Die protobulgarische Periode der bulgarischen Geschichte

Veselin Beševliev

 

ANHANG

 

1. Die bulgarische Fürstenliste  481
2. Die apokryphe bulgarische Chronik 
498
3. Die Liste der protobulgarischen Haupt- und Nebenherrscher 
504
4. Καμπαγάνος = qap(a)γan 
505
5. Zur Chronik des Johannes von Nikiu CXX 46-49 
511
 

 

 

1. Die bulgarische Fürstenliste

 

Ausgaben und Literatur: A. N. Popov, Obzor hronografov russkoj redakcii I, Moskau, 1866, 25-27 (editio princeps); die wichtigsten neuen Ausgaben: J. J. Mikkola, Die Chronologie der türkischen Donaubulgaren, in: JSFOu, Bd. 30, 33 (1915) 1-25 (mit 4 Fotos); Gy. Moravcsik, ByzTurc. II, 352-354 (mit vollständiger Bibliographie); M. Tihomirov, Imennik bolgarskih knjazej, in: Vestnik drevnej istorii, 1946, H. 3, 81-90 (mit Fotos); V. Beševliev, PI Nr. 79 (306-307 mit 6 Fotos); St. Stojanov, Kăm četeneto i tălkuvaneto na njakoi mesta v imennika na bălgarskite hanove, in: Ezik i literatura, XXVI (1971) H. 4, 21-42.

 

J. Marquart, Chronologie 72-78; derselbe, Die nichtslawischen (altbulgarischen) Ausdrücke in der bulgarischen Fürstenliste, in: T’oung Pao 11 (1910) 649-680; derselbe, Die altbulgarischen Ausdrücke in der Inschrift von Čatalar und der bulgarischen Fürstenliste, in: IRAIK XV (1911) 1-30; J. Bury, The Chronological Cycle of the Bulgarians, in: BZ 19 (1910) 127-144

 

V. N. Zlatarski, Istorija I 1, 353-82 (mit 4 Fotos); G. Fehér, Imennikăt na părvite bălgarski hanove. Letočislenieto na prabălgarite, in: GNM 1926, 237-313 (mit 4 Fotos); O. Pritsak, Die bulgarische Fürstenliste und die Sprache der Protobulgaren, Wiesbaden 1955 (mit Lit.); H.-W. Haussig, Die protobulgarische Fürstenliste, in: F. Altheim, H.-W. Haussig, Die Hunnen in Osteuropa, Baden-Baden 1958, 9-29 ( = Altheim, Hunnen I, 17-28; 258-260)

 

B. Nichols, Die Fürstenliste der Protobulgaren, in: Byzantinobulgarica II (1966) 229-236

 

 

Die erste in altbulgarischer Sprache verfasste einheimische Schriftquelle für die älteste Geschichte der Protobulgaren ist die sog. Fürstenliste.

 

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Sie ist zugleich das älteste Denkmal der historischen Überlieferung bei den Bulgaren, das von Sinn für Tradition und Herkommen bei ihnen zeugt. Die Fürstenliste hat folgenden Wortlaut:

 

 

1. Avitohol lebte 300 Jahre, sein Geschlecht Dulo, sein (Regierungsantritts-) Jahr dilom tvirem.

 

2. Irnik lebte 150 Jahre, sein Geschlecht Dulo, sein Jahr dilom tvirem.

 

3. Gostun, der Statthalter, dieser (regierte) 2 Jahre, sein Geschlecht Ermi, sein Jahr dohs tvirem.

 

4. Kurt herrschte 60 Jahre, sein Geschlecht Dulo, sein Jahr segor večem.

 

5. Bezmer, 3 Jahre und dessen Geschlecht Dulo, sein Jahr segor večem.

 

6. Diese 5 Fürsten hatten die Herrschaft jenseits der Donau 515 Jahre mit geschorenen Köpfen inne. Und dann kam auf diese Seite der Donau Isperih, der Fürst. So ist es auch bis jetzt.

 

7. Esperih, der Fürst, 61 Jahre, sein Geschlecht Dulo, sein Jahr vereni alem.

 

8. Tervel, 21 Jahre, sein Geschlecht Dulo, sein Jahr teku čitem. tvirem.

 

9. ... 28 Jahre, sein Geschlecht Dulo, sein Jahr dvan šehtem.

 

10. Sevar, 15 Jahre, sein Geschlecht Dulo, sein Jahr toh altom.

 

11. Kormisoš, 17 Jahre, sein Geschlecht Vokil, sein Jahr segor tvirim. Dieser Fürst veränderte das Geschlecht Dulo, d.h. Vihtun.

 

12. Vineh, 7 Jahre, Geschlecht Ukil, sein, ihr ( = der beiden) Jahr šegor alem.

 

13. Telec, 3 Jahre, sein Geschlecht Ugain, sein Jahr somor altem. Und dieser (war) wegen eines anderen.

 

14. Umor, 40 Tage, sein Geschlecht Ukil, sein (Jahr) dilom tutom.

 

 

Diese Liste der ältesten bulgarischen Herrscher, von F. Rački [1] “Imennik” genannt, befindet sich bekanntlich am Ende des 4. Buches der Könige als dessen Fortsetzung

 

 

1. Rad Jugoslovenske Akademije 11 (1870) 220

 

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in dem sogenannten Ellinskij i rimskij letopisec ( = Der griechische und römische Chronist). Das letztere ist eine spätmittelalterliche (spätestens Ende des 14. Jahrhunderts) russische Kompilation, die aus Übersetzungen griechischer historischer Werke besteht. Die Liste selbst ist jedoch ohne Zweifel bulgarischen Ursprungs (Abb. 78-79). Man nimmt gewöhnlich an, dass sie die Übersetzung eines griechischen Originals war, das auf einer oder mehreren Steinsäulen, wie die protobulgarischen Inschriften, eingemeisselt wurde, oder dass sie sogar eine solche Inschrift war [2]. Ferner wird angenommen, dass die Liste aus zwei Teilen besteht, deren erster aus der Zeit Asparuchs, und deren zweiter aus der letzten Hälfte des 8. Jahrhunderts stammt [3]. W.N. Zlatarski [4] meinte noch wie K. Jireček [5], dass sie nicht wie jetzt mit der Regierung des Umor endete, sondern in eine viel spätere Zeit reichte und dass sie nicht vor dem 13. Jh., vielleicht sogar erst im 14. Jh., ins Altbulgarische übersetzt worden sei. K. Jireček [6] und B. v. Arnim [7] waren dagegen der Meinung, dass das in der Zeit des Zaren Symeon geschehen sei.

 

Für die Ansicht, dass die Fürstenliste eine altbulgarische Übersetzung einer in griechischer Sprache verfassten Inschrift ist, wurden jedoch keine überzeugenden bzw. zwingenden Beweise erbracht. Das einzige, was dafür sprechen würde, wäre der Name Kormisoš, wenn man ihn als eine Transkription von *Κορμισος ansieht.

 

 

2. J.J. Mikkola, Die Chronologie usw. 10; V.N. Zlatarski, Istorija I 1, 360 und 362 f.; K. Jireček in Arch. slav. Phil. 35 1914, 548; G. Fehér, Imennikăt 243

3. Zlatarski, Istorija I 1, 359 f.; Fehér, Imennikăt 278 ff.; O. Pritsak, Fürstenliste 35 ff.

4. Istorija I 1, 360 und 363;

5. op. cit. 549

6. ebenda 548

7. Wer war Avitohol, in Sbornik Miletič, Sofia 1933, 575

 

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Dieser Name lautet aber in den bisher bekannten griechischen Texten Κορμέσιος (Theophan. 433, 16 und 497, 19) und Κρουμεσις (PI Nr. 1, II Z.12). Da kein anderer Name der Liste eine griechische Endung aufweist, ist es näherliegend anzunehmen, dass die Form Kormisoš bulgarisch und nicht griechisch ist. Die von M. Vasmer [8] angeführten Argumente gegen den griechischen Ursprung der Liste sind dagegen gewichtiger:

 

“es könnte šegor večem oder tekučitem, dvanšextem, kormisoš usw. nicht mit š, c heissen, wenn man sich nach einer griechischen Niederschrift richtete, weil die Byzantiner hier σ und τσ (τζ) hätten schreiben müssen”.

 

Es kommt noch der Umstand hinzu, dass sich keine der bisher bekannten, protobulgarischen Inschriften hinsichtlich ihres Inhalts mit der Fürstenliste vergleichen lässt. Man kann sich auch schwer vorstellen, wie eine solche Inschrift gegebenenfalls hätte angefertig werden sollen. Wer hätte dafür Sorge tragen sollen, dass Name, Geschlecht und Antrittsjahr des jeweiligen Herrschers gleich nach dessen Tod auf die Säule eingetragen wurden? Sollte man annehmen, dass dies einem besonderen Kollegium oder dem neuen Herrscher oblag? Derartige Fragen machen die Vermutung, die Liste sei aus einer griechisch abgefassten Inschrift übersetzt, von vornherein unwahrscheinlich.

 

Die Fürstenliste lässt sich dagegen mit ähnlichen chronologischen Tabellen und Königslisten anderer Völker vergleichen. Schon seit uralten Zeiten kommen chronologische Tabellen, die auch Königslisten enthalten, bei vielen Völkern vor. Es genügt auf die Königsliste in dem sogenannten Turiner Papyrus [9], die Aigyptiaka des Manetho oder auf das berühmte Marmor Parium hinzuweisen. Derartige chronologische Tabellen sind auch dem byzantinischen Schrifttum nicht fremd [10].

 

 

8. Zs. slav. Phil. 21 (1952) 200

9. K. Lauth, Manetho und die Turiner Königspapyrus, München 1865

10. H. Gelzer, Sextus Julius Africanus und die byzantinische Chronologie II, Leipzig 1898, 384-396; K. Krumbacher, Geschichte 397 f.

 

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Unter ihnen verdient das Χρονογραφικὸν σύντομον des Patriarchen Nikephoros (ed. de Boor p. 81-135) an erster Stelle erwähnt zu werden. Wenn man die Fürstenliste mit diesem chronologischen Werk vergleicht, so sieht man, dass sie sich in Stil und Ausdrucksweise nicht wesentlich von ihm unterscheidet. Nachstehend folgen als Beispiele einige bemerkenswerte Stellen aus der Fürstenliste, die mit den ausgewählten Stellen aus dem chronologischen Werk des Patriarchen Nikephoros verglichen wurden. “4. Kurt herrschte 60 Jahre” entspricht dem Τιβέριος ἐβασιλευσεν ἔτη ε´ bei Nikephoros (98, 21), “8. Tervel 21 Jahre” dem Ζήνων ἔτη ιζ´ (98, 10) und “Telez 3 Jahre, sein Geschlecht Ugain “dem Γοθονιὴλ ἐκ φυλῆς Ἰούδα ἔτη μ´ (86, 6 f.). ”1. Avitohol lebte 300 Jahre” lässt sich mit Ἐνώς... όμοῦ ἔζησεν ϡ ε´ (81, 16-20) vergleichen. Die Wendungen wie οἳ ἐβασίλευσαν ἔτη σ ҁ ε´ (91, 11 f.) und οὕτοι δὲ ἐβασίλευσαν ἔτη κδ´ (96,24) erinnern stark an “6. Diese fünf Fürsten herrschten jenseits der Donau 515 Jahre” in der Fürstenliste. Ähnliche Summierung der Regierungsjahre ist ganz typisch für die chronologischen Tabellen und kommt schon im Turiner Papyrus vor [11].

 

Solche Übereinstimmungen weist die Liste jedoch nicht nur mit den byzantinischen chronologischen Tabellen auf. Noch wichtiger sind die Übereinstimmungen, die sich zwischen der Liste und den letzten Kapiteln des 4. Buches der Könige feststellen lassen, auf welche die Liste folgt und als deren Fortsetzung sie erscheint, z.B.: Ἐν ἔτει ἑβδόμῳ τῷ Ἰοὺ ἐβασίλευσεν Ἰωὰς καὶ τεσσαράκοντα ἔτη ἐβασιλευσεν ἐν Ἱερουσαλὴμ καὶ ὄνομα τῆς μητρὸς αὐτοῦ Σαβιὰ ἐκ τῆς Βηρσαβεὲ (IV 12, 1). Hier erscheinen alle chronologischen Elemente der Liste nur in anderer Abfolge und anders ausgedrückt: 1. das Jahr des Regierungsantritts, 2. die Zahl der Regierungsjahre und 3. das Geschlecht durch den Namen der Königsmutter bezeichnet.

