Die protobulgarische Periode der bulgarischen Geschichte

Veselin Beševliev

 

IV. DAS LEBEN UND DIE KULTUR DER PROTOBULGAREN

 

1. Das Forschen nach der Herkunft und dem Volkstum der Protobulgaren  299

2. Die Sprachreste und die Sprache der Protobulgaren  314

           a. Die direkt überlieferten Sprachreste  315
           b. Die indirekt Überlieferten Sprachreste 
319

3. Die Gesellschaftsordnung  328

4. Die Staatsorganisation  333

a. Der Herrscher  333

b. Die Thronfolge  337 

c. Der zweite Herrscher - der Kapkhan  338

d. Der sakrale Königsmord  341

e. Der Rat der Boilen  343

f. Der Reichstag  346

g. Die Militär- und Zivilgewalt  347

 

5. Die Religion  355

a. Der Dynamismus (Orendismus)  356

b. Die Tabusitten  360

c. Der höchste Gott Tangra  361

d. Die übrigen Gottheiten  363

e. Der Totemismus  365

f. Die Idole und Heiligtümer  365

g. Die Zauberzeichen  367

h. Die Amulette  371

i. Das Opfer  374

j. Der Eid  376

k. Der Schamanismus  380

l. Der Totenkult  388

m. Der Mythos  389

n. Die Abschaffung der Religion der Protobulgaren und ihr Fortleben  391

 

 

1. Das Forschen nach der Herkunft und dem Volkstum der Protobulgaren

 

Literatur: Iv. Sišmanov, Kritičen pregled na văprosa za proizhoda na prabălgarite, in: Msb. XVI-XVII (1900) 505-753, derselbe, L’étymologie du nom “Bulgare”, in: Keleti Szemle 4 (1903) 47-85, 334-363; 5 (1904) 88-110; A. Burmov, Kăm văprosa za proizhoda na prabălgarite (mit Lit.), in: Werke I, 19-49; R. Browning, Byzantium and Bulgaria, London 1975, 45-46; Edv. Tryjarski, Protobulgarzy in: Kr. Dabrowski, Th. Nagrodzka-Majchrzyk, Edw. Tryjarski, Hunowie europejscy, Protobulgarzy, Chazarowie, Pieczyngowie, Wroclaw usw. 1975, 155-172

 

 

Die Frage über die Herkunft und das Volkstum der Protobulgaren war bereits von ihren Zeitgenossen gestellt und je nachdem, ob sie zeitlich oder räumlich weit oder nahe von ihnen entfernt waren, mehr oder weniger richtig beantwortet worden. Alle, sowohl westliche als auch byzantinische, vor der Gründung des bulgarischen Reiches verfassten, Schriftquellen erwähnen die Bulgaren als ein besonderes, von den Hunnen, Awaren, Goten und Slawen verschiedenes Volkstum, z.B.:

 

-        Kosmas Indikopleustes (119, 14-28:... Οὕννοις... Βουλγάρων),

-        Ιoannes Malalas (402, 4: Οὔννων καὶ Βουλγάρων),

-        Georgios Pisides (55, 197: Σκλάβος γὰρ Οὔννῳ καὶ Σκύθης τῷ Βουλγάρῳ),

-        Theophanes (160, 14: πλῆθος Οὔννων καὶ Βουλγάρων) u.a. oder

-        Jordanes (Get. 63, 9-11: ultra quos distendunt supra mare Ponticum Bulgarum sedes... hinc iam Himni quasi fortissimorum gentium fecundissimus cespes hifarium populorum rabiem pollularunt).

 

Sie erscheinen unter dem Namen “Bulgaren” nur bei den zeitgenössischen westlichen Schriftstellern Ennodius, Cassiodorus Senator, Marcellinus Cornes und Victor Tonnenensis.

 

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Nach der Gründung des bulgarischen Staates und dem Verschwinden der Hunnen kommt die Bezeichnung “Hunnen” auf, wobei manche Quellen sie mit dem Zusatz ἤτοι oder καλούμενοι zum Unterschied von den echten Hunnen anführen, z.B.:

 

-        Vita Joannicii (AA SS Nov. 11 1, 386: Οὔννων ἔθνος ἤτοι Βουλγάρων),

-        Klethorologion Philothei (ed. Bury 156, 10: Οὕννων ἤτοι Βουλγάρων),

-        Theophanes Continuatus (31, 11: Οὔννους δὴ τούτοις τοῖς καλουμένοις Βουλγάρους) vgl. auch

-        Ignatii Vita Nicephori (ed. de Boor 163, 4: τοὺς ἑπὶ Θράκην Οὔννους, 206, 29: τοὺς ἀγχιτέρμονας Οὔννους),

-        weitere Belege bei Gy. Moravcsik (Byz Turc II 234).

 

Es ist schwierig zu sagen, ob in allen ähnlichen Fällen mit der Bezeichnung “Hunnen” die echten Hunnen oder ein Volk gemeint war, dessen Sprache und Lebensweise mit denen der Hunnen verwandt oder ihr ähnlich waren [1]. Für die ältere Zeit z.B. für Prokop gilt anscheinend das letztere. Dieser Historiker unterschied drei Völkergruppen in Europa: 1. gotische Völker (Prokop., Bella 1 311, 5: Γοτθικὰ ἔθνη), 2. Hunnenvölker (Bella 1, 10, 21: τὰ... Οὐννικὰ ἔθνη, vgl. Theophyl. Sim. 258, 20-21) und Slawen (Bella II 357, 9-10: τὰ... ἔθνη ταῦτα, Σκλαβηνοί τε καὶ Ἄνται) [2]. Jedes Volk gehörte zu einer dieser Gruppen [3]. So ist auch die Tatsache zu erklären, dass Prokop und sein Fortsetzer Agathias die Bulgaren nirgends unter ihrem Namen erwähnen, obwohl sie ihnen sicher bekannt waren. Sie waren für diese Schriftsteller einfach ein hunnisches Volk, wobei der Umstand, dass sie noch in den früheren Wohnsitzen der Hunnen in Pannonien hausten, eine entscheidende Rolle gespielt haben dürfte. Prokop und Agathias, die sehr wohl wussten, dass die Länder nördlich von Illyricum, jenseits der Donau, vor etwa hundert Jahren das grosse Reich Attilas bildeten,

 

 

1. Moravcsik Byz Turc.II 15-17

2. vgl. ähnliche Dreiteilung bei Mauricii Strategikon ed. Mihăescu 262, 5-9 und 268, 10-11: Πῶς δεῖ Σκύθαις ἁρμόζεσθαι, τουτέστιν Ἀβάροις καὶ Τούρκοις καὶ λοιποῖς ὁμοδιαίτοις αὐτῶν Οὐννικοῖς ἔθνεσιν;

3. vgl. Procop., Bella I 10, 13: Ἐφθαλῖται δὲ Οὐννικὸν μὲν ἔθνος εἰσι. Weitere Belege bei Moravcsik Byz Turc. Il 26 und 231-237

 

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archaisieren gewissermassen, wenn sie die von dort entfallenden Barbaren, die weder Goten noch Slawen bzw. Anten waren, als Hunnen bezeichnen (s. darüber mehr hier S. 83-84).

