof übernommenen Titel und Gepflogenheiten  425

 

7. Die protobulgarischen Zeichen  430

8. Die protobulgarischen Inschriften  438

9. Die protobulgarischen Bauwerke  459

a. Pliska  459

b. Die Befestigungsanlage bei Car Krum = Čatalar  467

c. Die Bauten in Silistra und Păcuiul lui Soare  468

d. Madara  471

   i. Die Bauwerke 471

   ii. Das Reiterrelief 473

e. Die Wälle und Gräben  474

   i. Die Wälle im Westen 474

   ii. Die Wälle im Osten 475

   iii. Erkesija 476

   iv. Die Wälle im Balkangebirge 478

   v. Die Wälle in Dobrudža 478

 

 

 

6. Die Sitten und Gebräuche

 

Allgemeine Literatur: K. Jireček, Geschichte 89-91 und Ergänzungen 56; V. Niederle, Manuel II La civilisation; Iv. Dujčev, Slavjano-bolgarskih drevnosti IX-go veka, in: ByzSl. XI (1950) 6-13; derselbe, Esce o slavjano-bolgarskih drevnostjah IX-go veka, ebenda XII (1951) 75-93; derselbe, Die Responsa Nicolai I. Papas ad Consulta Bulgarorum als Quelle für die bulgarische Geschichte, in: Medioevo I 127-148

 

 

Die Nachrichten über die Sitten und Gebräuche bzw. die Lebensweise der Protobulgaren sind auch so dürftig und lückenhaft wie die über ihre Religion. Daher lässt sich auch hier kein vollständiges Bild geben. Die Hauptquellen sind wieder die Antworten des Papstes Nikolaus I., Pseudo-Masudi, Ibn Fadlan und einige zufällige Notizen anderer Autoren.

 

 

   a. Die Polygamie

 

Nach der 51. Antwort stellten die Bulgaren dem Papst die Frage, ob sie gleichzeitig zwei Frauen haben dürften [1]. Aus der Antwort lässt sich nicht entnehmen, ob es sich um zwei legitime Frauen oder um eine legitime und eine Beischläferin handelt. Wahrscheinlich waren beide Frauen legitim. Nach einer chinesischen Quelle hatte ein Herrscher der Ch’i-tan zwei legitime Frauen [2]. Die Polygamie bei den Bulgaren ergibt sich auch aus einer Stelle in den Miracula S. Demetrii, wonach Kuber nicht nur den Frauen des vom byzantinischen Kaiser verbannten Mauros nichts getan, sondern sogar auf sie geachtet hatte (s. hier S. 168) [3].

 

 

1. Responsa 51: Si liceat uno tempore habere duas uxores, exquiritis.

2. Liao 211 f.

3. Tougard 204 §121: ...Κούβερ, οὐδενός τῶν αὐτοῦ Μαύρου ἀνθρώπων ἢ πραγμάτων ἐφήψατο, μᾶλλον δὲ τὰς αὐτοῦ γυναῖκας ἐν τῇ αὐτῇ ᾗπερ εἶχον, τιμῇ καὶ πλείω ἠξίωσεν.

 

393

 

 

Eine Anspielung auf die Polygamie der Bulgaren findet sich in den Anweisungen des Patriarchen Photios an den Bulgarenherrscher Boris - Mihael. “Es ist schändlich”, schreibt er, “als Herrscher und Gebieter von Männern, den Frauen zu unterliegen... Die Vielweiberei ist überschändlich und verrucht [4].”

 

Nach Scriptor incertus hatte Krum viele Kebsfrauen, die ihn auf dem Feldzug gegen Konstantinopel begleitet und lobgepriesen haben [5]. Derselbe Autor berichtet weiter, dass Krum vom Kaiser Leon V. ausser Gold und Gewändern noch eine bestimmte Zahl auserlesener Mädchen [6], verlangt hat die wohl Kebsweiber werden sollten. Die Polygamie war bei vielen den Bulgaren verwandten Völkern vorhanden. Priskos [7] berichtet, dass Attila nach skytischer Sitte viele Frauen hatte. Nach Ibn Fadlan hatte der Khagan der Chazaren 25 Frauen und 60 Beischläferinnen [8]. Der Herrscher der Tokuzoguzen hatte sogar 360 Mädchen [9]. Die Mongolen waren auch polygam und die Ch’i-tan in einer früheren Periode [10]. Nicht nur die Chazaren khagane hatten Beifrauen, sondern auch die Herrscher der Hunnen der vorchristlichen Zeit [11] und der Ch’i-tan [12].

 

 

4. Migne PG 102, 91.: Αἰσχρόν ἐστιν ἀνδρῶν ἄρχοντα καὶ δεσπόζοντα γυναικῶν ἡττηθῆναι... πολυγαμία δὲ ὑπέραισχρον καὶ μιαρόν.

5. Scriptor incertus ed. Bekker 342: διῆλθεν μέσον τῶν παλλακίδων αὐτοῦ, προσκυνήθεὶς ὑπ’ αὐτῶν καὶ δοξασθείς.

6. ebenda

7. EL 131, 1-5: ὡς τοῦ Ἀττήλα ἐς κώμην τινὰ παρεσομένου, ἐν ᾗ γαμεῖν θυγατέρα Ἐσκὰμ ἐβούλετο, πλείστας μὲν ἔχων γαμετάς, ἀγόμενος δὲ καὶ ταύτην κατὰ νόμον τὸν Σκυθικόν. vgl. Jordanis Getica rec. Mommsen 123, 19:... post innumerabiles uxores, ut mos erat gentis illius; 125,8: “nam fili Attilae, quorum per licentiam libidinis pene populus fuit.” Hierzu J. Deguignes, Histoire I, 1 16: “Le nombre de leurs femmes n’étoit point fixe ils en prenoient autant qu’ils pouvaient en nourrir.”

8. Togan IF § 97

9. ebenda 268

10. Liao 211

11. De Groot, Die Hunnen 60: “... von den bevorzugten Beifrauen folgen ihm in vielen Fällen mehrere zehn oder hundert in den Tod.”

12. Liao 8; 211 f.; 233

 

394

 

 

Die Stellung der Kebsfrauen bei den Protobulgaren ist unbekannt. Bei den Ch’i-tan und den alten Mongolen galten die Kinder der Beischläferinnen für legitim [13].

 

Die legitime Frau des Bulgarenherrschers stammte wohl, wie es bei den Türkvölkern Brauch war [14], aus einem bestimmten Geschlecht, die Kebsfrauen dagegen aus verschiedenen Geschlechtern und Völkerschaften.

 

Bei den Bulgaren war es Brauch, dass der Mann der Frau, die er heiraten wollte, als Mitgift, d.h. Brautpreis, Gold, Silber, Ochsen, Pferde und andere Sachen schenkte [15]. Dieser Brauch ist auch für die Oguzen bezeugt [16]. Bei der Verteilung der Erbschaft bekamen die Töchter nach Pseudo-Masudi [17] den grösseren Teil. Ein ähnlicher Brauch existierte auch bei den Rus [18].

 

Wieder nach Pseudo-Masudi [19] begruben die Bulgaren mit dem verstorbenen Mann auch seine noch lebende Frau. Das gilt, wie die Quelle ausdrücklich bemerkt, für die vornehmen Leute. Die Witwen der übrigen Bulgaren hatten anscheinend nicht das Recht auf eine Zweite Ehe, wie das für die Mongolen, Ch’i-tan und andere asiatische Völker bezeugt ist [20]. Das lässt sich aus der 3. Antwort erschliessen, in der die Bulgaren unter anderem die Frage stellten, ob die Witwer eine zweite Frau heiraten dürften [21]. Die Frage für die Witwen wurde nicht gestellt, da sie von bulgarischem Standpunkt aus klar war: sie durften nicht heiraten.

 

 

13. ebenda 201

14. Pritsak, Fürstenliste 39; Liao 8; 18; 206 ff.

15. Responsa 49: Praeterea sciscitamini, si licet exhibere vobis quemadinodum prius in dotem coniugibus vestris aurum, argentum, boves equos et cetera.

16. Togan IF 22 § 23, hierzu 128-129

17. “Ils ont aussi pour coutume de donner de plus fortes parts d’héritage aux filles qu’aux garçons.” s. Marquart, Streifzüge 205

18. Togan IF 236

19. s. Marquart, Streifzüge 204

20. Liao 201; 262

21. Responsa 3: “...Iam vero quod sciscitamini, si mulierem propria defuncta possit vir alteram ducere...”

 

395

 

 

Nach der Annahme des Christentums nötigten die Bulgaren die Witwen laut der 87. Antwort Nonnen zu werden [22]. Dadurch wurde den Witwen das Recht auf eine Wiederheirat entzogen und sie wurden gleichzeitig sozusagen lebendig hinter den Klostermauern begraben. Auf diese Weise versuchten die Bulgaren ihre alten Sitten mit dem neuen Glauben in Einklang zu bringen.

 

 

   b. Die Kleidung und Haartracht

 

Auch über die Kleidung der Protobulgaren [23] fliessen die Schriftquellen spärlich. Sie werden teilweise durch einige bildliche Darstellungen und mehrere archäologischen Funde ergänzt.

 

Suda [24] berichtet, dass die Kleidung der Awaren den Bulgaren so gut gefallen habe, dass sie sie bis in die Zeit des Verfassers trugen. Es ist jedoch kaum wahrscheinlich, dass das ganze bulgarische Volk die Tracht der Awaren angenommen hat. Die Worte des Suda beziehen sich wohl nur auf einen bestimmten Teil der Bulgaren oder nur auf die Militärbekleidung. Eine Stelle bei Theophanes Continuatus [25] zeigt dagegen, dass die Bulgaren eine eigene Tracht hatten, die Johannes und Beneamin, die Brüder des Zaren Peter, nach der Bekehrung zum Christentum auch weiterhin trugen.

 

Ein Teil dieser Kleidung war nach der 59. Antwort eine Art Hose, die sowohl die Männer als auch die Frauen trugen [26].

 

 

22. Responsa 87: “Utrum, si mulierem viduam nolentem monachicam vitam suscipere quis monacham fecerit, peccatum commitat, inquiritis.”

23. Jor. Ivanov, Le costume des anciens bulgares, in: Recueil Th. Uspenskij (L’art byzantin chez les Slaves) I (1930), 325-333; G. Fehér, Oblekloto i orăžieto na starata bălgarska voiska, Sofia 1942; Kollautz-Miyakawa, Awaren II, 93-121 mit Lit.

24. Suidae Lexicon ed. A. Adler s.v. Βούλγαροι (I, 483 f.): οἱ Βούλγαροι ἠρέσθησαν εἰς τὴν στολὴν τῶν Ἀβάρων καὶ μετημφιάσαντο αὐτὴν καὶ ἕως νῦν περιβέβληνται

25. Theoph. Cont. 412, 2: Ἰωάννης δὲ καὶ Βενεαμὶν οἱ τοῦ Πέτρου ἀδελφοὶ ἔτι στολῇ ἐκοσμοῦντο βουλγαρικῇ.

26. Responsa 59: “Quod de femoralibus sciscitamini...in libris nostris iussa sunt femoralia fieri, non ut his mulieres uterentur, sed viri... Nam sive vos sive feminae vestrae sive deponatis sive induatis femoralia, nec saluti officit etc.”

 

396

 

 

Mauricius [27] kennt eine besondere Art von Kriegsmantel, den er bulgarisch nennt, ohne ihn jedoch näher zu beschreiben. Nach den arabischen Schrifstellern Istahri [28] und Ibn Hauqal [29] trugen die Bulgaren einen langen Qurtaq [30]. Liudprand, der Bischof von Kremona teilt noch eine Einzelheit mit. Der bulgarische Gesandte am Kaiserhof (968) war nach ungarischem Brauch geschoren und mit einer Kupferkette gegürtet [31]. Die bulgarische Fürstenliste enthält eine Bemerkung, wonach die ersten fünf Bulgarenherrscher vor dem Übergang über die Donau geschorene Köpfe hatten. Das Scheren der Haare war nach Priskos [32] und Prokop [33] eine hunnische Sitte. Die Awaren [34],

 

 

27. Mauricii Strategicon ed. Mihaescu 314, 17-18: ζωνάρια λιτὰ καὶ οῦ Βουλγαρικὰ σαγία.

28. Marquart, Streifzüge 518: “Ihre Kleidung besteht aus kurzen Kaftans ( = Qurtaq), die Kleidung der Chazaren, Bulγar und Pecenegen aber aus vollständigen Kaftans”. Hierzu Togan IF 226 (vgl. auch 16 § 15 Anm. 3; 92 § 89 und 240)

29. Dunlop 99; Togan IF 145

30. Togan IF 240 f.: “Verschieden von dieser war der Kaftan, ein Oberrock, der in Chwarezm über dem Qurtaq und unter dem Pelzmantel getragen wurde. In Zentralasien hat man den Kaftan auch über dem Kettenpanzer getragen ; er wird aber immer als ein aus Wolle oder Baumwolle verfertiges Kleid bezeichnet.”

31. Liudprandi Relatio (MGH SS III) 19: “Bulgarorum nuntium, Ungarico more tonsum, aenea catena cinctum,... Bulgarorum ille apostolus, quamquam, ut dicis et verum est, tonsus illotus, et catena aenea cinctus sit...” Nach Ibrachim Ibn Jakub trugen die bulgarischen Gesandten 965 in Merseburg: “eng anliegende Kleider und waren mit langem Gürtel gegürtet, die mit goldenen und silbernen Knöpfen verziert waren”, s. W. N. Zlatarski, Izvestieto na Ibrachim-Ibn-Jakuba za bălgarite ot 965 g., in: SpBAN 22 (1922) 68 und 76 und Jor. Ianov, Le costume usw. 326

32. EL 135, 20-22

33. Hist. arcana 44, 19-21

34. Theophan. 232, 8-10; Corippus, de laud. Iustini III 262, hierzu Marquart, Streifzüge 43 und Anm. 4; 482; Togan IF 231-232; Kollautz-Miyakawa, Awaren II 114-120. Eine chinesische Quelle, die in: Jou-jan Tzu-liao-chi-lu ( = Kompilation zur Geschichte der Jou-jan), Peking 1962, 39 angeführt ist, teilt folgendes über die Jui-jui mit, die man bekanntlich mit den Awaren identifiziert: “Die Jui-jui sind Mischlinge des Hu Volkes ausserhalb der Grossen Mauer. Sie Flechten das Haar zu Zöpfen und knöpfen ihre Kleider unter dem linken Arm zu... Sie leben in Filzzelten. Sie machen Ritzzeichen in Holz, da sie die geschriebene Urkunde nicht kennen.” (Nach Mitteilung von A. Kollautz).

 

397

 

 

Türken [35], Chazaren [36], Ch’i-tan [37] und andere mittelasiatische Völker [38] dagegen trugen lange Haare. Lange Haare hatten auch die byzantinischen Kaiser [39]. Auf dem Reiterrelief von Madara, das bekanntlich einen bulgarischen Herrscher darstellt, sind die Haare auch lang. Die Bemerkung in der Fürstenliste wäre nur dann angebracht, wenn die Bulgaren bzw. ihre Herrscher nach dem Donauübergang lange Haare getragen hätten. Die beiden erwähnten sich widersprechenden Nachrichten über die Haartracht bei den Bulgaren zeugen entweder von zwei verschiedenen ethnischen Schichten oder von zwei verschiedenen Haartrachten je nach der gesellschaftlichen Stellung wie bei den Franken [40].

 

Nach der 66. Antwort trugen die Bulgaren eine Leinenbinde um den Kopf [41], über deren Aussehen wir nur auf Vermutungen angewiesen sind. Sie war jedoch Kein Turban. Ibn Fadlan teilt mit, dass die Wolga-Bulgaren Mützen trugen [42]. Soweit die Schriftquellen.

 

Einen annähernd visuellen Eindruck von der Kleidung der Protobulgaren geben: das Reiterrelief von Madara, eine Miniatur eines bulgarischen Kriegers in dem Menologion des Kaisers Basileios II., zwei Miniaturen des bulgarischen Herrschers Omurtag in der Madriter Skylitzes-Handschrift, einige Zeichnungen auf Steinen und die archäologischen Funde.

 

 

35. Agathias rec. R. Keydell 13, -8, hierzu Marquart, Streifzüge 43 Anm. 4 und Togan IF 231-232

36. Marquart loc. cit.

37. Liao 228 Anm. 16

38. ebenda 92

39. Φ. Κουκουλές, Περὶ κομμώσεως τῶν Βυζαντινῶν, in: ΕΕΒΣ 7 (1930), 4-5 und 10

40. Agathias rec. R. Keydell 13, 3-11

41. Responsa 66: “Graecos prohibere vosasseritiscum ligatura lintei, quam in capite gestatis, ecclesiam intrare.”

42. Togan IF 63 § 60

 

398

 

 

Der Reiter von Madara trägt ein langes Oberkleid mit Falten offenbar einen Kaftan [43], der bis unter die Knie reicht, und eine Hose. Seine Füsse stecken in weichen Schuhen ohne Absatz [44]. Der bulgarische Krieger aus dem 9. Jh. in dem Menologion des Kaisers Basileios II. (Abb. 23) hat einen spitzen Hut, auf dem Kopf augenscheinlich aus Pelz mit dem Haar nach innen, das an dem unteren Teil des Hutes als Krempe hervortritt, d.h. eine hohe und spitze Pelzmütze mit Krempe [45]. Er ist mit einem Pelz bekleidet, dessen Haare wieder nach innen gekehrt sind. Sie sind oben als Kragen und unten als Fransen sichtbar. Der Pelz, wahrscheinlich Schafpelz, reicht fast bis an die Knie und erweitert sich von dem Kreuz nach unten. Das Kleid ist von vorne bis zum Kreuz mit Streifen zugeknöpft. Der Krieger trägt einen ledernen mit runden Metallplättchen wie mit Knöpfen verzierten Gürtel, an dessen linker Seite Beutelchen, ein kleines Messer und ein nicht erkennbarer Gegenstand aufgehängt sind [46], und eng anliegende Beinkleider (femoralia?). Seine Füsse stecken in Schuhen ohne Absatz. Ähnlich ist auch Omurtag in den Miniaturen der Madrider Skylitzes-Handschrift angezogen. Ob er eine Kopfbedeckung hat, lässt sich nicht deutlich erkennen. Vielleicht ist er barhäuptig mit üppigem Haar. An beiden Armen sieht man drei Streifen, die wohl Armbänder als Standesabzeichen wie im Iran sind [47]. Solche Armbänder haben auch die vor dem Kaiser Basileios II. knieenden hohen bulgarischen Würdenträger indem Psalter des Kaisers Basileios II. [48].

 

 

43. Über den Kaftan Togan IF 16 Anm. 4: “Kaftan (davon der russische “Kaftan”): Oberkleid aus Baumwolle oder Schafund Kamelwolle; ursprünglich ein Kleid aus Baumwolle, das man über dem Kettenpanzer tragt.” mit Lit. Vgl. auch hier Anm. 30

44. Th. Gerasimov und St. Stančev im Sammelband “Madarskijat konnik” 124 und 194

45. vgl. Togan IF 174-178. Über die Jui-jui s. Anm. 34

46. über den Gürtel s. Kollautz-Miyakawa, Awaren II 99-105 mit Lit.

47. ebenda 105. Die auf der Tafel 14 bei A. v. Le Coq, Spätantike III, dargestellten uigurischen Würdenträger haben auch solche Armbänder.

48. Jor. Ivanov, Le costume des rois païens bulgares d’après un manuscrit de la Bibliothèque Nationale de Madrid, in: Procès verbaux et mémoires du Congrès international des Bibliothécaires et des Bibliophiles, Paris 1923

 

399

 

 

Omurtag trägt Stiefel und enganliegende Beinkleider, die an der Aussenseite Knöpfe oder Knopfähnliche Verzierungen haben. Er ist ohne Gürtel (Abb. 24-25).

 

Spitze hohe Mützen, Kalpaks, tragen auch die auf den Steinen eingeritzten Reiter (Abb. 26-27).

 

Die archäologischen Funde zeigen, dass die Bulgaren Leinenkleidung, vielleicht Hemden, trugen und dass sowohl die Männer als auch die Frauen Gürtel hatten [49]. Die Künstliche Schädeldeformierung war, wie die Gräber zeigten, den Bulgaren wohlbekannt [50].

 

 

   c. Die Nahrung

 

Die Nahrung der Bulgaren war gewöhnlich Fleisch und Geflügel [51]. Die für das Verzehren bestimmten Tiere wurden ohne Blutvergiessen getötet (s. hier S. 358). Die Hauptnahrung der Wolga-Bulgaren bestand aus Hirse und Pferdefleisch [52]. Einen wichtigen Platz in der Nahrung nahm die Stutenmilch besonders auf Feldzügen ein [53].

 

Die Angaben der Schriftquellen werden durch die archäologischen Funde und Totenbeigaben näher präzisiert [54]. Sie zeigen, dass die verzehrten Tiere und das Geflügel aus Lamm, Schaf, Rind, Kalb, Schwein, Huhn, Gans und Ente bestanden und die Wildtiere waren: Hirsch, Reh, Wildschwein,

 

 

49. Stančev, Novi pazar 18 f.

50. ebenda 34 und D. Il. Dimitrov, Nekropol Nr. 3, 53; Liao 34; Kollautz-Miyakawa, Awaren II 199-215 mit Lit. I 85-86 und 100

51. Responsa 43: “Quas animalia seu volatilia liceat manducare...”

52. Togan IF 60 § 56

53. Ennodi Panegyricus V: non negati egestas alimenti in artum necessitatis lege continuit, dum credunt satis esse ad delicias equini pecoris lac polare. Quis ferat adversarium, qui pernicis iumenti beneficio currit et pascitur?”

Vgl. Mauricii Strategicon ed. Mihăescu 270, 6-8: Ἀκολουθεῖ δὲ αὐτοῖς καὶ πλῆθος ἀλόγων ἀρῥένων τε καὶ θηλείων, ἅμα μὲν πρὸς ἀποτροφήν, ἅμα δὲ καὶ διὰ πλήθους θεωρίαν. Über die Stutenmilch s. auch Liao 9-10; 117 mit Anm. 50; 14

54. Stančev. Novi pazar 23; St. Ivanov, Hranata ot životinski prozhod na obitatelite na iužnata porta na Preslav, in: IAI XXII (1959), ἐίή-221

 

400

 

 

Auerochse und Hase. Es kommen noch verschiedene Fische hinzu.

 

 

   d. Die Wohnung und die Siedlung

 

Die archäologischen Funde in Bulgarien zeigen, dass das gemeine bulgarische Volk in Jurten gewohnt hat [55]. In Marcianopolis wurde eine steinere Nachahmung einer Jurte gefunden (s. Abb.). Nach Ibn Fadlan [56] “lebten alle Wolga-Bulgaren in Zelten. Das Zelt des Königs war aber sehr gross, so dass es bis tausend und mehr Personen fasste”. Das Herrscherszelt wird bei den Türken und Mongolen “ordu” genannt. Mit “ordo” wurde die Residenz des Herrschers der vorchristlichen Hunnen, shan-yü, bezeichnet [57]. In den alttürkischen Inschriften von Orkhon bedeutet “ordo” “Lager oder Hauptstadt [58] Die Lager oder die Residenzen der mongolischen Fürsten hiessen auch ordo [59]. In dem 10. und 11. Jh. war das Ordo bei Ch’i-tan “the camp of the elite cavalry guard of the emperor” [60]. Nach A. Zeki Validi Togan [61] bedeutet orda oder yurt “Lagerplatz”.

 

In einer protobulgarischen Inschrift (Nr. 55) wird die Residenz bzw. der Palast des bulgarischen Herrschers griechisch οἶκος und αὐλὴ genannt.

 

 

55. In der sog. Kirchengeschichte des Zacharias Rhetor werden unter den Kaukasischen Nomadenvölkern, die “in Zelten lebten”, auch die Bulgaren genannt (s. hier S. 145 Anm. 3). Über die archäologischen Beweise s.: Ž. Važarova, Bălgarskijat narodnosten oblik prez srednovekovieto v svetlinata na archeologičeskite danni (VI-XI), in: Părvi kongres na bălgarskoto istoričesko družestvo I, Sofia (1972), 408-409; D. Il. Dimitrov, Prinos kam izučavaneto na starobălgarskoto žilište v severoiztočna Bălgarija, in: INMVIX (XXIV), 1973, 101-109. Über das “türkische Zelt” - Jurte s. Togan IF 1 18-122; Kollautz-Miyakawa, Awaren I, 68-69

56. Togan IF 64 § 61 und 182-183

57. De Groot, Die Hunnen 21 und 52; Liao 508-509 mit Lit.

58. K. Menges, A note on the compound titles usw., in Byz. 28 (1958) 1959, 450 f.; Gabain, 321 s.v. auch Heer und Palast. A. Kollautz, Awaren 135

59. Liao 508

60. ebenda 19

61. Togan IF 72 Anm. 2

 

401

 

 

Damit sind die grossartigen Ruinen von Steinpalästen in Pliska gemeint (darüber s. S. 459-467). Nach einer anderen protobulgarischen Inschrift (Nr. 56) residierte (μένοντα) Omurtag im Feld oder Lager der Pliska (ἰς τῖς Πλσκας τὸν κάὕπον). In Donau-Bulgarien wohnte der Herrscher also nicht mehr im Zelt. Nur während der Kriegszüge bewohnte er ein Zelt [62]. Nach der zweiten Inschrift liess Omurtag ein Lager an dem Fluss Tiča bauen (darüber), das griechisch αὔλιον genannt ist.

 

Sowohl αὐλὴ als auch αὔλιον sind rein griechische Wörter, die nur lautlich an das türkische Wort aul anklingen, mit dem sie jedoch nicht identisch sind. Das mongolische Wort ajil bedeutet bekanntlich “Zelte, Zeltlager, Zelt-Dorf”, das türkische aγyl “Einzäunung, Hecke, Zaun” und das neutürkische ajyl, aul “Zeltlager, Nomadensiedlung” [63]. Das aus demselben Stamm gebildete ungarische Wort falu hat die Bedeutung “Dorf” [64]. Theophanes berichtet [65], dass Kaiser Konstantin V. einige Dörfer bzw. Bauerngehöfte (αὐλάς) auf seinem Wege nach Bulgarien niederbrannte und voll Angst zurückkehrte, ohne dabei etwas Rühmliches vollbracht zu haben. In dem Paralleltext des Nikephoros steht dafür das Wort χωρία [66]. Es ist also klar, dass weder αὐλὴ noch αὔλιον in den Inschriften mit den von Theophanes erwähnten αὐλαί identisch sein können. Mit der Bezeichnung αὐλαί, d.h. Bauerngehöfte, wollte Theophanes die Erfolge des ihm verhassten Kaisers als ganz unbedeutend darstellen [67].

 

Es ist bemerkenswert, dass eins der wenigen erhaltenen protobulgarischen Wörter im Neubulgarischen das Wort satra, satar “Zelt” ist [68].

 

 

62. Theophan. 503, 14: ... Κροῦμμος ... ὑπέστρε'ψεν εἰς τὴν ἰδίαν σκηνήν.

63. Liao 432 mit Lit.

64. ebenda und 444

65. Theophan. 436, 23-24

66. Niceph. 71, 8. Hierzu V. Tăpkova-Zaimova, Părvobălgarskoto selište i văprosăt za aulite, in: IIBI 6 (1959), 439-452; I. Venedikov, Αυλή, in: IIBI XVI (1968), 107-113. Über die Bedeutung von χωρία s. Fr. Dölger, Die Stadl 71 mit Anm. 16 und 72

67. V. Beševliev, Die Feldzüge 13-14 und hier S. 220

68. Darüber Menges, Bulgarische Substratfragen 118-119

 

402

 

 

Die meisten von den bisher ausgegrabenen Wohnbauten in Pliska, Madara und Preslav, von denen nur die Grundmauern erhalten geblieben sind, haben ihren Eingang an der Südseite oder sind nach Süden orientiert. Diese Eigentümlichkeiten stehen wohl im Zusammenhang mit dem Eingang der Jurte an der südlichen Wand bei den Mongolen und anderen Nomadenvölkern in Asien und der bevorzugten südlichen Himmelsrichtung.