 

 

11. Vgl. RE 14 (1928) 1092

 

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Die angeführten Gegenüberstellungen zeigen den engen Zusammenhang der Fürstenliste mit dem 4. Buch der Könige und den byzantinischen chronologischen Tabellen. Dazu kommt noch ein wichtiger Umstand. Die byzantinischen chronologischen Tabellen beginnen mit Adam und anderen biblischen Menschen sagenhaften Alters. Am Anfang der Fürstenliste stehen ebenfalls Personen biblischen Alters. Das zeigt seinerseits wieder, wie eng die Liste mit der Bibel und den chronologischen Tabellen der Byzantiner verbunden ist. Man kann also aus guten Gründen annehmen, dass die Liste nach dem Vorbild der byzantinischen chronologischen Tabellen unter dem direkten Einfluss des 4. Buches der Könige, und zwar in altbulgarischer Sprache, verfasst wurde und keine Übersetzung aus einem griechischen Original darstellt. Dieser Ursprung beantwortet auch die Frage, warum die Liste dem 4. Buch der Könige angehängt wurde, das auch einen historischen-chronologischen Inhalt hat.

 

Die Fürstenliste oder das Werk, aus dem sie eventuell entnommen bzw. zusammengestellt wurde, wurde nach dem Übertritt der Bulgaren zum Christentum — und zwar wahrscheinlich in der Zeit des Zaren Symeon, wie K. Jireček und B. von Arnim vermuteten, aber nicht später— verfasst, da ihr Autor noch die bulgarischen Zeitrechnung kannte. Er wusste ausserdem noch, dass die Protobulgaren die Jahre nach einem zwölfjährigen Zyklus zählten, denn mit den Regierungsjahren des Zweitältesten Herrschers ist rein mechanisch verfahren. Er hat nämlich die 300 Jahre des ersten Herrschers einfach halbiert und sie als Lebensjahre des zweiten angegeben. Ferner hat er, ausgehend von dem Zwölfjahreszyklus, das Antrittsjahr des zweiten Herrschers ebenfalls mechanisch bestimmt. Er hat als dessen Antrittsjahr dasselbe Zyklusjahr wie beim ersten Herrscher angegeben, da er berechnet hatte, dass der zwölfjährige Zyklus genau 25mal in den 300 Jahren enthalten ist. Dabei hat er nicht beachtet, dass die Jahre der beiden Herrscher nicht Regierungs— sondern Lebensjahre waren. Vielleicht standen Regierungsjahre in seiner Vorlage, vgl. “Zar Ispor regierte 172 Jahre in dem bulgarischen Land” und “Zar Izot regierte 100 Jahre und drei Monate” in der bulgarischen

 

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apokryphen Chronik (s. hier S. 498-504), oder der Verfasser hat sich zu eng an die biblischen Vorbilder gehalten.

 

Für den nicht griechischen und späten Ursprung der Liste spricht noch der Umstand, dass die Herrschernamen Isperih und Umor sowie das Wort dilom und wahrscheinlich somor in slawischer Phonetik erscheinen. Die Form Espererih ist offenbar eine Dittographie, wie die Form Esperih in der Uvarovscher Handschrift zeigt. Auch die letztere Form kann nicht als richtig gelten. Die Dubletten tvirim neben tvirem, σιγορ in Inschrift Nr. 56 neben šegor mit e statt i, altom neben altem und Vokil neben Ukil zeigen deutlich, dass sie nicht aus ein und derselben Quelle stammen oder dass nicht alle Namen und protobulgarischen Wörter einwandfrei überliefert sind. Hierher gehört auch der Name Esperih. Wenn man diese Form mit Isperih und Ispor in der apokryphen Chronik (s. hier S. 499) vergleicht, merkt man zunächst, dass das E — im Anlaut falsch statt I — steht. Das i im Anlaut des Ispor oder Isperih gegenüber dem a in dem iranischen Wort aspa “Pferd”, aus dem der Name abgeleitet ist, kann ursprünglich sein, wenn es sich nicht um einen unbekannten phonetischen Übergang im Protobulgarischen [12] oder Altbulgarischen handelt (vgl. Irnik aus Ἠρνάχ, Hernac mit Übergang des betonten a zu i?). Denn im Iranischen kommen Formen der aus aspa abgeleiteten Namen auch mit i im Anlaut vor, z.B. Aspabara neben Ispabara, Ἄσπακος neben Ispakai [13], vgl. auch die cuvachischen Personennamen Aspar, Ιaspar, Ispar, Isper [14]. Die kurze Form Ispor zeigt, dass in der zweiten Silbe des Isperih nicht der Laut e, sondern o stehen sollte, da das kurze bzw. unbetonte fremdsprachige a bekanntlich im Slawischen zu o übergeht, z.B. acetum - ocet “Essig”, paganus - pogan “Heide”, καράβιον -

 

 

12. Vgl. das Schwanken in der Wiedergabe des alttürkischen ä und i bei Thomsen, Orkon 15 f. und 54. Über aspa - s. M. Mayrhofer, Die Rekonstruktion des Medischen, in: Anzeiger Wien 1968, 4

13. F. Justi, Iranisches Namenbuch, Marburg 1895, 46 f.

14. W. Vogt in Philologische Wochenschrift 59 (1936) 1135 f. - Über Asparuch s. noch I. Dujčev, Imja Asparuh v novootkritih nadpisih Gruzii, in: Arhiv Orientalni XXI (1953) 353-356

 

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korab “Schiff” usw [15]. Daher auch Umor der bei Nikephoros überlieferten protobulgarischen Form Οὔμαρος gegenüber. Um denselben Übergang handelt es sich auch dei dilom aus jilan “Schlange” und vielleicht bei somor aus einem mit sam— beginnenden Wort, vgl. krim. tatar, samur “Zobel”. Inder Form Isperih liegt vielleicht derselbe Abschreibfehler wie in altem neben altom vor.

 

Ein bemerkenswerter Unterschied besteht zwischen Isperih und Umor in Bezug auf die Lautvertretung des langen oder betonten u. Dieser Laut ist in - ρουχ gemäss den slawischen phonetischen Gesetzen von der Behandlung des langen oder betonten fremdsprachigen u im Altbulgarischen zu i geworden (vgl. Vit aus Utus, Rim aus Ruma - Roma, hin aus Hunnus oder Οὕννος usw. [16], während er in Umor unverändert erhalten geblieben ist, ebenso in Ukil und Ugain. Die verschiedene Wiedergabe des u im Altbulgarischen hängt von der Zeit ab, zu der die beiden Namen ins Altbulgarische aufgenommen wurden. Die Wiedergabe des langen oder betonten fremdsprachigen u durch y oder i im Slawischen gehört bekanntlich einer älteren Zeit an. Die Slawen haben also den Namen Asparuch in der Zeit kennengelernt, als das obengenannte noch von Kraft war. Das ist sehr früh, wahrscheinlich gleich nach dem Einwandern der Bulgaren auf die Balkanhalbinsel, geschehen. Daher hat der Name ein ganz slawisches Gepräge bekommen, das mit der Zeit als volkstümlich empfunden wurde. Die Form Umor dagegen hat einen späteren Ursprung, d.h. entstammt einer Zeit, als das phonetisch erwähnte Gesetz nicht mehr gültig war. Diese verschiedene Wiedergabe des u im Slawischen zeigt ihrerseits, dass die Liste keine Übersetzung einer griechischen Inschrift sein kann.

 

Die Liste ist heute durch die Bemerkung “Diese 5. Fürsten hatten die Herrschaft jenseits der Donau 515 Jahre mit geschorenen Köpfen inne. Und danach kam auf diese Seite der Donau der Fürst Isperih. Dasselbe ist auch bis jetzt.” anscheinend in zwei Teile geteilt.

 

 

15. A. Vaillant, Manuel I, 31

16. ebenda

 

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J. J. Mikkola [17] und V. N. Zlatarski [18] führten die Wendung “Daselbe” oder “So ist auch bis jetzt” als Beweis dafür an, dass der Teil der Liste, in dem sie vorkommt, aus der Zeit des Isperih stammt. Diese Wendung kann allerdings auf Isperih bezogen werden. Man kann sie jedoch ebenfalls auf die Bulgaren im allgemeinen, und zwar in dem Sinne beziehen, dass die Bulgaren bis zum heutigen Tage, d.h. in der Zeit des Verfassers oder des Abschreibers der Liste, diesseits der Donau lebten. So haben St. Runciman [19] und G. Fehér [20] die Wendung aufgefasst. Zuletzt hat sich St. Stojanov [21] mit dieser Stelle befasst. Er wies zunächst auf die Wortfolge Isperih knjaz, die für das Altbulgarische ganz normal ist, hin. Er fasst die fragliche Wendung richtig als selbständigen Satz ohne Kopula auf und setzt nach Isperich knjaz demnach einen Punkt ein. Damit sind allerdings nicht alle Schwierigkeiten behoben. Es ist merkwürdig, dass allein Isperih in der Liste knjaz genannt wird und zwei verschiedene Schreibarten aufweist.

 

Die ganze Stelle macht den Eindruck einer Interpolation. G. Fehér [22] hat sie wohl mit Recht so auf gefasst. Es lässt sich jedoch nicht festftellen, ob der ganze Passus oder nur die Hälfte bzw. ein Teil davon etwa “tožde i do sele” ein Einschiebsel späteren Datums ist. Sein Autor wurde dann derjenige sein, der die Liste in das 4. Buch der Könige eingefügt hat (vgl. auch S. 185).

 

Die Liste besteht deutlich aus zwei Teilen, einem sagenhaften und einem geschichtlichen, die wohl auch verschiedenen Ursprung haben. Der legendäre Teil umfasst die beiden ersten Herrscher Avitohol und Irnik, denen ein biblisches Alter zugeschrieben wird. Während sich Irnik mit Hernak, dem jüngsten Sohn Attilas identifizieren lässt, ist Avitohol dem Namen nach völlig unbekannt. Man ist immerhin geneigt anzunehemen,

 

 

17. Die Chronologie 10

18. Istorija I 1, 359

19. Empire 273

20. Imennikăt 280

21. Kăm četeneto 31 -33

22. Imennikăt 280

 

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dass sich unter diesem Namen der Hunnenherrscher und Vater des Irnik Attila verberge [23], was eigentlich das Nächstliegende wäre. Sowohl der Name Irnik als auch Avitohol weisen auf einen rein hunnischen Ursprung dieses Teiles der Liste bzw. auf einen hunnischen Sagenkreis hin, den die Protobulgaren während ihres Aufenthaltes in Bessarabien von der dortigen hunnischen Bevölkerung (s. hier S. 175-176 und 183) übernommen haben.

 

In dem geschichtlichen Teil kann man wieder zwei Teile, und zwar Herrscher vor und Herrscher nach der Landnahme Mösiens unterscheiden. Der geschichtliche Teil beginnt mit Gostun, der Statthalter war und sein Amt nur zwei Jahre ausübte. Wer Gostun war oder welche sonst bekannte Persönlichkeit sich unter seinem Namen verbirgt, ist völlig unbekannt. Man hat darüber verschiedene Vermutungen geäussert [24], die aber nicht mit einwandfreien Beweisen unterstützt worden sind. Man kann nicht einmal bestimmen, wo und wessen Statthalter er war. Wenn man von dem Umstand ausgeht, dass er in der Liste nach Irnik folgt, könnte man die Vermutung aussprechen, dass er nach diesem Herrscher die Verwaltung des Staates innehatte und sein Statthalter in Bessarabien war. Wenn man dagegen berücksichtigt, dass er der Vorgänger des Kurt war, dürfte man annehmen, dass er Statthalter des Vaters dieses Herrschers war oder sogar der Awaren und sein Amt am Kubanfluss ausübte (s. hier S. 184).

 

Besser stehen die Dinge bei Kurt, der allgemein mit dem sonst wohlbekannten Kubrat identifiziert wird [25]. Manche Schwierigkeiten bereitet jedoch der sprachliche Zusammenhang der beiden Formen [26]. Die Person seines Nachfolgers Bezmer ist wieder nicht ganz klar. V.N. Zlatarski [27] identifizierte ihn aus chronologischen Gründen mit Βατβαϊᾶν, dem ältesten Sohn Kubrats.

 

 

23. J. Marquart, Chronologie 77. Über andere Meinungen s. Beševliev, PI 316

24. Beševliev, PI 317

25. ebenda 318 mit Lit.            26. ebenda

27. Istorija I 1, 86; 112 und 383 ff.

 

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Sein Name ist nicht befriedigend erklärt [28]. Die von Iv. Dujčev [29] vorgeschlagene Vergleichung mit dem iranischen Boz-Mihr (vgl. Burzmihr und Buzurgmihr bei Marquart, Streifzüge 397 Anm. 1) bleibt bestehen. Es handelt sich vielleicht um einen Titel, dessen zweiter Teil -mer an das protobulgarische ζη [τκ?]ομηρος (Nr. 50) erinnert. Die Angabe, dass er 3 Jahre regiert habe, ist wohl so zu verstehen, dass Asparuch sich nach drei Jahren von ihm trennte und aus der gemeinsamen Heimat nach Westen zog. Während dieser drei Jahre war Asparuch also nicht selbständig, sondern ihm unterstellt.