 

Ähnlich wird das Volkstum der Protobulgaren durch den Namen eines anderen Türkvolkes in der apokryphen bulgarischen Chronik aus dem 11. Jh. bestimmt. Hier werden die Bulgaren als frühere Kumanen bezeichnet:

 

“Trenne den dritten Teil von den Kumanen, die sog. Bulgaren ab und siedle sie in das Karvunische Land ( = Dobrudza) an, das die Römer und Hellenen verlassen haben... Und nach dem Umbringen des bulgarischen Zaren Ispor wurden die Kumanen Bulgaren genannt [4].”

 

Die Bulgaren werden manchmal besonders von den späteren byzantinischen Schriftstellern mit alten bereits verschwundenen Völkern identifiziert: Μυρμιδόνες (s. Moravcsik, II 207), Μυσοί (ebenda 207-208), Παίονες (ebenda 243), Σκύθαι (ebenda 280-283). Diese Identifizierung beruht meist, wie Moravcsik richtig bemerkt hat [5], auf der Gleichheit des Wohnortes und der geographischen Lage. Selbstverständlich haben solche Identifizierungen gar keinen Wert für die richtige Bestimmung der ethnischen Zugehörigkeit der Protobulgaren.

 

Nur ausnahmsweise äussern sich zwei byzantinische Quellen etwas näher über ihre Herkunft. Dem Patriarchen Nikolaos Mystikos (Migne PG CXI 81 c) sind die Bulgaren τὰ τῶν Ἀβάρων γένη, ὧν... ἀποσπάδες, nach Joseph Genesios (85, 22-86, 1) dagegen οἶς τὸ γένος ἐξ Ἀβάρων τε καὶ Χαζάρων.

 

Es fehlt auch nicht an Versuchen den Volksnamen “Bulgaren” zu erklären. Er kommt entweder von dem Namen eines Anführers “Bulgaros” (Genesios 85, 22-86, 1, Leon Diak. 103, 22-23) [6] oder von dem Fluss Wolga (Nik. Gregoras, Hist. 1 26, 19-21).

 

 

4. Anhang 459-460

5. Moravcsik Byz Turc. II 13-15, 25, 207, 208 und 243; auch K. Amantos, Τὰ ἐθνολογικὰ ὀνόματα εἰς τοὺς Βυζαντινοῦς συγγραφεῖς, in Ἑλληνικά II (1929) 99-104

6. Dasselbe auch bei Michael dem Syrer, s. F. Altheim und R. Stiehl, Michael der Syrer über das erste Aufreten der Bulgaren und Chazaren, in: Byz. 28 (1958) 110

 

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Einen ganz anderen Wert haben folgende Nachrichten über die Abstammung der Protobulgaren, die sich scharf von der bereits erwähnten abheben und von einem besseren Wissen zeugen. Kaiser Konstantin Porphyrogennetos berichtet in seinem Werk “De thematibus” (ed. Pertussi 85, 29-32) unter anderem folgendes:

 

Ἐγένετο δὲ ἡ τῶν βαρβάρων ( = Βουλγάρων) περαίωσις ἑπὶ τὸν Ἴστρον ποταμὸν εἰς τὰ τέλη τῆς βασιλείας Κωνσταντίνου τοῦ Πωγωνάτου, ὅτε καὶ τὸ ὄνομα αὐτῶν φανερὸν ἐγένετο· πρότερον γὰρ Ὀνογουνδοῦρους αὐτοὺς ἐκάλουν.

 

Aus dieser Stelle lässt sich noch entnehmen, dass Byzanz mit den Bulgaren unter dem Namen Onogunduren schon vor ihrer Ankunft in die Länder diesseits der Donau Beziehungen unterhielt. Das wird durch die Nachricht des Patriarchen Nikephoros (Brev. 24, 9-15) bestätigt, wonach Κούβρατος... ὁ τῶν Οὐνογουνδούρων κύριος sich gegen den Khagan der Awaren auflehnte und mit dem Kaiser Herakleios einen Freundschaftsvertrag schloss, den sie bis zu ihrem Tode eingehalten haben. Kubrat wurde dabei vom Kaiser reichlich beschenkt und mit dem Titel Patricius geehrt (s. hier S. 149), Der Chronist Theophanes beginnt seinen Bericht über die Gründung des bulgarischen Staates in Mösien mit der älteren Geschichte des Bulgarenstammes Unogunduren (356, 18-20: Καὶ τούτῳ τῷ χρόνῳ τὸ τῶν Βουλγάρων ἔθνος ἐπῆλθε τῇ Θράκῃ· ἀναγκαῖον δὲ εἰπεῖν καὶ περὶ τῆς ἀρχαιότητος τῶν Οὐννογουνδούρων Βουλγάρων καὶ Κοτράγων [7]. Alle diese Nachrichten sind aus alteren zuverlässigen, wohl offiziellen Quellen geschöpft. Diesen Nachrichten gegenüber steht die Bezeichnung ἔθνος τῶν Οὐννογούρων Βουλγάρων bei Agathon [8] ganz isoliert.

 

 

7. Bei Niceph. ed. de Boor 33, 13-14: τῶν... Οὔννων καὶ Βουλγάρων aus τῶν... Οὐννογουνδούρων Βουλγάρων verdorben, s. V. Beševliev, Deux corrections au “Breviarium” du patriarche Nicephore, in: REB 28 (1970) 153-159

8. Moravcsik, Studia 96-97

 

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Es lässt sich jedoch nicht sicher feststellen, ob hier tatsächlich Οὐννογούρων und nicht wieder Οὐννογουνδούρων zu lesen ist oder eine Verwechslung bzw. Ersetzung durch den mehr bekannten Namen der Onoguren vorliegt (s. auch S. 148 mit Anm. 14 und 312). Nach den zuverlässigsten byzantinischen Quellen stammten also die Donau-Bulgaren von dem Bulgarenstamm der Unogunduren ab. Soweit die byzantinischen Nachrichten.

 

Die Frage nach der Herkunft und dem Volkstum der Protobulgaren wurde wieder im 18. Jh. gestellt, als man die Geschichte der Balkanvölker intensiver zu erforschen begann. Sie wurde eines der Hauptprobleme der Balkangeschichte. Mehrere Gelehrte haben sich mit dieser Frage beschäftigt. Sie begründeren ihre Ansichten auf den spärlichen Angaben der byzantinischen Quellen über die Abstammung und die Sitten der Bulgaren, auf ihren Personennamen und Titeln, soweit sie bekannt waren. Die Antwort hing immer eng von dem jeweiligen Stand und Fortschritt der Forschung und der Kenntnisse auf dem Gebiet der allgemeinen und im besonderen der türkischen Sprachwissenschaft und Völkerkunde ab.