 

 

   e. Die Bestattungssitten

 

Über die Bestattungssitten der Bulgaren berichtet Pseudo-Masudi folgendes:

 

“Lorsqu’un homme puissant meurt parmi eux, ils rassemblent les domestiques du défunt et les gens de sa suite, et, après leur avoir fait des recommandations, ils les brûlent avec le mort; ils disent: ‘Nous les brûlons en ce monde, mais ils ne brûleront pas en l’autre.’ Ou bien ils creusent un grand caveau où descendent le mort; ils y font entrer avec lui sa femme et les gens de sa suite, et ils les y laissent jusqu’à ce qu’ils soient morts” [69].

 

Fast gleich lautet der Bericht des Al Bekri:

 

“Wenn jemand stirbt, so legen sie ihn in eine tiefe Gruft, und lassen mit ihm seine Frau und seine Sklaven hinabsteigen und sie bleiben dort bis sie tot sind. Es gibt auch solche unter ihnen, welche mit dem Toten verbrannt werden” [70].

 

Der erste Teil des Berichtes von Pseudo-Masudi bezieht sich wohl nicht auf die Bulgaren, sondern auf die Slawen, bei denen die Leichenverbrennung bekanntlich [71] gebräulich war. Sie kam bei den Türkenvölkern selten vor. Zum zweiten Teil des Berichtes lassen sich leicht Parallelen aus anderen asiatischen Völkern anführen. Nach Herodot (IV 71) werden die Skythenherrscher folgendermassen begraben:

 

 

69. bei Marquart, Streifzüge 205

70. ebenda 204

71. A. Brückner, Slawen in Religionsgeschichte II 517 f.; T. Lewicki, Les rites funéraires païens des Slaves occidentaux et des anciens Russes d’après les relations remontant surtout aux IXe-Xe siècles - des voyageurs et des écrivains arabes, in: Folia Orientalia V (1963) Nr. 1-2, 1-74

 

403

 

 

“Wenn ihr König gestorben ist, graben sie eine grosse viereckige Grube in die Erde... Nunlegen sie die Leiche in das Grab auf ein Lager von Laub, stecken Lanzen in die Erde auf beiden Seiten des Leichnams, legen Stangen darüber, und dann machen sie ein Dach von Weidenzweigen. In dem übrigen weiten leeren Raum des Grabes aber erwürgen und begraben sie eins von seinen Kebsweibern, seinen Mundschenk, seinen Koch, seinen Stallmeister, seinen Leibdiener und seinen Berichter, wie auch Pferde und von allen anderen die Erstlinge und goldene Schalen... Wenn sie dies getan haben, schütten sie alle einen grossen Schutt um die Wette auf”.

 

Nach einer chinesischen Quelle wurde ein Herrscher der vorchristlichen Hunnen folgendermassen begraben:

 

“Was eine Bestattung anbelangt, so bekommt er einen Sarg und ein Grabgewölbe, Gold, Silber und Gewänder; aber Grabbäume und Tauergewänder gibt es dabei nicht. Von den Untertanen, die ihm nahestanden, und den bevorzugten Beifrauen folgen ihm in vielen Fällen mehrere zehn oder hundert in den Tod” [72].

 

Ähnlich waren die Begräbnisse der Herrscher der Ch’i-tan [73], des Dschingiskhan [74], der vornehmen Leute bei den Rumänen [75] und den Türken [76]. Ob die bei den Hunnen [77] und Chazaren [78] vorkommende Sitte, ihre Herrscher im Strom zu bestatten, auch bei den Bulgaren vorhanden war, ist ungewiss.

 

Die Bestattung der übrigen, nicht vornehmen Bulgaren war, wie die archäologischen Ausgrabungen in den Gräberfeldern bei Novi pazar, Devnja usw. zeigen, andersartig und einfacher. Der Verstorbene wurde in einen Graben oder selten in einen Sarg auf den Rücken gewöhnlich

 

 

72. De Groot, die Hunnen 60; Kollautz-Miyakawa, Awaren I, 49; II, 140 f.

73. Liao 254 Anm. 27; 258; 279 ff. mit Anm. 199, vgl. Grousset, L’empire 182

74. Grousset, L’empire 309 f.

75. Jean Sire de Joinville, Histoire de Saint Louis Credo et lettre à Louis X sec., ed. Paris 1874, 272 bei B. Munkácsi, A régi magyar lavas temetkezés keleti változatai, in: Ethnographia VII, 309

76. Togan IF 27 § 31. Über verschiedene Begräbnissitten bei den asiatischen Völkern ebenda 138-139

77. Togan IF 264-268

78. ebenda 99 f. 8 96

 

404

 

 

mit den Armen am Körper entlang gestreckt gelegt [79]. Die Lage des Leichnams ist meistens Nord-Süd [80]. Die Verstorbenen wurden mit ihrer Kleidung bestattet, wie die Reste zeigen. Nur in einigen Fällen ist Leichenverbrennung festgestellt [81].

 

Die Totenbeigaben sind verschieden [82]. In das Grab wurden zusammen mit dem Verstorbenen Reitersrüstung, Speer, Säbel, Pferdesattel, Bogen, Feuerstahl und kleine Messer gelegt [83]. Tongeiässe wie Kanne, Topf udgl. fehlen auch nicht [84]. In manchen Gräbern wurden Schädel und Knochen verschiedener Tiere wie Rinder, Schafe, Lämmer, Ferkel sowie Geflügel wie Hühner und Enten gefunden [85]. Dabei befanden sich auch Knochen vom Hirsch, der als Seelentier galt [86]. Nur in einigen Fällen wurde auch ein Pferd mit dem Verstorbenen bestattet [87]. Schliesslich hat man auch Amulette in manchen Gräbern gefunden [88]. Zwei davon sind Adlerkrallen mit Löchern [89]. Die Adlersymbolik war mit dem Schamanismus verbunden [90]. In einem Grab bei Devnja fand man einen gut erhaltenen Menschenschädel unter dem Knie eines ganzen Skelettes [91].

 

 

79. Stančev, Novi pazar 32; Dimitrov, Nekropol Nr. 2,31 und Nekropol Nr. 3, 48-49; Kollautz-Miyakawa, Awaren II 124

80. Stančev, Novi pazar 15; Dimitrov, Nekropol Nr. 2,31 und Nekropol Nr. 3, 49; Kollautz-Miyakawa, Awaren II, 122 ff.; 125

81. Stančev, Novi pazar 28 f.; 35; Dimitrov, Nekropol Nr. 3, 57

82. Togan IF 242 f. Über die Begräbnissitten der Protobulgaren s. noch Z. Văžarova, op. cit. (s. hier Anm. 55) 405-407

83. Stančev, Novi pazar 17; 19; 36, vgl. Kollautz-Miyakawa, Awaren II, 135 und 136

84. Stančev, Novi pazar 17 und 23; Kollautz-Miyakawa, Awaren II, 134 f.

85. Stančev, Novi pazar 17 und 23; vgl. Kollautz-Miyakawa, Awaren II, 134 ff.

86. Stančev, Novi pazar 17; 24 und 28; Kollautz-Miyakawa, Awaren 1,49 ff.

87. Stančev, Novi pazar 17; 27; 36, vgl. Kollautz-Miyakawa, Awaren II, 128 ff.

88. Stančev, Novi pazar 17; 25 f.; vgl. Kollautz-Miyakawa, Awaren II, 140

89. Stančev, Novi pazar 26

90. Gy. Moravcsik in BZ 50 (1957), 481 f. und die dort besprochene Arbeit J. Werner, Beiträge zur Archäologie des Attila-Reiches, Bayer. Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Abhandlungen N.F. 38 A-B, München 1956 das Kapitel “Adlersymbolik und Totenkult”.

91. Dimitrov, Nekropol Nr. 3, 50

 

405

 

 

Dieser Schädel war wohl der Kopf des Sklaven, der seinem toten Herrn auch im Jenseits weiter dienen sollte, oder die Kopftrophäe eines getöteten Feindes. Sowohl aus der Beschreibung der Bestattungssitten in den arabischen Quellen als auch aus den Totenbeigaben geht klar hervor, dass die Bulgaren an ein Jenseits glaubten. Einzelnheiten darüber sind unbekannt.

 

Nach der 100. Antwort pflegten die Bulgaren die in der Schlacht Gefallenen in die Heimat zurückzubringen, wenn ihre Eltern oder Gefährten es wünschten, und sie dort zu begraben [92]. Diese bulgarische Sitte könnte man eventuell mit dem Brauch der vorchristlichen Hunnen verbinden, wonach derjenige, der die Leiche eines in der Schlacht gefallenen wegtragen konnte, sein Erbe wurde und seinen Besitz bekam [93]. Hier dürfte ein anderes Moment jedoch die Hauptrolle gespielt haben. Nach dem Glauben der Türkvölker wird derjenige der in einer Schlacht getötet, wurde Diener bzw. Sklave seines Mörders im Jenseits [94]. Durch das Wegtragen der Leiche von dem Schlachtfeld wird dem Gefallenen diese Schande erspart, und er kann in der Heimat die ihm gebührende Achtung geniessen.

 

In fünf Gräbern bei Devnja fand man nur Schädel [95]. Das waren wohl die Köpfe der in der Schlacht gefallenen Krieger, von denen der wichtigste Körperteil in die Heimat gebracht wurde [96]. In demselben Gräberfeld bei Devnja wurden auch fünf Kenotaphe entdeckt [97], die wohl auch im Zusammenhang mit der Sitte stehen, die Leichen der in der Schlacht gefallenen in ihre Heimat zurück bringen.

 

 

92. Responsa 100: “Qui in proelio defunctus fuerit, utrum reportandus ad propria sit, si parentes eius aut socii eius voluerint”.

93. De Groot, Die Hunnen 61 : ‘Wer aus dem Kriegsgetümmel einen Toten hinwegträgt, dem wird dessen Habe zugewiesen.” J. Deguignes, Histoire 1 2, 15: Celui qui pouvait enlever le corps de son camarade tué dans un combat, devenoit son héritier et s’emparoit de son bien.

94. Togan IF 242

95. Dimitrov, Nekropol Nr. 3, 50

96. Kollautz-Miyakawa, Awaren II, 271-281

97. Dimitrov, Nekropol Nr. 3, 50

 

406

 

 

Sie können allerdings auch für Leute bestimmt gewesen sein, die in der Fremde gestorben sind oder deren Leichnam irgendwie verloren gegangen ist. Unter den uns zugekommenen Gedenkinschriften Verstorbener oder im Kriege gefallener Bulgaren befinden sich zwei, die für die Ertrunkenen in den Flüssen Dnjepr und Theiss aufgestellt worden waren [98]. Sie standen vermutlich auf Kenotaphen. Dieser Schluss ist jedoch nicht zwingend, wenn man die Sitte berücksichtigt, die Leichen der in der Schlacht gefallenen in die Heimat zurückgebracht wurden, und dass es sich um Adlige handelte, deren Leichen man unschwer auffischen konnte. Es steht auch nicht fest, ob die Gedenkinschriften auf Gräbern gestanden haben. Diese Inschriften sind mit einer einzigen Ausnahme auf Säulen eingemeisselt, die den Gedanken nahelegen, dass sie als Ehreninschriften in der Hauptstadt aufgestellt wurden.

 

Nach dem 100. Antwort schütteten die Bulgaren auf dem Grab des Verstorbenen einen Hügel auf [99].

 

In einem Hügel bei dem Dorf Indže (j. Zlatna niva, Kr. Surrten) fand man zwei Steinstatuen eine männliche und eine weibliche, in der Art der sog. Kamenni babi [100], die (Abb. 28) die in Nord-Asien besonders viel anzutreffen sind [101]. Nach Ibn Fadlan wurden sie bei den Türken aus Holz nach der Zahl der von dem Verstorbenen getöteten Feinden geschnitzt,

 

 

98. Beševliev, PI Nr. 58 und Nr. 59. Hierzu Gabain, Inhalt 550: “Es ist nicht klar, wie die Opferfeier gestaltet wurde, falls der Verstorbene in der Ferne, etwa auf einem Feldzug oder auf einer diplomatischen Mission, umgekommen war, so dass seine Leiche nicht in der Heimat beerdigt werden konnte. Jedenfalls wurde auch in einem solchen Fall ein Ewiger errichtet, denn es galt als schweres Unglück, ohne Totenopfer (γογ) irgendwo auf dem Weg liegen zu bleiben”.

99. Responsa 100: “... ad propria reportandus est mortuus, ut eius tumulum intuentes e proximo recordentur ipsius...”

100. Kr. Mijatev, Madarskijat konnik, in: IAI V (1928-1929) 108-110; Fehér, Les monuments 89-102

101. Granö, Nordwestmongolei 48-50; Tryjarski, Mongolie 127-129; Fehér, Les Monuments 86-89; Kollautz-Miyakawa, Awaren II, 159

 

407

 

 

auf dessen Grab sie aufgestellt wurden [102], um ihm im Jenseits zu dienen. Die Forscher sind sich jedoch über den Zweck und Sinn der Kamenni babi nicht einig [103].

 

In der Umgebung von Pliska, in nördlicher, südlicher und östlicher Richtung, befinden sich mehrere Gruppen von grossen Steinblöcken, die man türkische Devtašlar nennt (Abb. 29-32). Die Steine sind in regelmässigen und unregelmässige Gruppen gesetzt. Die regelmässigen Gruppen bilden Rechtecke von 5, 7 und 9 Reihen, die anscheinend nach Osten orientiert sind, und selten Kreise. Hier und da fehlen jetzt manche Steine. Die Steine haben 1, 5 bis 2 m Höhe [104]. Um fast alle Steine der Gruppe “Janak eri” wurden bei Ausgrabungen auf ihrer Ostseite Knochen von Pferden, Rindern, Wildschweinen und Lämmern gefunden. Einzelne Menschenknochen kamen auch zum Vorschein. Auf einem Stein ist das Zeichen 17 eingegraben [105]. Auch um die Dörfer Isbul, Carev brod, Makak, Zlatna niva und zwischen den Dörfer Gradnica und Kamenna gab es Devtašlar.

 

Ähnliche Steindenkmäler sind auch aus der Mongolei und aus Schweden bekannt, die jedoch den Devtašlar nicht ganz genau entsprechen. In der Mongolei sind manche Grabhügel von einer quadratischen, Parallelogrammoder Kreisförmigen Steinsetzung umgeben [106]. In denselben Gegenden, wo Grabhügel anzutreffen sind, befinden sich oft auch Steinsetzungen oder -zäune, die mit den Gräbern nicht Zusammenhängen. Sie bilden entweder zwei parallellaufende Reihen oder einen Kreis, ein Viereck oder mehrteilige Gruppen [107]. In Schweden gibt es ebenfalls zahlreiche Steinsetzungen, die aus einem Kreis von mehreren grossen Steinen bestehen.

 

 

102. Togan IF27 § 31; 139-140; 242

103. Tryiarski, Mongolia 127-129 mit Lit.

104. K. Škorpil, Megalitičeskie pamjatniki, in: IRAIK X (1905), 372-384; E. Kalinka, Antike Denkmäler in Bulgarien, Wien, 1906, 16; K. Jireček in Arch. slav. Phil XXI (1899), 612; Fehér, Les Monuments 117-120

105. St. Mihailov, Novi danni za devtašlarite okolo Pliska, in: Arheologija IV (1962) 2, 11-16

106. Granö, Nordwestmongolei 11-15; Tryjarsky, Mongolia 126

107. Granö, Nordwestmongolei 28-31

 

408

 

 

Sie werden Richterkreise genannt. Die Ausgrabungen haben gezeigt, dass sie Gräber von V.-IX. Jh. sind [108]. Verschieden davon ist der sog. Thingplatz oder Thingstätte, der eine viereckige Steinsetzung darstellt. Sie hat nach A. Norden einen Rahmen von Baumstämmen getragen, auf denen die Thingleute sassen. Dort wurden Gerichte gehalten. Bei den Ch’i-tan wurden Erde und Steine auf den Platz versammelt, wo die Investiture ihrer Kaiser stattfanden [109].

 

Schon K. Škorpil [110] hat die Meinung ausgesprochen, dass die Devtašlar Gräber waren. Diese allgemein geäusserte Vermutung, die im Hinblick auf die Steinsetzungen in der Mongolei und in Schweden richtig zu sein scheine, ist jedoch nicht befriedigend. Denn sie lässt die Frage offen, ob sich je ein Grab unter jedem Stein befindet oder ob die ganze Gruppe zu einem einzelnen Grab gehört. Falls das Letztere zutrifft, dann entsteht die Frage, was die einzelnen Steine zu bedeuten haben, in welcher Beziehung sie zu dem Grab stehen, und wer in einem derartigen imposanten Grab bestattet sein mag. Eine befriedigende Antwort auf diese Fragen gibt anscheinend das Folgende. Beide Grabanlagen, die im Jahre 733 von Kültegin und aus dem Jahre 735 von König Bilgä errichtet wurden, waren “von einem Erdwall umgeben, der nach Osten zu eine Öffnung hatte. Von dieser Öffnung aus zog sich eine 4 1/2 km lange Reihe von ganz rohen, zum Teil völlig unbehauenen Steinen hin, die gewiss die Verkörperung erschlagener Feinde (balbal) bedeuteten”. “Die balbals sind, wie schon erwähnt, wenig oder gar nicht bearbeitete, aufrecht gestellte Steine, die etwa dort, wo man sich das Schulterblatt in solchem ungestalteten Stein vorsteilte, zuweilen die Inschrift bibl tragen....

 

 

108. T. J. Arne, Domarringarna äro gravar (= Die “Richterkreise” sind Gräber), in: Fornvännen 33 (1938), 165-177; K. E. Sahlström, Undrsökning av domarringar i VI stergötland (= Untersuchungen von Richterkreisen in Västergötland), in: Fornvännen 38 (1943), 327-356; B. Nerman, Arkeologisk datering av Listeroch Listerbysterarna (= The Lister and Listerby Stones. Dating on Archaeological Grounds), ebenda 48 (1953), 178-199

109. A. Norden, Tingfjäl och bäsing (= Eine Studie über die Einrichtung einer “rätter tingstad”), ebenda 33 (1938), 283-300; Lias 275

110. Škorpil, op. cit. 384

 

409

 

 

Aus dem Text der grossen Inschriften wissen wir, dass man meinte, einen Feind, den man im Kampf überwunden hat, zu balbal-Diensten im Jenseits zwingen zu können. Der Sieger konnte ihn auf sein eigenes Grab setzten lassen, er konnte ihn aber auch einem anderen für dessen Grab schenken. Der erste unter den balbals war der ärgste oder der mächtigste Feind des Siegers” [111]. Beiden Devtašlar fanden wohl auch die Begräbnisriten oder Totenfeiern statt.

 

 

   f. Militaria

 

An den besonders kritischen Schlachten nahmen ausser Männer auch Frauen teil. So haben die Bulgaren nach Fragmenten Vaticanum auch die Frauen wie Männer zum Kampf gegen den eingefallenen Kaiser Nikephoros 811 bewaffnet [112]. Prokop berichtet, dass die Rhomäer nach einer Schlacht mit den Hunnen (= pannonischen Bulgaren?) unter den gefallenen Männern auch Frauenleichen gefunden haben [113]. Von der Teilnahme der Frauen an den Schlachten meldet auch Pseudo-Masudi “Lorsqu’ils se disposent à combattre, ils se forment en lignes, ils placent les archers devant et, derrière, ils entassent leurs femmes et leurs enfants” [114]. An den Kriegszügen der Bulgaren nahmen auch die Slawen [115] und die Awaren [116] teil, entweder als Verbündete oder als Söldner.

 

 

111. Gabain, Inhalt 540-541 und 549

112. Vat. Frg. 434, 50-436, 51; Οἱ Βούλγαροι... καὶ τὰς γυναῖκας ἀνδρικῶς καθοπλίσαντες...

113. Procop. Bella 498, 9-14

114. Marquart, Streifzüge 205

115. Theophan. 374,7; Niceph. 69, 15: ἔχων εἰς συμμαχίαν καὶ Σκλαβηνῶν οὐκ ὀλίγα πλήθη. Vat. Frg. 434, 50: οἱ Βούλγαροι... μισθωσάμενοι... καὶ τὰς πέριξ Σκλαβηνίας.

116. Vat. Frg. 434, 50: μισθωσάμενοι Ἀβάρους...; Scriptor incertus 347, 12-13: ὁ Κροῦμος ἐστράτευσεν λαὸν πολὺν συναθροίσας καὶ τοὺς Ἀβάρεις καὶ πάσας τὰς Σκλαβινίας.

 

410

 

 

Die Deserteure und diejenigen, die sich weigerten, zu kämpfen wurden streng bestraft [117].

 

Die bulgarische Kriegsfahne war ein Rossschweif (s. hier S. 359). Die auf Steinblöcken eingeritzten Reiter aus Preslav halten Speere mit zweizipfligen Wimpleln (Abb.). Die Pferde waren mit Saumsattel [118], Steigbügel [119], Zaum und Zügel [120] ausgerüstet.

 

Die Bewaffnung der Bulgaren bestand nach den protobulgarischen Inventarinschriften aus Helmen (κασίδια, protbulg. τωυλσχη) und Harnischen (λωρίκια, protbulg. κυπε), die zwei Arten waren: Schuppenharnisch (protbulg. εστρωγην κυπε), Kettenpanzer (protbulg. αλχαση κυπε oder protbulg. χωυμσχη κυπε). Scriptor incertus berichtet ausdrücklich, dass das bulgarische Heer Panzer trug [121]. Die in den Miniaturen und auf den Steinen dargestellten Krieger haben ausserdem noch einen langen Speer, ein Schwert, einen Bogen, einen runden Schild, einen Pfeilköcher, eine Axt und einen Helm mit seitlichen [122] Gehängen. Die Bulgaren gebrauchten auch ein Lasso [123]. Sie hatten ferner verschiedene Kriegsmaschinen, die ein aus Byzanz zu ihnen übergelaufener Araber sie bauen lehrte [124]. Scriptor incertus berichtet, dass Krum für seinen gegen Konstantinopel (814) geplanten Feldzug viele und

 

 

117. Responsa 22: “Circa hos, qui, quando ad pugnam contra hostes proceditis, fugam arripiunt, si non misericorditer praeveniat compassion, saltem legum temperetur severitas”. 23: “De his, quibus iussum est contra hostes progredi et iussioni parrre contemnunt, eadem suademus.”

118. Beševliev, PI Nr. 51, S. noch Liao 524, Altheim, Hunnen IV 57

119. Liao 18 und besonders 505-508 und Anm. 10; 524; Grousset, L’empire 37 Anm. 1

120. Stančev in Sammelband “Madarskijat konnik" 196 f.

121. Scriptor incertus 346, 14: ἐξῆλθον οἱ Βούλγαροι χιλιάδες τριάκοντα ὁλοσίδηροι.

122. Stančev in Sammelband “Madarskijat konnik” 195 f. und Novi pazar 17 ff.

123. Vita Ioanicii, in ASS, Novembris IV, Bruxelles 1894, 386 C: ... ὡς καὶ αὐτὸν ἤδη τὸν βασιλέα ὑπό τινος μηχανήματος σωκισθέντα ὑπὸ χείρας ἁλόντα ἕλκεσθαι καὶ κραθεῖσαι ὑπὸ τῶν ἀσεβῶν ἐκείνων... Ἰωαννίκιος ... εὐθαρσῶς εἰς μέσον αὐτῶν εἰσεπήδησε καὶ τὴν παγίδα ἐκείνην... τῷ ξίφει τάχιστα διατέμνων τὸν μὲν βασιλέα παραδόξως διέσωσεν.

124. Theophan. 498, I I

 

411

 

 

verschiedene Belagerungsmaschinen vorbereitet hatte [125].

 

Bei den Bulgaren war es Sitte, wie die 40. Antwort des Papstes Nikolaus I. mitteilt, dass der Herrscher vor einem Kriegszug einen sehr treuen und klugen Mann sandte, der alle Waffen, Pferde und die für den Krieg notwendige Ausrüstung überprüfen, und denjenigen, bei dem sich erwies, dass er fahrlässig vorbereitet war, mit dem Tode bestrafen sollte [126]. Zur schnellen Orientierung über die Waffenbestände und zu ihrer Kontrolle, dienten die protobulgarischen Inventarinschriften (s. hier S. 449), die wohl an gut sichtbaren Stellen der Festungen standen. Eine ähnliche Inspektion des Heeres vor einem Krieg existierte auch bei den Ch’i-tan [127]. Die Bulgaren unternahmen die Feldzüge an bestimmten Tagen und Stunden (s. hier S. 382-383).

 

Nach Pseudo-Masudi war jeder befestigte Platz in Bulgarien von Palisaden und einem Graben umgeben [128].

 

Die bulgarischen Staatsgrenzen wurden streng bewacht. Niemand, weder ein Freier, noch ein Sklave, durfte sie überschreiten. Die Wächter, die das zuliessen, wurden auf der Stelle mit dem Tode bestraft [129].

 

 

   g. Ackerbau, Viehzucht, Industrie und Handel

 

Nach dem anonymen persischen geographischen Werk Hudud al-Alam hatten die Bulgaren Felder und eine grosse Anzahl Vieh [130].

 

 

125. Scriptor incertus 347, 13 ff.

126. Responsa 40: “Consuetudinem patriae vestrae perhibetis inesse, ut, priusquam ad pugnam progredimini, mittatur a dominatione vestra fidelissimus et prudentissimus vir, qui cuncta arma et caballos et quae necessaria pugnae existunt consideret; et, apud quem inutiliter praeparata inventa fuerint, capite punitur.”

127. Liao 561

128. “Chaque place forte, chez les Bordjân, est entourée d’une haie que longe et que surmonte une sorte de réseau en bois, ce qui constitue une défense analogue à celle d’une muraille élevée derrière un fossé.” s. Marquart, Streifzüge 205.

129. Responsa 25: “Consuetudinis esse patriae vestrae perhibetis semper custodes inter patriam vestram et aliorum iuxta terminos invigilare ; et si servus aut liber pereandem rustodiam quocumque modo dugerit, sine omni intermissione custodes pro eo interimuntur.”

 

412

 

 

Dass die Bulgaren Ackerbau und Viehzucht betrieben, geht auch aus manchen Antworten des Papstes Nikolaus I. [131] und besonders aus der 89. Antwort hervor. In der letzteren wird das Opfer der Erstlinge erwähnt, das den Viehzucht und Ackerbautreibenden Völkern eigen war (s. hier S. 374). Eine indirekte Nachricht über Ackerbau und Viehzucht bei den Bulgaren findet sich im Fragmentum Vaticanum. Laut dieser Quelle äscherte das in Bulgarien eingedrungene byzantinische Heer die noch nicht abgeernten Felder ein, verstümmelte Rinder und schlachtete Schafe und Schweine [132]. Die Wolga-Bulgaren trieben auch Viehzucht und Ackerbau [133].

 

Über die Industrie und die verschiedenen Handwerksbetriebe fehlen besonders schriftliche Nachrichten. Es lässt sich jedoch vermuten, dass zumindest das Eisenschmieden gut entwickelt war, da die Bewaffnung des bulgarischen Heeres das in erster Linie erforderte [134]. Die zahlreichen Funde von kleinen Metallarbeiten wie Schmucksachen, Tongefässen udgl. zeugen von entsprechenden Handwerken.

 

Der Handel war auch gut entwickelt. Das Friedensangebot Krums (812) enthielt eine besondere Klausel über den Handel (s. hier S. 249-250). Diese Klausel zeigt, wie wichtig die geregelten Handelsbeziehungen zwischen Bulgarien und Byzanz für die Bulgaren waren.

 

 

130. V. Minorsky, 158 § 42: “The Bulghari are mountaineers, possessing fields and great numbers of cattle.”

131. Response 10: “Dominicorum vero die a labore terreno cessandum est.” 11: “In quorum apostolorum vel martyrum sive confessorum atque virginum diebus festis a labore terreno recedere debeatis, inquiritis.” 31: “Circa fures animalium si non misericordiam, saltem legum edicta serventur." 57: “Graecos vetare perhibetis eunuchos animalia vestra mactare.”

132. Vat. Frg. 434, 40-43

133. Togan IF 60 § 56; 180

134. Scriptor incertus 346, 14 ff.: ... ἐξῆλθον οἱ Βούλγαροι χιλιάδες τριάκοντα ὁλοσίδηροι... παρασκευάζει (= Κροῦμος) διαφόρων ἑλεπόλεων ὄργανα τι καὶ μηχανήματα ... ἐπὶ ἁμαξῶν, ἃς προσέταξεν σιδηρενδέτας χιλιάδας πέντε.

 

413

 

 

Die Bulgaren führten Salz [135], Leinen und Honig aus [136]. Sie trieben auch Sklavenhandel [137]. Aus Byzanz wurden wohl teure Seidengewänder, Leder und verschiedene Gewürze und Delikatessen, die in Bulgarien nicht vorhanden waren bezogen.