 

Die Herrscher nach der Landnahme Mösiens lassen sich sowohl in Bezug auf ihre Namen, als auch auf ihre Zeit durch die entsprechenden Nachrichten der byzantinischen Chronisten teilweise bestätigen bzw. verifizieren. Über die Geschichtlichkeit der beiden ersten Herrscher Isperih und Tervel brauchen wir keine Worte zu verlieren.

 

Nach den Angaben über Tervel in dem überlieferten Text der Liste steht das Wort tavirem in der Synodalhandschrift und tvirem in den übrigen beiden. Dieses Wort, das fünfmal in der Liste vorkommt, ist bekanntlich eine protobulgarische Ordinalzahl und bedeutet in der Liste “der neunte” Monat. Demnach ist es naheliegend anzunehmen, dass vor tvirem eine ganze Regierung ausgefallen ist, von der das fragliche Wort nur das Ende ist, wobei auch der Anfang der nächsten Regierung verlorenging. O. Pritsak [30] ist jedoch der Meinung, dass tăvirem der Name des Nachfolgers von Tervel sei. Dieser Ansicht schloss sich auch H.-W. Haussig [31] an. Demnach sollte die Liste uns hier intakt zugekommen sein, was jedoch kaum wahrscheinlich ist. Wie dem auch sei, sowohl dieser Name, als auch Sevar, der Name des nächsten Herrschers, sind völlig unbekannt.

 

 

28. Darüber bei Beševliev, PI 318-319

29. Imia Asparuh v novootkritih nadpisjah Gruzii, in: Archiv orientalni 21 (19-53) 356

30. Fürstenliste 49

31. Liste 28

 

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Sie kommen weder in den griechischen Quellen, noch in anderssprachigen vor. Nach Theophanes (497, 18-22) herrschte in der Zeit, als in Byzanz Kaiser Theodosios III. (715-717) regierte und Germanos Patriarch (715-730) war, Kormesios in Bulgarien. Demnach erscheint Kormesios als Nachfolger des Tervel. Das wird auch durch die untere Inschrift von Madara bestätigt, die einen ἄρχων Κρουμεσις = Κορμεσιος erwähnt. Die Regierungszeit des Kormesios ist so fest gesichert, dass es reine Willkür wäre, sie zu bezweifeln oder auf eine spätere Zeit zu verlegen. Wir haben aber auch keinen triftigen Grund die Angaben der Liste zu verwerfen, da die übrigen fast genau mit dem, was wir von den byzantinischen Chronisten erfahren, übereinstimmen. Das führt zwangsläufig zu der Annahme, dass es bei den Bulgaren wie bei anderen Türkvölkern (s. hier S. 338-341) ein Doppelkönigtum gab. Neben den unbekannten Herrschern und Sevar stand ein zweiter-Kormesios. Der letztere unter der Form Kormisoš tritt auch in der Liste auf. Zu diesem Herrscher wird in der Liste noch bemerkt, dass er das regierende Geschlecht Dulo, d.h. Vihtun, verändert habe. Was bedeutet hier Vihtun? Dieses Wort lässt verschiedene Erklärungen zu. Die einfachste wäre darunter einen anderen Namen des Geschlechtes Dulo oder eine Nebenlinie desselben zu vermuten. Man kann es aber auch als Personennamen auffassen und auf den Herrscher beziehen, der direkt von der Veränderung betroffen wurde (s. hier S. 204f.). Nach Theophanes und Nikephoros erhoben sich die Bulgaren im Jahre 763 gegen ihr Herrschergeschlecht und ermordeten seine Mitglieder. Die Bemerkung der Liste bezieht sich offensichtlich auf dieses Ereignis. Weder die eine, noch die andere Quelle teilt aber den Anlass zu dieser Tat mit.

 

Auf besondere Schwierigkeiten stösst auch die Deutung der Stellen, die von den Herrschern Vineh und Telec berichten. Der Name Vineh kommt in dieser Form in keiner bekannten Quelle vor. Dass er mit dem Bulgarenherrscher Sabinos identisch ist, von dem sowohl Theophanes als auch Nikephoros reden, steht ausser Zweifel. Der Name Sabinos bei den byzantinischen Chronisten ist höchstwahrcheinlich unter dem Einfluss des bekannten lateinischen Personennamens Sabinus aus einem ähnlich klingenden protobulgarischen Namen entstellt worden.

 

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Ein solcher protobulgarischer Name ist Σηβην [32]. Mit demselben Namen lässt sich auch Vineh aus der Fürstenliste verbinden. Ein ursprüngliches *Sivin(eh) wurde wohl zu Vineh verunstaltet, da der spätere Abschreiber den Anlaut Si für das altbulgarische Pronomen demonstrativum si bzw. sii gehalten hat und hier als sinnlos fallen Hess. Nach der bekannten Wendung a let emu folgt das Wort ima (nur in der Synodalhandschrift imen). Zuletzt hat St. Stojanov [33] gezeigt, dass ima Dativ dualis von dem Demonstrativpronomen des Stammes jo-, je- ist [34]. Das Regierungsantrittsjahr bezog sich also ursprünglich auf zwei Herrscher, von denen nur der eine in der Liste angeführt ist. Der Abschreiber, dem das unbekannt war, fügte noch emu nach let ein, wie es bei den übrigen Herrschern stand. An dieser Stelle hat sich also eine Spur des Doppelkönigtums bei den Protobulgaren erhalten.

 

Der folgende Herrscher Telec ist auch aus den Berichten der byzantinischen Chronisten Theophanes (Τελέτζης) und Nikephoros (Τελέσσιος) wohlbekannt Die Angaben über ihn enden in der Liste wieder mit einem rätselhaften Ausdruck: i sii inogo rad. Das Wort rad hat man bisher stillschweigend in rod “Geschlecht” korrigiert. Nun hat St. Stojanov [35] wieder gezeigt, dass hier radi “wegen” statt rad zu lesen ist. Der ganze Ausdruck ist also zu übersetzen: “Und dieser war bzw. regierte wegen eines anderen”. Was soll das bedeuten? Telec regierte anstelle eines anderen, d.h. hat einem anderen den Thron weggenommen, oder leitete die Staatsgeschäfte für einen anderen. Dass die letztere Deutung die richtige ist, geht aus unseren weiteren Ausführungen hervor. Der letzte Herrscher, mit dem die Fürstenliste abbricht, ist Umor. Er kommt bei Nikephoros unter der protobulgarischen Form Οὔμαρος vor.

 

Wenn wir die Herrscher und ihre Regierungszeit in der Liste angefangen bei Kormisoš bis Umor mit den Berichten der

 

 

32. V. Beševliev, Berichte 72-73

33. Kăm četeneto 35-40

34. Vaillant, Manuel 142

35. Kăm četeneto usw. 40-41

 

493

 

 

beiden byzantinischen Chronisten Theophanes und Nikephoros über denselben Zeitraum vergleichen, können wir folgende wichtige Abweichungen feststellen: 1. Der Herrscher Kampaganos (Nikephoros) oder Paganos (Theophanes) fehlt in der Liste. 2. Die Reihenfolge Teletz — Sabinos bei den Chronisten ist Vineh — Telec in der Liste und 3. Die von den Chronisten gegebene Regierungsdauer des jeweiligen Herrschers stimmt nicht mit der in der Liste überein. Nach Theophanes und Nikephoros regierte Teletz nur einige Monate (1 bis 2) im Jahre 763 und war gleich nach der Abschaffung des Geschlechtes Dulo zum Herrscher gewählt worden. Nach der Liste regierte derselbe dagegen 3 Jahre und war Nachfolger des Vineh ( = Sabinos). Der letztere regierte nach der Liste 7 Jahre, nach den Berichten der Chronisten dagegen kaum ein Jahr, vielleicht nur einige Monate. Der von Sabinos eingesetzte Herrscher Umar regierte nach Nikephoros von 763 bis 765, d.h. 2. Jahre, nach der Liste dagegen nur 40 Tage.

 

Diese Widersprüche und die zweifelhaften Ausdrücke in der Liste lassen sich teilweise erklären, wenn wir das Vorhandensein des Doppelkönigtums bei den Bulgaren voraussetzen. Wir können demgemäss die in der Liste und bei den byzantinischen Chronisten angeführten Herrscher folgendermassen einreihen: Nach der Abschaffung des alten Herrschergeschlechtes Dulo und dem Tode des Kormesios, haben die Bulgaren Sabinos, seinen Schwiegersohn, zum ersten Herrscher gewählt. Als zweiter Herrscher wurde Teletz eingesetzt, der dem Amt des zweiten Herrschers gemäss auch der Oberbefehlshaber des Heeres wurde. In dieser Eigenschaft führte er einen Kriegszug gegen den Kaiser Konstantin V. Nach dem unglücklichen Ausgang des Zuges wurde er nach altem Brauch ermordet. In der Liste wird Teletz ausdrücklich als zweiter Herrscher mit dem Ausdruck i sii inogo radi bezeichnet, der für Vineh die Staatsgeschäfte leitete, in welche auch die Kriegsführung einbegriffen war. Sabinos versuchte die Schliessung eines Friedens mit dem Kaiser Konstantin V. herbeizuführen. Die Bulgaren waren damit jedoch nicht einverstanden, und er musste sein Heil in der Flucht suchen. Als seinen Nachfolger Hess er Umar zurück.

 

494

 

 

Zweiter Herrscher wurde Kampagan, der wieder seinen Amtsverpflichtungen gemäss den Krieg gegen die Byzantiner führen musste. Auf dem Kriegsfeld brachte er einen Friedensschluss mit dem byzantinischen Kaiser zustande. Etwa nach zwei Jahren missfiel die Regierung des Umar den Bulgaren aus unbekannten Gründen. Sie erhoben sich gegen ihn und er wurde abgesetzt. Das neue Herrscherpaar wurden die Brüder Tokios und Baianos. Der frühere zweite Herrscher Kampagan musste fliehen um dem Tode zu entgehen. Er wurde aber von seinen Dienern getötet. Kaiser Konstantin V. fiel in Bulgarien ein, um die beiden, die er für Usurpatoren hielt, zu verjagen bzw. zu bestrafen.

 

Die Abfolge der Herrscherpaare war also folgende:

 

Der erste Herrscher:

Sabinos = Vineh

Umar = Umor

Tokτos

 

Der zweite Herrscher:

Teletz = Telez

Kampaganos

Baianos (oder umgekehrt).

 

In der Fürstenliste fehlt also nur der Name des zweiten Herrschers Kampaganos. Die Regierungsjahre beider Herrscher Telec und Umor sind offensichtlich miteinander vertauscht, da Telec, nach den Berichten der byzantinischen Chronisten, nur einige Wochen regiert haben kann.