 

Es sind folgende vier Theorien aufgestellt: 1. Thrakische, 2. Slawische, 3. Finnisch-ugrische und 4. Ural-altaische. Die beiden ersten Theorien werden nur der Vollständigkeit halber genannt, da sie wissenschaftlich völlig unbegründet sind. Der thrakischen Theorie zufolge sind die Bulgaren Nachkommen der alten Thraker, die angeblich Slawen waren [9]. Sie erfuhr durch G. Tzenov eine Modifizierung, die von Missverständnissen strotzt [10]. Sie hat heute keine Vertreter mehr. Die zweite Theorie ist chronologisch die älteste. Der Umstand, dass die jetzigen Bulgaren ein slawisches Volk sind, hat manche Gelehrten dazu verleitet, auch die Protobulgaren für reine Slawen zu halten. Diese Theorie trat zunächst bei Mavro Orbini in seinem Werk “Regno degli Slavi”, Pesaro 1601, auf. Etwa 200 Jahre später vertraten der Serbe J. Raič (Istorija raznih Slovenskih narodov naipace Bolgar, Horvatov i Serbov, Wien 1734)

 

 

9. darüber s. M. Drinov, Werke I 58-59; Šišmanov, Pregled 517

10. Geschichte der Bulgaren und der anderen Südslawen von der römischen Eroberung der Baikanahabinsel an bis zum Ende des IX. Jahrh., Berlin 1935, hierzu P. Mutafčiev, BZ 36 (1936) 431-435

 

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und Jurij Venelin (Drevnie i ninešnie Boigare, Moskau 1829) dieselbe Ansicht. Der letztere erklärte die Personennamen und manche Titel der Protobulgaren für slawisch. Die Theorie über die slawische Herkunft der Protobulgaren fand nur in Russland Anklang. Sie wurde zunächst von P. Butkov und Saveljev-Rostislavič [11], dann von S. Uvarov, (De Bulgarorum utrorumque origine et sedibus antiquissimis, Dorpati 1853) verteten, die sie mit neuen Argumenten zu erhärten versuchten. Besonders eifrig verteidigte D. Ilovaijski sie in einer Reihe von Aufsätzen, die von vielen scharf kritisiert wurden [12]. Von dem Standpunkt der Archäologie aus versuchte V. M. Florinskij (Pervobitnie slavjani po pametnikah ih doistoričeskoj žizni, Tomsk 1,1894, II 1896) die Theorie zu bestätigen. Der einzige Anhänger der Theorie in Bulgarien war G. Krăstjovič (Istorija blăsgarska pod imja Unnov, Konstantinopel 1869), der wie seine Vorgänger die Hunnen für Slawen hielt. Zuletzt versuchte N. S. Deržavin (Istorija Bolgarii, Moskau 1945, 181-182) die slawische Theorie ohne Erfolg zu beleben [13].

 

Von den beiden letzten Theorien ist die ural-altaischer die ältere. Der Bericht der byzantinischen Chronisten Theophanes und Nikephoros über den Ursprung der Donau-Bulgaren, sowie deren Sitten, Namen und Titel, soweit sie bekannt waren, brachten die Forscher auf den Gedanken, dass die Herkunft der Protobulgaren in den Ural-Altaischen Völkern zu suchen ist. Diese Meinung wurde zuerst von dem bekannten französischen Orientalist J. Deguignes in der Mitte des 18. Jhs. vorgebracht:

 

“Il y a beaucoup d’apparence qu’ils ( = die Bulgaren) sont de ces nations répandues dans le Kaptchaq, connues sous le nom de Kangles ou Kam-li; qui, obligées de passer plus à l’occident, se seront confondues avec celles qui étoient dans la Sarmatie, telle que celle des Huns dont on retrouve le nom dans Onobondo et Onogondours” [14].

 

 

11. Šišmanov, Pregled 536-537

12. ebenda 595-596

13. vgl. A. Burmov, Werke I 20 Anm. 5

14. J. Deguignes, Histoire générale des Huns, des Turcs, des Mongols et des autres Tartares occidentaux, tome premièr, partier première, livre VI, Paris, 1756, 514 = Allgemeine Geschichte der Hunnen und Türken, der Mongols und anderer occidentalischer Tartaren. Aus dem Französischen übersetzt von J.C. Dähnert, II. Bd., VI. Buch, Greifswald, 1768, 639:

 

“Wahrscheinlich sind sie von den in Kaptschac ausgebreiteten Völkerschaften, die, unter dem Namen Kungler, oder Kam-li benannt sind, und, da sie weiter nach Westen gehen mussten, sich mit denen in Sarmatien vermengt haben werden; eben wie die Hunnen, deren Namen in den Benennungen der Unbondo und Onogonduren seine Spuren sehen lässt”.

 

Onobondo = Οὐννοβουνδοβουλγάρων statt Oύννογουνδούρων Βουλγάρων ist die Lesung im Codex Paris. Reg. 1711, der riet Ausgabe des Theophanes von J. Coar-F. Combefis zugrunde liegt. Anscheinend hat J. Deguignes diese Ausgabe benutzt.

 

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Die angeführte Stelle aus dem Werk Deguignes’ und die darin ausgeprochene Ansicht über die Herkunft der Protobulgaren, zu der die Wissenschaftler nach über 200 Jahren zurückkehrten, ist merkwürdigerweise den späteren Forschern anscheinend völlig unbekannt geblieben, so dass man unrichtig A. L. Schlözer [15] für den ersten Vertreter der ural-altaischen Theorie hält, den erst 15. Jahre später darüber schrieb. Dieser Gelehrte und nach ihm Joh. Thunmann [16] erklärten die Protobulgaren für ein türkisches Volk. J. Chr. Engel [17] hielt sie für eine tatarische Nation. Nach J. Klaproth [18] waren die Protobulgaren eine “nation hunno-ogorique” oder “d’origine hunnique”. Während die Äusserungen der erwähnten Forscher von keinen besonderen Beweisen begleitet wurden, versuchte Ch. M. Fraehn [19] die Frage aufgrund seiner Deutungen der bulgarischen Titel und Personennamen und unter Hinzuziehung arabischer Quellen zu lössen.

 

 

15. Allgemeine Nordische Geschichte, herausgegeben von A.L. Schlözer, Halle 1771, 240-252

16. J. Thunmann, Untersuchungen über die Geschichte der östlichen europäischen Völker, I. Theil, Leipzig 1774, 29-34

17. J. C'hr. von Engel, Vortsetzung der Allgemeinen Welthistorie der Neueren Zeiten durch eine Gesellschaft von Gelehrten in Teutschland und England ausgefertigt, Halle 1797, 251-252, 293-294, 299

18. Tableaux historiques de l’Asie depuis la monarchie de Cyrus jusqu’à nos jours, Paris 1826, 260

19. Drei Münzen der Wolga-Bulgharen aus dem 10. Jahrh. und Die ältesten arabischen Nachrichten über die Wolga-Bulgharen aus Ibn-Foszlans Reiseberichte, in: Mémoires de l’acad. imp. de St. Petersburg VI, Bd. I (1832) 171 ff und 572 ff.

 

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Er kam zu der Überzeugung, dass die Protobulgaren ein Mischvolk aus Finnen, Türken und Slawen war, das “ursprünglich zum grossen Finnischen Völkerstamme” gehörte. Die Theorie Fraehns über den gemischten bzw. finnischen Ursprung der Protobulgaren, wenig modifiziert wurde von P. Jos. Šafarik [20] angenommen, der jedoch keine klare Vorstellung von den finnisch-ugrischen Völkern hatte. Nach ihm waren die Bulgaren Uralo-Finnen (uralskočudsky) eng mit dem Türken verwandt. Er führte ausser manchen Sitten keine Beweise an. Die Theorie Fraehns fand auch andere Anhänger. A. Hilferding [21] erklärte die Bulgaren für Finnen und mit den Hunnen und ihren Nachkommen den Ungaren verwandt. Nach R. Rösler [22] haben die Protobulgaren “ugrischen Charakter” oder gehören zu der finnische-ugrischen Familie. Sie seien “ein Stamm der Samojeden oder diesem zunächst verwandt.” Eng verbunden mit den Untersuchungen Röslers ist die Ansicht von P. Hunfalvy [23], wonach “die Bulgaren ein ugrisches Volk waren, auf welches schon früher sowohl türkischer als slawischer Einfluss eingewirkt hat”. Zu der finnisch-ugrischen Theorie oder richtiger zu der Ansicht von Safarik bekannten sich auch die beiden Bulgarenhistoriker M. Drinov [24] und K. Jireček [25]. Heute hat diese Theorie keine Anhänger mehr.