 

Nach Pseudo-Masudi hatten die Bulgaren kein eigenes Geld. Sie schlossen alle Geschäfte auch die Ehe gegen Bezahlung mit Rindern und Schafen ab (“Les Bordjân ne connaissent ni deniers ni dirhems; toutes leur transactions, ainsi que les contrats de mariage, se font au moyen de boeufs et de moutons”, bei Marquart, Streifzüge 205. Über ähnliche Heiratsbräuche bei den Türken, s. Togan IF 22 § 23, hierzu S. 128-129. Das wird durch die archäologischen Ausgrabungen bestätigt. Man hat bisher keine Münze von dem ersten Bulgarischen Reich gefunden. Die Bulgaren bedienten sich wohl des byzantinischen Geldes.

 

 

   h. Das Strafrecht

 

Über das Strafrecht wie überhaupt über die Rechtsgebräuche der Protobulgaren geben die Quellen wenig Auskunft. Nach dem Pseudo-Masudi [138] musste ein Sklave, der einen Fehler gemacht hatte, sich vor seinem Herrn auf den Boden werfen und dieser schlug ihn, soviel er wollte. Wenn sich der Sklave jedoch ohne Erlaubnis erhob, war der Tod ihm gewiss. Ein entlaufener Sklave, der gefasst wurde, und ein Sklave, der seinen Herren verleumdete, wurde nach der 21. und der 97. Antwort mit schweren Strafen bestraft, über die die Antworten jedoch nichts mitteilen [139].

 

 

135. Annales Fuldensis (MHGSSI) Anno 892 (S.408): ne coemptio salis inde Maravanis daretur exposcit

136. J. Nikole, Le Livre du préfet, Genève 1893, 40: Ἐὰν διὰ ἐθνῶν τύχον Βουλγάρων... εἰσέλθῃ πραγματεία λινῶν ἢ μέλιτος.

137. Pseudo-Masudi bei Marquart, Streifzüge 205: “Lorsque la paix est conclue entre eux et les Roumis, ils envoient aux Roumis de jeunes esclaves des deux sexes, slaves ou d’une race analogue.”

138. s. Marquart, Streifzüge 205

139. Responsa 21: “Si servus a domino fugiens recesserit, si comprehens fuerit, ignoscendum est ei; alias autem legum scita non transcendantur in eo." 97: “Similiter et de servo, qui dominum suum apud principes accusat, custodiendum est.”

 

414

 

 

Die von Krum in Gefangenschaft geführten Geistlichen und Laien, die sich weigerten dem Christentum abzuschwören oder während der Fastenzeit Fleisch zu essen, erlitten die Todesstrafe [140]. Besonders grausam bestrafte man Manuel, den Erzbischof von Adrianopel, der anscheinend davon beschuldigt wurde, ein todeswürdiges Verbrechen begangen zu haben. Man hat ihm zuerst die Arme abgeschlagen, dann seinen Leib in zwei Teüe gespalten und den Flunden zum Frass vorgeworfen [141]. Das Zerstückeln als Todesstrafe existierte auch bei Ch’i-tan für schwere Verbrechen wie Aufstand [142].

 

Eine strenge Strafe wurde auch den Rhomäern auferlegt, die in bulgarischem Dienst waren oder sich in Bulgarien aufhielten, nachdem sie ein schweres Verbrechen begangen hatten. Die byzantinischen Strategen Leon und Johannes, die bei den Bulgaren in Militärdienst getreten waren (s. hier S. 273), wurden niedergeschlagen [143], da sie anscheinend des Verrates beschuldigt wurden. Ein Rhomäer, der sich als Presbyter ausgab, wurde auch schwer bestraft:

 

 

140. E. Auvray, Theodori parva cathechesis, Paris 1891, 220, 1 (-223,5):

 

... ἐν τῇ Βουλγαρίᾳ, ὡς ἀπήγγειλαν οἱ ἀκριβῶς εἰδότες, ἐζῆλθε δόγμα πονηρὸν παρὰ τοῦ ἐκεῖσε κρατοῦντος · τοὺς ἐν αἰχμαλωσία χριστιανοὺς καὶ ἀδελφοὺς ἡμῶν κατὰ τὰς ἡμέρας τῆς ἁγίας τεσσαρακοστῆς κρεωφαγῆσαι· καὶ πειθομένους μὲν ἔχειν τὸ ζῆν, ἀπειθοῦντας δὲ ἀποκτέννεσθαι.

 

Synaxarium 415, 15 f.:

 

Μουρτάγων ... ἅπαντας τοὺς χριστιανοὺς μὴ πειθομένους τὸν Χριστὸν ἀρνήσασθαι, ἐξ ἀνθρώπων ποιεῖ, καὶ οὓς μὲν δεσμοῖς καὶ στρεβλώσεσιν ὑποβάλλων, οὓς δὲ ἀπανθρώποις κακίαις τιμωρούμενος, τῆς παρούσης ζωῆς ἀπερρήγνυε.

 

Menologium Basilii 276 D f.:

 

... συνήγαγε πάντας τοὺς κρατηθέντας Χριστιναούς, στρατηγούς, πρεσβυτέρους, διακόνους καὶ λαϊκούς, καὶ κατηνάγκασεν ἀρνήσασθαι τὸν Χριστιανισμόν... καὶ μὴ πεισθέντας, τοὺς μὲν ἀπεκεφάλισε, τοὺς δὲ διαφόρως τιμωρησάμενος καὶ ἀνηλεῶς ἐφόνευσεν

 

hierzu Beševliev, Hagiographische Quelle 90-104

 

141. Synaxarium 415, 11 f.; Menologium 276 D

142. Liao 400; 412; 423; 466; 496 und 594

143. Synaxarium 416, hierzu Beševliev, Hagiographische Quelle 100 ff.; F. Halkin in Anal Boll. 70 (1952), 131

 

415

 

 

man hat ihm die Nase und die Ohren abgeschnitten, ihn geprügelt und aus Bulgarien ausgewiesen [144].

 

Schwere Strafen wurden nicht nur den Sklaven, Kriegsgefangenen und Ausländern, sondern auch den freien Männern auferlegt, wenn sie sich strafbar machten. Wenn ein freier Mann gefasst wurde, der aus seiner Heimat geflohen war, erlitt er eine unbekannte Strafe [145].

 

Die Todesstrafe wurde über diejenigen verhängt, die einen Verwandten getötet hatten [146]. Uns nicht bekannte, jedoch sehr schwere Strafen wurden denjenigen auferlegt, die ihre Gefährten zu Tode brachten [147], die bei einer fremder Frau ertappt wurden [148], die sich an Blutsverwandten vergriffen [149] und die unwillkürlich einen Menschen töteten [150]. Bei den Wolga-Bulgaren [151] und den Oguzen [152] stand grausame Todesstrafe auf Ehebruch. Die Wolga-Bulgaren [153] bestraften auch diejenigen mit Tode, die aus Versehen jemanden getötet hatten.

 

 

144. Responsa 14: “Praeterea indicatis, quod quidam Graecus mentiens fateretur se presbyterum esse, cum non esset, ac per hoc plurimos in vestra patria baptizasset. Cum ergo ... cognovissetis, quod non esset presbyter, iudicaveritis, ut amitteret aures et nares et acerrimis verberibus caederetur et ex vestra patria pelleretur”. 16: "... quia etsi poena dignus erat, non tarnen debuistis modum uitionis excedere nec in unum hominem tot et iam crudelia detrimenta congerere, cum dimissis ei naribus et auribus propriis sufficeret ad poenam illi repulsio a patria vestra, quam cum detrunctione membrorum iudicantibus vobis expertus est.”

145. Responsa 20: “Quid de homine libero iudicandum sit, qui de patria sua fuga lapsus fuerit, si comprehendatur?”

146. ebenda 26: “De his, qui proximum, id est consanguineum suum, ut est frater, consobrinus aut nepos, trucidaverint, venerandae leges proprium robur obtineat. Sed si ad ecclesiam convolaverint, mortis quidem legibus eruantur.”

147. Responsa 27: “De his, qui socium suum morti tradiderint, id ipsum quod supra decernimus.”

148. Responsa 28: “de eo, qui ad uxorem alterius comprehensus fuerit, quid iudicandum sit...”

149. Responsa 29: “Similiter et de eo censemus, qui ad proximum sanguinis sui ingreditur.”

150. Responsa 30: “De eo, qui nolens hominem interfecerit, id statuimus.

151. Togan IF 66 § 67

152. ebenda 21 § 21, hierzu S. 128

153. ebenda 64 § 64

 

416

 

 

Streng, aber mit uns nicht bekannten Strafen, wurden auch die Protobulgaren bestraft, die Vieh stahlen [154] oder Frauen oder Männer entführten [155]. Bei den Wolga-Bulgaren und den Tataren wurden die Diebe mit dem Tode bestraft [156].

 

Die Frauen, die ihre Männer schlecht behandelten, sie verleumdeten oder Ehebruch begingen, wurden verlassen [157]. Bei den Wolga-Bulgaren wurden jedoch die Ehebrecherinnen mit dem Tode bestraft [158].

 

Bestraft wurden auch diejenigen, die kastrierten [159], die falsch anklagten [160] und die jemandem Gift gaben [161]. Unsere Quelle teilt die Art der Strafen nicht mit. Es waren vermutlich Todesstrafen. Bei falscher Anklage lässt sich das mit Bestimmtheit behaupten, da die sog. Gesetze Krums (s. hier S. 262) diese Strafe dafür vorsahen.

 

Die Anführer (primates) der Aufständischen und die Vornehmen (maiores), die sich gegen den Bulgarenherrscher Boris wegen der Bekehrung zum Christentum erhoben hatten, wurden mit dem Tode bestraft und ihr ganzes Geschlecht mit dem Schwerte ausgerottet [162].

 

 

154. Responsa 31: “Circa fures animalium si non misericordia, saltem legum edicta serventur.”

155. Responsa 32: “Similiter de his, qui virum aut feminam rapuerint, permittimus.”

156. Togan IF 67 § 67; 189

157. Responsa 96: “Quidcquid mulier tua contra te cogitaverit aut fecerit vel si te accusaverit, non est excepta causa fornicationis reicienda vel odio prorsus habende.”

158. Togan IF 66 § 67

159. Responsa 52: “Si nosse desideratis, quid de his, qui quemlibet eunuchizant, iudicandum sit...”

160. Responsa 84: “requirendum a nobis ducitis, quid de eo iudicandum sit, qui quemlibet falso criminatus fuerit et postmodum accusator fallax apparuerit.”

161. Responsa 85: “Ergo similiter et circa eum, de quo sciscitamini, qui mortiferam quid homini dederit ad bibendum, vos ad misericordiam exhortamur.”

162. Responsa 17: “...qualiter autem illi, postquam baptizati fuerunt, insurrexerint unanimiter cum magna ferocitate contra vos, dicentes non bonam vos eis legem tradidisse, volentes etiam vos occidere et regem alium constituere, et qualiter vos divina coopérante potentia adversus eos praeparati a maximo usque ad modicum superaveritis et manibus vestris detentos habueritis qualiterque omnes primates eorum atque maiores cum omni proie sua gladio fuerint interempti, médiocres vero seu minores nihil mali pertulerint.”

 

417

 

 

Die Strafgesetze der Tu-kiu (=Türken) sahen [163] nach den chinesischen Annalen die Todesstrafe vor für Aufstand, Verrat, Tötung, Ehebruch und Diebstahl eines gefesselten Pferdes. Für eine körperliche Beschädigung zahlte man mit Sachen, je nach der Bedeutung derselben. Für Diebstahl eines Pferdes oder eines anderen Dinges zahlte man den zehnfachen Preis desselben. Ähnliches teilt auch J. Deguignes [164] mit: “La mort étoit le supplice de celui qui avoit fait un meurtre ou un vol considérable”.

 

Die Geständnisse wurden bei den Bulgaren auch erzwungen. Nach der 86. Antwort [165] wurde der Dieb oder der Räuber, der seine Schuld nicht gestehen wollte, von dem Richter so lange mit der Peitsche auf den Kopf geschlagen und von einem Bedienten des Richters mit einem eisernen Spiess in die Rippen gestochen, bis er gestand.

 

 

   i. Die Orientierung nach Süden und die Ehrenseite

 

Die bisher ausgegrabenen und publizierten protobulgarischen Gräber der Nekropole bei Novi pazar und Nr. 3. bei Devnja sind fast alle nach Nord-Süden orientiert, wobei der Schädel des Skeletts sich in der Nordecke des Grabes befindet [166]. Das Gesicht des Verstorbenen war also nach Süden gewandt. Dieselbe Orientierung haben auch die meisten Wohnbauten in Pliska, Madara und Preslav oder ihre Eingänge sind an der südlichen Seite [167].

 

 

163. Radloff, Aus Sibirien I, 130.

164. Histoire I 1, 14

165. Responsa 86: “Si fur vel latro deprehensus fuerit et negaverit, quod ei impingitur, asseritis apud vos, quod iudex caput eius verberibus tundat et alias stimulis ferreis, donec veritatem depromat, ipsius latera pungat.”

166. Stančev, Novi pazar 14 f.; Dimitrov, Nekropol Nr. 3, 49 und 50

167. V. Beševliev, Zur Orientierung der protobulgarischen Gebäude, in: INM-Varna X(1974), 103-109

 

418

 

 

Die Orientierung Nord-Süd war die bevorzugte Richtung bei den vorchristlichen Hunnen [168], Mongolen [169], Tungusen [170], dem Geschlecht Yao-lien [171] bei den Ch’i-tan, den Usbeken [172], Ostseefinen [173], Iraniern [174] u.a. Der Eingang der Jurte ist bei den Mongolen und Tungusen nach Süden gerichtet und Süden gilt als Vorderseite [175].

 

Diese Himmelsrichtung wurde auch von den Protobulgaren bevorzugt, wie die Gräber und Wohnbauten zeigen. Das Reiterrelief bei Madara ist auch nach Süden gewandt. Dass diese Orientierung bewusst geschah, zeigen die Sitten der Ch’i-tan. In der Regenzauberzeremonie ritt ihr Herrscher gegen Osten. Derselbe brachte dem Osten bei manchen Gelegenheiten Opfer dar [176], da die Ch’i-tan die östliche Richtung hochachteten. Bei ihnen sind gewönlich sowohl die Fenster als auch die Türen der Hütten, Häuser, Zelte und Zeltwagen nach Osten gewandt [177]. Die Himmelsrichtung Osten wurde auch von den Hunnen, Orkhon-Türken, Ujguren, Jakuter u.a. bevorzugt [178].

 

Bei den Völkern, bei denen die östliche Himmelsrichtung massgebend war, galten die Rechte als Ehrenseite [179], während diejenigen, die südliche Himmelsgegend bevorzugten, die Linke als Ehrenseite ansahen.

 

 

168. Bleichsteiner, 199; Über die Orientierung bei den Türkvölker s. noch Gabain, Inhalt 541-542

169. ebenda 182; Alföldi, Doppelkönigtum 517

170. Bleichsteiner 197

171. Liao 65 Anm. 30; 267

172. Bleichsteiner 182

173. ebenda 197            174. ebenda            175. ebenda

176. Liao 167; 266; 267

177. ebenda 266 Anm. 120; 267 mit Anm. 130. ln der Anm. 34 auf S. 397 angeführten chinesischen Kompilation S. 50 ist folgende Stelle bemerkenswert: “Der Osten gilt als die vornehmste Himmelsrichtung im Volksglauben der Jui-jui. Deshalb wurden alle Eingänge und Sitze der Zelte nach Osten gerichtet.” S. noch A. Kollautz, Die Ritzzeichnungen von Nosa, Zbornik radova “Problemi seobe naroda u Karpatskoj kotleni”, Novi Sad 1978, 137-138.

178. Bleichensteiner 190 f.

179. ebenda 191

 

419

 

 

Auch bei den Wolga-Bulgaren war die Linke Ehrenseite [180]. Eine Ausnahme bildeten die Ch’i-tan, bei denen die Linke als Ehrenseite galt, obwohl sie die östliche Richtung bevorzugten [181].

 

Bei den Festessen der Türkvölker wurden die Ehrengäste entweder zur Rechten oder zur Linken des Gastgebers, entsprechend der geltenden Ehrenseite, aufgestellt [182]. Bei den Völkern, die die südliche Richtung bevorzugten, lag die Linke, d.h. die Eherenseite, nach Osten. Daher war der Kapkhan Iratais, der nach dem Herrscher die zweite Stelle in der Staatsverwaltung innehatte, nach einer protobulgarischen Inschrift (Nr. 47) der Befehlshaber des östlichen Teiles des Staates.

 

 

   j. Die bulgarische Zeitrechnung

 

Die Protobulgaren bedienten sich bei der Datierung wie viele zentralasiatischen Völker des sog. Zwölftierzyklus [183], dem zufolge jedes Jahr den Namen eines bestimmten Tieres trägt und alle 12 Jahre wiederkehrt. Die Monate wurden mit den Ordinalzahlen bezeichnet. Das Jahr und der Monat bildeten einen Ausdruck, in dem das erste Wort das Jahr und das Zweite der Monat war, z.B, σιγορ ελεμ (Nr. 56) “des Rindjahres erster Monat”. Diese Zeitrechnung ist in der sog. bulgarischen Fürstenliste und in einer protobulgarischen Bauinschrift (Nr. 56) zur Datierung gebraucht [184].

 

 

180. Togan IF 41 § 46; 159-160; Alföldi, DoppeIkönigtum516 f.; s. auch W. Kotwitz, Sur les modes d’orientations en Asie Centrale, in: Rocznik orjentalistyczny, V (1929) 68-91

181. Liao 267

182. Bleichsteiner 181-199

183. Mahmud-al-Kasghari, Diwan lugat at-turk I, 289: “Die Türken verwenden die Namen von 12 Tierarten zur Bezeichnung von 12 Jahren, nach deren zyklischem Ablauf man Geburten, Kriege und anderes datiert.” s. A. Kollautz, Die Awaren, 154 Anm. 105. Über diese Datierung s. Pritsak, Fürstenliste 24-34; Gabain, 107 f. S. noch F. Hirth, Nachworte zur Inschrift des Tonjukuk, in: W. Radloff, Die Alttürkischen Inschriften der Mongolei, NF., Petersburg 1895, 117 ff.; Liao 222; 273 Anm. 184; A. v. Gabain. Alttürkische Datierungsformen, in: UAJ 28 (1955), 193 ff.

184. J. Mikkola, Die Chronologie der türkischen Donaubulgaren, in: Journal de la société Finno-ougriene, 30 (1915) Nr. 33, 1-25; Zlatarski, Istorija I 1, 353-382; G. Fehér, Imennikăt 237-213; O. Pritsak, Die bulgarische Fürstenliste und die Sprache der Protobulgaren, Wiesbaden 1955 mit Lit.

 

420

 

 

Beide Denkmäler überliefern folgende Jahres- und Monatsbezeichnungen. Jahre: somor “Maus” (I), segor oder σιγορ “Rind” (II), vereni “Wolf (?)” (III), dvan “Hase” (IV), dilom “Schlange” (V), teku “Schaf” (VIII), toh “Huhn” (X) und dohs “Schwein” (XII); Monate: alem oder ελεμ (1), vecem (3), tutom (4), altem (6), citem (7), sehtem (8) und tvirem oder tvirim (9).

 

Der Ausdruck eth behti, der in der Nachschrift aus dem Jahre 907 des Mönches Tudor Doksov zu der Übersetzung der Rede des Heiligen Athanasius von Alexandrien gegen die Arianer steht, wird von O. Pritsak [185] als “der fünfte Monat des Hundejahres” gedeutet.

 

Es scheint, dass der Name des Khans auch zur Datierung diente [186], z.B.: τὸ δὲ ὄνομα τοῦ ἄρχοντός ἐστην Ωμουρταγ καν[ν]α συβιγη (Nr. 55), vgl.: ἐπὶ Συμεὼν ἐκ θ(ε)οῦ ἄρχ(οντος) Βουλγάρ(ων) (Nr. 46). Das entspräche wohl den byzantinischen Datierungsformeln wie βασιλείας, βασιλεύοντος, ἐπὶ βασιλέως.

 

In den protobulgarischen Inschriften kommt auch die Datierung nach Indiktionon vor: βουλγαριστὶ σιγορ ελεμ, γρικιστὶ ἰνδικτίονος ιε! Diese Datierungsart ist aus Byzanz entlehnt.

 

 

   k. Das Gastmahl des Bulgarenherrschers

 

Aus einer Stelle bei Theophanes [187] lässt sich entnehmen, dass der Bulgarenherrscher Krum Gastmahle zu geben pflegte, an denen auch die Anführer der Slawen ( = Županen) teilnahmen. Nach Theophylaktos von Achrida [188] veranstaltete Omurtag ein prächtiges Gastmahl nach einem Opfer.

 

 

185. Pritsak, Fürstenliste 58. Vgl. Grumel, Chronologie 308

186. H. Fichtenau, Die Datierung nach dem Herrscher in der Zeit der Völkerwanderung, in: Studi storici in onore di Gabriele Pepe, Bari 1970, 127-148

187. Theophan. 491, 21-22

188. Migne PG 126, col. 193

 

421

 

 

Solche feierlichen Gastmähler erwähnt eine protobulgarische Inschrift aus der Zeit Malamirs [189]. Bei diesen Mahlzeiten sass der Bulgarenherrscher allein ohne seine Frau, wie die 42. Antwort mitteilt, der Sitte gemäss auf einem Sessel an einem Tisch, während die Anwesenden fern von ihm auf Stühlen Platz nahmen und auf dem Boden assen [190]. Eine ähnliche Sitte hatten auch die Parther. Ihr König sass auch allein auf dem Speisesofa, das höher und getrennt von den übrigen aufgestellt worden war [191]. Nach Ibn Fadlan sass der Herrscher der Wolga-Bulgaren ebenfalls allein auf einem mit Brokat gedeckten Thron [192]. Der byzantinische Kaiser hatte auch einen besonderen Sitz bei den Gastmahlen, an denen die Kaiserin nicht teilnahm [193]. Bei den Hunnen sass auf dem Sofa des Königs ( = Attilas) auch noch sein ältester Sohn, jedoch nicht unmittelbar neben ihm, sondern am äussersten Rande [194]. Nach Plano Carpini sass Batu, der Herr der Goldenen Horde auf einem thronähnlichen erhöhten Platz und neben ihm eine seiner Gemahlinnen. Die vornehmen Anwesenden nahmen etwas niedriger auf einer Bank Platz, hinter ihnen sass das übrige Volk auf dem Fussboden [195]. Ähnlich beschreibt Rubrucks das Festessen in dem Palast Möngke Chakans [196].

 

Das Absondern des Herrschers von seinen Tischgenossen hängt wohl mit der Vorstellung von dem göttlichen Ursprung der Königswürde und den damit verbundenen Tabusitten zusammen [197].

 

 

189. Beševliev, PI Nr. 57

190. Responsa 42: “Asseritis, quod rex vester cum ad manducandum in sedili, sicut mos est, ad mensam sederit, nemo ad convescendum, etiam neque uxor eius, cum eo discumbat, vobis procul in sellis residentibus et in terra manducantibus.”

191. F. Jacoby, Die Fragmente der griechischen Historiker, Berlin 1926, 2, 228 Fr. 12 (Poseidonios): παρὰ Πάρθοις ἐν τοῖς δείπνοις ὁ βασιλεὺς τήν τε κλίνην ἐφ’ ἧς μόνος κατέκειτο μετεωροτέραν τῶν ἄλλων καὶ κεχωρισμένην εἶχε καὶ τὴν τράπεζαν μόνωι καθάπερ ἥρωι πλήρη βαρβαρικῶν θοιναμάτων παρακειμένην

192. Togan IF 41 f. § 46

193. Φ. Ι. Κονκονλές, Γεύματα, δεῖπνα καὶ συμπόσια τῶν Βυζαντινῶν, in: ΕΕΒΣ 10 (1933), 152; L. Bréhier, Les institutions 28; 124

194. Priskos, EL 143, 8-9, hierzu Alföldi, Doppelkönigtum 515-516

195. Bleichsteiner 192

196. ebenda 193

 

422

 

 

Nach Poseidonios wurden dem König der Parther die Speisen wie einem Halbgott serviert [198].

 

 

An den feierlichen Gastmahlen des Bulgarenherrschers nahmen die Boilen an erster Stelle Teil [199]. Dann wurden verschiedene angesehene Leute wie die Anführer der Slawen und Bagainen eingeladen. Sie nahmen ihrem Rang gemäss links und rechts von dem Sessel des Khans Platz. In der Antwort des Papstes ist unter dem sedile des Herrschers im Gegensatz zu dem sellae der übrigen Anwesenden, wohl der Thron des Khans zu verstehen. Der Thron war bekanntlich [200] bei den Türkvölkern ein äusseres Zeichen der Macht und Würde des Herrschers und daher besonders prunkvoll.

 

Das Festessen begann bei den Türkvölkern gewöhnlich mit dem umständlichen, zeremoniellen, gemeinschaftlichen Trinken des Kumys oder anderer Getränke [201]. Bei manchen Türkstämmen geht eine gemeinsame Trinkschale der Reihe nach bei allen Anwesenden herum. Bei anderen dagegen bekam jeder Gast einen eigenen Becher. Bei den Wolga-Bulgaren endete das Gastmahl mit dem zeremoniellen Trinken [202]. Das gemeinschaftliche Trinken war ein althergebrachtes, streng gehaltenes Zeremoniell, das zum ersten Mal im 5. Jahrhundert am Hofe von Attila bezeugt ist und sich bei einigen Völkerschaften bis in die Gegenwart erhalten hat [203]. Das gemeinschaftliche Trinken existierte auch bei den Protobulgaren, wie man aus den Worten des Theophanes, dass Krum die Anführer der Slawen aufforderte, aus der aus dem Schädel des Nikephoros verfertigten Trinkschale zu trinken, schliessen darf.

 

 

197. Frazer, Der goldene Zweig 290-292

198. s. Anm. 191

199. Theophyl. Achr. (Migne PG 126, col. 193): Ὀμβριτάγος... πολυτελῆ παρασκευσάμενος τράπεζαν, κελεύει τὸν Κινάμωνα συνανακλιθῆναι καὶ συνεστιασθῆναι τοῖς λοιποῖς ἄρχουσιν: Beševliev, PI Nr. 57

200. Kollautz, Awaren 140 f.; Kollautz-Miyakawa Die Awaren II 9: Togan IF 160-161

201. Bleichsteiner 181 ff.

202. Togan IF 44-45

203. Bleichsteiner 190-197

 

423

 

 

Das Trinken aus dem Schädelbecher war wohl zugleich eine magische Handlung: die übernatürliche Kraft, die die Schale enthielt, sollte auf die slawischen Anführer und die übrigen Anwesenden übergehen. Das gemeinschaftliche Trinken und Essen war im Grunde überhaupt eine magische Handlung, die ein mystisches Band unter den Teilnehmern herstellen sollte. Denn jede Mahlzeit ist nach der Auffassung der primitiven Völker heilig. Das Band der Tischgemeinschaft vereint die Tischgenossen. Die Zulassung zu dem gemeinschaftlichen Mahl bedeutete bei den primitiven Völkern, Aufnahme in den Schutz und die Freundschaft des Stammes. Eine Sitte, die bis in unsere Zeit hineinreicht [204]. Dieselbe Bedeutung hatte auch das gemeinschaftliche Trinken [205].

 

Die Teilnahme an dem Gastmahl des Bulgarenherrschers war also zunächst ein mystisches Band unter den Tischgenossen und dann eine grosse Ehre. Am byzantinischen Kaiserhof wurden bekanntlich der Patriarch, die hohen Würdenträger und die sog. βασιλικοὶ ἄνθρωποι an bestimmten Festen zum Essen eingeladen. Die Teilnehmer an dem Gastmahl bekamen auch Festgaben [206]. Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos berichtet, anlässlich der Erhebung des Kaisers Leon I., unter anderem auch folgendes:

 

καὶ τρέφει ὁ βασιλεὺς ἐν τῷ μεγάλῳ τρικλίνῳ, ἐν μὲν τῷ ἰδίῳ αὐτοῦ ἀκουβίτῳ τοὺς πραιποσίτους καὶ πατρικίους, οὓς βούλεται καὶ τοὺς ἐπάρχους καὶ τὸν μάγιστρον, ἐν δὲ τοῖς ἄλλοις ἀκουβίτοις τοὺς στρατιώτας, οὓς ἂν κελεύσει, ἢ ἄρχοντας στρατιωτικούς [207].