 

Noch grössere Schwierigkeiten bereiten die Angaben über die Regierungsdauer und das Regierungsantrittsjahr des Kormisos. Nach der Liste soll er 17. Jahre geherrscht und im Jahre šegor tvirim die Regierung übernommen haben. Sein Nachfolger Vineh soll den Thron im Jahre šegor alem bestiegen haben. Diese Angaben der Liste können jedoch nicht stimmen. Denn es mussten laut der bulgarischen Zeitrechnung zwischen den beiden šegor-Jahren mindestens 12 oder 24 Jahre vergangen sein. Wir müssen entweder die Zahl 17 für Kormisos in 12 korrigieren, oder eine andere Regierung von 5 Jahren zwischen Kormisos und Vineh einschalten. Das Letztere ist wenig wahrscheinlich. Denn der kyrilische Buchstabe 3 = 7 ist dem Buchstaben B = 2 sehr ähnlich, so dass eine Verwechslung der beiden Buchstaben naheliegend ist. Damit wird die Schwierigkeit nur formell behoben. Chronologisch bedarf die Korrektur jedoch einer Bestätigung. Das Datum σιγορ ελεμ = šegor alem entsprach, nach Ausweis der protobulgarischen Inschrift Nr. 56,

 

495

 

 

einmal der griechischen Indiktion 15, d.h. dem Jahre 822 (genauer 1. September 821 - 1. September 822) unserer Zeitrechnung. Nach dem ausdrücklichen Zeugnis der beiden byzantinischen Chronisten Theophanes und Nikephoros wurde Sabinos = Vineh in der ersten Indiktion des Weltjahres 6254 bzw. 6255 [36], d.h. 1. September 762 bis 1. September 763 zum bulgarischen Herrscher gewählt. Nach Theophanes war Kormesios = Kormisoš 715-716 bereits Herrscher. Wenn wir je 12 Jahre, d.h. einen bulgarischen Zyklus, rückwärts zählen, so entsprechen die šegor-Jahre zwischen 762 bzw. 763 und 715 den christlichen Jahren 714, 726, 738, 750 und 762. Demnach könnte Kormesios nur im Jahre 714 Herrscher geworden sein. Wenn wir aber annehmen, dass sich das Jahr 714 seine Ernennung zum zweiten Herrscher bezieht, dann ist er in einem der folgenden šegor-Jahre erster bzw. Alleinherrscher geworden. Das ist höchstwahrscheinlich im Jahre 750 geschehen, wobei er die Mitglieder des alten Herrschergeschlechtes Dulo aus der Regierung entfernte, ohne sie zu vernichten. Sabinos wurde im Jahre 762 zum Herrscher gewählt. Demnach sind entweder 48 oder nur 12 Jahre zwischen den Regierungen des Kormisos und Vineh verflossen. Der Verfasser der Liste hatte nur das Letztere vor Augen. Demnach steht die Zahl 17 in der Liste irrümlich statt 12. Diese Stelle zeigt noch etwas: die protobulgarischen Jahresbezeichnungen stimmen im allgemeinen, die mit kyrilischen Buchstaben gegebenen Regierungsjahre dagegen sind nicht zuverlässig. Nach Theophanes und Nikephoros wurden sämtliche Mitglieder des alten Herrschergeschlechtes ermordet, was die Fürstenliste auch andeutet. Das ist Kormisos wohl kurz vor dem Ende seiner Regierung geschehen, entweder um den Thron für seinen Schwiegersohn Sabinos = Vineh zu sichern, oder weil die Mitglieder Versuche machten, wieder ans Ruder zu kommen.

 

 

36. Die Jahreszahlen des Theophanes bleiben hinter der Indiktionszahl jeweils um ein Jahr zurück, darüber s. G. Ostrogorsky, Die Chronologie des Theophanes im 7. und 8. J.h., in: BNJ 7 (1930) 1-56

 

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Die Stellen wie Vihtun, der Dativ dualis ima und sii inogo radi zeigen, dass die Fürstenliste entweder ein ungeschickter Auszug oder eine Zusammenstellung von Daten aus einem grösseren historischen Werk in altbulgarischer Sprache ist, und keine Übersetzung eines in Stein eingemeisselten griechischen Originals.

 

Die Liste der ersten bulgarischen Herrscher folgt, wie gesagt, unmittelbar auf das Ende des 4. Buches der Könige als seine Fortsetzung in dem Sammelwerk Ellinskij letopisec. Diesem Umstand hat man nicht die gebührende Beachtung geschenkt. Er ist jedoch von grosser Bedeutung, nicht nur für den Ursprung der Liste, sondern auch für das richtige Verständnis der Beweggründe, die den Verfasser dazu veranlasst haben, die Liste hier und nicht anderswo einzuschreiben. Diese Tatsache allein spricht schon für den späten Ursprung der Liste. Dass das kein reiner Zufall war, braucht wohl nicht besonders bewiesen zu werden. Der Verfasser der Liste, der auch der Übersetzer oder gar der Abschreiber des 4. Buches der Könige gewesen sein mag, wollte offenbar durch die Fürstenliste zeigen, dass das bulgarische Volk sehr alt war, dass seine Herrscher an Alter den hebräischen Königen nicht nachstanden, mit denen er sie gewissermassen unauffällig in Verbindung bringen wollte, und dass sie wie die biblischen Könige geehrt und hoch geschätzt werden mussten. Wir werden daher mit der Vermutung durchaus nicht fehlgehen, dass die Liste eine Art Antwort an diejenigen Leute war, die dem bulgarischen Staat das Existenzrecht absprechen oder seine Bedeutung mindern wollten, oder dass sie zur Rechtfertigung der Herrschaftsbestrebungen der bulgarischen Zaren dienen sollte. Der Verfasser wurde also von ähnlichen Gedanken geleitet, die den Schriftsteller Černorizec Hrabr seine apologetische Schrift "Über die Buchstaben” schreiben liess [37].

 

 

37. V. Beševliev, Anfänge 139-140

 

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2. Die apokryphe bulgarische Chronik

 

Ausgaben und Literatur: L. Stojanovič, Isaie proroka Skazanie kako vaznesen bist angelom do z-go nebesi, in: Spomenik Srpske Akademije III (1890) 190-193; Jor. Ivanov, Bălgarski apokrifen letopis, in: Bogomilski knigi i legendi, Sofia, 1925 (neue Ausgabe 1970), 273-287. K. Jireček, Die geographischen Namen in der bulgarischen Visio des Propheten Isaias, in: Sitzungsber. Wien Bd. CXXXVI (1897) 86-93; I. Dujčev, Edno legendarno svedenie za Asparuha, in: Vjesnik za arheologiju i historiju dalmatinsku, LVI-LIX, 2 (1954-1957) = Abramičev zbornik, II, 181-189; V. Beševliev, Die Anfänge der bulgarischen Literatur, in: International Journal of Slavic Linguistics and Poetics, IV (1961), 140-145

 

 

Ein seltsames Werk in bulgarisch-serbische Redaktion mit dem Titel “Die Erzählung des Propheten Isaias, wie er von einem Engel bis zum siebenten Himmel erhoben wurde” befindet sich in der Sammlung Hilferding (Nr. 123) in Moskau. Das Werk wurde zuerst von L. Stojanovič und dann von Jor. Ivanov unter dem Titel “Bulgarische apokryphe Chronik” herausgegeben. Diese apokryphe Chronik stellt eine Mischung von mystischen Visionen, sagenhaften Elementen, verzerrten historishen Reminiszenzen und von manchen Anschaungen der Bogomilen dar. Deshalb hielt K. Jireček sie für “historisch fast ganz wertlos”, dennoch habe sie “ein Interesse für geographische Studien und für die Kenntnis der mittelalterlichen Sagen des Landes”. Nach demselben Forscher ist sie von einem bulgarischen Mönch in der zweiten Hälfte des 11. Jh. irgendwo in Westbulgarien verfasst worden. Jor. Ivanov schloss sich der Meinung von Jireček über ihren geschichtlichen Wert an [38]: “Als historisches Werk hat diese Chronik fast keine Bedeutung”.

 

 

38. Jor. Ivanov, Bogomilski knigi 274

 

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Jireček machte dennoch den Versuch, einigen Stellen geschichtliche Erklärungen beizugeben, die in Jor. Ivanovs Ausgabe wiederholt werden. Zu diesen hat Iv. Dujčev [39] noch einige weitere beigesteuert.

 

Von dieser Chronik folgt nachstehend nur der Abschnitt, der sich auf die älteste bulgarische Geschichte bezieht.

 

Übersetzung

 

“II. Darauf hörte ich eine Stimme, die mir anderes sagte: Isaias, mein geliebter Prophet, gehe nach Westen von den obersten Ländern Roms, trenne ein Drittel von den Rumänen, den sogenannten Bulgaren, ab und besiedle das Land Karvuna, das die Römer und Griechen verlassen haben. Dann auf Gottesbefehl, kam ich, Brüder, auf die linke Seite Roms und trennte ein Drittel von den Rumänen ab, und führte sie auf dem Wege an, den ich ihnen mit Schilf zeigte, und brachte sie zu dem Fluss, der Zatiusa heisst und zu einem anderen, Ereusa genannten Fluss. Und damals gab es drei grosse Flüsse. Und ich besiedelte das Land Karvuna, bulgarisches genannt. Denn es war von den Griechen vor 130. Jahren verlassen. Und ich besiedelte es mit vielen Menschen, von der Donau bis zum Meer, und setzte ihnen zum Zar einen von ihnen ein, dessen Name aber Zar Slav war. Und dieser Zar besiedelte nun Land und Städte. Diese Leute waren aber einige Zeit Heiden. Und dieser Zar eben errichtete 100 Hügel in dem bulgarischen Land. Man hat ihn dann Hunderthügelzar genannt. Und in diesen Jahren war alles im Überfluss. Und gab es hundert Hügel in seinem Zartum. Und er war also der erste Zar in dem bulgarischen Land, und regierte 119 Jahre und starb.

 

“III. Und dann fand sich nach ihm ein anderer Zar in dem bulgarischen Land, ein Kindlein, in einem Korb 3 Jahre getragen, der mit Namen Zar Ispor genannt wurde und das bulgarische Zartum übernahm. Und dieser Zar errichete grosse Städte: und an der Donau die Stadt Drăster. Er errichtete eine grosse Schutzmauer von der Donau bis zum Meer, und die Stadt Pljuska.

 

 

39. Stara bălgarska knižnina, I Sofia, 1943, 237-240

 

499

 

 

Und dieser Zar brachte viele Ismailiten um. Und dieser Zar besiedelte das ganze Land Karvuna, denn hier gab es früher Ethiopen. Und Ispor gebar ein Kind und benannte ihn Izot. Zar Ispor regierte 172 Jahre in dem bulgarischen Land. Und danach brachten die Ismailiten ihn an der Donau um. Und nach der Tötung des bulgarischen Zaren Ispor wurden die Kumanen Bulgaren genannt. Vorher aber waren sie unter dem Zaren Ispor grosse Heiden, und da sie gottlos waren und in grosser Unehre standen, waren sie immer Feinde des griechischen Reiches während vieler Jahre.

 

“IV. Und darauf übernahm das bulgarische Zartum wieder der Sohn des Ispor, mit dem Namen Izot. Und dieser Zar brachte Ozia, den Zaren des Ostens samt seinen Kriegern um, und Goliad, den küstenländischen Franken. Auch in den Jahren des bulgarischen Zaren Izot gab es sehr ansehnliche Städte. Und gebar Zar Izot zwei Kinder: das eine benannt Boris und das andere Symeon. Zar Izot regierte 100 Jahre und 3 Monate, und starb in der Pljuska genannten Stadt.”

 

 

Bei einer aufmerksamen Lesung des angeführten Abschnittes aus der apokryphen Chronik entdeckt man vieles, was mit den wohlbekannten geschichtlichen Daten fast genau übereinstimmt und das Urteil von K. Jireček und Jor. Ivanov über den Wert der Chronik als geschichtliche Quelle in Abrede stellt.

 

Mit Rom ist ohne Zweifel Konstantinopel — das neue Rom — gemeint, das als geographischer Ausgangspunkt genommen wird. Das Gebiet, das oberhalb und zugleich bzw. links von Konstantinopel liegt, ist das Land zwischen dem Delta der Donau und dem Fluss Dnjestr oder Bug, d.h. etwa Bessarabien, das die letzte Station der Protobulgaren vor ihrer Einwanderung in Mösien war. Um die Mitte des 9. Jhs. befand sich das Zentrum des Reiches der Kumanen in der Gegend des Dnepr. Ob die Protobulgaren aus diesem Grund oder aus einem anderen in der Chronik Kumanen [40] genannt werden, bleibt ungewiss.

 

 

40. In den altbulgarischen Schriften werden auch andere Völker wie Araber, Russen usw. Kumanen genannt, s. Jor. Trifonov, Beležki vărhu srednobălgarskija prevod na Manasievata hronika, in: IBAI II (1924), 146-147. Die Petschenegen sind in der ungarischen Chronik des Anonymen Notars des Königs Bela ebenfalls Kumanen genannt, s. D.A. Rasovsky, Pečenegi, torki i berendei na Rusi i v Ugrii, in: Seminarium Kondakovianum VI ( 1933), 4 Anm. 20

 

500

 

 

Auf alle Fälle ist damit der türkische Ursprung der Protobulgaren bezeichnet.