 

Die ural-altaische Theorie wurde von K. Zeuss [26] mit historischen Beweisen ausgebaut und blieb in der neuen Gestalt lange Zeit die Herrschende. Diesem Forscher zufolge sind “die Bulgaren, die nach Osten an den Pontus und die Maeotis zurückgewichenen Hunnen”. Der Beweis dafür sei, dass Prokop nie den Namen “Bulgaren” gebraucht, sondern die Bulgaren immer als Hunnen bezeichnet. Hunnen und Bulgaren seien synonym.

 

 

20. Slovanske starožitnosti, II, Prag 1863, 575 ff.

21. Sobranije sočinenii I, S. - Peterburg 1868, 20 ff.

22. Rumänische Studien. Untersuchungen zur älteren Geschichte Romäniens, Leipzig, 1871, 232-260

23. Ethnographie von Ungarn, Budapest 1877, 251-265

24. Werke I, 32 mit Anm. 2 und 68-69

25. Bulgaren 92

26. Die Deutschen und die Nachbarstämme, München 1837, 710-727

 

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 “Bulgaren” sei “also nur eine neue Bezeichnung der nach Osten gedrängten Hunnen”.

 

“Ferner sei Bulgari nicht für einen Einzelnamen, sondern als Gesamtnamen eben dieser Hunnenvölker zu nehmen.”

 

“Die nomadischen Bulgaren, und folglich die Hunnen, gehörten zum grossen Nomadengeschlecht der Türken”.

 

Eine Bestätigung bringt “die Sprache der Bulgaren und folglich der Hunnen”, die “nicht von der der Türken verschieden gewesen sein” kann. Das lässt sich aus der Würde des Tarchan entnehmen. K. Zeuss hielt auch die Kutriguren und Utiguren für Unterabteüungen der Bulgaren.

 

Mit der Theorie über die Herkunft der Protobulgaren von den Hunnen waren auch die Fragen eng verbunden, zu welchen hunnischen Stämmen die Bulgaren gehörten und von welchen die Donau-Bulgaren abstammen. Bereits J. Chr. von Engel nahm an, dass die Protobulgaren “unter sich auch wohl noch Hunnen, nämlich die überwundenen wahren Utiguren und Cuturguren” hatten. K. Müllenhoff [27], der sich der Theorie von Zeuss anschloss, hielt die Kutriguren und die Utiguren für Bulgaren. Nach G. Nagy [28] waren die pannonischen Bulgaren Nachkommen der Kuturguren. Dieselbe Ansicht hatte auch J. Marquart [29]. Die in Pannonien ansässigen Bulgaren gehörten “wohl hauptsächlich dem Stamm der Kutriguren” an. W. Tomaschek, der auch den türkischen Ursprung der Protobulgaren vertrat, äusserte sich folgendermassen über sie:

 

“Bulgaroi... Gesamtbezeichnung für verschiedene hunnische Stämme, welche nach Attilas Tode an der unteren Donau, am Danapris... und in den entfernsten östlichen Steppen zurückgeblieben waren und sich durch nachrückende innerasiatische Horden verstärkten; man spricht daher von ‘hunnobulgarischen’ Stämmen” [30].

 

Er nahm ferner an:

 

"“Mehrere bulgarische Horden nahmen Wohnsitze an der Seite der Sabiren und Alanoi vom Nordabhang des Kaukasos an entlang der maiotischen Ostküste bis zum kimmerischen Bosporos; sie einigten sich unter dem Namen Utiguroi” [31].

 

 

27. Deutsche Altertumskunde, II., Berlin 1887, 98, 101 und 387

28. Az avarok, in: A magyar nemzet története, Bd. I, Budapest 1895, XLVIII

29. Chronologie 79; 85

30. RE III (1899) 1040-1045

 

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M. Kiesling, der die Identität der Bulgaren mit den Hunnen bei Ennodius und Jordanes verwarf, war der Ansicht:

 

“... der Bulgarenname ist kein blosses Synonymon für die allgemeine Bezeichnung ‘Hunnen’, sondern kommt allein dem Volk der zweigeteilten Hunnen, den Kutriguren und Uturguren, zu. Er muss bei diesem entstanden sein, noch ehe sie sich politisch in zwei Staaten und Nationen teilten; solange sie noch im alten Alanenlande ostwärts von Don und Maiotis beisammensassen. Er ist ein strenger Nationalname mit einem klar zu umgrenzenden Inhalt” [32].

 

Die Identität der Protobulgaren mit den Hunnen legte der bulgarische Historiker W. N. Zlatarski seiner Geschichte des bulgarischen Staates zugrunde. Der Umstand, dass die Bulgaren weder von Prokop noch von Agathias erwähnt werden und in manchen Fällen mit den Hunnen die Bulgaren gemeint waren, war für den bulgarischen Historiker ähnlich wie bei K. Zeuss ein überzeugender Beweis für die Identität der beiden Völkernamen. Nach ihm “muss die ursprüngliche Geschichte der Bulgaren in der Geschichte derjenigen mittelasiatischen türkischen Völker gesucht werden, die unter dem Sammelnamen Hunnen bekannt sind, da unter den türkischen Stämmen, die bei den byzantinischen Schriftstellern des 6. Jahrhunderts als Hunnen bezeichnet werden, auch solche aufgezählt sind, die später den Namen Bulgaren erhielten” [33]. Nachdem ein Teil der Hunnen nach Westen zog, bildeten die zurückgebliebenen Hunnen, von Zlatarski Osthunnen genannt, die das unmittlbar nach Osten vom Don und dem Asowischen Meer und das um den Fluss Kuban gelegene Land bevölkerten, einen gewaltigen Staat. Sie trugen damals den gemeinsamen Namen Bulgaren. Der Staat zerfiel um 433 und die Hauptstämme Utiguren und Kutriguren gründeten zwei Stammesstaaten, wobei der gemeinsamen Namen “Bulgaren” ganz verschwand.

 

 

31. ebenda 1041

32. RE VIII (1913), 2606-2607

33. Istorija I 1, 21, Geschichte 3

 

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Nach dem Zerfall des Reiches der Westhunnen (454) unternahmen die Kutriguren mehrere Feldzüge nach Westen [34].

 

Eine ähnliche Auffassung vertrat G. Féher [35]. Diesem Forscher zufolge waren die bulgarischen Stämme Kutriguren und Utiguren um das V. Jh. ein einheitliches Volk zwischen dem Don und Kuban, das den Namen Onogur führte. Es wurde später geteilt und lebte weiter unter den Teilnamen Kutriguren und Utiguren. Die ersteren zogen nach Westen. Die in der alten Heimat zurückgebliebenen Utiguren führten seitdem “nur archaistisch den Namen Unnogur”. Ihr Teilname war jedoch “Utiguren oder Unnogundur”, dass sie miteinander identisch sind. Der Name Unnogundur ist “die türkische Mehrzahl des Namens Unnogur (Unnogor + dor)”. Die Personennamen Kutrigur und Kotragos sind ferner identisch. Die später nach Mösien übersiedelten Bulgaren “scheinen sich von den Kutriguren losgelöst zu haben”. Endlich herrschte Kubrat “über dem einheitlichen Unnogurenvolke, d.h. über den Unnogunduren (Utiguren), Kotragen und Bulgaren”.