 

Hier ist die Verwendung des Verbums τρέφω bemerkenswert. Der Kaiser ernährt oder bewirtet also seine Gäste. Dasselbe galt auch für den bulgarischen Khan.

 

 

204. Μ. P. Nilsson, Die Griechen, in: Religionsgeschichte II, 293-294; derselbe Geschichte I, 47; 144; F. Pfister, Kultus in RE XI 2171 ff., derselbe. Kultische Mahlzeiten, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart III, 1854-1855

205. F. Pfister, Tacitus und die Germanen, I. Die Kultgelage der Germanen, in: Studien zu Tacitus, Würzburger Studien zur Altertumswissenschft, Heft 9, Stuttgart 1936, 1-15

206. Const. Porph., de cer. 783 ff., Cap. 53, hierzu Bréhier, Les institutions 84 ; 136; 161 f.;

207. Const. Porph. de cer. 416, 10-14

 

424

 

 

Die grosse Ehre von dem Khan ernährt oder bewirtet zu werden, musste selbstverständlich irgendwie bezeichnet und bei manchen Gelegenheiten auch hervorgehoben werden. Daher wird in den protobulgarischen Gedenkinschriften nicht nur der Titel, das Amt und nicht selten das Geschlecht des Verstorbenen genannt, sondern auch diese Ehre als genau so wichtig erwähnt. Der entsprechende Fachausdruck wurde von dem Verbum τρέφω abgeleitet und lautete θρεπτος ἄνθρωπος (μου = τοῦ ἄρχοντος). Er fehlt in keiner der bisher bekannten Gedenkinschriften, θρεπτὸς ἄνθρωπος, das einen einheimischen unbekannten Ausdruck wiedergeben könnte, entspricht dem byzantinischen βασιλικὸς ἄνθρωπος bzw. οἰκεῖος ἄνθρωπος, vgl. ὁ Τουρδατζις ὁ κανδίδατος θρεπτὸς ἄνθρωπός μου in einer protobulgarischen Gedenkinschrift [208] mit Λέων ... ὁ ... κανδίδατος καὶ οἰκεῖος ἄνθρωπος τοῦ κραταιοῦ βασιλέως ἡμῶν in einer griechischen Handschrift [209].

 

Bei den Gastmahlen des bulgarischen Herrschers wurden wie am byzantinischen Kaiserhof auch Festgaben verteilt (s. oben). Ob diese Sitte unter byzantinischem Einfluss stand, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen.

 

 

  l. Die vom byzantinischen Kaiserhof übernommenen Titel und Gepflogenheiten

 

Nach den glänzenden Siegeszügen Krums und vor allem nach der vernichtenden Niederlage des Kaisers Nikephoros I. (811) entstand nun ein mächtiger Staat vor den Toren Konstantinopels, der Ansprüche auf Gleichberechtigung erhob. Omurtag, der bulgarische Herrscher und Nachfolger Krums, sich seiner Machtstellung wohl bewusst, konnte sich nicht mit der einfachen griechischen Bezeichnung ἀρχων begnügen, die ihm das byzantinische Reich eingeräumt hatte und die nicht von den vielen gewöhnlichen byzantinischen Archonten unterschied. Diese Bezeichnung verminderte seine Herrscherwürde auch bei seinen Untertanen und nach aussen hin.

 

 

208. V. Beševliev, Gedenkinschrift, 394-399

209. R. Browning, Notes 390

 

425

 

 

Die Entfaltung reger, politischer und diplomatischer Beziehungen mit anderen Staaten wie dem mächtigen Frankenstaat erforderten eine entsprechende Titulatur, ein entsprechender Hofzeremoniell und Gepflogenheiten. Es war das Nächstliegende bestimmte Formeln und Gebräuche aus der byzantinischen Kaisertitulatur und dem Zeremoniell zu entlehnen oder nachzuahmen. Sie sollten einerseits den bulgarischen Herrscher dem byzantinischen Kaiser gleichstellen, andererseits sein Ansehen sowohl bei seinen Untertanen, als auch bei den Ausländern, die seinen Hof besuchten, erhöhen. Man hat daher manche Formeln und Institutionen des byzantinischen Kaiserhofes und -zeremoniells übernommen oder den ähnlichen, bereits bestehenden bulgarischen gleichgestellt und nach byzantinischer Art und Weise umgedeutet bzw. ihnen ein byzantinisches Gepräge verliehen.

 

An erster Stelle fand die Formel ἐκ θεοῦ, die genau dem byzantinischen Kaisertitel ὁ ἐκ θεοῦ βασιλεύς entsprach und die den alttürkischen tängridä bolmys qan oder tängri jaratmys qan ersetzte bzw. nach byzantinischer Art umwandelte. Die byzantinische Formel war eng mit der Vorstellung vom Gottesgnadentum des byzanischen Kaisers verbunden [210]. Nach der byzantinischen bzw. römischen Auffassung war der Kaiser der einzige von Gott auserwählte und eingesetzte Weltherrscher. Alle übrigen Staatsoberhäupter wurden als vom Kaiser abhängig oder als seine Statthalter betrachtet. Diese Weltanschauung durchbrach Karl der Grosse, indem er sich zum a Deo coronatus Imperator krönen liess [211].

 

 

210. W. Ensslin, Das Gottesgnadentum des autokratischen Kaisertums der frühbyzantinischen Zeit, in: Studi biz. e neoell. 5 (1939) 154 ff. und Gottkaiser und Kaiser von Gottes Gnaden, Sitzgungsber. München 1943, H. 6; Bréhier, Les institutions 53 ff.; H. Hunger, Prooimion 42-58

211. E. Caspar, Das Papsttum unter fränkischer Herrschaft, in: Zs Kirchengesch v. 54 (1935) 258 ff.: P.E. Schramm, Die Anerkennung Karls des Grossen als Kaiser, in: Hist Zs. 172.(1951) 498 ff.; W. Ohnsorge, Abendland und Byzanz. Kaisertum, in: Reallexikon der Byzantinistik 1 ( 1969) 126 167

 

426

 

 

Mit dem Beifügen von ἐκ θεοῦ wollte der Bulgarenherrscher offenbar seine absolute Unabhängigkeit vom byzantinischen Kaiser unterstreichen (s. hier S. 335).

 

In der Zeit Persians, wenn nicht sogar schon früher, wurde noch τῶν πολλῶν Βουλγάρων dem ἐκ θεοῦ ἄρχων hinzugefügt. Auch dieser Zusatz, der dem βασιλεὺς Ῥωμαίων entspricht, hatte eine bestimmte politische Bedeutung [212]. Hier könnte es sich wieder um die Umdeutung eines türkischen Ausdrucks handeln, vgl. tängridä bolmys Türk Bilgä gaγan.

 

Im engem Zusammenhang mit der Annahme der byzantinischen Kaisertitulatur stehen auch das Chrisma und das Kreuz, die vor dem Titel des Khans in vier protobulgarischen Inschriften (Nr. 55, 58, 59 und 61) eingemeisselt sind. Auch in diesem Fall handelt es sich wieder um die Nachahmung oder Übernahme eines Brauches der byzantinischen Kaiserkanzlei. Diese Zeichen stellen bekanntlich die sog. invocatio symbolica bzw. monogrammatica dar, die gewöhnlich in den byzantinischen offiziellen Urkunden statt invocatio verbalis vor dem Kaisertitel stehen [213]. Mit dem Kreuz beginnen auch neun Siegesinschriften (Nr. 16, 20-22, 24-26, 28 und 34) und eine Inventarinschrift (Nr. 50). Damit wurde wohl nicht nur der offizielle Charakter der Inschrift unterstrichen, sondern auch der Sieg symbolisiert [214].

 

Von der byzantinischen Kaiserkanzlei ist die Verwendung der Indiktion in der protobulgarischen Bauinschrift Nr. 56 übernommen. Sie kommt auch in den offiziellen Urkunden der westlichen Herrscher unter byzantinischem Einfluss vor [215].

 

Die Akklamation für langes Leben [216], das sogenannte Polychronion, das am Ende der protobulgarischen Bauinschriften Nr. 55, 56 und 57 steht, ist dem Zeremoniell des byzantinischen Kaiserhofes entlehnt.

 

 

212. Beševliev, PI 77 f.

213. Fr. Dölger - Karayannopulos, 76; 120

214. O. Treitinger, Die oströmische Kaiser - und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell, 2., unveränd. Aufl. Darmstadt 1956, 180 f. und 183

215. Dölger - Karayannopulos 52 f.

216. Treitinger 73 f. und 122 f.

 

427

 

 

Sie lautet: ὁ θεὸς ἀξιώση ζήσειν τὸν ἐκ θεοῦ ἄρχοντα ἔτη ἑκατόν, vgl. ὁ θεὸς ὁ δεσπόζων ἀοράτων καὶ ὁρωμένων ἀξιώσει ὑμᾶς, δεσπόται, ἑκατόν ἐν εἰρήνῃ χρόνους βασιλεύειν Ῥωμαίων bei Konstantin Porphyrogennetos [217]. Die Akklamation für langes Leben könnte auch einheimisch, dann jedoch in byzantinischer Form, gewesen sein. Die Hofleute bei Ch’i-tan riefen dem neuen Kaiser bei seiner Investiturzeremonie dreimal “Zehntausend Jahre” zu [218].

 

In der Bauinschrift Nr. 56 ist die Akklamation mit dem Wunsch erweitert, der bulgarische Khan möge seinen Fuss auf den Nacken des byzantinischen Kaisers setzen. In Byzanz existierte bekanntlich der von den römischen Kaisern übernommene Brauch, dass der siegreiche Kaiser zum Zeichen seines Triumphes und des vollständigen Sieges im Forum mit dem Fuss auf den Nacken des besiegten und gefangengenomme nen feindlichen Heerführers oder Herrschers trat. Während der Kaiser im Byzanz auf den Nacken des Gefangenen trat, wurden Akklamationen ausgerufen, durch die dem Kaiser steter Sieg über seine persönlichen Feinde, sowie über die des byzantinischen Reiches gewünscht wurde [219]. Derselbe Wunsch nach Sieg ist auch in dem Polychronion der Inschrift (Nr. 56) miteingeschlossen. Der erwähnte Siegesbrauch wurde auch von den Bulgaren, wie dies ausdrücklich für Krum bezeugt ist [220], übernommen. Der bulgarische Herrscherhof übernahm also nicht nur Bestandteile des byzantinischen Kaisertitels, sondern auch manche Triumphal - und Hofsitten. Scriptor incertus berichtet, dass das bulgarische Heer den Khan Krum (813) vor Konstaninopel akklamiert habe [221].

 

 

217. Const. Porph. de cer. 280, 18-20

218. Liao 275

219. Const. Porph. de cer. 610, 15-612, 13

220. Synaxarium 415, 8: Κροῦμος ... καὶ τὸν ἁγιώτατον ἐπίσκοπον ἐκβαλὼν κατὰ τοῦ αὐχένος ὑπὸ γῆν ῥιφέντα πεπάτηκε s. noch R. Guilland, Etude sur l’Hippodrome de Byzance. VI, in: ByzSlav. XXVII (1966) 302

221. Scriptor incertus 342: ... ὁ Κροῦμμος ... ῥαντίσας τὸν λαὸν αὐτοῦ, καὶ εὐφημισθεὶς ὑπ’ αὐτῶν, διῆλθεν μέσον τῶν παλλακίδων αὐτοῦ, προσκυνήσεὶς ὑπ’ αὐτῶν καὶ δοξααύείς...

 

428

 

 

Es ist bemerkenswert, dass das Polychronion von den heidnischen Bulgaren ohne jegliche Änderung übernommen wurde, obwohl in ihm der christliche Gott erwähnt wird. In seinem Wunsch, dem byzantinischen Kaiser gleichgestellt zu sein, liess sich der heidnische Bulgarenkhan nicht dadurch stören, dass man den christlichen Gott und nicht den einheimischen Tangra um ein langes Leben und viele Siege für ihn bat. Im Bewusstsein der Protobulgaren wurden die beiden Götter wohl miteinander identifiziert.

 

Im Byzantinischen Reich war es von alters her Brauch, die Köpfe der gestürztem Kaiser, Gegenkaiser und Anführer der Aufständischen abzuschlagen, auf einen Pfahl zu spiessen und zur Schau zu stellen [222]. Diese Sitte wurde dem gefallenen Kaiser Nikephoros I. gegenüber ausgeübt, da er sozusagen gegen die Herrschaft Krums aufgestanden war. Sein Kopf wurde abgeschlagen, auf einen Pfahl gesteckt und wohl in Pliska zur Schau gestellt [223].

 

Endlich zeigt eine Gedenkinschrift, dass es am Hofe des bulgarischen Khans die sog. Kandidaten gab [224], die eine reine byzantinische Institution waren [225]. Sie bildeten bekanntlich die Leibgarde des Kaisers in Byzanz [226]. Es lässt sich nicht feststellen, ob es sich um einen alten nach byzantinischem Vorbild umgestalteten Hofdienst, oder um eine neu eingeführte Institution handelt.

 

 

222. V. Beševliev, Brauch 1-3, 18-19; Guilland op. cit. 305

223. Theoph. 491, 17 ff., hierzu Beševliev, Brauch 17-21

224. s. Anm. 208

225. R. Guilland, Candidatus 210-225; Bréhier, Les institutions 132-133

226. Guilland, Candidutus 212-213

 

429

 

 

 

7. Die protobulgarischen Zeichen

 

Allgemeine Literatur: Altheim, Hunnen I, 268-287 ; J. Németh, Die Inschriften des Schatzes von Nagy-Szent-Miklös, Leipzig, 1932 und The runiform inscriptions from Nagy-Szent Miklös and the runiform scripts of Eastern Europe, Acta Linguistica 21 (1971) 1-52; S. E. Malov, Pamjatniki drevnetjurkskoj pismenosti (ANSSSR), Moskau-Leningrad 1951; A. M. Ščerbak, Les inscriptions inconnues sur les pierres de Khoumara (au Caucase du Nord) et le problème de l’alphabet runique des Turcs occidentaux, in: Acta Orientalia XV, 1-3, Budapest. 1962, 283-290; derselbe, O runičeskoj pismenosti v jugovestočnoj Evrope, in: Sovetskaja Tjurkologija Nr. 4, 1971, 76-82 mit Lit. und Neskolko slov o priemah čtenija ruiničeskih nadpisei naidennih na Donu, Sovetskaja arheologija (1954) 269-282; A. v. Gabain, Alttürkische Grammatik 9-15; K. N. Menges, Introduction 67; H. Arntz, Handbuch der Runenkunde, Halle 1944; K. Ebbinghaus, Die Hausmarken auf Hiddensee, in: R. Peesch, Die Fischerkommunen auf Rügen und Hiddensee, Berlin 1961, 273-291 mit Tafeln; E. I. Solomonik, Sarmatskie znaki Severnogo Pričernomorja, Kiev 1959; H. Janichen, Die Bildzeichen der Königlichen Hoheit bei den iranischen Völkern, Bonn 1956; I. Pudic, Šudikovski znaci, in: Naučno društvo Bosne i Hercegovine, Godinjak-III, Centar za Balkanološka ispitivanja, I (1965) 179-185 mit vier Tafeln; Edw Tryjarski, The Tamgas of the Turkic Tribes from Bulgaria, UAJ 47 (1975) 189-200

 

 

Der Schwarzröckler ( = Mönch) Hrabr schreibt in seiner wohlbekannten Apologie der slawischen Schrift [1], dass die Slawen ( = Bulgaren) vor der Erfindung des slawischen Alphabets keine Schrift hatten,

 

 

1. V. Vondrak, Kirchenslawische Chrestomathie, Göttigen 1910 107; Jor. Ivanov, Bălgarski starini iz Makedonija, 2. Aull., Sofia 1931, 442

 

430

 

 

sondern aus Strichen und Einschnitten (Kerben) [2] lasen und wahrsagten. Diese Aussage des altbulgarischen Schriftstellers wurde vollauf durch die archäologischen Funde in Bulgarien bestätigt. Im Jahre 1957 hat man mehrere Inschriften am Eingang zum Vorraum einer kleinen, in einen Kreidehügel hinein ausgehölten Kirche und in drei anstossenden Nischen bei dem Ort Basarabi in der Nord-Dobrudža (K. Constanza) entdeckt. Die meisten der in die Wände eingeritzten Inschriften sind kyrillisch in altbulgarischer Sprache verfasst, nur eine kurze ist glagolitisch und eine sehr grosse Anzahl der Inschriften ist in Runenschrift geschrieben [3]. Alle Inschriften stammen aus dem 10. Jh. und zeugen von gleichzeitiger Verwendung von drei Schriftarten und vom Vordringen des kyrillischen Alphabets.

 

In verschiedenen Baumaterialien wie Steinquader, Backsteine, Dachziegel, Tonröhren und sogar Mörtelbewurf, sowie andere Gegenstände wie Tongefässe, verschiedene Metallarbeiten, einzelne Steine und Steinbilder, die in Bulgarien gefunden worden sind und aus der Zeit der Protobulgaren stammen, sind besondere, schriftartige Zeichen oder Runen eingegraben bzw. eingerizt. Diese Zeichen wurden wohl auch in vergängliches Material wie Holz, Baumrinde und drgl. eingegraben das sich selbstverständlich nicht erhalten konnte. Unter diesen, protobulgarisch genannten Zeichen, befinden sich auch einzelne glagolitische und kyrillische Buchstaben, die ähnlich wie in Basarabi von dem allmählichen Eindringen und der Annahme der neuen slawischen Alphabete zeugen.

 

 

2. Aus einer Stelle bei ibn Fadlan (Togan IF 72 § 72) lässt sich entnehmen, dass die Wolga-Bulgaren vor ihrer Bekehrung zum Islam eine Schrift gebraucht haben. Das wird auch von Ibn al-Nadim bestätigt, der sowohl die Donau-Bulgeren als auch die Wolga-Bulgaren unter den Türkvölkern erwähnt, die sich einer Kerbschrift bedienten. S. Togan IF 193-196. Über die Jui-jui s. hier S. 397 Anm. 35

3. I. Bărnea - St. Stefanescu, Din istoria Dobregei, III, Bucuresti, 1971, 180-233

 

431

 

 

Es ist jedoch ohne weiteres klar, dass nicht alle, sondern nur manche protobulgarischen Zeichen in den Steinen auftreten, wie die einzelnen kyrillischen und glagolitischen Buchstaben es deutlich zeigen. Es wäre deshalb ganz irrig, alle in das Baumaterial und anderswo eingegrabenen Zeichen in den Inschriften von Basarabi wiederfinden zu wollen oder nach ihnen über die Art und Zahl aller protobulgarischen Runen zu urteilen. Es ist jedoch wichtiger, dass alle in die Steine, Tongefässe usw. eingeritzten Runenzeichen, soweit sie Schriftzeichen waren, in den erwähnten Inschriften wiederkehren. Das beweist nich nur, dass sie aus der gleichen Zeit stammen, sondern auch dass sie demselben Volk angehören und den geichen Ursprung haben.

 

Die protobulgarischen Zeichen sind hauptsächlich von K. Škorpil gesammelt und publiziert worden [4]. (Abb. 39-34). Die neuen Funde werden in den betreffenden Ausgrabungsberichten bekannt gemacht [5].

 

 

4. Znaki na stroitelskom materiale, in: IRAIK X (1905), 250-280 mit Abb. 41 auf S. 253 und Tafel XCIX, L und Tafel LI.

 

5. G. Fehér, Pametnici na prabălgarskata kultura, in: IAI III (1925) 53-59 und 86; derselbe, Les monuments 151-157; derselbe, Znacite, in: Madara I 393-418; derselbe, Razkopki v mestnosta Kirika nad s. Kalugerica, in: Madara II 107-154; Kr. Mijatev, Krăglata carkva v Preslav, Sofia 1932, 49, 99; 160-161; derselbe, Krumovijat dvorec i drugi novootkriti postrojki v Pliska, in: IAI XIV (1943) 80; 88 und 93; R. Popov, Materijali ot razkopkite prez 1934-35, in: Madara II 36-38; 41-42; 55-56; N. Mavrodinov, Prabălgarskata hudožestvena industrija, ebenda 244-245; derselbe, Le trésor 78 Abb. 43 und besonders 82 Anm. 46; derselbe, Razkopki i proučvanija v Pliska, in: Razkopki i proučvanija III (1949) 165; St. Stančev, Tri novorazkriti cărkvi v Preslav. ebenda 235-245; derselbe, Cărkvata do selo Vinica, in: IAI XVIII (1952) 315-319; derselbe, Razkopki i novootkriti materijali v Pliska prez 1948, in: IAI XX (1955) 204; derselbe mit N. Angelov, Graždanski postrojki v dolinata Bjal brjag pri Preslav, ebenda 423; 433; 434; 436; derselbe, Nekropolăt do Novi pazar 103 Abb. 28 und Tafel XXI Nr. 7; derselbe. Materijali ot dvorcovija centăr v Pliska, in: IAI XXIII (1960) 48-49 Abb. 15 und 16; St. Mihajlov, Arheologičeski materijali ot Pliska, in: IAI XX (1955) 53; 59; 63; 65-66; 81-82; 110-117; 122-123; derselbe, Dvorcovata cărkva v Pliska, ebenda 229-264 derselbe, Razkopki v Pliska, in: IAI XXVI (1963) 13; 22; G. Dzingov ebenda 49; T. Totev, IAI XXVII (1964) 5; V, Ivanova IAI XXII (1959) 152-154; J. Čangova ebenda 253; L. Ognenova IAI XX (1955) 384; V. Ivanova ebenda 464-466; V. Antonova, INM Kolarovgrad III (1965) 27-28, 32; Cv. Dremsizova in Festschrift K. Škorpil 118; V. Antonova ebenda 135; 150; B. Nikolov, Rannobălgarski nahodki kraj Ostrovskija okop, in: Arheologija IV (1962) H.2, 33-37 Abb. 5; St. Angelova, Za proizvodsvoto na stroitelna keramika v Severoiztočna Bălgarija prez rannoto srednovekovie, in: Arheologija XIII (1971) H. 3. 3-124; D. Il. Dimitrov, Keramikata ot rannobălgarskite nekropoli văv Varnensko, in: INM-Varna IX (XXIV 1973, 89-97

 

432

 

 

Nach der Aussage des Mönches Hrabr dienten die protobulgarischen Zeichen gleichzeitig zum Lesen und Wahrsagen. Demnach lassen sie sich, wie die germanischen Runen gemäss ihrer Verwendung in zwei Hauptgruppen einteilen; 1. Runen als Schriftzeichen und 2. Runen zu kultisch-religiösem bzw. magischem Gebrauch. Dazu kommt noch eine besondere dritte Gruppe: Runen als Erkennungszeichen, Rechts — und Eigentumsdokumente die sog. Tagmas.

 

   a. Die erste Gruppe. Die einzigen klaren Beispiele für die Verwendung der protobulgarischen Runen als Schriftzeichen stellen die Runeninschriften vonBasarabi (oder Murfatlar) dar [6]. (Abb. 35-37). Die ersten Herausgeber der Runeninschriften wollten ohne jegliche, streng wissenschaftliche Gründe ihren protobulgarischen Charakter und Ursprung nicht anerkennen. Man hielt sie für getische oder für dakisch-getische Runen, von deren Vorhandensein bisher weder eine Spur bekannt geworden ist, noch eine Schriftquelle zeugt, wobei historisch völlig ausgeschlossen ist, dass sich “eine dakischgetische Bevölkerung” bis in das 10. Jahrundert hinein in Dobrudža erhalten konnte.

 

 

6. I. Bărnea, Les monuments rupestres de Basarabi en Dobroudja, in: Cahiers archéologiques, XIII (1962) 187-208; derselbe, Predvaritelnie svedenija o kamennih pamjatnikah v Basarabi, in: Dacia N. S. VI (1962), 293-316; derselbe in: Din istoria Dobregei III 180-233, vgl. auch 44 Abb. 11 Nr. 3; D. P. Bogdan, Grafitele de la Basarabi, in: Analele Universitatii C. I. Parhon seria stiinte sociale, istorie, 16, Anul IX (1961), 31-49. Hierzu M. Comşa, K voprosu istolkovanija nekotorich graffito iz Bassarabi, Dacia n.s. VIII (1964), 363-370. P. Diaconu-P. Nasturel, Quelques observations sur le complexe archelogique de Murfatlar (Basarabi), in: Dacia N.S. XIII (1969) 443-456 s. auch I. Bărnea, Reprezentarea labirintului pe monumentele rupestre de la Basarabi (reg. Dobrogea), in: SCIV, XIV (1963), 189-195. Diese Publikationen sind nur als Materialsammlung zu benutzen. Die darin enthaltenen Vermutungen sind wissenschaftlich nicht stichhaltig, vgl. V. Beševliev, Ethničeskata prinadležnost na runnite nadpisi pri Murfatlar, Vekove 4 (1976) 4, 12-22

 

433

 

 

Es ist auch ganz unerklärlich, warum man derartige Runen bisher in dem eigentlichen Land der Daker, dem heutigen Rumänien, nicht gefunden hat. Man Hess nicht nur das Zeugnis des Mönches Hrabr, unberücksichtigt, sondern auch die zahlreichen nur in Bulgarien auf tretenden gleichartigen protobulgarischen Zeichen, die den einzigen richtigen Weg weisen. Man übersah auch einen sehr wichtigen Umstand. In einer kyrillischen in altbulgarischer Sprache verfassten Inschrift in derselben Kirche, wo die Runeninschriften eingeritzt sind, kommt das Wort bzw. der Name Tongan vor. Tongan oder togan ist das wohlbekannte alttürkische Wort toγan “Falke”, osm. türk. dogan, wie die daneben ausgemeisselte Vogelfigur verdeutlicht [7]. Das Wort tongan zeugt für eine ehemalige türkische Bevölkerung in dem heutigen Ort Basarabi, die aber kein anderes Volk als die Protobulgaren selbst sein konnten, wie das Vorkommen des erwähnten alttürkischen Wortes in einer in altbulgarischer Sprache verfassten Inschrift zur Genüge beweist. Dasselbe Wort verbindet gleichzeitig die kyrillischen Inschriften mit den Runeninschriften. Ob der Personenname Ajan in einer wieder von dort stammenden altbulgarischen Inschrift [8] auch hierher gehört, bleibt dahingestellt.

 

Bei den protobulgarischen Runen gibt es zwei Arten: die einfachen und die zusammengesetzten. Alle einfachen Runen, die in Steine und drgl. eingegraben sind, erscheinen in den Inschriften von Basarabi. Nicht alle Runen der Inschriften kommen aber auf den Steinen vor. Das ist ganz selbstverständlich, da nicht die ganze Runenschrift auf den Steinen verwendet wurde. Auch manche zusammengesetzten Runen der Steine kehren in den Inschriften wieder. Die übereinander geschriebenen Runen und die mit kleinen rechts oder links angehängten Strichen treten sowohl auf den Steinen von Pliska, Madara usw. als auch in den Inschriften von Basarabi auf. Alles das beweist die Identität der in die Steine eingegrabenen protobulgarischen Zeichen mit den Runen der Inschriften.

 

 

7. I. Bărnea, Dobrogei III 212 Abb. 63

8. ebenda 203 und 211

 

434

 

 

Es kommt noch ein wichtiger Umstand hinzu. Die Entfernung von Pliska, wo die in Steine eingemeisselten Runen am meisten auftauchen, und wo sich das Zentrum des protobulgarischen Reiches befand, beträgt bis Basarabi in der Luftlinie kaum 140 km. Basarabi liegt den Orten Silistra und Šabla noch näher, wo wichtige protobulgarische Inschriften gefunden worden sind, sowie dem Dorf Karali (j. Krassen), aus der eine antike Säule mit protobulgarischen Zeichen stammt [9]. Die ganze Dobrudža war schliesslich immer ein wichtiger Teil des ersten bulgarischen Staates. Im Elinblick auf alle diese Umstände kann gar kein Zweifel über den protobulgarischen Charakter und Ursprung der Runeninschriften von Basarabi bestehen.