 

Nach der Chronik hat der Prophet Isaias ein Drittel von den Bulgaren getrennt und nach dem Land Karvuna geführt. Hier liegt zweifellos eine geschichtliche Reminiszenz vor, die fast genau den Berichten der Chronisten Theophanes und Nikephoros über die Gründung des bulgarischen Staates entspricht. Drei Söhne Kubrats haben ihre Heimat am Kuban verlassen und sind nach Westen gezogen. Der eine von ihnen — ein Drittel — begab sich nach Süden. Auf seinem Wege mussten die Bulgaren nach der Chronik zwei Flüsse überqueren. Unter ihren sagenhaften Namen verbergen sich wohl Bug und Dnjestr. Aus dem Ausdruck: “Und damals gab es drei grosse Flüsse” geht hervor, dass die Bulgaren noch einen dritten Fluss überschritten haben, der die Donau sein muss. Mit dem “Land Karvuna” wird Dobrudža oder Klein Skythien bezeichnet. Dieser Name kommt auch sonst [41] vor. Die Mitteilung, dass dieses Land zuerst von den Slawen besiedelt worden sei, worauf der Fürstenname Slav hinweist, ist eine bekannte geschichtliche Tatsache. Auch die Angabe, das Land Karvuna von den Römern und Griechen besetzt, d.h. eine römische Provinz mit griechischen Kolonien war, und dass die Römer und Griechen sie vor 130 Jahren verlassen haben, so dass es dort keine Griechen mehr gab, stellt keine aus der Luft gegriffene Behauptung dar. Scythia Minor wurde bekanntlich seit mehr als 100 Jahren von verschiedenen barbarischen Stämmen heimgesucht, unter denen sie viel zu leiden hatte. Es ist schwierig zu sagen, ob sich unter dem Namen Slav eine bestimmte Person etwa Sklavun, der Anführer der Severen, verbirgt oder wegen des Gleichklanges mit den Slawen gewählt wurde [42].

 

 

41. V Beševliev, Zwei Bemerkungen 75-78, s. hier S. 1-2

42. Iv. Dujčev, Stara bălgarska knižnina I, 238 hält ihn als Heros Eponymos.

 

501

 

 

Die Angabe, dass es im Land Karvuna hundert Hügel gab, ist auch sonst bekannt [43]. Dass die Slawen vor den Protobulgaren bereits in Mösien sassen, stimmt wieder mit der geschichtlichen Wahrheit überein. Sagenhaft ist selbstverständlich die Angabe, dass Zar Slav 119 Jahre regiert habe, wenn sich diese Zahl nicht auf die Zeit der Slawenankunft in Klein-Skythien bezieht.

 

Für die älteste eigentliche protobulgarische Geschichte begnügt sich der Verfasser damit, zwei bulgarische Herrscher, Ispor und Izot, zu nennen, denen er nicht nur ein biblisches Alter, sondern auch die Taten ihrer unmittelbaren und späteren Nachfolger zuschreibt. Auf diese Weise sind mehrere bulgarische Herrscher in einem sumiert. Infolgedessen sind viele Ungenauigkeiten entstanden, die sich aber leicht berichtigen lassen. Die Angabe über die Kindheit des Ispor ist selbstverständlich einer Sage entnommen. Ispor ist, wie wir bereits gezeigt haben (s. hier S. 487), mit Asparuch und Isperih identisch. Die Nachricht, dass er die wichtigsten Städte des damaligen Bulgarien, Pliska und Drăster, sowie eine grosse Mauer von der Donau bis zum Meer gebaut habe, ist in dem Sinne zu verstehen, dass er manche Bauten wiederhergestellt und manche neue gebaut hat (s. hier S. 158 mit Anm. 59). Es könnten hier freilich die Bauten des Omurtag in Pliska und Silistra gemeint sein, von denen die grosse Bauinschrift Nr. 55 berichtet. Die grosse Mauer ist wohl der Steinwall zwischen Černa voda und Constanze (s. hier S. 478) [44]. Die Kämpfe des Ispor mit den Ismailiten sind, wie Jireček vermutete [45], dieselben, die die Bulgaren während der arabischen Belagerung Konstantinopels zur Zeit des Kaisers Leon III. 717-718 (s. hier S. 199-201) gegen die Araber geführt haben. K. Jireček glaubte aber, dass man wegen der Erwähnung der Donau auf diese Vermutung verzichten müsse.

 

 

43. J. Harmatta, Das Volk der Sadagaren, in: Bibliotheca Orientalis Hungarica V = Analecta orientalia memoriae A. Gsoma de Körös, Budapest 19, 21-24; P. Diaconu, Les Petchénèques au Bas-Danube, Bukarest, 1970, 66-69 mit Lit.

44. K. Jireček, Die geographischen Namen 87, wies zuerst auf den sog. Trajanswall in der Dobrudza hin.

45. ebenda 87

 

502

 

 

Die Donau wird jedoch im Zusammenhang mit der Tötung des Ispor genannt, die, wie aus dem Text zu entnehmen ist, viel später erfolgt sein soll. Mit Ismailiten sind an dieser Stelle wohl die Awaren bezeichnet (s. hier S. 179). Dieselbe Bezeichnung könnte sich an der ersten Stelle wiederum auf die Awaren beziehen.

 

Die Nachricht, dass Ispor das ganze Land Karvuna besiedelt habe, steht nicht im Widerspruch zu der, dass Zar Slav dies getan habe. Die eine bezieht sich auf die Besiedlung durch die Protobulgaren, die andere dagegen auf die durch die Slawen. Es ist jedoch schwierig zu sagen was mit der Bezeichnung Ethiopen gemeint ist. Sind diese wieder die Awaren?

 

In der Person des Izot, des Sohnes des Ispor, sind die Regierungen Krums und seiner Nachfolger bis auf Boris summiert. Die Nachricht, dass Izot den König des Ostens, Ozia, samt seinen Kriegern umgebracht habe, bezieht sich wohl auf Thomas, der Slawe, der gegen den Kaiser Michael II. aufgestanden ist und von Omurtag besiegt worde (s. hier S. 282 f.). Wer unter Goliad, dem küstenländischen Franken, zu verstehen ist, bleibt ungewiss [46]. Vielleicht ist damit den Frankenkaiser Ludwig den Frommen und die Kriege Omurtags mit den Franken gemeint.

 

Der unbekannte Verfasser der Chronik hat, unter dem Einfluss der Anschauungen der Bogomilen gegen die Ehe, Symeon als Bruder statt als Sohn des Boris angegeben.

 

Die Quellen, die der Verfasser bei der Abfassung der Chronik benutzte, waren teilweise Volkssagen, teilweise bulgarische und griechische Schriften. Aus den Volkssagen stammt die Bezeichnung des Ispor als dreijähriges Kind, da sie stark an die mächtigen Kinderhelden in der neubulgarischen epischen Voksdichtung wie Sekula detence ( = S. das Kindlein), Dete Duakadinče (= das Kind D.), Dete Golemeše, Gruica detence, Dete sedmomesče (= Das Siebenmonatskind) und Dete Malečkovo [47] erinnert,

 

 

46. Iv. Dujčev, op. cit. 238 übersetzt “Franke” und bezieht den Ausdruck auf die Kampfe der Bulgaren mit den Franken.

47. G. Popov, Bălgarski junaški pesni, in: MSb. III (1890) 247-259

 

503

 

 

die wahrscheinlich der Zeit vor der Einwanderung der Türken auf die Balkanhalbinsel angehören [48]. Ob das sagenhafte hohe Alter mancher bulgarischen Herrscher aus den Volkslegenden übernommen, von dem Verfasser der Chronik erfunden, oder der Summierung mehrerer Regierungen in einer zu verdanken ist, lässt sich nicht feststellen.

 

Die obigen Ausführungen lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass bei den Bulgaren mündliche oder schriftliche Erzählungen und Sagen von wichtigen geschichtlichen Ereignissen von altersher vorhanden waren. Neben den protobulgarischen Inschriften können nur die Fürstenliste und die apokrypte bulgarische Chronik als einzige Überbleibsel der bulgarischen Profanliteratur historischen Inhalts aus dem 9.-11. Jahrhundert gelten.

 

 

    3. Die Liste der protobulgarischen Haupt- und Nebenherrscher :

 

 

 

48. ebenda 248 ff. 504

 

504

 

 

 

4. Καμπαγάνος = qap(a)γan

 

Als im Jahre 763 der bulgarische Herrscher Sabinos in die Festung Mesembria geflüchtet und dann zu Kaiser Konstantin V. übergelaufen war, setzten die Bulgaren Paganus zum neuen Herrscher ein (ἔστησαν δὲ οἱ Βουλγάροι ἕτερον κύριον ἑαυτῶν, ὀνόματι Πάγανος) [1]. Nach Nikephoros aber setzte Sabinos Umaros zum Herrscher ein (τὸν ἀρχηγὸν αὐτῶν (= τῶν Βουλγάρων) κατασταθέντα ὑπὸ Σαβίνου Οὔμαρον ὄνομα) [2]. Laut der bulgarischen Fürstenliste war der Nachfolger des Sabinos ( = Vineh) tatsächlich Umaros (= Umor), der aus demselben Geschlecht Oukil wie Sabinos stammte [3]. Das beweist nicht nur, dass beide Herrscher verwandt waren, sondern auch, dass Umaros nach dem Erbfolgeprinzip der natürliche Nachfolger des Sabinos sein sollte. Die Fürstenliste kennt weder Paganos, noch einen anderen Fürsten mit ähnlichem Namen, noch einen, der sich eventuell mit ihm identifizieren lässt. Nikephoros berichtet jedoch, dass im Jahre 766, als die Bulgaren Umaros abgesetzt haben, ein anderer bulgarischer Machthaber, den sie Kampaganos nennen (ἄλλος δέ τις ἄρχων αὐτῶν, ὃν ὀνομάζουσι Καμπαγάνον) und der nach Varna flüchtete, von seinen eigenen Dienern umgebracht wurde [4]. Man hat diesen Kampaganos schon längst mit Paganos bei Theophanos identifiziert. Die Identifizierung ist ohne Zweifel richtig. Paganos ist offenbar aus Kampaganos in Anlehnung an den sonst bekannten Personennamen Paganos und paganus entstanden. J. Marquart [5] versuchte Kampaganos als Zusammensetzung aus “kan” = dem protobulgarischen Herrschertitel Καν und Paganos zu erklären.

 

 

1. Theophan. 433, 22

2. Niceph. 70, 26-27

3. hier S. 482

4. Niceph. 7 1, 4-6

5. Chronologie 40 Anm. I

 

505

 

 

Diese Deutung wurde fast allgemein angenommen. Sie scheitert aber zunächst daran, dass kein bulgarischer Herrscher weder bei Theophanes, noch bei Nikephoros mit seinem protobulgarischen Titel angeführt wird. Das ist noch befremdender, wenn man bedenkt, dass Paganos in der Fürstenliste nicht erwähnt wird. Deshalb habe ich vorgeschlagen Kampaganos als “kam” = Schamane und Paganos zu erklären [6]. Diese Deutung ist jedoch auch nicht befriedigend. Abgesehen von der seltsamen Wortstellung kam Paganos dürfte sich kein türkischer Personenname unter Paganos verbergen. Aus dem Wortlaut bei Nikephoros, den man bis jetzt falsch verstanden hat, ist klar zu ersehen, dass Καμπαγάνος kein Personenname ist. Nikephoros gebraucht gewöhnlich entweder ὄνομα oder τοὔνομα und nur einmal ὀνόματι um einen Personennamen zu bezeichnen, z.B.: 49, 5-6: Γεώργιός τις ὄνομα (ebenfalls 19, 5; 33, 18-19; 34, 6; 40, 1; 49, 10; 51, 6; 54, 3; 54, 7; 69, 6; 70, 4; 70, 24), 4, 19: Φώτιος δέ τις τοὔνομα (ebenfalls 9, 6-7; 17, 20; 36, 25; 54, 24; 58, 7; 60, 18), 53, 17: Σολιμᾶν ὀνόματι. Zu demselben Zweck verwendet er zweimal λεγόμενος, z.B. 33, 26: Βαϊανός... λεγόμενος (ebenfalls 33, 28). Das Verbum ὀνομάζω neben ἐπονομάζω und καλέω kommt bei ihm in der Bedeutung “einen Namen geben” nur in Aorist vor, z.B. 70, 20: υἱὸς τίκτεται τῷ βασιλεῖ, ὃν Νικήταν ὠνόμασεν (vgl. noch 5, 31; 15, 20; 55, 12; 64, 21; 76, 16). Nikephoros gebraucht dagegen das Verbum καλέω in Präsens, um ein fremdes Wort oder einen lateinischen Ausdruck zu bezeichen, z.B. 40, 24-25: τὸν τῶν Χαζάρων ἡγεμόνα (χαγάνους δὲ τούτους αὐτοὶ καλοῦσιν) oder 76, 20: ..., ἃς Ῥωμαῖοι σέκρετα καλοῦσι (auch 49, 20). Genau dieselbe Bedeutung hat die Präsensform ὀνομάζουσι in dem Satz: ἄλλος δέ τις ἄρχων αὐτῶν, ὃν ὀνομάζουσι Καμπαγάνον.

 

Nach Theophanes wurde Paganos von den Bulgaren zum Herrscher eingesetzt. Nach Nikephoros wurde Umaros dagegen von Sabinos selbst zu seinem Nachfolger bestimmt. Die verschiedenen Arten der Herrschersernennung entsprechen wohl zwei verschiedenen Arten von Herrschern.