 

Den oben angeführten Ansichten über die Herkunft der Protobulgaren schlossen sich die Historiker J.B. Bury und St. Runciman und der Turkologe K. Menges mehr oder weniger an. Der erste äusserte sich darüber folgendermassen [36]:

 

“These Huns (d.h. die pannonischen Bulgaren) now come to be known under the name of Bulgarians. But we must distinguish these Bulgarians, who were also known as Unogundurs, from two other great Hunnic hordes who will presently come upon the scene of history: the Kotrigurs who lived between the Dnieper and the Don, and the Utigurs who lived to the south of the Don. These latter peoples were to disappear in the course of time; the Unogundurs were to be the founders of Bulgaria.”

 

Nach St. Runciman [37]

 

 

34. Istorija I 1, 21-84, Geschichte 3-10

35. Beziehungen 24-46

36. Later Empire I, Bd. I, 434-435 und Bd. 2, 302: “The Bulgarians or Onogundurs - the descendants of Attilas Huns -, who had their homes in Bessarabia and Walachia”.

37. Empire 7

 

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“... but certainly in the sixth Century there were two close kindred Hunnish tribes of the Bulgar branch of the Huns situated on either side of the Sea of Azov, the Cotrigurs to the west and the Utigurs of the east”.

 

Dem Turkologen K. Menges zufolge sind “these Bulgaroi... also Hunnic in origin, or merely belonged to a Hunnic tribal confederacy” und gab ein “the Hunno-Bulgarian reaim divided into a western part, west of the Maiotis, ruled by the Kutriguroi, and an eastern part, east of the Maiotis, that of the Utiguroi” [38]. Auch nach ihm war “Qubrat ruler of the Kutriguroi” [39].

 

Die Theorie von der Identität der Protobulgaren mit den Hunnen wurde besonders eifrig von dem klassischen Philologen D. Dečev verteidigt. Nach diesem Gelehrten waren die Protobulgaren “die attilanischen Hunnen und ihre Nachkommen” [40].

 

“Die attilanischen Hunnen sind folglich nicht bald nach dem Tode Attilas verschwunden... Sie fuhren fort weiter zu existieren, indem sie sich zu Bulgaren umtauften, wie dies schon Zeuss und Müllenhoff richtig erraten haben. Nachdem nun die attilanischen Hunnen unter der Führung Ernach’s in der Periode zwischen 470-482 mit Hilfe der ihnen nächstverwandten Stämme, der Kutriguren und der Utiguren, einen neuen hunnischen Staat organisierten, trugen sie dazu bei, dass ihr neuer Volksname “Bulgaren” im Laufe der Zeit auch von diesen Stämmen auf genommen wurde” [41].

 

Zu den hunnischen Stämmen gehörten nach ihm auch die Unnogunduroi, d.h. die Hunnuguren [42]. Dečev führte dieselben Beweise an wie Zeuss und seine Anhänger. Zuletzt wird die Ansicht von dem Ursprung der Bulgaren von den Hunnen auch von Fr. Altheim und O. Pritsak vertreten [43].

 

 

38. Introduction 20

39. ebenda 31

40. Der ostgermanische Ursprung des bulgarischen Volksnamens, in: Zeitschrift für Ortsnamenforschung II (1927) 207. Dieselbe Ansicht auch bei F. Altheim, Hunnen V 309: “Die türkischen Bulgaren sind die Fortsetzer von Attilas Hunnen gewesen”.

41. op. cit. 212            42. ebenda 211

43. Altheim, Hunnen V 285 und 309; O. Pritsak, Hunnen 238-249. J. Németh, A honfoglaló magyarsag kialakulasa, Budapest 1930, 91, 113, 150 (n.v.)

 

310

 

 

Die Hunnentheorie wurde jedoch entschieden von J. Németh und A. Burmov [44] verworfen. Nach dem ersteren kann keine Rede von einer “Uridentität” der Bulgaren und der Hunnen sein, da die Hunnen j-Türkisch, die Bulgaren aber r-Türkisch, d.h. zwei verschiedene Dialekte des Türkischen sprachen.

 

Auch die Zugehörigkeit der Kutriguren und Utiguren zu den Bulgaren war für manche Gelehrten nicht ganz sicher. Darüber äusserte sich E. Stein ganz vorsichtig folgendermassen:

 

“Les Kotrigours en Russie méridionale et les Outigours entre le Don et le Caucase étaient très proches parents des Bulgares, sinon identiques à eux dès le début” [45].

 

Gy. Moravcsik [46] sprach zunächst die Identität der Volksnamen Onogur und Utigur ab, nahm jedoch an, dass die Kutriguren und Utiguren zu den Onoguren (d.h. nach dem Autor den Protobulgaren) in naher verwandtschaftlicher Beziehung gestanden haben und dass die unter den Awaren lebenden Bulgaren “mit den besiegten und unter awarischer Botmässigkeit stehenden Kutriguren identisch sind”. Gegen die Identität der Kutriguren mit den seit 480 erschienenen Bulgaren äusserte sich D. Simonyi [47]. Erbemerkte, dass die Kutriguren “in den Quellen nur zwischen 547-568 erwähnt werden” und dass die Identifizierung der Kutriguren mit den Bulgaren “keineswegs den Quellen entspricht”. Derselbe Forscher verwarf auch die Theorie von G. Nagy, wonach die Kutriguren grösstenteils mit den Awaren nach Pannonien kamen und die pannonischen Bulgaren ihre Nachkommen wären. Hinfällig ist nach ihm auch die These, dass die Bulgaren Asparuchs kutrigurischen Herkunft gewesen wären [48]. A. Burmov [49] erklärte sich auch

 

 

44. Werke I, 22-33

45. Bas-Empire II, 61, vgl. P. Lemerle, Invasion 283: “les Koutrigours et les Outigours, sont dès le début identiques aux Bulgares, ou n’en sont de très proches parents”, und Anm. 1

46. Studia 106

47. Die Bulgaren 238 und 241

48 ebenda 241

49. Werke I 32-30

 

311

 

 

gegen die von Zlatarski vorgeschlagene Identität der Kutriguren [50] und Utiguren mit den Protobulgaren.