 

Die Lage der Runen ist nicht fest. Ein Zeichen wird manchmal um 90 Grad gedreht oder auf dem Kopf gestellt oder es wird als Spiegelbild eingeritzt. Manchmal werden die einzelnen Runen so miteinander verbunden, dass die Linien eines Zeichens als Bestandteile eines anderen Zeichens erscheinen oder ineinanderfliessen bzw. Schnörkel bilden [10]. Bei manchen Runen lassen sich Grundformen und Variationen unterscheiden. An die Runen werden oft, wie bereits erwähnt kleine Striche, angehängt oder über bzw. unter bestimmte Runen kleine horizontale Striche oder runde Zeichen geritzt, die wohl diakritische Bedeutung haben oder Abkürzungen darstellen. Bisher sind keine Versuche von türkologischer Seite gemacht worden, die Runeninschriften von Basarabi zu lesen und zu entziffern.

 

Es lässt sich auch nicht sagen, ob jedes protobulgarische Zeichen eine Silbe, wie in der türkischen Runenschrift, darstellt oder einzelne Vokale und Konsonanten wie bei den germanischen Runen.

 

 

9. Maria Comşa, Znaki rannefeodalnei epohi vrezannie na rimske-vizantijskoj Kolone, in: Dacia N.S. VI (1962) 257-268, und O značenii gončarskih kleim rannefeodalnoj epohi, ebenda 5 (1961) 449-461; s. auch dieselbe, Die bulgarische Herrschaft nördlich der Donau während des IX. und X. Jh. im Lichte der archäologischen Forschungen, ebende IV, 1960, 395-422

10. ebenda 264-265

 

435

 

 

In der türkischen Runenschrift haben viele Konsonanten bekanntlich verschiedene Zeichen, wenn sie mit nachfolgenden oder vorangehenden Vokalen gesprochen werden [11]. Die Varianten der protobulgarischen Runen und die angehängten Striche könnten eventuell damit in Zusammenhang stehen. Unbekannt ist ferner, ob die Zeilen von links nach rechts oder umgekehrt laufen.

 

Eine grosse Zahl der protobulgarischen Runen ist zum Teil den alttürkischen, den Runen auf dem Schatz von Nagy-Szent-Miklös, der ungarischen Kerbschrift, den germanischen Runen und manchen glagolitischen Zeichen auffallend ähnlich. Diese Übereinstimmungen weisen auf eine gemeinsame Grundlage oder auf Entlehnungen hin, wobei der gebende Teil nicht zu erkennen ist. Der Laut-bzw. Silbenwert der protobulgarischen Runen braucht allerdings nicht der gleiche wie bei den türkischen oder germanischen Runen zu sein.

 

   b. Die zweite Gruppe besteht aus 1. einzelnen Runen, 2. mehreren nebeneinander eingeritzten Runen und 3. aus kreuzartig geformten Verbindungen ein und derselben Rune.

 

Die religiöse-magische Bedeutung erscheint deutlich in der sehr verbreiteten Verbindung IVI, wahrscheinlich Symbol des Gottes Tangra, die in verschiedene Gegenstände eingeritzt ist [12]. Es ist daher kein Zufall, dass unter den protobulgarischen Runeninschriften in der Kirche bei Basarabi diese Verbindung nicht als heidnisches Zeichen vorkommt. Sie ist allerdings in manche Dachziegel aus den Ruinen einiger Kirchen im Gebiet von Preslav eingeritzt. Das Baumaterial stammte entweder aus älterer Zeit oder aus Werkstätten, wo das Heidentum nicht ganz überwunden war.

 

   c. Besondere Verwendung der Runen. Manche Runen wurden höchst wahrscheinlich neben andersartigen auch als Zahl - und Eigentums - oder Besitzerzeichen (die sog. Tamgas) verwendet. Hierher gehören manche der sog. Steinmetzzeichen, die bezeichnen sollten, welche Bauteile ein bestimmter Maurer oder Arbeiter gebaut hatte [13].

 

 

11. A. v. Gabain, II

12. Über die Verwendung der Runen als Zauberzeichen s. hier S. 367-370

 

436

 

 

Welche Runen die erwähnten Bedeutungen hatten, ist schwierig zu sagen. In Frage kommen prinzipiell die Zeichen, die sehr selten oder nur einmal Vorkommen, sie könnten diese Bedeutungen gehabt haben. Ganz verschieden davon sind die rein geometrischen Figuren, die auf dem Boden mancher Tongefässe erscheinen [14]. Sie stellen wohl verschiedene Töpfermarken dar, oder sind ganz einfach Verzierungen, und mit den Runen haben sie nichts zu tun.

 

Die Schriftkundigen waren unter den Protobulgaren offenbar nicht sehr zahlreich. Die Schamanen kannten die protobulgarischen Runen in erster Linie als Zauberzeichen. Manche Zauberformeln waren ohne Zweifel auch weiteren Kreisen bekannt.

 

Die protobulgarischen Runen sind nicht erst in Bulgarien erfunden worden, sondern wurden ohne Zweifel von den Protobulgaren in die neue Heimat mitgebracht.

 

 

13. Nilsson, Geschichte I 279

14. St. Stančev, Grančarski znaci ot Pliska, Madara i Preslav, in: Razkopki i proučvanija III (1949) 235-246

 

437

 

 

 

8. Die protobulgarischen Inschriften

 

Literatur: V. Beševliev, Die protobulgarischen Inschriften, Berlin 1963; derselbe, Protobulgarica. 1. Eine neue Inventarinschrift, in: To Honor Roman Jakobson. Essays on the occasion of his seventieth birthday, The Hague 1967, 222-224; derselbe, Protobulgarische Inschrift auf einer Silberschale, in: Byz. XXXV (1965) 1-9; derselbe, Eine neue protobulgarische Gedenkinschrift, in: BZ 65 (1972) 394-399

 

 

Von den Protobulgaren sind bisher etwa 100 Inschriften auf Steinen in griechischer Sprache, vornehmlich aus dem 9. Jahrhundert, bekannt geworden, die fast ausschliesslich in Nordostbulgarien, vor allem in der Umgebung der ersten Hauptstadt Pliska gefunden wurden. Das sind die einzigen ursprünglichen, authentischen und unmittelbaren Quellen, die über die Geschichte und die Organisation des protobulgarischen Staates Aufschluss geben. Wie gross ihre Anzahl war, ist selbstverständlich unbekannt. Da aber, trotz aller ungünstigen Umstände seit ihrer Entstehungszeit, etwa 100 Inschriften bis in unsere Zeit erhalten geblieben sind, wird ihre Anzahl wohl nicht gering gewesen sein. Auch diese wenigen Schriftdenkmäler enthalten zahlreiche unbekannte Angaben über die Protobulgaren, die in keiner anderen Quelle erwähnt sind.

 

Die protobulgarischen Inschriften haben aber ausserdem noch eine andere, höchst wichtige Bedeutung, die nicht nur die Laien, sondern auch zahlreiche Forscher nicht erkannt oder deren Tragweite sie unterschätzt haben: die reale Tatsache, dass sie existieren, und ihren Wert als Äusserung der Kultur. Infolge der zahlreichen antiken griechischen und lateinischen Inschriften bleibt die Tatsache unbeachtet, dass die Protobulgaren Inschriften hinterlassen haben. Dieser Tatsache wird keine Bedeutung beigemessen. Wenn wir uns die Frage vorlegen, wer vor den Protobulgaren Inschriften in Stein eingemeisselt hat, werden wir feststellen, dass nur zwei hochentwickelte weltbedeutende Kulturen, die altgriechische und die römische,

 

438

 

 

deren Schrifttum und Schrifttumstraditionen Jahrtausende lang gepflegt wurden, Schriftdenkmäler auf Steinen hinterlassen haben. Durch die Vermittlung des östlichen und westlichen Christentums übernahmen die Völker, die unmittelbare oder mittelbare Nachfolger der erwähnten Kulturen waren oder dieselben Gebiete bewohnten, den Brauch, Inschriften in Stein einzumeisseln. Es ist daher völlig natürlich, dass in dem umfangreichen Byzantinischen Reich griechische Inschriften aus der Zeit des ersten Bulgarischen Staates, wenn auch nicht in der erwarteten Menge, gefunden wurden. Lateinische Inschriften kommen auch in jenen mittelalterlichen westlichen Staaten vor, die im Gebiet des einstigen Römischen Reiches entstanden, und in denen das Lateinische traditionsgemäss die offizielle Sprache war. Dazu ist aber zu bemerken, dass diese Inschriften weder zahlreich, noch zeitlich oder örtlich konzentriert, noch so mannigfaltig sind wie die protobulgarischen.Ein Blick auf das mächtige Frankenreich zeigt, dass bisher keine Inschriften von der Art der protobulgarischen gefunden wurden. Es wäre völlig überflüssig, von Inschriften aus demselben Zeitalter in den heutigen Nachbarstaaten Bulgariens Serbien und Rumänien, oder in einigen ferneren Ländern wie Ungarn, Polen usw. zu sprechen, die zu jener Zeit nicht existierten oder sich in ihrer Entstehung befanden.

 

Während die Inschriften in Byzanz die Fortsetzung einer alten Tradition sind, was auch für die einstigen Provinzen des Römischen Reiches wie Gallien, Spanien und sogar Italien gilt, aber auch für die Länder, die das Christentum übernommen haben, z.B. für die germanischen Völker, ist die Entstehung und Existenz der protobulgarischen Inschriften weder auf eine Tradition noch auf den Einfluss der christlichen Kirche zurückzuführen. Sie sind eine völlig eigenständige Erscheinung, die inmitten der mittelalterlichen Kultur der benachbarten und ferneren Völker keine Analogie hat. Diese Tatsache kann weder verneint noch unterschätzt werden. Sie existiert und bedarf einer Erklärung und richtigen Bewertung.

 

Der Umstand, dass die protobulgarischen Inschriften in griechischer Sprache abgefasst sind, vermindert scheinbar auf den ersten Blick ihre Bedeutung und verleitet dazu, sie als eine Abart der zahlreichen,

 

439

 

 

in Bulgarien gefundenen, griechischen antiken Inschriften zu betrachten. Dies entspricht jedoch nicht dem wahren Sachverhalt, da kein Volk seine ersten Schriftwerke in Prosa in seiner eigenen, sondern in der Sprache eines anderen älteren Volkes abgefasst hat, das seit langer Zeit über ein reichhaltiges Schrifttum und eine Schriftsprache verfügte. So haben, z. B. die ältesten römischen Historiker Q. Fabius Pictor, Publius Cornelius Scipio Africanus und andere ihre Werke bekanntlich nicht in lateinischer, sondern in griechischer Sprache verfasst [1]. Die ersten deutschen Historiker wie Jordanes, Paulus Diaconus, Einhardt und andere haben Lateinisch geschrieben. In dieser Sprache sind auch die ältesten Werke der polnischen Historiker Balduin Gallus und Martin Strizewski, sowie des tschechischen Geschichstsschreibers Cosma von Prag abgefasst. Die älteste rumänische anonyme Chronik der Moldau ist in bulgarischer Sprache geschrieben. Derartige Beispiele können aus den fernsten Zeiten und Länder angeführt werden. Die einzige Ausnahme ist vielleicht nur die altgriechische Literatur. Das altgriechische Alphabet ist aber aus Kleinasien entlehnt worden. Diese auf den ersten Blick verwunderliche Erscheinung ist vor allem auf die nicht gleichzeitige stattfindende, kulturelle Entwicklung der Völker zurückzuführen. Die ältesten Schriftsteller eines bestimmten Volkes haben sich zur Aufzeichnung ihrer Gedanken daher der fertigen Ausdrucksmittel, der Schrift und Sprache der in dieser Beziehung weiter fortgeschrittenen Völker bedient. Sie haben sich die fremde Sprache und Schrift für eine bestimmte Zeit geliehen, bis ihre eigene die für das Schrifttum notwendigen Eigenschaften entwickelt hatte. Zur Übernahme der lateinischen Sprache von den katholischen Ländern während des Mittelalters hat die Kirche, deren offizielle Sprache die lateinische war, nicht wenig beigetragen. Es musste lange Zeit vergehen, bis sich die Sprache des jeweiligen Volkes durchsetzen konnte.

 

 

1. W. S. Teuffels, Geschichte der römischen Literatur, 6. Aufl. von W. Kroll und Fr. Skutsch I., Berlin 1916, 58; 63; 116; 217 und 233

 

440

 

 

Das älteste Schriftdenkmal in französischer Sprache ist bekanntlich der sogenannte Strassburger Eid aus dem Jahre 842. Die ersten Schriftdenkmäler in deutscher Sprache entstanden um das Ende des 8. und zu Anfang des 9. Jahrhunderts. In Italien tritt die italienische Sprache erst im 10. Jahrhundert in Erscheinung. Die einzige Ausnahme ist die gotische Sprache, in die der gotische Bischof Wulfila bereits um die Mitte des 4. Jahrhunderts die Heilige Schrift übersetzt hat. Der Grund dafür war jedoch das Christentum, die christliche Kirche, die wie in späteren Zeiten bei den Slawen sichere Mittel und Wege suchte, um den breiten Volksmassen die Heilige Schrift rascher und unmittelbarer nahe zu bringen. Demnach setzt in Europa die Verwendung der Volkssprache als Schriftsprache erst im 9. Jahrhundert ein. Auch die Protobulgaren bilden darin keine Ausnahme. Unter den bisher bekannten protobulgarischen Inschriften kommen zwei in protobulgarischer Sprache [2], jedoch mit griechischen Buchstaben, ebenfalls aus dem 9. Jahrhundert vor. Die Verwendung der eigenen Sprache wurde aber nicht von der Religion aufgezwungen, sondern ist durch rein praktische Gründe zu erklären. Während die Gewohnheit des Schreibens und der Übergang von der fremden zur eigenen Sprache bei den anderen Völkern lange Zeit von der Tradition und der christlichen Kirche vorbereitet wurde, lagen derartige Voraussetzungen bei den Protobulgaren nicht vor. Daher waren diese Gründe nicht entscheidend oder zumindest nicht die einzigen, aus denen die protobulgarischen Inschriften in griechischer Sprache abgefasst wurden. Das ist vor allem aus einem anderen Umstand zu erklären. Seit dem frühesten Altertum haben einige Sprachen, vornehmlich in von verschiedenen Stämmen bevölkerten Staaten, als Mittel zum Verkehrs und zur Verständigung zwischen den einzelnen Völkern gedient. Ein Beispiel dafür ist die lateinische Sprache im weiten Römischen Reich und die griechische in den hellenistischen Staaten. In dem Bosporanischen Reich beim Asowischen Meer, dessen Bevölkerung Iraner waren, war Griechisch die offizielle Sprache.

 

 

2. Beševliev, PI Nr.Nr. 52; 53

 

441

 

 

Die Inschriften der Herrscher dieses Staates sind in griechischer Sprache abgefasst worden [3]. Bereits im Altertum wurde in den alten griechischen Kolonien an der nördlichen Schwarzmeerküste und später in dem dortigen byzantinischen Herrschaftsgebiet Griechisch gesprochen und geschrieben. Daher ist diese Sprache zur internationalen und diplomatischen Sprache in dieser Region geworden. Beachtlich ist, dass die grosse Inschrift des sassanidischen Herrschers Sapor I., in der seine Taten erzählt und verherrlicht werden, ausser in der offiziellen einheimischen auch noch in griechischer Sprache eingemeisselt wurde [4]. Die Verwendung des Griechischen in den protobulgarischen Inschriften ist daher eine völlig natürliche und gesetzmässige Erscheinung, die die Bedeutung der Inschriften keineswegs vermindert.

 

Ein weiteres Merkmal, wodurch sich die protobulgarischen Inschriften von den aus der gleichen Zeit stammenden byzantinischen und westlichen lateinischen unterscheiden, ist die grosse Mannigfaltigkeit. Sie können in folgende Gruppen eingeteilt werden: 1. Res gestae oder Chroniken, 2. Triumphinschriften, 3. Gedenk-oder Ehreninschriften, 4. Bauinschriften, 5. Waffeninventare, 6. Militärbefehle, 7. Grenzinschriften und 8. Friedensverträge. Die protobulgarischen haben also einen überwiegend offiziellen, staatlichen Charakter. Folglich ist alles, was in anderen Staaten auf vergänglichem Material wie Papyrus, Pergament, Papier und ähnlichem geschrieben worden ist, von den Bulgaren in “ewigen Stein” eingemeisselt worden, wie es in den in Orkhon gefundenen alttürkischen Inschriften heisst [5].

 

Die erste Gruppe, Res gestae oder Chroniken, nimmt eine der ersten Stellen ein. Diese Inschriften berichten nicht nur über mehrere, in anderen Quellen unbekannte Ereignisse aus der bulgarischen Geschichte, sondern bilden auch den Anfang der bulgarischen weltlichen Prosaliteratur [6].

 

 

3. Korpus Bosporskih nadpisej (Corpus inscriptionum regni Bosporani), Moskva 1965

4. A. Maricq, Classica et orientalia, 5: Res Gestae divi Saporis, in: Syria XXXV (1958) 294-360

5. V. Thomsen, l’Orkhon, 118, Nr. 1, Z. 11

 

442

 

 

Wir erfahren daraus die Beziehungen der Donaubulgaren zu den bei Saloniki wohnenden Bulgaren (Nr. 1), die Feldzüge der Bulgaren zum Ägäischen Meer (Nr. 14) usw. Inschriften mit ähnlichem chronikalem Inhalt sind der alten griechischen Epigraphik, mit Ausnahme des sog. Marmor Parium, in dem aber die Daten verschiedener Ereignisse der griechischen Geschichte aufgezeichnet sind, unbekannt. Die chronikartigen Inschriften dienten vor allem dazu, die Taten der Herrscher zu verherrlichen. Daher fehlen sie in den kleinen griechischen Republiken und im Zeitalter der römischen Republik. Die ersten chronikartigen Inschriften erscheinen im Osten, in Babylon und Assyrien und wurden von den Persern und Ägyptern aus diesen Ländern übernommen. Die Herrscher der hellenistischen Staaten, die auf persischem und ägyptischem Boden entstanden, und in denen das Griechische die offizielle Sprache war, Hessen nach altem Herkommen wieder derartige Inschriften einmeisseln. Diese Inschriften wurden damals zum ersten Mal in griechischer Sprache in Stein eingemeisselt. Später übernahmen den Brauch auch die römischen Kaiser. Bemerkenswert ist dabei, dass wenigstens bisher keine chronikartigen Inschriften byzantischer Kaiser bekannt sind. Das ist besonders wichtig, da daraus zu ersehen ist, dass die protobulgarischen chronikartigen Inschriften nicht unter byzantinischem Einfluss entstanden sind. Ob aber eine Verbindung mit den älteren Inschriften, wie z.B. der des sassanidischen Herrschers Sapor I. besteht, mit der sie gewisse Berührungspunkte aufweisen, ist schwer festzustellen [7]. Dabei ist aber darauf hinzuweisen, dass aus der Zeit diese sassanidischen Herrschers Reiterreliefs auf Felsen erhalten sind, die dem von Madara ähneln und den gleichen Sinn haben. Chronikale Inschriften waren auch den alten Türkvölkern wohlbekannt [8].

 

 

6. V. Beševliev, Die Anfänge der bulgarischen Literatur, in: Intern. Journ. of Slav. linguistic and poetics IV (1961) 116-145; P. Dinekov, Über die Anfänge der bulgarischen Literatur, ebenda III (1960) 109-121

7. Nach Altheim, Hunnen I 257-258 sind sie nach sassanidischem Vorbild

8. E. Chavannes, Documents sur les Tou-kiue (Turcs) occidentaux, Paris 1903, 117 und 177.

 

443

 

 

Eins ist jedoch sicher, dass die protobulgarischen chronikartigen Inschriften keine byzantinischen Vorbilder nachahmten, sondern in dieser Hinsicht eigenständig waren.

 

Die älteste protobulgarische chronikale Inschrift ist vor und hinter dem Reiterrelief von Madara eingemeisselt (Abb. 38). Sie stammt aus der Zeit des Sohnes Asparuchs, Tervel (Nr. 1). In Silistra sind Bruchstücke einer Steinplatte mit Überresten einer langen chronikartigen Inschrift gefunden worden (Nr. 3), die die Res gestae des Khans Krum erzählte (Abb. 39-40). Die Taten dieses bulgarischen Herrschers sind auch auf einer antiken Ara aus dem Dorf Hambarli (j. Malamirovo) kurz erwähnt (Nr. 2), die jetzt im Museum in Varna aufbewahrt wird. Ein vierte chronikartige Inschrift (Abb. 41-42) wurde in den Ruinen einer Basilika in Philippi bei Kavala gefunden (Nr. 41). Einen chronikalen Inhalt hat schliesslich auch die in eine Säule eingemeisselte, bei der Tumbul-Moschee in Šumen aus der Zeit des Khans Malamir stammende, Inschrift (Nr. 13).

 

Die zweite Gruppe — die Triumphinschriften — ist gemäss ihrer Bestimmung und ihrem Zweck den chronikartigen verwandt. Gewöhnlich in hohe Säulen eingemeisselt, bestehen sie nur aus dem Namen einer von den Bulgaren eroberten byzantinischen Festung oder aus einem Ortsnamen, wo eine siegreiche Schlacht der Bulgaren stattgefunden hatte, wie z.B. + Κάστρον Βουρδίζου (Nr. 20 Abb. 43), + Κάστρον Διδυμοτύχου (Nr. 21 Abb. 44), Κάστρον Ῥεδεστοῦ (Nr. 22 Abb. 45), oder + Πόλεμος τῆς Σέρας (Nr. 16 Abb. 46) usw. Alle in diesen Inschriften erwähnten Festungen wurden von Krum im Jahre 812 oder 813 erobert (s. hier S. 256-258). Dasselbe giltfür die Schlachten. Derartige Inschriften sind weder aus dem Altertum, noch aus der byzantinischen Epoche bekannt. Sie sind eine original-bulgarische Erscheinung. Falls sie mit einer den eroberten Festungen entnommenen Trophäe gekrönt waren, könnten sie nach der Konzeption nur mit den Triumph-oder Siegesdenkmälern in Rom von der Art der Trajanssäule oder Adam Kalesi in der Dobrudža verglichen werden.

 

444

 

 

Der Standort dieser Säulen ist unbekannt. Vielleicht waren sie an gut sichtbaren Stellen in der Hauptstadt Pliska aufgestellt oder bildeten eine Siegesallee in derselben Stadt, um die nachfolgenden Generationen an die Taten ihrer Ahnen zu erinnern. Durchaus eigenständig sind auch die Inschriften der dritten Gruppe, die Gedenk-bzw. Ehreninschriften, die wir gewohnheitsgemäss Grabinschriften nennen. Wenn wir sie mit den alttürkischen Grabinschriften aus Orkhon oder mit den byzantinischen Grabinschriften vergeichen, wird der Unterschied und ihre Originalität sofort sichtbar. Als Beispiel führen wir folgende byzantinischen Grabinschriften aus Varna an:

 

+ Ἔνθα κατάκιτε ὡ τῖς μακαρίας μνίμις Κονσταντῖνος υἱὸς Εὐγενίου ἰατροῦ,

+ Ἔνθα κατάκιτε ἡ μακαρία Βάσσα,

+ Ἔνθα κατάκιτε Ἰοσέβις κώ(μης) Θαρουθίον [9].

 

Ganz anders lauten dagegen die protobulgarischen “Grabinschriften”, z.B.:

 

+ Κανα συβηγη Ωμουρταγ. Ὡ Κορσης ὁ κοπανος θρεπτὸς ἄνθροπός μου ἐγένετω κὲ ἀπελθὸν ἠς τὸ φουσάτον ἐπνήγην ἠς τὸν ποταμὸν τὸν Δάναπρην. ἦτω δὲ γενεᾶς Τζακαραρης (Nr. 58),

 

Κανα συβιγι Ομυρταγ. Ὁ Χσουνος ὁ ζουπαν ταρκανος θρεπτὸς ἄνθροπός μου ἶτον κὲ ἀπέθανεν ἰς τὸ φοσάτον. ἦτον δὲ τὸ γένος αὐτοῦ Κυριγηρ (Nr. 60),

 

Κανα συβιγι Ομουρταγ. Ὁ Τουρδατζις ὁ κανδίδατος θρεπτὸς ἄνθροπός μου ἶτον κὲ ἀπέθανεν ἔσο [10].

 

Die protobulgarischen “Grabinschriften” unterscheiden sich also durch besondere Merkmale und Eigentümlichkeiten. Sie sind und können keine Nachahmung der byzantinischen Grabinschriften sein. Sie ähneln eher den heutigen Todesanzeigen. Sie teilen im Namen des Khans den Tod einer bestimmten Person, ihren Titel, ihre Beziehung zum Herrscher und schliesslich den Namen ihres Geschlechtes mit. Dieses Schema ist den byzantinischen Grabinschriften völlig fremd. Die protobulgarischen Grabinschriften sind vornehmlich als Gedenk-oder Ehreninschriften verfasst, und daher auch als solche zu bezeichnen (Abb. 47-48).

 

 

9. V. Beševliev, Spätgriechische und spätlateinische Inschriften aus Bulgarien, Berlin 1964, Nr.Nr. 98; 113 und 117

10. V. Beševliev, Gedenkinschrift, 394-399

 

445

 

 

Die Bauinschriften, die die vierte Gruppe bilden, zeigen gewisse Übereinstimmungen mit der griechischen und lateinischen Epigraphik. In den Einzelheiten und Zwecken unterscheiden sie sich jedoch wesentlich von ihnen. Der Unterschied und die Originalität der protobulgarischen Bauinschriften ist aus den beiden folgenden Beispielen deutlich zu ersehen. In der berühmten Kirche Heilige Vierzig Märtyrer in Tärnovo befindet sich eine Bauinschrift, die folgendermassen lautet (nr. 55):

 

+ Κα(ν)α συβιγη Ωμο(μο)ρταγ ἰς τὸν παλεὸν ὖκον αὐτοῦ μένο(ν) ἐπύησεν ὑπέρφυμον ὖκο(ν) ἰς τὸν Δανούβην κ(ὲ) ἀνάμεσα τὸν δύο ὔκο(ν) μέσην τῆς τούμβας καταμετρήσας ἰς τὶν μέσιν ἐπύισα τοῦμβαν κὲ ἀπὸ τὶν αὐτὴ(ν) μέσην τῆς τοῦμβας ἕος τὴν αὐλὶ(ν) μου τὴν ἀρχέα(ν) ἰσὶν ὀργηὲ μυριάδες β κ(ὲ) ἐπὶ τὸν Δανούβιν ἰσὴν ὀργιὲς μυριάδες β. τὸ δὲ αὐτὸ τουβὶ(ν) ἐστιν πάνφυμο(ν) κ(ὲ) μετρίσα(ν)τες τὶν γῖν ἐπῦισα τὰ γράματα ταῦτα. ὁ ἄνθροπος κ(ὲ) καλὰ ζὸν ἀποθνισκι κὲ ἄλος γενᾶτε κὲ ἵνα ὁ ἔσχατον γηνόμενος τοῦτα θεορὸν ὑπομνήσκετε τὸν πυίσαντα αὐτό. τὸ δὲ ὄνομα τοῦ ἀρχοντός ἐστην Ωμορταγ καν(ν)α συβιγη· ὁ θ(εὸ)ς ἀξηόσι, αὐτὸν ζῖσε ἔτη ς.

 

Die Inschrift verzeichnet nicht einfach die Tatsache, dass ein neuer Palast an der Donau, d.h. in Silistra (oder in Pacuiul lui Soare?), und ein Hügel zur Erinnerung errichtet worden sind, wie dies in den byzantinischen und lateinischen Bauinschriften üblich ist, sondern meldet noch, wo der Khan gewohnt hat, in welcher Entfernung sich der neue vom alten Palast befand, d.h. die Entfernung zwischen Pliska und Silistra, erinnert an das Schicksal des menschlichen Lebens, indem sie betont, dass durch den prächtigen Bau das Andenken an den Herrscher verewigt werden wird, und gibt nochmals den Namen und den Titel des Herrschers an, durch den das Bauwerk datiert wird, um schliesslich dem Herrscher ein langes Leben zu wünschen. Mit Ausnahme dieses Wunsches, der dem byzantinischen Hofzeremoniell entnommen ist (s. hier S. 427-428) und in byzantinischen Bauinschriften auch vorkommt, sind alle übrigen Einzelheiten durchaus originale und eigenständige Erscheinungen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die folgenden vier Merkmale.

 

446

 

 

In der bereits erwähnten umfangreichen griechischen Inschrift mit den Res gestae des sasaanidischen Herrschers Sapor I. heisst es unter anderem:

 

Διὰ τοῦτο ἐκελεύσαμεν γραψῆναι, ἵνα, ὅστις μεθ’ ἡμᾶς ἔσται, τοῦτο τὸ ὄνομα καὶ τὴν ἀνδρείαν καὶ τὴν δεσποτείαν τὴν ἡμετέραν ἐπιγνώσεται [11].