 

 

6. V. Beševliev, Berichte 74

 

506

 

 

Der eine war “Wahlfürst” und der andere “Erbfürst”. Beide Herrscher regierten nach Theophanes und Nikephoros von 763 bis 766, d.h. sie waren gleichzeitig Herrscher. Der Erbfürst war ohne Zweifel der eigentliche Herrscher und der Wahlfürst Mitherrscher.

 

Im Jahre 764 schickte Paganos nach Theophanes Gesandte zum Kaiser und bat um ein persönliches Zusammentreffen. Als er eine zusagende Antwort bekam, stieg er mit seinen Boilen zu ihm herab (κατῆλθε) und wurde ein scheinbarer Friede geschlossen [7]. Etwas anders erzählt Nikephoros dasselbe Ereignis. Nach ihm schickten die Bulgaren (οἱ Βούλγαροι) Gesandte zum Kaiser mit der Bitte um Frieden. Der letztere willigte jedoch nicht ein und zog sofort zum Kampf gegen sie aus. Daraufhin befestigten die Bulgaren die schwer zugänglichen Orte ihres Gebirges (τοῦ περὶ αὐτοὺς ὄρους, daher bei Theophanes κατῆλθε), und ihr Herrscher erschien mit seinen Boilen bei dem Kaiser, nachdem er von ihm Garantien für seine Person bekommen hatte. Darauf schloss der Kaiser einen Frieden [8]. Der Name des bulgarischen Herrschers ist in dem Bericht des Nikephoros nicht erwähnt. Aus Theophanes und Nikephoros lässt sich entnehmen, dass Paganos bzw. der ungenannte Herrscher das bulgarische Heer führte, d.h. sein Anführer war.

 

Nach Ausweis der protobulgarischen Inschriften und anderer Schriftquellen war der sog. Kapkhanos im 9-11. Jahrh. Anführer bzw. einer der Befehlshaber des bulgarischen Heeres. Der Kapkhanos, der Iratais hiess, war, wie die Inschrift ausdrücklich mitteilt, Befehlshaber des linken Flügels des bulgarischen Heeres [9]. Nach einer anderen Inschrift befehligte ein Kapkhanos namens Isbul unter dem Herrscher Persianos die bulgarische Armee, die in das Gebiet der Ägäis gesandt wurde [10].

 

 

7. Theoph. 436, 9-11

8. Niceph. 70, 11-18

9. V. Beševliev, PI Nr. 47, 20-28: δη[ὰ τ]ὸ ἀρηστερὸν μέρ[ο]ς τοῦ σαρακτου μου... ἐστὴν κεφαλὴ ὁ Ηραταης ὁ βοηλα καυχανος...

10. ebenda Nr. 14, 2-6: [ὁ] ἐκ θεοῦ ἄρχον ὁ Περσιανος ἀπέστιλεν Ι[σ]βουλον τὸν καυχανον δόσας αὐτὸν φοσάτα...

 

507

 

 

Im Jahre 921 sandte Zar Symeon eine Armee unter dem Befehl eines nicht mit Namen genannten Kapkhanos gegen Konstantinopel [11]. Peter Delian, der Sohn des bulgarischen Zaren Gavril-Radomir, schickte im Jahre 1040 seinen wieder anonymen Kapkhanos mit einem Heer gegen Dyrrhachion [12].

 

Der Kapkhanos war aber nicht nur Befehlshaber, sondern nicht selten auch Mitherrscher. In einer protobulgarischen Inschrift wird ausdrücklich gesagt, dass der bereits erwähnte Kapkhanos Isbul zusammen mit dem Khan Malamir regierte ([ὁ ἄρχον] ὁ Μαλαμις μετ(ὰ) τ(ὸν καυχανον Ισβουλ(ον) ἐπάρχον [13]. Die Akklamation für langes Lebendes Herrschers in einer anderen Inschrift [14] schliesst auch den Kapkhanos ein: ὁ θεὸς ἀξηόση ζίσιν τὸν ἐκ Οεοῦ ἄρχονταν ἔτι ἑκατὸν μετὰ τὸν Ισβουλον τὸν καυχανων. Unter dem bulgarischen Zaren Gavril-Radomir war Kapkhanos Dometianos sein Mitbeisitzer - συμπάρεδρος [15]. Nach der Gefangennahme des Letzteren wurde sein Bruder Theodoros Kapkhanos [16].

 

Die gleichen Funktionen des Kampaganos mit denen des Kapkhanos zeigen, dass beide Ämter identisch gewesen sein müssen. Gegen diese Identifizierung könnte allerdings der Umstand sprechen, dass die Form Kampaganos weder in den protobulgarischen Inschriften, noch sonst belegt ist. Eine ähnliche Form war jedoch den Bulgaren nicht unbekannt. In den Ergänzungen zu der Chronik des Skylitzes von Michael, dem Bischof von Devol, steht: Θεόδωρος ὁ Κπχάνης ὁ ἀδελφὸς Δομετιανοῦ [17] bei Skylitzes (462, 18) selbst dagegen:

 

 

11. Georg. Monach. Contin. 893, 4-5: Ἐκστρατεύει δὲ πάλιν Συμεὼν κατὰ Ῥωμαίων καὶ πλῆθος Βουλγάρων ἀποστείλας ἅαμα καυκάνῳ... Hierzu Gy. Moravcsik, ByzTurc. II 157

12. Skylitz. 529, 19: ἀποστείλας πλῆθος στρατηγὸν ἔχον τὸν λεγόμενον Καυκάνον

13. V. Beševliev, PI Nr. 13,6

14. ebenda Nr. 57, 16-21

15. Skylitz. 462,19: Δομετιανὸς ὁ Καυκάνος, ἀνὴρ δυνάστης καὶ τῷ Γαβριὴλ συμπάρεδρος.

16. s. Anm. 17

17. Β. Prokic, Die Zusätze in der Handschrift des Johannes Skylitzes Codex Vindobonensis hist, graec. LXXIV. Ein Beitrag zur Geschichte des sog. Westbulgarischen Reiches. Diss., Münden 1906, 32 Nr. 29: U fol. 20r, 25 Θεόδωρος ὁ Καπχάνης ὁ ἀδελφὸς Δομετιανοῦ; 44 zu Nr. 29: “hier ist der Vorname “Theoder” des Bruders des Dometianos Καυκάνος angegeben. Statt Καυκάνος steht in U überall Κπχάνης.”

 

508

 

 

Καυκάνος ὁ ἀδελφὸς Δομετιανοῦ. Eine Handschrift des Skylitzes bietet die Lesung: Δομετιανὸς ὁ πχάνος [18] statt Δομετιανός ὁ Καυκάνος (462, 1). In derselben Handschrift des Skylitzes liesst man κοπχάνον [19] gegenüber καυκάνον (529, 19) in den übrigen. Schliesslich ist in zwei Handschriften des Skylitzes continuatus [20] Γεώργιος ὁ Βοϊτάχος, τοῦ τῶν Κοπχάνων γένους καταγόμενος (715, 20) zu lesen. Aufgrund der beiden letzten Lesungen sind ὁ κπχάνης und ὁ πχάνος in ὁ κοπχάνης und ὁ κοπχανος zu verbessern [21]. Es existierte also bei den Bulgaren eine Form κοπχανος bzw. κοπχάνης für καυκάνος, die fast genau dem awarischen capcanus in den Annales Einhardi ad. 805 entspricht und vielleicht volkstümlich war.

 

In den älteren slawischen Entlehnungen vor dem 9. Jahrundert wurde das fremde kurze oder unbetonnte a bekanntlich durch o wiedergegeben [22], z.B.: pogan = paganus, sotona = σατανᾶς, Timok = Timacus usw., ebense russ. bogatir = βαγατουρ, Bojan = Βαιανος, Umor = Οὔμαρος usw [23]. Demnach ist ein ursprüngliches protobulgarisches *qapγan oder *qapxan regelmässig zu kophan = κοπχανος geworden. Der Übergang a zu o beweist, dass die fragliche Form schon sehr früh in der protobulgarischen Sprache vorhanden war. Neben qapγan wurde die ältere Form qapaγan, die in den alttürkischen Inschriften von Orkhon belegt [24] und aus der die erstere hervorgegangen ist, gebraucht.

 

 

18. Gy. Moravcsik, ByzTurc. II 156, s. Anm. 17

19. ebenda 156            20. ebenda

21. Die Korrektur von Gy. Moravcsik (ByzTurc. II 156) ὁ Καπχάνης ist demnach zu verwerfen.

22. P. Kretschner, Die slawische Vertetung von indogerm. o, in: Archiv für slawische Philologie, 27 (1905), 228-240, besonders 230; E. Schwarz, Zur Chronologie von asl. a > o, ebenda 41 (1927) 124-136 mit Lit.

23V. Beševliev, PI 39

24. V. Thomsen, Mongolei 12

 

509

 

 

Diese ältere Form stellt eben Καμπαγάνος = qapaγan dar. Die Formen καυχανος und καυκάνος haben nur graphische Bedeutung. Sie sind keine Laut-, sondern nur Schreibformen. Der altgriechische Diphtong αυ wurde bekanntlich schon sehr früh bereits im 3. Jahrh. n. Chr. als av ausgesprochen, was zu Schreibungen wie ραύδους statt ράβδους [25] und umgekehrt ταβρίζει statt ταυρίζει [26], λαβρᾶτα = laurata usw. geführt hat. Die umgekehrte Schreibung hat sich auch über die Wiedergabe der Fremdwörter im Griechischen verbreitet, z.B.: κανδελαύρου statt κανδελάβρου für lat. candelabrum [27], σταῦλος statt στάβλος für lat. stabulum [28], Ταυγάστ für türk. Tabγac [29], Γαυρόβον neben Γαβροβόν, Σκλαυινών (Theophanes 268, 85) neben Σκλάβοι (Malalas 490, 7) usw. Eustathios, der Erzbischof von Thessalonike bemerkt ad Dion. Per. 378: Καλαβρία οὐ διὰ τῆς αυ διφθόγγου, ἀλλὰ διὰ τοῦ β γράφουσιν οἱ ἀκριβεῖς [30]. Zu den angeführten Fällen gehört auch καυχανος st. καπχανος.

 

 

25. Edw. Mayser, Grammatik der Griechischen Papyri aus der Ptolemäerzeit I. Berlin 1923, 115

26. St. Psaites, Grammatik der Byzantinischen Chroniken, Cöttigen 1913, 124

27. ebenda            28. ebenda

29. Moravcsik ByzTurc. II 302

30. Ed. Schweizer, Grammatik der Pergamenischen Inschriften. Berlin 1898, 82 Fussnote 1

 

510

 

 

 

5. Zur Chronik des Johannes von Nikiu CXX 46-49

 

Die in äthiopischer Übersetzung erhaltene Chronik des Johannes, Bischofs von Nikiu [1] enthält folgende Nachricht in der Erzählung über den Sturz der Martina, der Witwe des Kaisers Herakleios I., und ihres Sohnes Herakleonas im Jahre 641 [2]:

 

“Lorsque ces faits furent connus à Byzance, on disait que cette affaire avait été inspirée par Qetrâdes, chef du peuple des Moûtânes, fils du frère de Kuernâkâ (= Koubratos, chef des Huns, neveu d’Organâ) [3]. Cet homme avait été reçu dans le sein du christiunisme et baptisé, étant enfant, à Constantinople, et avait grandi dans le palais impérial. Après la mort d’Héraclius I-er, avec lequel il avait été intimament lié, et qui l’avait comblé de bienfaits, il restait attaché par reconnaissance à ces enfants et à sa femme Martine. Il avait, par la vertu du saint baptême vivifiant, vaincu tous les barbares et les païens. On disait donc qu’il favorisait les intérêts des enfants d’Héraclius et qu’il était hostile à ceux (des enfants) de Constantine.”

 

Diese Nachricht wird gewöhnlich mit der nachstehenden Stelle in dem Breviarium des Patriarchen Nikephoros [4] zusammengestellt:

 

Ὑπὸ δὲ τὸν αὐτὸν καιρὸν ἐπανέστη Κοῦβρατος ὁ ἀνεψιὸς Ὀργανᾶ ὁ τῶν Οὐνογουνδούρων κύριος τῷ τῶν Ἀβάρων χαγάνῳ, καὶ ὅν εἶχε παρ’ αὐτῷ λαὸν περιυβρίσας ἐξεδίωξε τῆς οἰκείας γῆς. διαπρεσβεύεται δὲ πρὸς Ἡράκλειον καὶ σπένδεται εἰρήνην μετ’αύτοῦ, ἥνπερ ἐφύλαξεν μέχρι τέλους τῆς ἑαυτῶν ζωῆς· δῶρα τε γὰρ αὐτῷ ἔπεμψε καὶ τῇ τοῦ πατρικίου ἀξίᾳ ἐτίμησεν.