 

Bereits W. N. Zlatarski [51] hat angenommen, dass die Begründer des Bulgarenstaates in Mösien der bulgarische Stamm der Unnogunduren waren. Derselben Ansicht waren J. B. Bury [52] und R. Grousset [53]. Dieser Frage widmete Gy. Moravcsik eine sorgfältige Untersuchung [54], die eine gute Aufnahme bei vielen Forschern gefunden hat. Nach der in dieser Untersuchung vertretenen These sind die Protobulgaren die von vielen Autoren wie Priskos, Menander, Agathias, Theophylaktos Simokattes, Jordanes (Hunnuguri) u.a. erwähnten Onogouroi. Moravcsik legt seiner These die Nachricht des Agathon zugrunde, in der Bulgaren τῶν Οὐννογούρων Βουλγάρων genannt sind (s. hier S. 302), die er mit den oben (s. S. 302) angeführten Angaben über die Bulgaren bei Konstantin Porphyrogennetos, Theophanes und Nikephoros dem Patriarchen verbindet. Nach der ersten Angabe waren die Bulgaren vor ihrer Ankunft in Mösien den Byzantinern unter dem Namen Onogunduren bekannt, nach der zweiten die Unogunduren ein Teil der Bulgaren [55] und nach der dritten war Kubrat Flerrscher der Unnogunduren. Diesen drei verschiedenen und von einander unabhängigen Nachrichten zufolge stammten die Donau-Bulgaren von den Unogunduren ab. Gy. Moravcsik hielt den Namen Onogundur für identisch mit dem Namen Onogur [56] wobei er folgendes bemerkt [57]:

 

 

50. Über die Kutriguren s. auch S. Szádeszky-Kardoss, Kutriguroi, in: RE, SupplBd. XII (1970) 516-520

51. Istorija I 1, 89; 110 und 123, auch Geschichte 11

52. Later Empire I 435: “the Unogundurs were to be the founders of Bulgaria”.

53. L’empire 232

54. Studia 84-118, hierzu Stein II 61 Anm. 4: “... a traité à fond et, dans l’ensemble, de façon convaincante, la proto-histoire onogouro-bulgare; mais plus d’un point reste hypothèque”.

55. Darüber V. Beševliev, Deux corrections 153-159

56. Studia 102. S. auch S. Szádeszky-Kardoss, Onoguroi, in: RE, SupplBd. XII (1970) 902-906

57. ebenda

 

312

 

 

“Da der Name onogundur in drei verschiedenen Quellen vorliegt und wir deshalb an einen Fehler im Text nicht denken können, da aber anderseits auch die von Agathon belegte Form unnogur vollkommen glaubwürdig scheint, ist einzig und allein die Annahme möglich, dass das onogundur entweder eine bulgarisch-türkische Form oder eine durch fremdsprachliche Vermittlung bedingte Umbildung des onogur darstellt. Diese Frage wartet noch der endgültigen Lösung durch die Turkologen” [58].

 

Angesichts der drei übereinstimmenden und unabhängigen Belege der Form Unnogunduren darf man die Frage stellen, ob bei Agathon nicht auch diese Form ursprünglich gestanden hat oder zu lesen ist. Auffällig ist der Umstand, dass die Form Onogundur für Onogur bei keinem anderen Autoren vorkommt. In dem bekannten Völkerverzeichnis des Rhetors Zacharias werden sowohl die Bulgaren als auch die Onoguren als besondere Völker angeführt:

 

Burgare... Unaghur populus qui in tabernaculis habitant, Oghor, Sabhir, Burgar, Kotrirghar...” [59]

 

Nach Gy. Moravcsik [60] ist

 

“Das bulgarische Volk aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Vermischung des letzten Restes der Hunnen, der nach dem Tode Attilas übrigblieb und sich nach Osten zurückzog, mit den Ogurstämmen, die sich am Nordufer des Schwarzen Meeres niedergelassen hatten, entstanden”...

 

Wie dem auch sei, eins steht jedoch fest, dass die Donau-Bulgaren Nachkommen des Bulgarenstammes der Unogunduren waren, deren Volkszugehörigkeit nicht sicher ermittelt ist [61].

 

 

58. O. Pritsak, Stammesnamen 74, bemerkt: “Die morphologische Seite dieser Frage ist aber ganz einfach... In der Form onoγur (-unoγur) haben wir ein Kollektiv-Suffix -r..., in der Form onoγundur zwei Suffixe: du (<dun) + r”. Auf Seite 77 steht aber, dass die Form “Οὐννογουνδούροι ( =Unno + gun + dur) das Suffix -d°r - t°r enthält”. Nach K. Menges, Igor’Tale 11 bedeutet “Οῦννογουνδοῦροι i.e. the Γundur of the Huns”. S. hier S. 309 und S. Szádeczky-Kardoss, Onoguroi 905-906

59. Zacharia Rhetor 144, 26-145, 1

60. Byz Turc. I 108

61. B. von Arnim, Turkotatarische Beiträge 349-351, hielt die Protobulgaren für "hunnisch” - iranische Mischbevölkerung. Seine Ansicht fand keinen Anklang.

 

313

 

 

 

2. Die Sprachreste und die Sprache der Protobulgaren

 

Allgemeine Literatur: V. Beševliev, PI; Gy. Moravcsik, ByzTurc. II; K. H. Menges, Elements; derselbe, Influences altaiques en Slave; derselbe, Substratfragen; Altaische Kulturwörter im Slawischen; derselbe, Igor’Tale; derselbe, Problemata etymologica; O. Pritsak, Fürstenliste; G. Fehér, Ostataci; P. Skok, Južni Sloveni; Iv. Dujčev, Nai-ranni vrăzki; N. N. Poppe, Die türkischen Lehnwörter im Tschuwasischen, in: UJbb VIII (1927) 151-167; N. A. Baskakov, Vvedenije v izučenie turskih jazikov, Moskva 1962, 188-200.

 

 

Von der Sprache der Protobulgaren sind unbedeutende Reste erhalten, die teilweise direkt, teilweise indirekt Überliefert sind. Die erste Gruppe besteht aus zwei mit griechischen Buchstaben geschriebenen Inschriften und aus Namen, Titeln sowie einzelnen Wörtern in den sog. protobulgarischen, in griechischer Sprache verfassten Inschriften. Die zweite Gruppe bilden die Namen und Titel, die griechischen, lateinischen und slawischen Schriftwerke mitteilen. Hierzu kommen noch die protobulgarischen chronologischen Ausdrücke der sog. bulgarischen Fürstenliste, eine kleine Anzahl protobulgarischer Wörter in der heutigen bulgarischen Sprache, einzelne Wörter in den arabisch verfassten Grabinschriften der Wolga-Bulgaren und die Entlehnungen in der ungarischen Sprache. Die türksprachlichen Inschriften des Schatzes von Nagy-Szent-Miklos werden von manchen Gelehrten auch den Sprachresten der Protobulgaren zugerechnet [1]. Der Wert aller dieser Sprachreste ist nicht gleich und bedingt.

 

 

1. V. Thomsen, Une inscription de la trouvaille d’or de Nagy-Szent-Miklos, in : Samlede Afhandünger, Bd. 3, Kopenhagen 1922, 325-353; St. Mladenov, Zur Erklärung der sogenanten Buela-Inschrift des Goldschatzes von Nagy-Szent Miklos, in: UJbb 7 (1927) 331-337; O. Pritsak, Fürstenliste 85-90. Anders J. Németh, Die Inschrift des Schatzes von Nagy-Szent-Miklos, Budapest 1932 (Die Sprache ist petschenegisch), und The runiform from Nagy-Szent-Miklos and the runiform Scripts of Eastern Europe, Acte Linguistica 21 (1971), 1-52.

 

314

 

 

A. Die direkt überlieferten Sprachreste

 

   1. Inschriften [2]:

 

Nr. 52

            ζητκω <η> ητζηργ-

            ωυ βωυλε χωυμ-

            σχη κυπε υνέ τω-

            υλσχη φμ´ εστρω

   5       γην κυπε υκζ´ τω-

            υλσχη ωνδ´ τωυρτ-

            ωυνα πηλε ζωπαν

            εστρυγην κυπε κ´

            τωυλσχη μ´ αλχαση

  10      κυπε α´ χλωυβρην α´

 

Nr. 53

            ....OPI.....