 

Fast denselben Gedanken enthält auch die protobulgarische Inschrift:

 

ἐπύισα τὰ γράματα ταῦτα... ἵνα ὁ ἔσχατον γηνόμενος ταῦτα θεορὸν ὑπομνήσκετε τὸν πυίσαντα αὐτό, τὸ δὲ ὄνομα τοῦ ἀρχοντὸς ἐστην κτλ.

 

Ob es sich hier nur um einen Zufall oder um eine ferne Reminiszenz handelt, ist schwer zu sagen. Der Brauch, Hügel mit Inschriften zur Erinnerung an irgendein Ereignis zu errichten, war auch den zentralasiatischen Völkern bekannt. So errichtete Tamerlanim Jahre 1391 einen Hügel mit Inschrift zur Erinnerung an seinen Feldzug gegen Toqtamisch [12] Die Messung der Entfernung zwischen Pliska und Silistra, die der Luftlinie zwischen den beiden Städten annähernd entspricht, zeugt für die Existenz von Feldmessern und für eine technische Kultur der Protobulgaren. Schliesslich spricht die Sentenz über das menschliche Leben für philosophische Gedankengänge der Protobulgaren.

 

Noch bemerkenswerter ist die zweite Bauinschrift, die in Čatalar (j. Zar Krum) gefunden wurde (Nr. 56 Abb. 49). Sie lautet, wie folgt:

 

Κανα συβιγι Ομουρταγ ἰς τιν γίν, ὅπου ἐγενίθιν, ἐκ θεοῦ ἄρχον ἐστίν. ἰς τῖς Πλσκας τὸν κάνπον μένοντα ἐπύισεν αὔλιν ἰς τὶν Τουτζαν κὲ με[τῖξεν] τὶν δύναμὶν του [ἰς τοὺς] Γρικοὺς κὲ Σκλάβους κὲ τεχνέος ἐπύισεν γέφυ[ραν] ἰς τὶν Τουτζαν μὲ τὸ [αὔλιν] κὲ ἔστι[σεν] ἰς τὸ αὐτὸ τ[ὸ αὔλιν] στύλους τεσάρις κὲ ἐ[πάνο τὸν] στύλον ἔστισεν λέον[τας] δύο, ὁ θεὸς ἀξιόσι τὸν ἐκ θεοῦ ἄρχονταν μὲ τὸν πόδα αὐτοῦ τὸν βασιλέα καλο[πατοῦντα, ἕος τρέ]χι ἡ Τουτζα κὲ ἕος ... τοὺς πολοὺς

 

 

11. Maricq, Res Gestae divi Saporis, Z. 36 f ; Derselbe Gedanke bereits in der Darius-Inschrift am Felsen von Bisitum, wo der König "mit Nachdruck verlangte, dass seine von ihm verzeichneten Taten vor dem Volk nicht verborgen werden sollen, damit er im Munde des Volkes “lebendig” bleibe.”, s. Gabain, Inhalt 538 nach R.G. Kent, Old Persian, Newhaven 1950, 132.

12. N.N. Poppe, Karasapkajskaja nadpis Timura, in: Travaux du département oriental II, Leningrad 1940.

 

447

 

 

Βούλγαρις ἐπέχον[τα], τοὺς ἐχθροὺς αὐτοῦ ὑποτάσσοντα, χέροντα κὲ ἀγαλιόμενος ζίσιν ἔτι ἑκατόν, ἶτο δὲ ὁ κερός, ὅταν ἐκτισαν, βουλγαριστὶ σιγορ ελεμ γρικιστὶ ἰνδικτιόνος ιε´. [ = 821-822].

 

 

Am Anfang der Inschrift richtet sich das bulgarische Staatsoberhaupt gegen die byzantinische Staatsdoktrin für die Suprematie und das alleinige Gottesgnadentum des byzantinischen Kaisers. Er erklärt, dass er ein von Gott eingesetzeter Herrscher des Landes ist, in dem er geboren wurde, d.h. dass er als ein dem byzantinischen Kaiser ebenbürtiger und unabhängiger Herrscher und nicht als sein Vasall auftritt. Bemerkenswert ist ferner der im Polychronion eingefügte Wunsch für den Triumph über den byzantinischen Kaiser und Sieg über seine Feinde. Der Vorrang der Bulgaren gegenüber den Byzantinern ist auch in der Anordnung der Daten ausgedrückt. Zuallererst ist das Datum bulgarisch und darauf griechisch angegeben. Die Bedeutung dieser Anordnung ist aus den Friedensverträgen zu ersehen, deren Text in Konstantinopel verfasst wurde, in denen der Name der Rhomaier dem der Bulgaren vorausgeht. Die angeführte Inschrift ist auch deshalb wichtig, da das Jahr, in dem der Palast errichtet worden ist, nach der bulgarischen Zeitrechnung neben der byzantinischen angegeben ist. Sie gab den Schlüssel zur richtigen Deutung der Datierungsausdrücke in der bulgarischen Fürstenliste.

 

Genauso wie die Politiker der Gegenwart, benutzte Omurtag die Errichtung des Palastes dazu, um einem breiteren Personenkreis den bulgarischen Standpunkt zur Frage der Souveränität des bulgarischen Staatsoberhauptes und dadurch des bulgarischen Staates mitzuteilen. Auf diese Weise hat sich die Inschrift aus einer gewöhnlichen Mitteilung über die Errichtung von Bauwerken zu einer politischen Äusserung entwickelt [13]. Nicht nur diese Inschrift wurde für politische Propaganda ausgenutzt.

 

 

13. vlg. F. Dölger, Die Kaiserurkunde der Byzantiner als Ausdruck ihrer politischen Anschauungen, in: Hist 159 (1938-1939) 229-250; H. Fichtenau, Arenga, Spätantike und Mittelalter im Spiegel von Urkundenformeln, in: Mitteil, des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Erg.-Bd. 18, Graz-Köln, 1957; derselbe Monarchische Propaganda in Urkunden, in: Anzeiger Öster. Akad. der Wiss. 94 (1957) 149-151. H. Hunger, Prooimion 212-214; V. Beševliev, Nachrichten über den Aufstand Thomas des Slaven aus Protobulgarischen Inschriften, Byzantina 8 (1976), 339-342.

 

448

 

 

In der chronikartigen Inschrift auf der Ara vom Dorf Hambarli (Nr. 2) heisst es unter anderem:

 

ὅπου ἐ[ξ]ῆλθε(ν μὲ) τὸν ὅλον λαὸν κὲ ἔκ(α)ψ(εν τὰ) χορήα ἡμῶν(ν) α[ὐ]τὸ(ς) ὁ γέρον ὁ βασηλεὺ[ς) ὁ φαρακλὸς [κ]ὲ ἐπῆρεν ὅλα κὲ τοὺς ὅρκους ἐλησμόνησεν.

 

Der byzantinische Kaiser Nikephoros wird also der Verletzung des Friedensvertrages und der Aggression bezichtigt. Daher ereilte ihn, nach derselben Inschrift, die verdiente Strafe Gottes:

 

ἔδοκε[ν] αὐτὸν (= Krum) ὁ θεὸς κὲ τόπ[ου]ς κ[ὲ] κάσστρα ἐρήμοσεν [τ]άδε.

 

In der chronikalen Inschrift aus Philippi (Nr. 14) werden die Rhomäer offen der Undankbarkeit beschuldigt:

 

Ἤ[τη]ς τὴν ἀλήθηαν γυρεύη, ὁ θ(εὸ)ς θεορῖ κ(ὲ), ἢ της ψεύδετε, ὁ θ(εὸ)ς θεορῖ. Τοὺς Χριστηανοὺς οἱ Βούλγαρις πολὰ ἀγαθὰ ἐπύισα[ν] κ(ὲ) οἱ Χριστηανοὶ ἐλησμόνησαν, ἀλλὰ ὁ θ(εὸ)ς θεορῖ.

 

Umsonst würden wir ähnliche Beispiele in der griechischen oder lateinischen Epigraphik suchen. Dieser propagandistische Charakter der protobulgarischen Inschriften zeigt nochmals, dass sie nicht unter fremdem, z.B. byzantinischen Einfluss entstanden sind.

 

Die fünfte Gruppe, die Inventarinschtiften, besteht aus genauen Verzeichnissen der Waffen, die einer bestimmten Militärperson anvertraut wurden oder gehört haben. Diese Inschriften enthalten nur den entsprechenden militärischen Titel ohne Eigennamen, da sie sich auf jeden und nicht auf eine bestimmte Person bezogen, der jeweiligen Zeit dieses Amt bekleidet hat. Flierzu einige Beispiele: βαγατουρ βαγαινου λοράκηα ἦν ὁμοῦ νγ´, κασίδια μέ (Nr. 48) oder + Υκ βοηλα λορήκηα κς´, ητζηργου βαγαηνου ιβ´, ζη[τκ]ο μηρού ιζ´, υκ βαγαηνου κβ´, βηρη βαγαηνου κβ´ (Nr. 50).

 

Auch diese Inschriften, zu denen keine Parallelen in der byzantinischen und lateinischen Epigraphik zu finden sind, treten als völlig original-bulgarische Erscheinung auf, da sie,

 

449

 

 

offensichtlich, mit der 40. Antwort des Papstes Nikolaus I. auf die Anfragen des bulgarischen Herrschers Boris I. verbunden sind (s. hier S. 412). Die Inventarinschriften waren wohl in den Festungen an einer gut sichtbaren Stelle angebracht, um die in der Antwort erwähnte Prüfung zu erleichtern (Abb. 50-52).

 

Die sechste Gruppe ist nur durch eine Inschrift vertreten. Das ist ein in Stein eingemeisselter Militärbefehl bzw. eine Anordnung, deren Anfang leider fehlt (Abb. 53-54). Sie lautet (Nr. 47):

 

... (Ich, Krum) ἐπόησα τὸν ἀδελφόν μου (Oberbefehlshaber) κε ὁ στρατηγὸς ὁ Λέον ἥνα ἦν ὑποκάτω αὐτοῦ. Ἀπὸ Βερόην κὲ ... Δουλτροηνους ἐσστὴν πρότος ὁ Τουκος ὁ η[ζ]ουργου βουληα δ[ηὰ] τὸ δεξηὸν μέ[ρος κ]ὲ ὁ Βαρδάνης κὲ ὁ Ηανής ὑ στρατηγὺ ὑπ[ο]κάτου αὐτοῦ · κὲ δη[ὰ τ]ὸ ἀρηστερὸν μέρ[ο]ς τοῦ σαρακτου μου · τὴν Ἀνχηάλον, τὴν Σοζόπολην, τὴν Ρανουλην ἐστὴν κεφαλὴ ὁ Ηραταης ὁ βοηλα καυχανος κὲ ὁ Κορδύλης κὲ ὁ Γρηγορᾶς ὑποκάτο του στρατηγύ.

 

Es erübrigt sich wohl, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass Inschriften dieses Inhalts im Mittelalter völlig unbekannt sind. Auch hierbei handelt es sich um eine durchaus original-bulgarische eigenständige Erscheinung.

 

Die letzten Zwei Gruppen, die Grenzinschriften und Friedensverträge, nehmen unter den protobulgarischen Inschriften eine Sonderstellung ein. Ihr Griechisch ist, im Vergleich zu dem der übrigen Inschriften, gehoben und nähert sich dadurch fast der literarischen griechischen Sprache. Die Byzantiner werden als Rhomäer und nicht, wie in den übrigen protobulgarischen Inschriften, als Christen oder Griechen bezeichnet. Ausserdem geht der Name der Byzantiner dem der Bulgaren stets voran. Diese Eigentümlichkeiten vereinigen die beiden Arten von Inschriften und trennen sie von den anderen. Die Grenzinschriften sind nur durch eine vertreten, die folgenden Wortlaut hat (Nr. 46):

 

Ἔτου[ς ἀ]πὸ κτ(ίσεως) κ(όσμου), ξυιβ´, ἰν(δικτιῶνος) ζ´. Ὅρος Ῥωμαίων κ(αὶ) Βουλγάρ(ων) ἑπὶ Συμεὼν ἐκ θ(εο)ῦ ἄρχ(οντος) Βουλγάρ(ων), ἑπὶ Θεοδώρου ολγου τρακανου, ἐπὶ Δριστρου κομίτου.

 

Die Inschrift wurde 22 km nördlich von Saloniki beim Dorf Narâs (j. Nea Philadelphia) gefunden. Byzantinische Inschriften, die Staatsgrenzen bestimmen, sind aus dieser Zeit nicht bekannt.

 

450

 

 

Erhalten sind nur Inschriften, die sich auf Grenzen des privaten Landbesitzes beziehen. Abgesehen von einigen Formeln, die auf ihre besondere Bestimmung zurückzuführen sind, unterscheiden sie sich nicht wesentlich von der protobulgarischen Inschrift. Daher ist anzunehmen, dass die letztere nach byzantinischem Vorbild und sogar mit der Beteiligung byzantinischer Behörden verfasst wurde. Damit ist auch der Gebrauch der Benennung Rhomäer und deren Setzung vor den Namen der Bulgaren zu erklären.

 

Inschriften, die Friedensverträge enthalten, sind nur als Fragmente erhalten und geben daher keine klare Vorstellung von dem verwendeten Schema und dem Inhalt ( Abb. 55-56) Diese Fragmente weisen trotzdem auf eine gewisse Ähnlichkeit mit den erhaltenen, in Stein eingegrabenen altgriechischen Friedensverträgen auf und zeigen, dass sie auf die damaligen internationales Praxis abgestimmt worden sind. Nach dieser Praxis haben die beiden vertragschliessenden Länder nur jenen Teil des geschlossenen Friedensvertrages ausgetauscht, der die vom anderen Land übernommenen Verpflichtungen und Bedingungen enthält [14]. Daher sind unsere in Stein eingemeisselten Inschriften Kopien jenes Teiles des Friedensvertrages, der sich auf Byzanz und nicht jenes Teiles, der sich auf Bulgarien bezog. Der Umstand, dass die Friedensverträge in einer gewählten Sprache gefasst sind, und dass die Byzantiner mit dem traditionellen und offiziellen staatlichen Namen Rhomäer bezeichnet werden, sowie dass dieser Name dem der Bulgaren vorangeht, zeigt, dass die Verträge in der byzantinischen Hauptstadt geschlossen wurden, wo wahrscheinlich auch die Friedensverhandlungen stattgefunden haben. Streng formal betrachtet müssten die Friedensverträge aus den protobulgarischen Inschriften ausgeschlossen werden. Da sie aber nur die von dem Byzantinischen Reich übernommenen Verpflichtungen und Bedingungen, d.h. das enthalten, was von den bulgarischen Staatsmännern und Diplomaten ausgearbeitet, erörtert und aufgezwungen wurde, vermitteln die erhaltenen Friedensverträge eine Vorstellung von den Hauptrichtlinien der damaligen bulgarischen Staatspolitik und von den internationalen Interessen des bulgarischen Staates.

 

 

14. Beševliev, PI 55-56 mit Lit.

 

451

 

 

Dies geht aus folgender, in grösserem Umfang erhaltenen, Inschrift hervor:

 

(Nr. 41: ... κὲ ἀπέστιλεν]... ἰ[ρίνιν ἐπυίσα]ντο λ´ ἐτ(όν), τὸ α´ τὸν [συμφονιθέντον ι]α´ κεφαλέον [ἐστὶν περὶ] τὶς ἐνορίας· ἥνα ἐστὶ[ν ἀπὸ Δεβελ]τοῦ κὲ ἑπὶ Πο[ταμουκάστ]ελιν κὲ μέσον τὸν β´ Ἀ[βρολέβον κὲ ἰς τ]ὰ πολὰ γεφύ[ρια κὲ μέ]σονΒαλζηνας κὲ Ἀγαθ[ονίκης κὲ ἰς Λεύκι]ν κὲ ἰς Κονστάντιαν κὲ ἰς Μακρὶν λιβάδα[ν κὲ ἰς Ἕβρον κὲ ἰς ῟Ε]μον ὄρος, ἕος ἐκὶ γέγονεν ἱ ὁροθεσία. [β´ κεφάλεον περὶ τὸ]ν Σκλάβον τὸν ὄντον ὑπὸ τ[ὸ]ν β[ασιλέαν· ἥνα διαμίνουσιν οὕτος] ὁς ἐφθάστισαν, ὅτε ἐγένετον ὁ πόλεμος, γ´ κεφάλεον περὶ τὸν λ]υπὸν Σκλάβον τὸν μὶ ὑποκιμένον [ἰς τὸν βασιλέαν ἰς τὸ παρ]άλιον μέρος · ἐπιστρευσι αὐτοὺς ἠ[ς τὰ χορία. δ´ κεφάλεον περ]ὶ τὸν ἐγμαλότον Χριστιανὸν κὲ κρ[τιθέντον... περὶ] δὲ τρομάρχον, σπαθάριον κὲ κομίτο[ν · δόσι... περὶ δὲ τοῦ πτοχοῦ λαού ψυχὶν ἀντὶ φυχῖς. βουπ(ά)λια β´ δ[όσι περὶ τὸν κρατι]θέντον ἔσοθεν τὸν κάστρον, ἐὰν ἐξα[..., τὰς κό]μας. ἐὰν ἀποφύγι στρατηγός ...

 

Aus dem angeführten Abschnitt ist das grosse Interesse der Bulgaren am Schicksal der Slawen, die dem byzantinischen Kaiser unterstellt waren oder sich in seinen Händen befanden, deutlich zu ersehen.

 

Bemerkenswert ist, dass bisher keine byzantinischen Inschriften mit Friedensverträgen gefunden worden sind. Das ist wohl darauf zurückzuführen, dass die Byzantiner die Friedensverträge nicht in Stein einmeisselten, sondern auf Papier oder ein anderes vergängliches Material geschrieben haben, wie die Quellen ausdrücklich mitteilen. Daher sind die erwähnten Inschriften die einzigen erhaltenen, originalbyzantinischen Friedensverträge.

 

Die Inschriften mit Friedensverträgen bildeten wohl in der Hauptstadt Bulgariens ein besonderes Staatsarchiv, das schnelle Auskünfte und Erkundigungen ermöglichte. Über einen derartigen Fall berichtet der Chronist Theophanes. Der bulgarische Herrscher Krum schlug dem Kaiser im Jahre 812 dieselben Friedensbedingungen vor, unter denen der Khan Kormesios zur Zeit des Byzantinischen Kaisers Theodosios III. und des Patriarchen Germanos im Jahre 717 Frieden geschlossen hatte (s. hier S. 198 f.).

 

452

 

 

Die Bedingungen dieses fast 100 Jahre vor Krum geschlossenen Vertrags konnte der Bulgarenherrscher nur aus einer in Bulgarien befindlichen schriftlichen Urkunde kennen. Da der Stein von den Bulgaren als Schriftträger verwendet wurde, ist diese wichtige Urkunde höchstwahrscheinlich in Stein eingehauen und nicht auf Papier geschrieben worden. Dabei ist zu beachten, dass das Schreibmaterial wie Papier, Pergament oder Papyrus aus dem Ausland gegen Geld beschafft werden musste, während der im Überfluss vorhandene Stein fast nichts kostet. Der Brauch, alles Wichtige auf Stein zu schreiben und zu verwahren, geht demnach bei den Protobulgaren auf eine viel frühere Zeit, bereits auf das Jahr 717, zurück. Dieser Brauch ist aber noch älter, wie aus den Inschriften um das Reiterrelief von Madara zu ersehen ist, die um das Jahr 705 oder 707 datiert werden können.

 

Die protobulgarischen Inschriften werfen eine Reihe verschiedenster Fragen auf. Eine Frage davon ist, wer die Vorlage oder den endgültigen Inhalt der Inschriften verfasst hat. Offensichtlich hat sich der Herrscher nicht selbst damit befasst. Er hat nur Anordnungen gegeben und den Inhalt begutachtet. Mit dem Ausarbeiten des Inhalts und mit dem Eünmeisseln der Inschriften wurden bestimmte Personen beauftragt, die ein besonderes Amt, die Hofkanzlei des Khans, bildeten [15]. Diese Kanzlei bestand mindestens aus einem hohen bulgarischen Würdenträger, der den Text verfasste, und einem griechischen Übersetzer, der den Text ins Griechische übertragen hat. Die Ausführung nach einem bestimmten Schema, wie die Gedankbzw. Ehreninschriften, war eine verhältnismässig einfache Aufgabe. Viel komplizierter war aber das Verfassen von Bauinschriften, bei denen jeder Satz im Hinblick auf die politische Bedeutung gut durchdacht werden musste. Noch schwierigere Aufgaben waren bei den chronikartigen Inschriften zu bewältigen.

 

 

15. Nach Priskos, EL 128, 18 f. hatten die Hunnen Schreiber, was auf eine Hofkanzlei hinweist, hierzu Altheim, Hunnen IV 286-287; 295 f. Eine Hofkanzlei existierte auch bei Ch’i-tan, s. Liao 442

 

453

 

 

Dafür war bereits eine Person mit gewissen literarischen Fähigkeiten oder Neigungen erforderlich. Das lässt sich aus einem Fragment der einstigen grossen Inschrift von Silistra über die Taten des Herrschers Krum erschliessen. Darin wird eine Person, wahrscheinlich Kaiser Nikephoros, mit dem sagenhaften Tier Greif verglichen. Offensichtlich ist dieser Vergleich einer dichterischen Phantasie zu verdanken. Daher ist anzunehmen, dass der Kanzlei des Khans oder dem Hof ein Hofdichter oder ein Chronist und Schriftsteller angenhört hat, der sich mit der Beschreibung und Verherrlichung der Taten des betreffenden Khans befasste.

 

Die protobulgarischen Inschriften werfen auch rein sprachliche Fragen auf. Die griechische Sprache der Inschriften ist nicht die damalige Literatursprache. Sie weist alle Merkmale der damaligen Umgangssprache der breiten Voksschichten auf. Die protobulgarischen Inschriften nehmen also auch in dieser Hinsicht einen besonderen Platz in der Geschichte der griechischen Sprache ein. Ihre Sprache gehört zu den heutigen nordgriechischen Mundarten. Der als Übersetzer tätige Grieche entstammte wohl der in Nordostbulgarien angetroffenen, alten griechischen Bevölkerung. Er war ohne Zweifel ein Christ. Ob er auch ein Mönch war, ist unbekannt, jedoch sehr wahrscheinlich. Bevor die protobulgarischen Inschriften der Wissenschaft bekannt wurden, stritt man über den Ursprung der bulgarischen Form des Wortes grăk “Grieche”. Das Wort kann weder aus dem griechischen Γραικὸς (lies grekos), noch aus dem lateinischen graecus = grekus) kommen, da der Laut e im Altbulgarischen erhalten geblieben und nicht zu ă geworden wäre. Daher wurde die Vermutung geäussert, dass auf der Balkanhalbinsel wahrscheinlich eine griechische Form Γρικὸς mit i existiert hat, das im Altbulgarischen regelmässig in ă übergegangen ist. Diese Vermutung ist durch die protobulgarischen Inschriften vollauf bestätigt, in denen der Name der Griechen tatsächlich genauso lautet [16].

 

Die sich allmählich vollziehende Slawisierung der Protobulgaren spiegelt sich in einigen Titeln und Namen wieder, in denen der slawische Übergang des fremdsprachigen a zu o erscheint z.B. βαγατουρ neben βογοτορ oder βαγαινος neben ΒΟΓΟΙΝ [17].

 

 

16. s. Beševliev, PI 138-139

 

454

 

 

Unter den Inventarinschriften kommen zwei in protobulgarischer Sprache vor (Abb. 57). Das sind bisher die einzigen vollständigen Denkmäler in dieser Sprache und die ersten bei den Bulgaren bekannten Versuche zur Schaffung eines Schrifttums in der eigenen, mit griechischen Buchstaben geschriebenen Sprache (s. hier S. 315). Der Inhalt der Inschriften ist erraten. Die sprachliche Erklärung bereitet aber grosse Schwierigkeiten. Sie wirft die Frage nach der Wesensart der protobulgarischen Sprache und ihre Beziehung zu den Turksprachen auf [18]. Das Vorhandensein von Inventarinschriften in bulgarischer Sprache neben solchen in griechischer zeigt, dass viele Militärpersonen zwar die griechischen Buchstaben, aber nicht die griechische Sprache kannten.

 

Die Inschriften werfen auch eine Reihe anderer, scheinbar geringfügiger Fragen auf, wie etwa: Warum sind die protobulgarischen Inschriften vornehmlich auf Säulen eingemeisselt? Welchen Ursprung haben diese antiken Säulen? usw. Zur letzten Frage berechtigen die überaus grossen Ausmasse mancher Säulen bis zu 6 und mehr Metern, während andere aus so hartem Stein gefertigt sind, der für die Eingrabungen von Inschriften keineswegs geeignet ist, oder bereits von Anfang an beschädigt waren. Alles dies zeigt, dass die Säulen aus alten Bauwerken stammten und sekundär für die Eingrabung von Inschriften verwendet wurden. Die Säulen mit den grossen Ausmassen veranlassen zu einer anderen Frage: Was für Bauwerke waren diese alten Gebäude, zu denen die grossen Säulen gehörten? Waren sie weltliche oder religiöse Bauten, und wo haben sie gestanden?

 

Die Inschriften werfen nicht nur derartge Fragen, sondern rein historische Probleme auf. Von besonders wichtiger Bedeutung sind die Fragen, worauf der Brauch der Protobulgaren zurückzuführen ist, Inschriften in Stein einzumeisseln und welchen Aufschluss sie über den Kulturstand ihrer Schöpfer geben.

 

 

17. ebenda 39-40

18. s. hier S. 333 Anm. 4

 

455

 

 

Es wurde mehrmals darauf hingewiesen, dass die protobulgarischen Inschriften einen durchaus eigenständigen Charakter haben und dass weder in der byzantinischen, noch in der mittelalterlichen lateinischen Epigraphik entsprechende Parallelen bestehen, woraus zu ersehen ist, dass sie nicht auf fremde Vorbilder zurückgehen. Diese Eigenartigkeit der protebulgarischen Inschriften sowie die Tatsache, dass eine Inschrift, die Res gestae des bulgarischen Elerrschers Tervel verherrlicht hat, fast in den ersten Jahren des Bestehens des Bulgarischen Staates, um das Jahr 707, in den Felsen von Madara zu beiden Seiten des berühmten Reiterreliefs eingemeisselt worden ist, berechtigen zu der Annahme, dass die Protobulgaren den Brauch des Aufstellens von Inschriften aus ihrer Heimat am Kaukasus mitgebracht haben. Sie standen dort sowohl mit dem Perserreich der Sassaniden, das in der Politik und Kultur mit dem Byzantinischen Reich rivalisierte und einen starken Einfluss auf die nahen und fernen Länder ausübte, als auch mit anderen iranischen Stämmen in Kontakt, wofür der iranische Name des Gründers des Bulgarischen Reiches in Mösien Asparuch zeugt [19]. Dieser Name zeigt ausserdem, dass es in der Flerrscherdynastie der Bulgaren am Kuban iranische Elemente gab oder dass sie zum mindesten unter iranischen Einflüssen stand. Die Bulgaren sind folglich mit gewissen Schrifttumstraditionen in die Balkanhalbinsel gekommen, was auch die protobulgarischen Runen bestätigen. Es ist bemerkenswert, dass weder die Hunnen noch die Awaren Inschriften hinterlassen haben. Auch in dieser Hinsicht bilden die Protobulgaren eine Ausnahme.

 

Das Vorhandensein der protobulgarischen Inschriften und ihre Mannigfaltigkeit, die verschiedenen Bedürfnissen des Staates entsprachen, rücken die Frage über die Kultur der Protobulgaren in ein völlig anderes Licht und sprechen eindeutig gegen die unbegründete Ansicht, dass sie eine kleine Gruppe von Nomaden ohne besondere materielle und geistige Kultur waren.

 

 

19. V. Beševliev, Protobulgarica, 224-231

 

456

 

 

Die Tatsache, dass es ihnen gelungen ist, nicht nur einen eigenen Staat in einem fremden, eroberten Landesgebiet zu gründen, sondern ihn auch Jahrhunderte lang gegen den mächtigsten und einzigen Staat in Osteuropa, den weder das Perserreich der Sassaniden noch das der Araber zu besiegen bzw. zu unterwerfen vermochten, zu verteidigen und durchzusetzen, widerlegt derartige voreilige und unbegründete Behauptungen.