 

 

1. Η. Zotenberg, Mémoire sur la chronique byzantine de Jean, évêque de Nikiou, Journal Asiatique 7 série, 13 (1879), 379

2. Ostrogorsky, 94-95

3. Chronique de Jean, évêque de Nukiou. Texte éthiopien publié et traduit pur H. Zotenberg, Notices et extraits des manuscrits de la Bibliothèque national, tome 24, Paris 1883, 580

4. Niceph. (= Breviarium) 24, 9-15

 

511

 

 

Die oblige Nachricht lautet in ihrem Zusammenhang in der neuen englischen Übersetzung der Chronik [5], wie folgt:

 

“46. And straightaway the troops in the province of Cappadocia began to commit atrocities: moreover they produced a letter to the following effect: ‘This letter was sent by Martina and Pyrrhus the patriarch of Constantinople to David the Matargue (urging him) to make a vigorous war, and to take Martina to be his wife, and to put down the sons of Constantine (III), who had been emperor with Heraclius (II) his brother.’ 47. And when the inhabitants of Byzantium heard this news, they said: ‘This project is concerned with Kubratos, chief of the Huns, the nephew of Organa, who was baptized in the city of Constantinople, and received into the Christian community in his childhood and had grown up in the imperial palace.’ 48. And between him and the elder Heraclius great affection and peace had prevailed, and after Heraclius’s death he had shown his affection to his sons and his wife Martina because of the kindness (Heraclius) had shown him. 49. And after he had been baptized with lifegiving baptism he overcame all the barbarians and heathens through virtue of holy baptism. Now touching him it is said that he supported the interests of the children of Heraclius and opposed those of Constantine. 50. And in consequence of this evil report all the soldiers in Constantinople and the people rose up, Jûtâlîjûs, the son of Constantine, named Theodore became the chief of their forces.”

 

 

Über die sonderbaren Formen der Personennamen in dem äthiopischen Text schrieb J. Marquart [6]:

 

“Bei Johannes von Nikiu heisst er Qetrâdes (für aubrâdos) [7], Häuptling des Volkes Mûtânes (Vermengung zweier Lesarten Mûnos, für Hûnos und Tûnos für Jûnos = Οὔννους in der arabische Vorlage), Bruderssohn des Kuernâka ( = arab. Kurnâka = Γορναγας für Ὀργανᾶς”.

 

 

5. The Chronicle of John, Bishop of Nikiu, translated by R.H. Charles, London 1916, 196-197, CXX 46-50 ( = Chronik)

6. Ausdrücke 7 Anm. 5

7. “aubrados” ist offenbar Druckfehler, vgl.5.10, Anm. 1: “Qetrâdes für Qubrâdos”.

 

512

 

 

Die in der neuen französischen und englischen Übersetzung gegebenen Personennamen stellen also keine getreue Transkription, sondern eine mutmassliche Identifizierung auf Grund des Breviariums dar.

 

W. N. Zlatarski [8] war der erste, der auf die Nachricht in der Chronik des Johannes von Nikiu die Forscher aufmerksam machte. Er erklärte die Nachricht für eine willkommene Ergänzung der Angaben über Kubrat in dem Breviarium. Die Ansicht Zlatarskis, die bei vielen gute Aufnahme fand, wurde seinerzeit von I. Smirnov [9] entschieden verworfen. Nach ihm dürfen die Namen Quetrâdas und Kuernâka nicht mit Kubrat und Organas identifiziert werden. Ferner wies er darauf hin, dass Qatrâdes sich laut Chronik in Kapadokian befunden haben soll, wo er eine Dienststellung hatte und ein Christ war. Infolgedessen können Qetrâdes und Kubrat keineswegs miteinander identisch sein. Der Kritik von I. Smirnov schlossen sich G. Balasčev [10] und A. Burmov [11] an.

 

Um die beiden Nachrichten besser zu verstehen und richtig einzuschätzen, erscheint eine Gegenüberstellung der Angaben über Kubrat in der Chronik mit denjenigen in dem Braviarium unumgänglich. In der Chronik wird Kubrat mit den Worten: “...Kubratos, chief of the Huns, the nephew of Organa” eingeführt, das heisst genau wie im Breviarium: Κούβρατος ὁ ἀνεψιὸς Ὀργανᾷ ὁ τῶν Οὐνογουνδούρων κύριος nur mit diesem Unterschied, dass Kubrat in der Chronik “chief of the Huns” in dem Breviarium dagegen ὁ τῶν Οὐνογουνδούρων κύριος ist. Die Bezeichnung “nephew of Organa” in der Chronik ist doch recht befremdend, wenn man bedenkt, dass Kubrat am Kaiserhof aufgewachsen und daher eine Stadtbekannte Person war. Organas dürfte dagegen, der in der Chronik sonst nirgends vorkommt, kaum bekannt gewesen sein und die Erwähnung seines Namens konnte deshalb zu besserem Bekanntmachen des Kubrats nichts Beitragen.

 

 

8. Novi izvestija za nai-drenvija period na bălgarskata istorija, MSB. 11 (1894), 145-154

9. Žurnal Min. Nar. Prosv., 351 (1904), 204-205

10. Minalo I (1909), 1, 106-109

11. Werke I, 71-72

 

513

 

 

Ganz anders liegen die Dinge im Breviarium. Hier ist die Bezeichnung ὁ ἀνεψιὸς Ὀργανᾶ notwendig, da Kubrat den Lesern sonst unbekannt war und keine anderen Kennzeichen existierten. Die Vorlage des Breviariums war wohl eine Stadtchronik, in der die Ereignisse unter dem betreffenden Jahr aufgeführt worden waren, wie dies sich aus dem Text des Breviarium selbst erkennen lässt [12]. In dieser Chronik ist Organas ohne Zweifel im Zusammenhang mit anderen Ereignissen erwähnt, die über ihn mehr berichteten und ihn bekannt machten. Diese Nachricht, welche die Angaben über Kubrat im Breviarium voraussetzen, wurde von dem Patriarchen Nikephoros in seinem Werk nicht mit übernommen.

 

Nach dem Breviarium schloss Kubrat einen Friedensvertrag mit dem Kaiser Herakleios durch eine Gesandtschaft nach dem Verjagen der Awaren aus seinem Land, den die beiden Herrscher bis zum ihrem Tode eingehalten haben. Darauf folgten freundschafftliche Beziehungen, wobei der Kaiser dem Kubrat Geschenke schickte (ἔπεμψε) und ihm die Patriciuswüfde verlieh. Aus den Wörtern διαπρεσβεύεται und ἔπεμψε bei Nikephoros geht deutlich hervor, dass Kubrat nicht in Konstantinopel war, sondern das Schliessen des Friedens und das Überreichen der Geschenke Geschenke durch Gesandte geschehen war. Laut der Chronik stammt die Freundschaft Kubrats mit Herakleios dagegen von seinen Kinderjahren her, als er sich noch am Kaiserhof in der Hauptstadt befand, wo er zum Christentum bekehrt wurde und aufgewachsen war. Die Chronik kennt die grosse Ehrung Kubrats durch die Verleihung der Patriciuswürde nicht, und das Breviarium dagegen seine Bekehrung zum Christentum.

 

J. Marquart [13] hat die Vermutung ausgesprochen, dass Kubrat in seiner Jugend als Geisel nach Konstantinopel geschickt worden sei. Diese Vermutung wurde von G. Fehér [14] mit Recht abgelehnt.

 

 

12. Vgl. z.b. 21, 25 Ὑπὸ τὸν αὐτὸν καιρόν..., 24, 3 κατὰ δὲ τὸν καιρὸν ἐκεῖνον, 25,9 τούτῳ τῷ χρόνῳ ... usw.

13. Ausdrücke 7 Anm. 5

14. Fehér, Beziehungen 40

 

514

 

 

Nach Μ. I. Artamonov [15]

 

“ist ebenfalls sehr zweifelhaft, dass Kubrat von Organa ( = Mohodu) im Jahre 619 in Konstantinopel bei seinem Besuch dieser Stadt zurück geblieben war. Sollten die dargelegten Erwähnungen über die Lebenszeit Kubrats richtig sein, so war er in diesem Jahr nicht nur kein Kind, sondern auch kein Jüngling er war bereits etwa 35 Jahre alt. Kubrat ist also nach Konstantinopel sehr früh geraten, aber wann, und unter welchen Umständen bleibt unbekannt”.

 

Wenn Kubrat wirklich am Kaiserhof das Herakleios aufgewachsen war, konnte das nicht früher gewesen sein als nachdem dieser Kaiser 610 die Regierung angetreten und Martina 613 als Frau genommen hatte, da er besondere Vorliebe für die Kinder der Letzteren und nicht für diejenigen der Eudokia zeigte. Deshalb ist die Vermutung von J. Marquart [16], dass Kubrat eventuell in der Zeit Phokas nach Konstantinopel gekommen sein könnte, ganz abwegig.

 

Die Chronik berichtet: “And after he had been baptized with life-giving baptism he overcame all the barbarians and heathens through virtue of holy baptism”. V. N. Zlatarski [17] bezog diese Worte auf das Verjagen der Awaren durch Kubrat. Sie passen jedoch schlecht zum erwähnten Ereignis. Das Vertreiben der Awaren kann man kaum als Sieg bzw. Siege über alle Barbaren und Heiden bezeichnen. Es handelt sich offenbar hier um viele Kämpfe, aus denen Kubrat als Sieger hervorging. Wer waren nun diese Barbaren und Heiden? Sie waren ohne Zweifel diejenigen barbarischen und heidnischen Völker, mit denen die Byzantiner Kriege führten. Wenn dies das Richtige trifft, dann ist Kubrat kein Hunnenherscher, sondern ein Führer byzantinischer Truppen oder ein byzantinischer Offizier gewesen. Denn man kann schwerlich Sieger aller Barbaren und Heiden einen nennen, dessen eigene Truppen selbst Barbaren und Heiden waren. Die Worte der Chronik sind also eher für einen passend, der auf der Seite der Christen kämpft.

 

 

15. Artamonov Hazar 164

16. Ausdrücke 7 Anm. 5

17. Zlatarski I 1, 151-152

 

515

 

 

Es wird in der Chronik noch erzählt, dass

 

“... the troops in the province of Capadocia... produced a letter to the following effect: ‘This letter was sent by Martina and Pyrrhus... to David... to make a vigorous war, and to take Martina to be his wife, and to put down the sons of Constantine...’ And when the inhabitants of Byzantium heard this news, they said: ‘This project is concerned with Kubratos...’. ”

 

Es ist nicht ganz deutlich, was unter “this project” zu verstehen ist: das Verfassen des falschen Briefes oder seinen Inhalt. Abgesehen davon, was das Richtige ist, bleibt es unverständlich, warum Kubrat statt durch falsche Briefe bzv. undurchführbare Pläne nicht tatkräftig militärisch einzugreifen versucht hat, um die Interessen der Kaiserin Martina und ihres Sohnes Herakleonas wirklich zu wahren.

 

Nach der Chronik war der Aufstand des Volkes und der Truppen in Konstantinopel eine Folge des “this evil report”. Hier ist es auch nicht ganz klar, was unter “this evil report” zu verstehen ist. Sind der fingierte Brief und sein Inhalt oder der Aufruhr der byzantinischen Truppen in Kleinasien damit gemeint?

 

Liest man die Chronik aufmerksam, so erweckt die Stelle über Kubrat den Eindruck einer Interpolation, die mit den Ereignissen nichts zu tun haben. Den Kubrat, der als Urheber des fingierten Briefes bzw. des darin erwähnten Projektes, als Freund und Anhänger der Kaiserin Martina und ihres Sohnes in der Chronik dargestellt wird und durch seine Machenschaften den Aufstand in der Hauptstadt hervorgerufen haben soll, spielt merkwürdig keine Rolle mehr in der weiteren Entwicklung der Ereignisse und wird nicht mehr in der Chronik weder als Verteidiger der Kaiserin noch als einer erwähnt, der mindenstens sie zu verteidigen versuchte, obwohl er als Hunnenherscher über bedeutende militärische Macht verfügen musste. Der als Kubrat in der Chronik bezeichnete Mann war wohl eine ganz machtlose Person und kein Hunnenherscher.

 

Die Ähnlichkeit zwischen der Chronik und dem Breviarium hat bereits W. N. Zlatarski bemerkt [18].