            ....ΟΚΑΤου....

            ....ξδ´ κανε...

            ...Ν κουπεσι πς´

  5        ...ξη κουπεσι πγ´

            ...ΟΣΧ κουπεσι πε´

 

Der Inhalt beider Inschriften ist dem Sinne nach durch Vergleich mit ähnlichen in griechischer Sprache verfassten protobulgarischen Inschriften erfasst. Es handelt sich um Waffenverzeichnisse wie Panzer und Helme, die bestimmten, nicht mit Personennamen, sondern mit Rang bezeichneten hohen Offizieren anvertraut waren. Die sprachliche Deutung der Inschriften steht jedoch immer noch aus. Die erste Inschrift hat mutmasslich nach I. Venedikov folgenden Inhalt [3]: “zitko icirgu boila hat Harnische aus Plättchen 455, Helme 540, Schuppenharnische 427 und Helme 854, und turtu zopan Schuppenharnische 20, Helme 40, Kettenpanzer 1 und hlubrin (?) 1”.

 

 

2. Beševliev, PI NrNr. 52 und 53

3. Iv. Venedikov, Trois inscriptions protobulgares, in: Razkopki i proučvanija (1950) 167-182

 

315

 

 

Über den sprachlichen Charakter der Inschrift äusserte sich der bekannte französische Turkologe J. Deny [4], wie folgt: “On se demande même par moment s’il ne s’agit pas de quelque langue inconnue panachée de termes techniques turcs”.

 

 

   2. Personennamen [5]:

 

Βαιανος Βογιαν..., Βορης, Δριστρος, Ηραταης, Ισβουλος, Κορσης [6], Κρουμεσις, Κρουμος, Μαλαμης, Νεγαβον..ς [6], Νεγυν, Ομουρταγ (Ωμορταγ, Ομυρταγ), Περσιανος, Πουμιρ, Σηβην [7], Σλαβνας [6], Τελερυγ, Τερβελις, Τζεπα, Τζυκος, Τουκος, Τουρδατζις [8], Χουμηρ, Χσουνος [6], Mostic, Ostro..., Tagci [9]; Dox, Rasate, Sondoke, Zergobula [10].

 

Der Name Σλαβνας erinnert stark an Σκλαβοῦνος bei Theophanes. Χσουνος ist als Šun zu lesen. Zergobula ist wohl kein Name, s unten.

 

 

   3. Geschlechternamen [11]:

 

...δουαρης, Ερμηαρης, Κουβιαρης, Τζακαραρης, Κυριγης und Ηρτχιθυηνος.

 

Die Geschlechternamen auf -αρης kommen immer in Verbindung mit der Genetivform des griechischen Wortes γενεά vor, sodass es nicht feststeht, ob Ερμηαρ, Ερμηαρη oder Ερμηαρης zu lesen ist [12]. Die Endung -γηρ in Κυριγηρ kommt auch bei den Evenken vor [13].

 

Hier ist auch der Volksname Βούλγαρεις, Βούλγαροι zu stellen, der verschieden gedeutet wird.

 

 

4. J. Deny, Une inscription en langue protobulgare découverte à Preslav, in: REB 5 (1947) 235-239

5. s. das Register in PI und Moravcsik, ByzTurk. II s.v.

6. Über die neue Lesung V. Beševliev, Gedenkinschrift 395 f.

7. V. Beševliev, Silberschale 1-9

8. s. Anm. 6

9. St. Stančev in dem Sammelwerk “Nadpisăt na čargubilja Mostic”, Sofia 1955, 13 und 23; Tagci könnte auch der sonst bekannte alttürkische Titel tamγaci “Siegelbewahrer” sein, s. Gabain, Inhalt 542.

10. Über diese Namen s. Moravcsik, ByzTurc. II 356

11. s. das Register in PI 338 und Moravcsik, ByzTurc II s.v.

12. Beševliev, PI 284

13. K.H. Menges, Elements 102 Anm. 77. Nach A.F. Anisimov, Religija evenkov, Moskau 1958, 153 werden mit der Endung -gir Geschlechtsnamen aus Tiernamen abgeleitet gebildet, z.B. Guragir von guran- “Gemsebock”.

 

316

 

 

Unter mehreren Deutungsversuchen [14] verdienen die von W. Tomaschek und J. Németh besondere Beachtung. Nach dem ersteren bedeutet “Bulgaroi” entweder “Mischling” oder “Aufmischler”, von dem türkischmongolischen Verbalthema bulghe“mischen” (3. sing, praes. bulghar ursprünglich eine Nominalform” [15]. Dieser Deutung schloss sich auch J. Németh [16] an, der jedoch den Namen durch “gemischtes (Volk)” übersetzte. Zuletzt kam derselbe Gelehrte aufgrund der Semantik des Zeitwortes “bulga” in verschiedenen Türksprachen zu der Überzeugung, dass bulgar “Aufwühler, Aufwiegler, Revolutionär” bedeutet hat [17].

 

 

  4. Titel und Adelsbezeichnungen [18]:

 

a) einfach: βαγαινος, βοιλας, ζουπανος, καυχανος, κολοβρος, κοπανος.

 

b) zweigliedrig: βαγατουρ βαγαινος, βηρη βαγαινος, ητζηργου βαγαηνος, σετητ βαγαινος, υκ βαγαινος; βοηλα καυχανος, ητζιργου βοιλας (ηζουργου βουλης, ), ιζουργου κολοβρος, ζητκο μηρος, κανα συβιγι (κανε συβυγη), βαγατουρ κανας; ζερα ταρκανος, ζουπαν ταρκανος, ολγου τρακανος, ζουπανος μέγας.

 

c) dreigliedrig: βογοτορ βοηλα κουλουβρος, ζητκω ητζηργωυ βωυλε, κανα βοιλα κολοβρος, τωυρτωυνα πηλε ζωπαν

 

 

  5. Wörter: σαρακτον (oder -ος), σιγορ ελεμ, ταγγρα, tongan ( = togan) [19].

 

 

14. s. die Literatur bei Moravcsik, ByzTurc. II 104 f., hierzu noch Togan IF 147 und A.B. Bulatov, K etimologii enthonima ‘bolgar”, in: Uč. zap. Naučnoissl. institute pri Sov. ministrov Čuvassk. ASSR 29 (1965) 254-260

15. RE III 1040

16. La provenance du nom bulgar, in: Symbole grammatice in honorem J. Rozwadowski II, Krakow 1927, 217-222

17. “Die Bedeutung des bulgarischen Volksnamens” in: Studia in honorem V. Beševliev, Sofia 1978, 68-71

18. s. das Register in Beševliev, PI 340-341

19. Dobrogei III 2 12 in einer altbulgarischen Inschrift, s. hier S. 434; Gabain, Inhalt 547; “Ein Gouverneur (?, tutuq) wird in einer Inschrift ... “Stummesfalke” (el toγan) genannt, s. such 554

 

317

 

 