 

Der Beschluss und der Auftrag Inschriften einzumeisseln und aufzustellen, sowie die Verfassung des Textes und alle übrigen damit verbundenen Einzelheiten gingen offensichtlich von einem bestimmten, wohlorganisierten Kulturzentrum aus, dass kein anderer Ort als der Sitz der obersten protobulgarischen Staatsgewalt, und zwar die Hauptstadt Pliska sein konnte. Wenn wir einerseits die Existenz der protobulgarischen Inschriften und andererseits das darin ausgedrückte Streben nach Gleichberechtigung mit dem byzantinischen Kaiser, die dem byzantinischen Hofzeremoniell entlehnten Formeln, das Vorhandensein eines Staatsarchivs aus chronikartigen und anderen Inschriften berücksichtigen, die Taten der Herrscher rühmen und ausdrücklich prächtige Bauwerke erwähnen, was für den Bedarf an eindrucksvollen, repräsentativen Bauten und für viele andere Einzelheiten spricht, so ist daraus zuschliessen, dass diese Hauptstadt weder aus Strohhütten, noch aus Zelten oder unscheinbaren Erdbehausungen bestanden hat oder bestehen konnte. Bei der Anführung einer Bauinschrift wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Messung der Enfernung zwischen Pliska und Silistra auf das Vorhandensein von Feldmessern, wahrscheinlich Byzantiner in bulgarischem Dienst, schliessen lässt. Dass zu jener Zeit byzantinische Techniker in Bulgarien gearbeitet haben, teilt der byzantinische Chronist Theophanes ausdrücklich mit. Dieser Quelle zufolge waren der Spatharios Eumathios, ein erfahrener Ingenieur, im Jahre 809 und bald darauf ein getaufter Araber, ebenfalls ein ausgezeichneter Mechaniker, der den Bulgaren den Bau von Kriegsmaschinen beigebracht hat, zum bulgarischen Herrscher Krum geflüchtet [20].

 

 

20. Theophan. 485, 9 und 498, 11

 

457

 

 

Daher besteht kein Zweifel, dass byzan tinische Ingenieure und andere Techniker in Bulgarien tätig waren. Es ist wohl kaum anzunehmen, dass die Bulgaren sie nur mit dem Bau von Kriegmaschinen beauftragt und sich mit einem grossen Dorf als Hauptstadt begnügt haben. Derselbe byzantinische Chronist berichtet, dass der Bulgarenherrscher Krum, nach dem gegen ihn, vor Konstantinopel angezettelten, jedoch misslungenen Mordanschlag, die Zerstörung der Umgebung der Stadt befohlen hat. Die Statuen eines Löwen aus Kupfer, eines Bären und Drachen mit ausgewählten Marmorwerken hat er offensichtlich nicht aus Rache verschleppt, sondern um die von dem Kaiser Nikephoros eingeäscherte Hauptstadt nach ihrem Wiederaufbau damit auszuschmücken. Eine der bereits angeführten Bauinschriften (Nr. 56) erwähnt ausdrücklich die Ausschmückung einer neugebauten Festung, die unweit Pliska lag mit Löwenstatuen. Der Palast Krums bestand, wie das Vatikanische Fragment mitteilt, aus zwei Geschossen mit Erkern [21]. Alle diese Angaben zeugen offensichtlich für eine grosse, gut gebaute bulgarische Hauptstadt. Die protobulgarischen Inschriften, die eine hohe und eigenständige Kultur beweisen, setzen also zwangsläufig auch die Existenz eines grossen, gut gebauten Stadtzentrums voraus und umgekehrt: Dieses Stadtzentrum zeugt von einer hohen geistigen und materiellen Kultur, die sich nicht nur in Bauwerken geäussert hat. Daher sind die protobulgarischen Inschriften nicht nur ein Beweis für eine geistige Kultur, sondern auch mit den monumentalen Bauwerken in Pliska eng und untrennbar verbunden. Das eine ist ohne das andere undenkbar.

 

 

21. Iv. Dujčev, Medioevo II, 434, 24-25

 

458

 

 

 

9. Die protobulgarischen Bauwerke

 

Literatur: Kr. Mijatev, Die mittelalterliche Baukunst in Bulgarien, Sofia 1974; St. Vaklinov, Formirane na starobălgarskata kultura, Sofia 1977.

 

 

   a. Pliska

 

Der Name der ersten bulgarischen Hauptstadt Pliska tritt zum ersten Mal in der protobulgarischen Bauinschrift Nr. 56 aus der Zeit des Khans Omurtag unter der Form Πλσκα auf. Diese Form stellt, wenn sie nicht irrtümlich statt Πλισκα eingemeisselt worden ist, wohl den Versuch dar, die urspüngliche slawische Form *Plăska [1] durch den Sonanten λ wiederzugeben. Bei den byzantinischen Autoren lautet der Name Πλίσκουβα (Leon Diak. 138, 29; Codin. de orig. 22, 3 f.) oder Πλίσκοβα (Anna Komn. VII 3 = ed Reifferscheid 233, 29; Kedren. II 452, 15; Zonaras IV 118, 29), was offenbar den altbulgarischen Ausdruck “grad Plăskov”, d.h. Stadt bzw. Burg von Pliska wiedergibt. In der altbulgarischen Übersetzung des Symeon Metaphrastas und Logothetes (Ausgabe der Peterburger kaiserlichen Akademie 1905, 159) steht Pliska, in der bulgarischen anonymen Chronik aus dem 11. Jh. (s. hier. S. 499-502) dagagen Pljuska. Der Stadtname Pliska ist slawisch und kommt in anderen slawischen Ländern vor. Die bekanntesten Beispiele dafür sind: Pskov, altruss. Plăskov, deutsch Pleskau, poln. Pszcyna [2]. Der Name ist wohl urverwandt mit pleso “See, Sumpf” [3].

 

 

1. M. Vasmer, Die Slawen 59; 286

2. M. Vasmer, ESRI, III 397-398; A. Profous, Mistni jména v cechach III (1951), Praha 378-379 s. v. Pliskov

3. C. Hey, Die slawischen Siedlungen im Königreich Sachsen, Dresden 1893, 279 f.; L. Niederle, Manuel I 59; C. D. Dimov-Bogoev, La Capitale de κανας υβηγη Ομονρταγ - Πλσκας usw., in: Beiträge zur Alten Geschichte und deren Nachleben ( = Festschrift für Fr. Altheim zum 6.10. 1968) 2 Bd., Berlin 1970, 154-168 (wertlos)

 

459

 

 

In der apokryphen bulgarischen Chronik (s. hier S. 499-500) wird die Gründung von Pliska dem bulgarischen Herrscher Ispor ( = Asparuch) zugeschrieben. Doch Pliska existierte sicher schon vor der Einwanderung der Protobulgaren als slawische Siedlung, die sich im Gebiet des Slawenstammes der Severen befand und vielleicht ihr Zentrum war. Die Bulgaren haben es sich später angeeignet.

 

Das Schicksal von Pliska ist von der byzantinischen Herrschaft bis zur türkischen Zeit noch nicht aufgehellt. Aus der Erwähnung der byzantinischen Autoren im Zusammenhang mit den Feldzügen 972, 1001 und 1088 ist zu entnehmen, dass Pliska ein wichtiger Militärplatz war. Die Stadt bestand ohne Zweifel auch während des zweiten Bulgarischen Reiches. Ob Pliska auch in der türkischer Zeit noch ein bewohnter Ort war, ist unbekannt. Pavel Gjorgijč aus Dubronvik erwähnt 1595 ein Dorf Plozzo in dieser Gegend, dessen Name aus Pliska entstellt zu sein scheint [4]. C. D. Dimov-Bogoev [5] führt Pliske castrum aus Smičiklas, Codex Diplomaticus Regni Dalmatiae, Croatiae et Slavoniae, Zagrabiae - Zagreb 1909, 1270, 570 an. Es ist fraglich, ob dieser Beleg sich auf unser Pliska oder eine andere Festung bezieht. Pliska ist jedoch in den Landkarten des 17. und 18. Jhs. verzeichnet und ziemlich genau lokalisiert, was auf einer zeitgenössischen Auskunft beruht [6]. In späterer türkischer Zeit entstand ein türkisches Dorf namens Aboba, etwa 1,5 km südlich von der alten Hauptstadt, dessen Name den alten Namen Pliska verdrängte. Mit der Zeit ist Pliska in Vergessenheit geraten.

 

Der erste, der die Riunen bei dem Dorf Aboba mit Pliska identifizierte, war K. Jireček [7]. Fast um dieselbe Zeit gewann auch K. Škorpil [8] aufgrund eingehender Erwähnungen die Überzeugung, dass Pliska in den Runen bei Aboba zu suchen ist.

 

 

4. V. Makušev, Monumenta historica Slavorum meridionalium II, Belgrad 1882, 244

5. op. cit. 166

6. V. Beševliev, Nordost-Bulgariens 75-80

7. K. Jireček, in: AEM X (1886), 195; Sitzungsber. Wien 1897, 87; Arch. slav. Phil. 21 (1899) 612 und Reisen 872

8. Pametnici na grad Odesos-Varna, in: Godišen otčet na Varnenskata dăržavna măžka gimnazija za 1897-1898, Varna 1899, 5 f. und Mogili, Plovdiv 1898, 153

 

460

 

 

Dieser Ansicht schloss sich später auch W.N. Zlatarski [9] an. Das Russische Archäologische Institut in Konstantinopel unternahm 1899 und 1900 von den Erwähnungen Škorpils ausgehend, Ausgrabungen der Ruinen bei Aboba, die die Ansichten von Jireček und Škorpil über die Lokalisierung von Pliska zur Evidenz erhoben [10].

 

Nach der Inschrift Nr. 55 (s. hier S. 446) befand sich Pliska

 

Orgyien von der Donau entfernt, was in sog. kaiserlichen Orgyien von je 2,134 m 85,36 km ausmacht. Diese Zahl entspricht fast genau der tatsächlichen Entfernung in der Luftlinie von der Stadt Silistra, wo Omurtag einen prächtigen Palast errichtet hat (s. hier S. 446). Die Ruinen von Pliska liegen, wie gesagt, 1,5 km nördlich von dem Dorf Aboba (j. Pliska), 23 km nordöstlich von der Stadt Surrten und 8 km nordwestlich von der Stadt Novi pazar in einer weiten, leicht nordöstlich geneigten Ebene. Mitten durch das befestigte Gelände fliesst von Norden nach Süden ein kleiner Bach (Abb. 60).

 

Die archäologischen Ausgrabungen und Untersuchungen führten zu folgenden Hauptergebnissen [11]. Die Befestigungsanlagen von Pliska bestehen aus zwei ineinanderliegenden Befestigungsgürteln: aussen ein Graben und Wall, innen eine Steinmauer und im Zentrum eine dicke Backsteinmauer.

 

 

9. Istorija I 1, 319-320 mit Anm. 2

10. Die Ausgrabungsergebnisse in IRAIK X (1905)

11. Grundlegend: K. Škorpil, Postroiki v Abobskom ukreplenii, in: IRAIK X (1905) 62-152, hierzu noch 30-61; 153-172; 250-264; 281-286; 301-337 und 372-384; N. Mavrodinov, Izkustvo 35-54; Kr. Mijatev, Arhitektura 30-36; 48-53; 80-89. Die obige Darstellung beruht wesentlich auf dem Aufsatz von St. Stančev (Vaklinov), Pliska und Preslav, in: Antike und Mittelalter in Bulgarien, Berlin 1960, 219-264 mit Lit. S. noch denselben, Pliska théories et faits, in: Byzantinobulgarica I (1962) 349-365. Über die neusten Ausgrabungen orientieren die Berichte der Ausgräber in IAI.

 

461

 

 

Die äussere Befestigungslinie umschliesst eine grosse, rechteckige nordöstlich orientierte Fläche von 23 km2, heute als die Äussere Stadt bezeichnet. (Abb. 61). Die östliche und westliche Seite ist 7 km lang, die nördliche 3,9 km und die südliche 2,7 km. Das ist wohl das in der Inschrift Nr. 56 erwähnte τῖς Πλσκας τὸν κάνπον, das dem zentralasiatischen orda, ordu und ordo “Lager, Residenz oder Hauptstadt” (s. hier S. 401-402) und dem Lager des Attilas [12] entsprechen dürfte.

 

Die dicke Steinmauer umschliesst die heute sogenannte innere Stadt, die die Form eines Trapezes mit einer langen Seite im Westen und einer Fläche von 0,5 km2 hat. (Abb. 62). Anden vier Ecken der Steinmauer standen runden Türme (Abb. 63). Die Tore sind in der jeweiligen Mitte einer Seite. An den Toren befanden sich je vier quadratische Türme. Zwei von ihnen sind den Mauern vorgelagert, während die beiden anderen auf der Innenseite liegen. Der Gang wurde von zwei Toren verschlossen (Abb. 64-65). Das äussere Tor war eine Falltür, das innere dagegen eine zweiflüglige Tür. Die Stadtmauer war etwa 8 m hoch und die Türme waren etwa 10 m hoch. Sowohl die Stadtmauer, als auch die monumentalen Bauten sind aussen mit fast gleich grossen Kalksteinquadern verkleidet, die sich mit der langen Seite (Läufer) und der kurzen (Binder) abwechseln (Abb. 66). Diese Bauweise ist allen protobulgarischen Bauten eigen.

 

Die Gebäude im Zentrum Pliskas lassen sich nach ihrer Lage in drei Gruppen einteilen: 1. den Komplex der Bauten der sog. Kleinen-Palast-Gruppe, der von einer massiven Backsteinmauer umschlossen war und als dritter Verteidigungsgürtel der Stadt gelten kann, 2. den Thronpalast, auch grosser Palast genannt, südöstlich der Backsteinmauer um den kleinen Palast gelegen und 3. die Hofbasilika, die ebenfalls ausserhalb liegt.

 

Der Grosse Palast ist das grösste und relativ besterhaltene Gebäude (Abb. 67). Der erhaltene Teil stellt den Parterreunterbau des eigentlichen Thronsaales dar. Das ganze Gebäude ist nordöstlich orientiert. Es ist ein grosses Rechteck (52 m x 6,5-0 m) mit etwas verschobenen Winkeln.

 

 

12. F. Vamos, Attilas Hauptlager und Holzpaläste, in: Seminarium Kondakovianum V (1932) 134-137

 

462

 

 

Das Erdgeschoss ist in seinem nördlichen Teil in vier lange Korridore unterteilt, die von Ziegelsteingewölben überdacht waren. Sie trugen den Boden des grossen dreischiffigen Saales in der ersten Etage. Zu beiden Seiten des Mittelschiffes lief eine Kolonnade entlang und im Hintergrund gegenüber dem Eingang befand sich eine grosse Apsidennische. Der südliche Teil des Erdeschosses bildet einen Vorhof, von dem eine grosse Holztreppe zur oberen Etage führte. Die Etage stellte ohne Zweifel einem grossen Thronsaal dar, in dessen nördlicher Seite [13], in der Apsidennische, der Thron des Herrschers stand. (Abb. 68-69).

 

Unter den Grundmauren des Thronsaales wurden Fundamente eines älteren, in seinen Ausmassen riesigen Gebäudes gefunden, dessen Grundfläche mehr als das Dreifache des Grossen Palastes einnahm (4718 m2 gegenüber 1378 m2). Sein Grundriss hat eine rechteckige, fast quadratische Form (74 m x 59,50 m). Tief unter dem Niveau, des Grossen Palastes sind die Mörtelfundamente von Steinmauern erhalten, die ein dichtes Netz von Rechtecken und Quadraten bilden. Über diesem Steinfundament erhob sich das eigentliche Gebäude, das zum grössten Teil aus Holz war. Über sein Aussehen sind wir nur auf Vermutungen angewiesen. An seiner Ost- und Westfassade erhoben sich wahrscheinlich zwei Türme. Das Gebäude war durch einen riesigen Brand vernichtet worden. Das ist wohl derselbe Brand, den das byzantinische Heer im Jahre 811 auf Befehl des Kaisers Nikephoros beim Verlassen von Pliska anlegte, (s. hier 242). Nach dem Vatikanischen Fragment scheint der Palast ἡλιακὰ gehabt zu haben [14].

 

 

13. Bleichsteiner, 193: “Der Palast Möngke Chakans erstrecte sich nach dem Bericht Rubruks von Norden nach Süden. Der Herrsher sass am nördlichen linde auf einem erhöhten Platz.“ 194: “Es wäre ferner Marco Polos Beschreibung der Bankette Chubilai-Chakans anzuführen, die ganz denen von Batu und Möngke entsprechen. Der Thron des Kaisers steht an der Nordseite des Saales, er selbst sitzt mit dem Gesicht nach Süden.”, s. auch 182

14. über die Erkers. Κ.Ι. Ἄμαντος, Γλωσσικαὶ παρατηρήσεις εἰς μεσαιωνικοὺς συνγραφεῖς, in: ΕΕΒΣ II (1925) 282-284; Φ.Ι. Κουκούλες, Περὶ τὴν Βυζαντινὴν οἰκίαν ebenda XII (1936) 113-1 17; hierzu Kr. Mijatev, Krumovijat i drugi novootkriti postrojki v Pliska, in: IAI 14 (1943) 105-135

 

463

 

 

Ein geheimer unterirdischer Gang verband das verbrannte Gebäude mit dem sog. Kleinen Palast. Auch dieser Gang ist in seiner Ganzen Länge ausgebrannt. Auf den Trümmern des alten Palastes wurde wohl unter Omurtag der Thronpalast errichtet.

 

Westlich von dem Thronpalast hat ursprünglich ein Gebäude gestanden, dessen Grundriss zwei ineinandergelegene, ostwestlich gelagerte Rechtecke mit vermutlichem Eingang an der Südseite darstellte. Das war wohl ein heidnisches Heiligtum, das später in eine christliche Kirche, jetzt Hofkirche genannt, um gewandelt wurde. Fast in der Mitte des von der Ziegelmauer umfassten weiten Hofes (128 x 84 m) wurden die Grundmauern eines grossen Gebäudes gefunden, dessen Grundriss ebenfalls aus zwei konzentrisch ineinanderliegenden Quadraten besteht. Dieses Gebäude, das man wohl mit Recht zu einem heidnischen Tempel erklärt hat, wurde später niedergerissen und dem Erdboden gleichgemacht. Nordwestlich von diesem zerstörten Gebäude liegen die Ruinen des sog. Kleinen Palastes (Abb. 70). Das sind zwei im Grundriss fast gleiche Steingebäude, von denen das östliche das grössere ist. Ihr Grundriss stellt einen langen etwa 19 x 14 m in zwei Räume unterteilten Saal dar, der zu beiden Seiten von je drei kleinen Räumen flankiert ist. In dem westlichen Gebäude gab es eine Heizanlage. Die beiden Gebäude sind nordsüdlich mit Eingängen an der Südseite orientiert. Sie hatten mindenstens zwei Etagen und waren wohl Wohnhäuser. Von dem Westgebäude führte ein unterirdischer Gang unter der nördlichen Umfassungsmauer hindurch zum Nordtor der Inneren Stadt. Der kleine Palast hat auch unter dem grossen Brand gelitten.

 

In der Nordwestecke des Hofes wurden die Überreste eines runden Gebäudes gefunden, das wahrscheinlich ein Wasserreservoir gewesen ist. Später wurde darüber ein kleiner Steinbau errichtet sowie ein massives Badehaus. Südlich davon wurden die Steinfundamente eines grossen Gebäudes gefunden, dessen Inneres ein sehr grosses Ziegelbassin darstellt.

 

464

 

 

Das Wasserbassin wurde später zugeschüttet und darüber eine Pflasterung aus dicken Steinblöcken gelegt. Darauf wurde das Gebäude errichtet, dessen Grundriss aus einem Rechteck besteht. Zu seinen beiden Seiten reihen sich je drei kleinere Räume an. Dieses Gebäude war auch ein Wohnhaus. Wer dieses dritte Wohnhaus in dem mit der Backsteinmauer umfassten Hof bewohnte, ist selbstverständlich unbekannt.

 

Ausser den erwähnten Gebäuden befinden sich im südwestlichen Teil des von der Ziegelmaur umgrenzten Geländes die Fundamente noch anderer, doch unbedeutender Bauten, die meistens wirtschaftlichen Zwecken dienten.

 

Ausserhalb der Ziegelmauer, nördlich vom Komplex des Kleinen Palastes, fand man die Steinfundamente eines Wohnhauses, das den gleichen Grundriss wie der kleine Palast hat.

 

In dem von der äuseren Befestigung umschlossenen Gebiet sind bisher zahlreiche, voneinander entfernt liegende Kirchen entdeckt worden. Unter ihnen steht die sog. Grosse Basilika an erster Stelle. Das ist ein ausserordentlich grosses Gebäude : es ist 99 m lang, 29,50 m breit und umfasst eine Fläche von 2920 m2. Rings um die Basilika zieht sich ein geräumiger Hof mit Gebäudefundamenten, an die sich im Norden ein zweiter Hof mit einen grossen Brunnen in der Mitte anschliesst. Daraus folgt, dass rings um die Basilika ein bedeutendes Kloster gestanden hat. Zuletzt wurden unter den Grundmauern der Basilika die Fundamente einer älteren Kirche gefunden. Unter dem Altarraum ist man bei den Ausgrabungen auf noch ältere Grundmauerreste gestossen, die wohl von einem früheren heidnischen Heiligtum stammen. Die Basilika ist mit der inneren Stadt durch einen gut gepflasterten Weg verbunden.

 

Unter den zahlreichen Überresten von profanen Bauten verdient das Gebäude, das als Nr. 32 bezeichnet ist, besondere Beachtung. Es liegt gegenüber dem Osttor der Inneren Stadt in der Achse des Grossen Palastes und ist nordsüdlich orientiert. Man erkennt die Grundmauern, die ein grosses Rechteck bilden. Sie sind aus grossen, regelmässig angeordneten Knlksteinquadcrn — längsgestellte wechseln mit quergestellten (Binder und Läufer) — ausgeführt.

 

465

 

 

Dieses Gebäude ist das einzige in der Äusseren Stadt, das wie die Gebäude im Zentrum aus massiven Kalkblöcken errichtet wurde. Seine Bestimmung ist unklar.

 

Sowohl in der Inneren — als auch Äusseren Stadt wurden einfache, tief in die Erde hineingesetzte Holzhütten gefunden, die wohl der früheren slawischen Bevölkerung gehört zu haben scheinen.

 

Dicht neben der Steinbefestigung der Inneren Stadt liegen einige Grabhügel. Von ihnen ist nur einer ausgegraben. In ihm wurden eine Brandbestattung und getötete Pferde gefunden. Ausserhalb der Erdbefestigung neben dem westlichen Wall befindet sich auch eine Reihe von Hügeln. In der unmittelbaren Nähe von Pliska hat man mit Ausnahme von 3 Sarkophagen an der südöstlichen Apsidenseite der Grossen Basilika, die aber aus der christlichen Zeit stammen, bisher keine Nekropolen entdeckt. Bei der Stadt Novi pazar dagegen, etwa 7 km östlich der innen Stadt, wurde eine protobulgarische Nekropolis ausgegraben [15].

 

In der Bauinschrift Nr. 55 wird der Palast in Pliska bald ὁ παλαιὸς οἶκος (z. 4-5: τὸν παλεὸν ὖκον), bald ἡ αὐλὴ ἡ ἀρχαῖα (z. 17-18: τὴν αὐλίν... τὴν ἀρχέαν) genannt. Die beiden Bezeichnungen sind also gleichbedeutend gebraucht. Das griechische Wort αὐλή bedeutet bekanntlich seit Homer bis heute “Hof, bzw. Wohnung” im Hof [16], später “Herrscherresidenz [17], Königshof, Hofburg [18] oder nur “Palast”, vgl. Ἡ κτιζομένη αὐλὴ τοῦ ἀμῖρ Ἀλμουμνῖν [19].

 

 

15. St. Stančev und S. Ivanov, Nekropolăt do Novi pazar, Sofia 1958. Nur als Material St. Mihajlov, Edin starinen nekropol pri Novi Pazar, in: IAI 20 (1955) 293 ff.

16. A Greek-English lexicon, compiled by H.G. Liddell and R. Scott. A new edition usw. by H.S. Jones with the assistance of R. McKenzie, Oxford 1925-1949 s.v.

17. E.A. Sophocles, Greek lexicon of the Roman and Byzantine periods, New York

18. E. Preisigke, Wörterbuch der griechischen Papyrusurkunden usw., bearbeitet und hrausgegeben von E. Kiessling, Heidelberg 1925-1931, s.v.

19. Bei Preisgke s.v.

 

466

 

 

Das aus dem Griechischen entlehnte lateinische Wort aula hat dieselbe Bedeutung. Das griechische Wort αὐλὴ hat also denselben Bedeutungswandel wie das deutsche “Hof”, französische “cour” und des altbulgarische “dvor” durchgemacht. Αὐλὴ als Herrschersitz bedeutet folglich ein Gebäudekomplex in einem Hof, wie es die Innenstadt bzw. der mit der Backsteinmauer umgrenzte Hof von Pliska war. Mit demselben Wort wird die Residenz des Bulgarenherrschers auch in den byzantinischen Quellen bezeichnet. Ein Beispiel dafür. Der Wahrsager Sabatios, dessen Prophezeihung in der Epistel des Patriarchen Christophoros (+ 836) an den Kaiser Theophilos (829-842) erhalten ist [20], prophezeit dem Kaiser, dass er sein Schwert in die Kupfertenne der bulgarischen Herrscherresidenz (εἰς τὴν χαλκῆν ἅλωνα τῆς αὐλῆς αὐτῶν) einschlagen wird. Damit wurde vielleicht der heidnische Tempel innerhalb bzw. ausserhalb der Backsteinmauern gemeint.

 

Man hat irrtümlich das rein griechische Wort αὐλὴ wegen des Anklanges an das türkische aγyl für protobulgarisch erklärt (s. hier S. 401-402) [21], indem man sich auf Stellen wie Theophanes 436, 21-24 beruft, wo aber αὐλαί die weiten Bauerhöfe mit der dazugehörigen Wohnung und dem Stall bedeuten, aus denen die slawischen Dörfer bekanntlich bestehen.

 

 

   b. Die Befestigungsanlage bei Zar Krum = Čatalar

 

Das Deminutivum αὔλιον in der Bauinschrift Nr. 56 bezieht sich auf eine kleine Befestigungsanlage, die südlich von dem Dorf Zar Krum (fr. Čatalar) ausgegraben wurde. Sie besteht aus zwei ineinanderliegenden Befestigungsgürteln: aussen Graben und Erdaufschüttung (Wall) und innen Steinmauer mit nur einem Tor an der östlichen Seite. Der Grundriss der Steinfestung hat eine quadratische Form. In dem so umgrenzten Hof (αυλή bzw. αῦλιον) wurden die Fundamente von Kasernen,

 

 

20. Migne PG 95, col. 372

21. Zlatarski, Istorija I 1,256 Anm. 2; B. v. Arnim, Turkologische Beiträge, in: Zs. slav. Phil., 10 (1933) 344-349; Fehér, Les monuments 24-25

 

467

 

 

einem Bad und anderen leichten Bauten, sowie ein Marmorlöwe gefunden, der offenbar einer der beiden in der Inschrift erwähnten Löwen ist [22].

 

 

   c. Die Bauten in Silistra und Păcuiul lui Soare

 

Die protobulgarische Bauinschrift Nr. 55 teilt mit, dass Omurtag, während er sich in seiner alten Residenz aufhielt, ein prachtvolles Haus an der Donau errichtete, das etwa 86 km von dem alten Palast entfernt lag (s. hier S. 446). Fast genau in der angegebenen Entfernung befindet sich die bulgarische Donaustadt Silistra, das mittelalterliche Dristra, Drăstar, das antike Durostorum. Die zuletzt in dieser Stadt unternommenen Ausgrabungen haben Überreste von einer Steinmauer mit Tor unter einem modernen Haus zutage gefördert. Sie befinden sich nicht sehr weit südöstlich von den Ruinen der alten Festungsmauern, die dicht am Donauufer liegen. Dazwischen erstreckt sich der Stadtpark, wo früher die Fundamente von Gebäuden sichtbar waren. Sowohl die Überreste unter dem modernen Haus, als auch die der Festungsmauern zeigen die für die protobulgarischen Bauten charakteristische Bauweise: regelmässig angeordnete grosse Quader, die längsgestellte abwechselnd mit quergestellten (Läufer und Binder) (Abb. 72-79). In einem Quader sind auch zwei protobulgarische Zeichen eingegraben (Abb. 6). Dass die Bauten protobulgarisch sind, ergibt sich nicht nur aus der Bauweise und den protobulgarischen Runenzeichen, sondern auch aus dem Umstand, dass die protobulgarischen Festungsmauern auf älteren, antiken in einer ganz anderen Bauweise ausgeführten Mauern liegen.