 

 

18. ebenda 153

 

516

 

 

Nach diesem Gelehrten hat Nikephoros nicht Johannes von Nikiu benutzt, sondern beide Chronisten haben ihre Angaben aus einer gemeinsamen Quelle geschöpft [19]. Ausserdem behauptete Zlatarski ohne jedoch Beweise anzuführen, dass Johannes von Nikiu glaubwürdiger sei. Die Worte “And between him and the elder Heraclius great affection and peace had prevailed” erinnern stark an σπένδεται εἰρήνην μετ’ αὐτοῦ, ἥνπερ ἐφύλαξεν μέχρι τέλους τῆς ἑαυτῶν ζωῆς.

 

Das Breviarium berichtet noch folgendes:

 

Χρόνος δὲ τις παρώχετο, καὶ ὁ τῶν Οὔννων τοῦ ἔθνους κύριος τοῖς ἀμφ’αὐτὸν ἄρχουσι καὶ δορυφόροις ἅμα εἰς Βυζάντιον εἰσήει μυεῖσθαι δὲ τὰ Χριστιανῶν βασιλέα ἐζήτει. Ὁ δὲ ἀσμένως αὐτὸν ὑπεδέχετο, καὶ οἱ Ρωμαίων ἄρχοντες τοὺς Οὐννικοὺς ἄρχοντας καὶ τὰς ἐκείνων γαμετὰς αἱ τούτων αὐτῶν τῷ θείῳ λουτρῷ ἐτεκνώσαντο σύζυγοι. Οὕτω τε τὰ θεῖα μυηθεῖσι δώροις βασιλικοῖς καὶ ἀξιώμασιν ἐφιλοτιμήσατο · τῇ γὰρ ἀξία τοῦ πατρικίου τὸν ἡγεμόνα τοῦτον τετίμηκε καὶ πρὸς τὰ Οὐννικὰ ἤθη φιλοφρόνως ἐξέπεμπε [20].

 

Die Version dieser Nachricht in der Londoner Handschrift weist kleine, aber wichtige Unterschiede auf. Sie lautet folgendermassen:

 

Ὑπὸ δὲ τὸν αὐτὸν καιρὸν καὶ ὁ τῶν Οὔννων κύριος εἰς τὸ Βυζάντιον εἰσῆλθε, καὶ βασιλέα δέχεσθαι αὐτόν τε καὶ τοὺς σὺν αὐτῷ ἤτησε, καὶ διδόναι τὸν διὰ τοῦ θείου λουτροῦ φωτισμόν. Καὶ Θεόδωρος, ὁ τοῦ βασιλέως ἀδελφός, ἐκ τῆς ἁγίας κολυμβήθρας ὑπεδέξατο, καὶ ἄρχοντες Ῥωμαίων τοὺς Οὐννικοὺς ἄρχοντας, ὡσαύτως καὶ αἰ τούτων σύζύγοι τὰς ἐκείνων γαμετάς. Οὕτω τε φωτισθέντες δώροις βασιλικοῖς ἐτιμήθησαν καὶ ἀξιώματι. Πατρίκιον γὰρ τὸν κύριον αὐτῶν πεποίηκε, καὶ πρὸς τὰ αὐτῶν ἀπέπεμπε [21].

 

Der verdiente bulgarische Historiker hat diese Nachricht teilweise missverstanden. Er nahm [22] an, dass sie lediglich von der Taufe der Archonten des nicht mit Namen erwähnen Hunnenherschers,

 

 

19. ebenda 152

20. ed. de Boor 12, 20-28

21. The London Manuscript of Nikephoros “Breviarium” edited with an Introduction by Louis Orosz, Budapest 1948, 20, 168-175

22. Istorija I 1, 93

 

517

 

 

dass dieser bereits früher getauft worden war und dass er schon damals die Patriciuswürde erhalten hatte. Er glaubte, dass der Gebrauch des Perfects τετίμηκε statt des Aorists eine Bestätigung seiner Auffassung sei. Es ist ihm leider entgangen, dass das Perfect im Spätgriechischem bzw. bei den byzantinischen Chronisten oft statt Aorist steht [23]. Die erklärende Patrikel γὰρ “denn”, “nämlich” bezieht sich auf die Worte ἀξιώμασι ἐφιλοτιμήσατο, das heisst, dass die Verleihung des Patriciustitels gleichzeitig mit der Verteilung der kaiserlichen Geschenke stattfand. Hier ist die zweite Version deutlicher. Es wird nur von einer Würde ἀξιώμαχι berichtet. W. N. Zlatarski hat ferner das Verbum δέχομαι in seiner üblichen Bedeutung “gastlich aufnehmen” verstanden. Das Verbum hat aber hier die kirchliche Bedeutung “aus dem Taufbecken einen Täufling empfangen” d.h. “Pate sein” oder “taufen”, wie das aus den Worten ἐκ τῆς ἁγίας κολυμβήθρας ὑπεδέξατο in der zweiten Version ganz deutlich zu erkennen ist. Demnach würde die fragliche Stelle in Übersetzung ungefähr folgendermassen lauten:

 

“...er bat den Kaiser sie in die christliche Lehre einzuweihen. Dieser taufte ihn mit Freude und die rhomäischen Archonten adoptierten durch das göttliche Bad (= die heilige Taufe) die hunnischen Archonten und die Gemahlinnen der ersteren die Gattinen der Letzteren. Den so eingeweihten in das Christentum verteilte er freundschaftlich kaiserliche Ehrengeschenke und Würden, denn er würdigte diesen Herrscher mit dem Patriciustitel... =... und er bat den Kaiser ihn und seine Begleiter zu taufen und ihnen durch das göttliche Bad Erleuchtung zu geben. Und Theodoros, der Bruder des Kaisers, empfing ihn aus dem heiligen Taufbecken, und die rhomäischen Archonten die hunnischen Archonten, ebenso auch die Gemahlinen der Ersteren die Gattinen der Letzteren. Die so erleuchteten wurden durch kaiserliche Geschenke und Würde geehrt. Denn ihr Herrscher wurde zum Patricius ernannt.”

 

 

23. G.N. Hatzidakis, Einleitung in die neugriechische Grammatik, Leipzig 1892, 204.

 

518

 

 

Die Taufe, die C. de Boor in das Jahr 619 datiert, war wohl keine Privatsache einzelner Personen, sondern der Übertritt eines hunnischen Volkes zum Christentum. Es wurden also zunächst der Herrscher und seine hohen Würdenträger getauft, die nachher für die Taufe des ganzen Volkes sorgen sollten. Wahrscheinlich kehrten sie in Begleitung von christlichen Priestern zurück, die die Bekehrten weiter in der christlichem Lehre unterrichten und das hunnische Volk taufen sollten. Der bestimmte Artikel ὁ bei ὁ τῶν Οὔννων τοῦ ἔθνους κύριος oder nur ὁ τῶν Οὔννων κύριος zeigt, dass sowohl der hunnische Herrscher als auch die Hunnen selbst entweder bereits in der Quelle des Breviariums erwähnt oder wohlbekannt waren, sodass eine nähere Bezeichnung derselben sich erübrigte.

 

W. N. Zlatarski [24] und Gy. Moravcsik [25] waren der Ansicht, dass hier mit dem Namen Hunnen die Bulgaren gemeint seien, indem sie sich darauf beriefen, dass die Namen “Hunnen” und “Bulgaren” bei Nikephoros gleichbedeutend seien. A. Burmov [26] lehnte entschieden als grundlos diese Behauptung ab. Beide Stellen bei Nikephoros (33, 13-14) und 69, 3) wo die Namen Hunnen und Bulgaren scheinbar gleichbedeutend Vorkommen, sind, wie wir anderswo gezeigt haben [27], verdorben. An beiden Stellen ist τῶν Οὐνογουνδούρων Βουλγάρων, wie bei Theophanes [28] steht, der hier besser den ursprünglichen Wortlaut der gemeinsamen Vorlage wiedergibt, und τοὺς Οὐνογουνδύρους Βουλγάρους zu lesen. J. Marquart [29] nahm dagegen wohl mit Recht an, dass die fraglichen Hunnen mit denjenigen zu identifizieren sind, “in deren Land sich Herakleios im Jahre 625 vor den persischen Heerführen Sahrbaraz und Sahin zurückweichen musste (Theophanes, p. 310, 19)”.

 

 

24. Istorija I 1, 93

25. Mission 7

26. Werke 71

27. Beševliev, Deux corrections

28. Chronographia ed. de Boor 356, 19

29. Streifzüge und Ausdrücke 21

 

519

 

 

Der byzantinische Kaiser ging wohl zu diesen Hunnen, da sie mit ihm gute Beziehungen unterhielten und vor sechs Jahren von ihm in Konstantinopel getauft wurden. Es sind wohl auch dieselben Hunnen gemeint, deren Bischof in einem Bistümerverzeichnis aus dem 8. Jahrhundert angeführt ist [30].

 

Was den Personennamen des getauften Hunnenherrschers betrifft, nahm V. Zlatarski [31] an, dass er identisch mit Kubrat sei, was nicht nur von keinem Forscher gebilligt, sondern auch von A. Burmov [32] und M. Artamonov [33] entschieden zurückgewiesen wurde. Mehr Anklang fand die Identifizierung mit Organas, die Ju. Kulakovskij [34] und Gy. Moravcsik [35] vorgeschlagen haben. Sie ist auch nach J. Marquart [36] wohl möglich, nach M. Artamonov [37] dagegen wenig wahrscheinlich. Sollte diese Identifizierung jedoch zu Recht bestehen, könnte man sich leicht erklären, warum Organas eine wohlbekannte Persönlichkeit in Konstantinopel war. Es dürfte dann allerdings kein Unogundure bzw. Bulgare gewesen sein. Das Wort ἀνεψιός bedeutet bekanntlich sowohl “Bruders-als auch Schwesterssohn. Die Schwester von Organas könnte demnach die Mutter Kubrats sein, wie Artamonov [38] annimmt.

 

Die Nachricht über die Taufe des Hunnenherrschers mit seinen hohen Würdenträger im Breviarium scheint teilweise auch in dem Passus über Kubrat in der Chronik durchzuschimmern: “...chief of the Huns... was baptized in the city of Constantinople and received into the Christian community...” = ... Ὁ τῶν Οὔννων... κύριος... εἰς Βυζάντιον... μυεῖσθαι δὲ τὰ Χρισταιανῶν... αὐτὸν ὑποδέχεται (= ἐκ τῆς ἁγίας κολυμβήθρας ὑπεδέξατο).

 

 

30. Moravcsik, Mission 9

31. Istorija I I, 93-94

32. ebenda 71 f.

33. Artamonov, Hazar 158-161

34. K istorii gotskoi eparhii (Krymu) v VIII. veke, Žurn. Min. Nar. prosv 315 (1898), 189-190

35. Studia Byzantina 252 und Mission 7

36. Ausdrücke 21

37. Artamonov, Hazar 164

38. ebenda 162

 

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In dem Originalwerk des Johannes von Nikiu, das durch viele Händen gegangen ist, lautete der Passus über Kubrat wahrscheinlich ganz anders und hatte mit Kubrat nichts zu tun. Es wurde wohl erzählt, dass ein kleines Kind hunnischer Abstammung am Kaiserhof getauft wurde und aufgewachsen ist. Es war der Kaiserin Martina sehr zugetan und als grosser Ränkeschmied in der Hauptstadt wohlbekannt, sodass man gleich an ihn dachte, als der fingierte Brief bekannt wurde. Später bekam der Passus die jetzige Gestalt durch einen Abschreiber oder Übersetzer, der das Breviarium kannte. Er ergänzte gewissermassen das Originalwerk des Johannes von Nikiu mit den beiden Nachrichten aus dem Breviarium, als er sie miteiander vermischte und mit dem verband, was er in dem Originalwerk über das hunnische Kind fand. Die Episode von diesem Kind war aber so unbedeutend und belanglos, dass es weder Nikephoros noch Theophanes für nötig hielten sie zu erwähnen. Dem Interpolator waren die Unogunduren wohl unbekannt und er hat sie durch die bekannteren Hunnen ersetzt oder konnte eventuell die Kürzung des Volksnamens nicht richtig auflösen.

 

Die Nachrichten des Nikephoros stammen ohne Zweifel aus der Stadtchronik Konstantinopels, zu der er als in der Hauptstadt selbst lebend und als Patriarch leichten Zugang als Johannes von Nikiu hatte, der seine Weltchronik fern in Unterägypten verfasst hat. Wie dem auch sei, sind die Daten über das Kubratsleben in der Chronik sehr zweifelhaft und deshalb nicht ernst zu nehmen.

 

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