 

 

22. V. Antonova und Zv. Dremsizova, Aulăt na Omurtag, in: Arheologija II (1960) 2, 28-39; Zv. Dremsizova, Proučvanija na aula na Omurtag prez 1959, in: Sb. K. Škorpil 111-128; V. Antonova, Novi proučvanija na starobălgarskoto ukreplenije pri Zar Krum prez 1959, ebenda 131-152; Kr. Mijatev, Arhitektura 42-45; W. Antonowa, Der Aul von Chan Omurtag bei Tschatalar, Sb. Preslav 2 (1976), 26-36

 

468

 

 

Das in der Bauinschrift erwähnte prachtvolle Haus dürfte hier irgendwo gestanden haben. Aus Siiistra stammen drei Fragmente einer grossen protobulgarischen Inschrift mit den Res gestae des Krum, die wohl in dem genannten Haus aufgestellt war (Abb. 39-40).

 

Silistra spielte die Rolle einer zweiten Hauptstadt im ersten Bulgarischen Reich. Sie war die Verbindung zwischen dem zisund dem transdanubischen Bulgarien. Nach der Bekehrung der Bulgaren zum Christantum sass hier der bulgarische Patriarch. In dieser Stadt suchte Krum offenbar Zuflucht nachdem Einfall des Kaisers Nikephoros (811) in Bulgarien. Laut der anonymen bulgarischen Chronik (s. hier S. 499-500) gründete der Bulgarenherrscher Ispor (=Asparuch) die Stadt Drăster (und Pliska), d.h. er legte in dieser Stadt Bauten an. Die beiden Städte Pliska und Drăster waren auch durch eine Strasse miteinander verbunden. Er ist wohl kein Zufall, dass der unterirdische Gang von dem Kleinen Palast in Pliska unter der nördlichen Umfassungsmauer hindurch zum Nordtor der Inneren Stadt, d. h. nach Silistra, führte. Auch in der späteren bulgarischen Geschichte hatte diese Stadt eine grosse politische und militärische Bedeutung.

 

Zur Sicherung der Stadt gegen die vom Donaudelta her unternommenen Angriffe wurde eine Steinfestung auf einer Alluvialinsel der Donau gebaut, die von Siiistra nur 18 km entfernt ist, sich jetzt im rumänischen Gebiet befindet und heute den rumänischen Namen Păcuiul lui Soare auch Pecui, (also etwa “Sonnenbrand” zu bulg. peka “backen” pek, peklo “Glut, Hitze”?) trägt. (Abb. 75). Von der Festung ist nur ein Drittel erhalten. Das Übrige ist von der Donau fortgeschwemmt. Der Grundriss scheint ursprünglich rechteckig gewesen zu sein. Der ganze Bau unterscheidet sich durch nichts von den bisher bekannten protobulgarischen Bauten. Die erhaltenen Mauern sind wieder in der wohlbekannten spezifisch-protobulgarischen Bauweise — Läufer und Binder — gebaut und manche Quadersteine haben ebenfalls protobulgarische Runenzeichen (Abb. 7) [23].

 

 

23. P. Diaconu - D. Vilceanu, Păcuiul lui Soare, vol. I, Bucuresti, 1972, 28-29 und 131-136 — Über die Ausgrabungen in Silistra St. Angelova, Krepostnata stena na Durostorum-Drăstar-Silistra, in: Arheologija XV (1973) 3, 83-93

 

469

 

 

Die Mauersteine liegen zuerst wie bei manchen Gebäuden bei Pliska auf einer aus in die Erde eingetriebenen Holzpfählen und Mörtel verfertigten Grundlage (Abb. 76) [24]. In der Nordmauer wurde ein Tor freigelegt, das seine nächste Parallele in den Stadttoren von Pliska und Preslav hat [25]. Am nordwestlichen Winkel steht ein Turm. In der Mitte der südlichen Mauer hat man einen Ausladeplatz ausgegraben, der von zwei Türmen flankiert wurde. Die ganze kurz beschriebene Festung war wohl ein Flottillenstützpunkt. Die in der Festung gefundene Keramik unterscheidet sich auch durch nichts von der aus anderen protobulgarischen Orten [26].

 

Laut Berichten des Einhards [27] und der sog. Annales Fuldenses kamen die Bulgaren (827) mit Schiffen auf dem Fluss Drava nach Pannonien und unterwarfen die dortigen Slawen. Im Jahre 829 kamen sie wieder auf dieselbe Weise nach Pannonien und äscherten manche Siedlungen der Franken ein [28]. Diese Nachrichten zeigen, dass die Bulgaren über eine Flussflottillle verfügten, die ihren Stützpunkt höchstwahrscheinlich in der Donau und zwar nicht weit von dem Zentrum des Staates Pliska oder Silistra hatte. Sie sollte in erster Linie den Zugang zu der letzteren Stadt, die nicht nur die wichtigste Übergangsstelle zu dem jenseitigen Bulgarien,

 

 

24. ebenda 55-57

25. ebenda 29-36 und besonders R. Popa, La porte nord de la fortresse byzantine du Xe siècle de Pacuiul lui Soare et ses relations avec l’architecture militaire byzantine, in: Actes du Ie Congrès international des Études Balkaniques et Sud-est Européennes, II, Sofia, 1969, 574-575

26. Die von den rumänischen Forschern vorgeschlagene Datierung der Festung in das 10. Jh. und die damit zusammenhängende Bezeichnung “byzantinisch” stehen in krassem Widerspruch zu den archäologischen Funden und Beobachtungen und der geschichtlichen Wahrheit. Die Festung stammt ohne jeglichen Zweifel aus dem 9. Jh, s. Iv. Božilov, Kulturata Dridu i părvato bălgarsko carstvo, in: Istoričeski pregled XXVI 4 (1970) 119 f.

27. Annales, MGH, SS I 216, 32-34: “Bulgari quoque Sclavos in Pannonia sedentes misso per Dravum navali exercitu ferro et igni vastaverunt etc.” vgl. auch Ann. Fuld. MGH, SS I 359, 31-33

28. Ann. Fuld. 360, 2-3: “Bulgari navibus per Dravum fluvium venientes, quasdam villas nostrorum flumini vicinas incenderunt.”

 

470

 

 

sondern auch der Anfang des kürzesten Weges von der Donau nach Pliska war, gegen eventuelle feindliche Angriffe auf der Donau verteidigen. Die bulgarische Donauflottille wurde selbsverständlich auch für Militärexpeditionen die Donau hinauf verwendet. Die Festung auf der Donauinsel Pacuiul lui Soare diente wohl als Stützpunkt dieser Flottille.

 

Über den protobulgarischen Namen der Festung lässt sich folgende Vermutung aussprechen. Der Bulgarenzar Symeon wurde 895 von den Ungaren geschlagen und musste in Dristra ( = Silistra) Zuflucht suchen [29]. Nach Konstantin Porphyrogennetos wurde er dagegen in der Festung Mundraga eingeschlossen [30]. Die beiden Nachrichten lassen sich am einfachsten miteinander in Einklang bringen, wenn man annimmt, dass die Festung Mundraga in der Nähe von Dristra lag und als dieser Stadt zugehörig galt. In diesem Fall wäre die obige Festung mit Mundraga identisch [31].

 

 

   d. Madara

 

    i. Die Bauwerke

 

Etwa 17 km östlich von der heutigen Stadt Šumen erhebt sich eine bis 100 m hohe senkrecht abfallende Felswand, die nach dem naheliegenden Dorf Madara genannt wurde [32]. (Abb. 60)

 

 

29. Theoph. Cont. 359, 1... ὡς μόλις τὸν Συμεὼν ἐν τῇ Δίστρα περισωθῆναι... Vgl. auch Leon Gramm. 268, 9-11; Georg. Mon. 773, 10; Skyl.-Cedr. II 255, 20-21; Zonaras 40, 26-27

30. Const. Porph. de adm. imper., ed. Moravcsik 40, 10: ... ἀποκλείσαντες αὐτὸν εἰς τὸ κάστρον τὸ λεγόμενον Μουνδράγα.

31. Zlatarski, Istorija I 1, 326 Anm. 4; A. Kuzev, Die Festungen an der unteren Donau im XII-XIV. Jh., in: Actes di IIe Congrès International des Études du Sud-est Européen, II, Athènes 1972, 418 erklärt Pacuiul lui Soare für identisch mit Mundraga und dem von Omurtag gebauten Palast an der Donau. Doch jetzt P. Diaconu, Despre localizare Vicinei, Pontica 1970, 3, 276.

32. Die Verhältnisse liegen eigentlich umgekehrt. Das Dorf ist nach dem Felsen genannt, da der Name Madara griechisch ist und bekanntlich kaler Fels bedeutet.

 

471

 

 

Die von 1924 bis 1928 geführten Ausgrabungen deckten Baureste aus verschiedenen Epochen auf [33]. Unter ihnen nahmen die Überreste aus Zeit der Protobulgaren einen besonderen Platz ein. Auf der Terrasse nördlich von einer grossen Höhle fand man das Fundament eines alten Gebäudes, dessen Grundriss zwei ineinandergelegene, ostwestlich gelagerte Rechtecke darstellt. Das innere Rechteck hatte an der Ostseite einen Vorraum. Es wurde später abgerissen, um für eine grosse Basilica Platz zu machen. Nach Kr. Mijatev [34] war dieses Gebäude ein Heiligtum der heidnischen Bulgaren, nach N. Mavrodinov [35] dagegen ein Lustschloss. Um das Gebäude herum liegen zahlreiche Räume, die sich wie Klosterzellen aneinanderreihen.

 

Weiter nördlich deckte man Überreste von merkwürdigen Bauten auf. Man fand zunächst die Ruinen eines wiederum rechteckigen Saales mit. 6 weiten Öffnungen und einer Tür. Südlich davon ragt ein Felsenmonolith auf, der auf der Ostseite mit Mauerwerk umschlossen war, so dass er wie ein Turm aussah. In südlicher Richtung gab es neben diesem Felsen einen anderen Raum, in dessen östlicher Wand eine steinere Säule eingemauert war. Vor dem Saal und dem Monolithen liegt östlich ein anderer, kolossaler, behauener Stein, der einem grossen Sitz ähnelt. Die meisten Forscher (G. Fehér, Kr. Mijatev, Iv. Velkov u.a.) erklärten diese Bauten zu Heiligtümern der Protobulgaren. N. Mavrodinov [36] hielt jedoch den Saal wieder für ein kleines Lustschloss. Südwestlich davon ist eine Grube tief in die Erde eingelassen, die mit Steinen und einer Reihe von Ziegeln umbaut ist und wie ein Wasserbassin aussieht. Nach N. Mavrodinov [37] handelt es sich um das Fundament eines Turmes.

 

 

33. Madara. Razkopki i proučvanija Hauptwerk, Sammelband mit ausführlichen Ausgrabungsberichten und Beiträgen von R. Popov, Iv. Velkov, Kr. Mijatev, G. Fehér u.a., Bd. I (1934), 7-254; 429-447; Bd. II. (1936) 11-105; Iv. Velkov, Madara, in: Antike und Mittelalter 265-271 mit Lit.

34. Arhitektura 74

35. Izkustvo 54-58

36. ebenda 58-60            37. ebenda 59 f.

 

472

 

 

   ii. Das Reiterrelief

 

Etwa 100 m nördlich von der grossen Höhle ist ein grosses Reiterrelief [38] in der Felswand ausgehauen, das links, rechts und unten von Inschriften (Nr. 1) umgeben ist. Es befindet sich in etwa 23 m Höhe über dem Fuss der Felswand und stellt einen nach rechts gewandten Reiter in Bewegung dar, dem ein Hund folgt. Unter den Vorderbeinen des Rosses kauert ein von einem kurzen Speer durchbohrter Löwe. Das Reiterrelief, das in ganz Europa einzig in seiner Art darsteht, ist 2,60 m hoch, 3,10 m breit (Abb. 77).

 

An dem Relief, das von der Erosion stark beschädigt ist, lassen sich heute aus der Nähe, von einem Gerüst aus, beobachtet, hauptsächlich folgende Einzelheiten sehen. Eine Rille umgrenzt fast den ganzen Reiter. Von dem roten Bewurf, der einst die Figuren bedeckte, sind an einigen Stellen des Pferdes Überreste erhalten. Der Reiter hat Kopf und Rumpf dem Zuschauer zugewandt. Sein üppiges Haar reicht bis zum Hals. Das flach gemeisselte Gesicht ist so stark von der Erosion beschädigt, dass alle Einzelheiten verwischt sind. Der Reiter trägt einen langen Rock, dessen Falten mit vier dicken Kanten angedeutet sind. Sein rechter Fuss ist mit einem weichen Schuh ohne Absatz bekleidet und steckt in einem Steigbügel. Die linke Hand hält die Zügel. Der Reiter sitzt in einem Sattel mit hoher Rückenlehne. Hinter seinem Rücken erkennt man einen Bogenköcher. Der geworfene kurze Speer ist mit Wimpeln verziert. Das Ross hat einen grossen Rumpf und kurze Beine, sein Kopf ist ebenfalls dem Zuschauer zugewandt. Auf der Stirn zwischen den Ohren befindet sich ein tiefes, viereckiges Loch, worin einst ein Schmuckgegenstand steckte. Man erkennt weiter die Mähne und den Zaum. Der Rossschweif ist nicht geflochten. Die Figur des hinter dem Reiter laufendes Hundes ist von dem ganzen Relief am besten erhalten.

 

 

38. Madarskijat konnik, Sofia 1956. Sammelband mit Beiträgen von T. Gerasimov, Iv. Venedikov, St. Stančev u. a. mit Lit. 115-233

 

473

 

 

Der Kopf ist im Profil, das Auge dagegen en face dargestellt. Die Zunge hängt zwischen den zusammengebissenen Zähnen heraus. Der Löwe ist ganz schematisch behandelt. Man erkennt die Mähne, aber keine andere Einzelheiten. Das ganze Relief ist in den Felsen ohne vorhergehende Bearbeitung der Oberfläche gehauen und flach gearbeitet.

 

Die Realien wie der lange Rock, der Sattel mit der hohen Rückenlehne und besonders der Steigbügel, der in Europa bekanntlich erst gegen Ende des 6. Jhs. eingeführt worden ist [39], trennen das Reiterrelief von Madara scharf von den in Thrakien und Mösien weit verbreiteten Darstellungen des sog. thrakischen Reiters. Schon der Steigbügel allein ist ein Terminus post quem für die Datierung nach dem 6. Jh. Die genauere Zeitbestimmung, Anfang des 8. Jhs., lässt sich allerdings erst aus den, das Relief begleitenden Inschriften ermitteln, in der ältesten ist die Rede von der dem Kaiser Justinian II. von dem Bulgarenherrscher Tervel geleisteten Hilfe (s. hier S. 192 ff.). Das Reiterrelief ist eine Jagdszene, die den Reiter, einen bulgarischen Herrscher vielleicht Tervel, als Triumphfator darstellt und ihre nächsten Parallelen in den sassanidischen Felsenreliefs und besonders in den sog. sassanidischen Silberschalen mit Darstellungen von Jagdszenen hat [39a].

 

 

   e. Die Wälle und Gräben

 

Im heutigen Gebiet Bulgariens befinden sich mehrere Wälle und Gräben, die einst zum Schutz der Grenzen, Pässe und befestigten Plätze gedient haben.

 

   i. Die Wälle im Westen

 

In Nordwest-Bulgarien beginnt ein Graben bei dem Dorf Ostrovo an der Donau und führt nach Süden. Seine Länge beträgt ungefähr 58 km.

 

 

39. Liao 505-508; Grousset, L’empire 37 Anm.; R. Reinecke, Zur Geschichte des Steigbügels, in: Germania 17 (1933) 220-222

39a. Kurt Erdmann, Die universalgeschichtliche Stellung der sassanidischen Kunst, in: Saeculum 1 (1950) 517: “Das lebensgrosse in den anstehenden Felsen geschlagene Reiterrelief bei Madara ist ohne das Vorbild der sassanidischen Reliefs von Naqsch-i-Rustem, Naqsch-i-Radjab und Bischapur nicht denkbar.”

 

474

 

 

Etwa 44 km westlich von ihm erstreckt sich der sog. Graben von Hairedin, der bei dem Dorf Kozlodui an der Donau beginnt, längs des Flusses Ogosta verläuft und Dorf Hairedin erreicht. Dort gabelt er sich. Er ist ungefähr 21 km lang. Der dritte und letzte Graben im Westen beginnt wieder an der Donau, nahe der Stadt Lom, und endet nicht weit von dem Fluss Cibar. Seine Länge ist ungefähr 25 km. Alle drei Gräben haben Erdaufschüttungen, d.h. einen Wall, der nach Osten liegt. In Verbindung mit dem ersten Graben steht vielleicht der Wall im Arabakanakpass bei Botevgrad [40].

 

Den protobulgarischen Ursprung dieser Wälle beweisen einige einzelne archäologische Funde. In mehreren Ortschaften westlich und östlich von dem Graben von Ostrovo wurden ein Eisenschwert und Tongefässe gefunden, von denen manche protobulgarische Zeichen tragen [41]. Bei dem Dorf Karki žaba westlich von dem Graben von Lom hat man ein Grab freigelegt, in dessen Grabplatte wiederum protobulgarische Zeichen eingemeisselt sind [42].

 

Diese drei Wälle bzw. Gräben stehen wohl in Zusammenhang mit der allmählichen Ausbreitung des ersten Bulgarischen Reiches nach Westen [43].

 

   ii. Die Wälle im Osten

 

In der Nähe des Schwarzen Meeres hat man folgende Wälle und Gräben gefunden44. Alle Niederungen längs des Schwarzen Meeres und der Flussmündungen waren durch Wälle gegen Landungseinfälle geschützt.

 

 

40. K. Škorpil, Okopi in IRAIK X (1905) 528-533; 537-538; G. Balasčev, Ukrepitelni 14-44

41. B. Nikolov, Rannobălgarski nahodki kraj Ostraovskija okop, in: Arheologija IV (1962), 2, 33-37

42. N. Mavrodinov, Le trésor 83 Abb. 46 Nr. 21

43. K. Jireček, Serben I, 106; V. N. Zlatarski, Istorija I 1, 152

44. K. Škorpil, in IVAD VII (1911) 51; 64; 121-122 und Anhang 9-10

 

475

 

 

Bei Kranevo an der Mündung des Flusses Batovska (im Altertum Zyras) gab es einen kleinen Wall. Im Westteil der Stadt Varna erstreckte sich eine Sandaufschüttung etwa 2 km nach Süden, Kum tepeler genannt. Bei Ausgrabungen wurde eine Mauer aus grossen Quadersteinen mit Türmen, dem Meer zugewandt, in der Grabensohle aufgedeckt. Eine Marmorsäule mit dem bekannten protobulgarischen Abwehrzeichen 3 wurde auf der Aufschüttung gefunden.

 

Weiter südlich gab es Wälle an der Mündung des Flusses Kamčija, bei dem Dorf Fandakli (j. Škorpilovci), und zwischen den Orten Bjala und Obzor, wo man zwei Steine mit protobulgarischen Zeichen fand.

 

   iii. Erkesija

 

Der grösste und bekannteste aller Wälle ist der Grenzwall Erkesija (“Erdeinschnitt” vom Türkischen erkesen, eikesim), der die südliche Grenze zwischen Bulgarien und dem Byzantinischen Reich sicherte [45]. Er beginnt bei dem Dorf Gorno Ezerovo am Südende des Sees von Burgas und führt geradlinig nach Südwesten bis zum Dorf Debelt, d.h. nördlich der Ruinen der antiken Stadt Deultum. Hier setzt eine Abzweigung ein, die gegen den Fluss Sredečka östlich der Ruinen des Deultum zieht. Diese antike Stadt war auch durch Wälle gegen Nordosten, Osten und Südosten geschützt, von denen sich nur Spuren erhalten haben.

 

Von dem Dorf Debelt aus setzt sich der Hauptwall in nordwestlicher und westlicher Richtung fort. Bei dem Dorf Ljulin (fr. Eni Mahle) zweigt ein Wall von dem Hauptwall nach Süden ab, macht einen grossen Bogen nach Westen und vereinigt sich wieder mit dem Hauptwall.

 

 

45. Vl. i K. Škorpil, Beležki 3-6; K. Škorpil, Starobălgarski pogranicen okop, in: MSb. IV (1891) 119; derselbe in IRAIK X (1905) 538-543; 568; K. Jireček, AEM X (1886) 136-140; derselbe, Reisen 682-687 und Serben I 186. D. Ovčarov, Nabljudenija i arheologičeski razkopki na pograničnija val "Erkesija” v južna Bălgarija, in: GSU fi LXIII (1970) 445-462 mit ausführlicher Lit.

 

476

 

 

Diese Abzweigung trägt den Namen “Ciganska Erkesija”, d.h. Zigeunerwall. Der Hauptwall zieht weiter zwischen den beiden Erhöhungen “Bakadžici”. Von hier aus ist die Richtung des Walles südwestlich. Er überquert den Fluss Tundža bei dem Dorf Tervel, läuft immer in derselben Richtung zwischen den Höhen Sv. Ilija und Monastir weiter, neigt sich in der Nähe des Dorfes Obročiste gegen Süden und verliert sich nordöstlich von der Stadt Marica in der Richtung auf den Fluss Sazlijka.

 

Die Gesamtlänge des Walles beträgt 137 km. Er hat eine Höhe von über 1 m und eine Breite von 6 bis 15 m. Die Tiefe des Grabens ist von 1 bis 1,5 m und die Breite von 4 bis 10 m.

 

Nach dem arabischen Schriftsteller Pseudo-Masudi (10. Jh.) war das Land der Bulgaren von einem Dornenzaun umgrenzt, der wie eine Mauer längs des Grabens steht [46]. Ob mit dieser Nachricht der Wall Erkesija oder überhaupt die Grenzen Bulgariens gemeint sind, lässt sich nicht feststellen. Die Bezeichnung ἡ μεγάλη σοῦδα bei Skylitzes-Kedrenos (II 372, 5) bezieht sich dagegen ohne Zweifel auf den Wall Erkesija. Demnach war der Wall bereits 967 vorhanden. Das genaue Datum seiner Erbauung ist jedoch strittig. Nach W. N. Zlatarski [47] ist er unter Tervel, nach K. Škorpil [48] unter Kormesios, nach N. Blagoev [49] im Jahre 705 und 814 und nach V. Avramov [50] unter dem Zar Peter I. erbaut worden. Eine so lange Befestigungslinie kann aber nur in Friedenszeiten geschaffen werden, wie sie nach der Schliessung des 30 jährigen Friedensvertrages zwischen Bulgarien und dem Byzantinischen Reich unter Omurtag eintraten. Deshalb ist die von K. Jireček [51] und von J. B. Bury [52] vorgeschlagene Datierung wohl die richtige.

 

 

46. Marquart, Streifzüge 205

47. IBAD III (1912-1913) 169 ff. Istorija I 1, 180

48. IRAIK X (1905) 564 f.

49. Pograničnija Okop Erkesija, in: Sbornik v čest i pamet na L. Leže, Sofia 1925, 297 f.

50. Sbornik Pliska III (1929) 38 f.

51. AEM X (1886) 186-187 und Reisen 682 f. aus dem IX. Jh.

52. The Bulgarian Treaty of A. D. 814 and the Great Fence of Thrace, in: The English Historical Review, Apr. 1910, 288 unter Omurtag.

 

477

 

 

   iv. Die Wälle im Balkangebirge

 

In verschiedenen Orten des Balkangebirges sollen deutliche Spuren von Wällen vorhanden sein [53]. Nach K. Škorpil beginnt ein Wall bei dem Dorf Eni köi östlich der Landstrasse Varna-Burgas und zieht nach Westen. Seine Länge beträgt etwa 15 km. Škorpil erwähnt noch die Wälle: das sog. Malko Germe, Spašeno und Pregrada, Erkesija am Fluss Taukči dere, Erkesija bei der Stadt Kotei, Erkesija im Sakarbalkan und Wall in dem Pass Arabakonak. Diese Wälle schützten wohl die älteste Südgrenze Bulgariens bis zum 9. Jh.

 

   v. Die Wälle in Dobrudža

 

Die Achillesferse der Nordgrenze Bulgariens befand sich in Scythia Minor, heute Nord-Dobrudža. Sie war nicht nur den Einfällen verschiedener Nordstämme, sondern auch den Angriffen der byzantinischen Flotte bzw. Landungsarmee ausgesetzt. Die anonyme bulgarische Chronik teil mit, dass bereits Ispor, d.h. Asparuch, einen grossen Wall von der Donau bis zum Meer geschaffen habe (s. hier S. 499). Damit ist offenbar einer der drei Wälle gemeint, die südlich von Cerna voda beginnen und bei der Stadt Constanza enden [54]. Der eine Wall ist aus Steinen und die übrigen beiden sind Erdaufschüttungen. Beide Erdwälle sind älter als der Steinwall. Ihre genau Datierung und ethnische Zugehörigkeit lassen sich nicht bestimmen. Der Steinwall, der nach Norden gerichtet ist, wird dagegen zwischen dem 4. Jh. und 10. Jh. datiert und zuletzt den Bulgaren zugeschrieben [55].

 

 

53. K. Škorpil in 1RAIK X (1905) 533-538; und in IVAD VII (1921) 11-13; G. Fehér, Les monuments 18-20

54. C. Schuchhardt, Die römischen Grenzwälle in der Dodrugea, in: AEM IX (1885) und Die sog. Trajanswälle in der Dorudscha, in: Abh. Berlin. (1918 Nr. 12) 87-113; K. Škorpil in IVAD VII (1921) 1 18 und Anhang 15 und Pograničen bălgarski okop meždu Dunava i Černo more, in: Festschrift Zlatarski 543-553; G. Fehér, Les monuments 16-17; A. Ferenczi, Trajanswälle 272; I. Bărnea in Dobrgei 111 97-120

 

478

 

 

Er ist 59 km lang und besteht aus einer etwa 1,75 in dicken Mauer, durchläuft die Mitte der Nord-Dobrudza (Abb. 75) und hat an seiner Nordseite einen Graben sowie stellenweise 26 Kastelle. Die Nachricht der bulgarischen anonymen Chronik bezieht sich wahrscheinlich auf den Steinwall. Sie lässt aber verschiedene Deutungen zu: Ispor hat einen ganz neuen Wall errichtet, er hat einen älteren Wall renoviert oder ein alter bzw. neuer Wall wird ihm zugeschrieben. Welche von diesen verschiedenen Deutungen die richtige ist, lässt es sich kaum feststellen.

 

K. Škorpil hält auch die Befestigungsanlage bei Nicoliţel [56] und einige kleinere Befestigungsbauten [57] in der Nord-Dobrudža ebenfalls für protobulgarisch.

 

Von Wällen und Gräben wurden auch manche wichtigen Militärplätze und Städte wie Pliska, Zar Krum u.a. umgeben.

 

 

55. P. Diaconu, Zur Frage der Datierung des Steinwalles in der Dobroudscha und der im Bericht des griechischen Toparchen geschilderten Ereignisse, in: Dacia N.S. VI (1962) 317-335 und Din neu despre datarea valului de piatra din Dobrogea, in: SCIV 16 (1965) 2, 189-199

56. K. Škorpil, Starobălgarski pametnici, in: Sb. Dobrudža, Sofia 1918, 195-234; G. Schuchhardt, Altertumsforschung in der Dobrudscha. Bilder aus der Dobrudscha, hsg. von der Deutschen Etappenverwaltung in der Dobrudscha, Constanza 1918, 110-130; G. Fehér, Les monuments 14-15; A. Ferenczi, Trajanswälle 270-272; 275 ff.; Bărnea, in Dobrogei III 117-118

57. Ukreplenija na părvata bălgarska darzava v severna Dobrudža kraj Dunava i Černo more, in: IBID XVI-XVIII (1940) 525-535; Rašo Rašev, Valovete v Dobrudža, Arheologija 1979, H. 1, 11-20

 

[Previous] [Next]

[Back to Index]