Die direkt überlieferten Sprachreste sind die einzigen sicheren Überbleibsel der protobulgarischen Sprache und stellen daher in erster Linie eine zuverlässige Grundlage für die Erforschung dieser Sprache dar. Bei ihrer Lesung ist jedoch folgendes zu berücksichtigen. In dem zeitgenösischen griechischen Alphabet sind die Buchstaben i und η und o und ω gleichwertig, d.h. ihre Lautwert ist nur i und o. Daher wird z.B. einmal ητζιργου und ein anderes Mal ητζηργωυ geschrieben. Sowohl die Personennamen als auch die Titel, die auf einen Konsonanten auslauten, erhielten im Nominativ die Endung - ος, z.B. Κρουμος, καυχανος usw. Die einzige Ausnahme ist der Name Ομουρταγ. Den Namen und Titeln, die auf einen Vokal ausgehen, wurde im Nominativ ein - ς zugefügt, z.B. Τερβελις oder βοιλας. Der Personenname Μαλαμης und der Geschlechtsname Κυριγης haben keine griechischen Endungen, da der Auslaut -ηs der griechischen Endung -ηρ z.B. πατήρ gleichgestellt wurde. Dasselbe gilt auch für den Titel συβιγη, dessen Auslaut mit den griechischen Wörtern auf -η wie γῆ in Verbindung gebracht wurde.

 

Bei den mehrgliedrigen Titeln, wie z.B. βαγατουρ βαγαενος, ζουπαν ταρκανος oder τὸν κανα βοιλα κολοβρον, βογοτορ βοηλα κουλουβρος hat nur das letzte Glied eine griechische Kasusendung. Sie wurden also als ein Ganzes aufgefasst. Hierher gehört auch der Herrschertitel κανα συβιγη, dessen erstes Glied keine griechische Endung hat. Die bei den byzantinischen Schriftstellern überlieferten Personennamen und Titel sind anders behandelt, vgl. z.B. Ὀμβριταγός und Μορτάγων gegenüber Ομουρταγ oder ὁ βουλίας ταρκάνος gegenüber ὁ βοηλα καυχανος.

 

Die Personennamen sind nach griechischen Vorbild mit dem bestimmten Artikel versehen, den man manchmal irrtümlich als Anfang des Namens betrachten kann [6]. Die einzige Ausnahme bildet der Herrschername Ομουρταγ, da der Name mit o beginnt.

 

Manche Reste weisen phonetische Abweichungen auf, die wohl der Unzulänglichkeit des griechischen Alphabets zu verdanken sind, das die protobulgarischen Laute nicht genau phonetisch wiedergeben konnte.

 

318

 

 

So erscheinen ζουπάν neben ζωπαν, ητζιργου neben ιζουργου, συβιγη neben συβυγη, κουπεσι neben κυπε, εστρυγην neben εστρωγην, Ομουρταγ neben Ωμορταγ und Ομυρταγ. An den angeführten Formen lässt sich eine Schwankung in der Wiedergabe der Laute ι—ου, ι—υ, ου—ο, υ—ου und υ—ω beobachten. Es handelt sich wohl um die unterschiedliche Wiedergabe eines protobulgarischen Lautes, der zwischen o und ü, d.h. etwa ö geklungen hat.

 

Von diesen Fällen sind jedoch solche phonetischen Unterschiede zu trennen, die nicht durch verschiedene Transcription verursacht, sondern sprachlicher Natur sind, z.B. τρακανος gegenüber ταρκανος (Metathese). Der türkische Possessivsuffix -i lautet -e in βυωλε und κανε neben -i in συβιγι = sü-beg-i. Die Formen Βογιαν... für Βαιανος und βογοτορ für βαγατουρ verraten slawischen Einfluss: den Übergang des fremdsprachigen a zu o im Slawischen [20]. Auch bei den Formen βουληα für βοιλας (vgl. altbulg. bylja [21], neubulg. boljarin [22], ιζουργου für ητζιργου (vgl. altbulg. črăgu) und κουλουβρος für κολοβρος (vgl. slavisch kalubr) ist slawischer Einfluss anzunehmen.

 

 

B. Die indirekt Überlieferten Sprachreste [23].

 

  1. Personennamen:

 

Ἀσπαρούχ, Ἀσφὴρ (s. hier S. 273 Anm.18), Βαιανός neben Βατβαιᾶν, Βοίνος, Βορησης (Βωγωρις), Δίτζευγος, Δίστρος, Δούκουμος, Ἐσχάτζης, Ζβηνίτζης, Καμπαγάνος neben Παγάνος, Κάρδαμος, Κοβρᾶτος (Κροβᾶτος) neben Κούβρατος und Κούβαρος [24], Κορμέσιος, Κοῦβερ, Κούπεργος (s. hier S. 273 Anm. 18), Κρακρᾶς, Μαρμαήν, Μυριτζίκιος, Νέβουλος, Νέστογγος, Ὀμβριτάγος [25] neben Μουρτάγων, Ὀργανᾶς neben Ἀργανᾶς, Οὔμαρος, Πρεσιάμι, Προυσιάνος neben, Πρεσιάνος, Σαβῖνος, Σιγρίτζης, Ταριδῆνας,

 

 

20. Κ.Η. Menges, Igor’Tale 14; Beševliev, PI 39

21. K.H. Menges, Igor’Tale 23-24

22. ebenda 18-20

23. Moravcsik, ByzTurc. II s.v.

24. L. Orosz 22

25. ebenda

 

319

 

 

Τελέριγος, Τελέτζης neben Τελέσσιος, Τζόκος, Τόκτος; Alzeco [26] neben Alciocus, Baianus, Busan [27], Dox, Hunol, Nesundicus, Omortag, Prastitzisunas, Rasate, Sundice; in altbulgarischen Texten überlieferte und mit kyrilischen Buchstaben geschriebenen Personennamen: Avitohol, Bezmêr, Vineh, Gostun, Diceng, Dukum, Imik, Isperih neben Espererih und Ispor, Kormisos, Kurt neben Kurat (vgl. die falsche Lesung Κουρᾶτος für Κοβρατος bei Nicephoros Breviarium 33, 18), Prusian, Sevar, Telec, Tervel, Umor, Čok neben Čerkat.

 

  2. Geschlechternamen in kyrilischen Transkription: Vihtoun (oder Personennamen?), Vokil neben Oukil, Doulo, Ougain.

 

  3. Ortsnamen:

Μουνδράγα [28], Tuthon [29]

 

  4. Titel:

ἀλογοβότουρ, βοιλᾶν καὶ τζιγάτον, βοριτακάνος, βουλίας ταρκάνος, ἠμνῆκος, ἠτζβόκλια, κουλουτερκάνος, neben καλουτερκάνος, κανὰρ τικείνος, καυκάνος neben κοπχάνης oder κοπχάνος, κνῆνος, μαγοτῖνος μηνικός, οὔσαμψις, σαμψής, σουρσούβουλις; campsis, canna taban, cerbule, sampsi, uagartur, zerco boilas; in kyrilischen Transkription: kavhan neben kahan, klogotin, kaloubr [30], kaloutorokan, minik, mogatin, sarsoubyla.

 

  5. Wörter:

in kyrilischen Transkription: alem, altem neben alătom, vereni, većem, dvan, dilom, dohc, somor, tvirem neben tvirim, tavirem, tekou, toh, toutom, čitem, šegorm, šehtem; ethbehti.

 

 

26. Moravcsik, ByzTurc. II 357. Nach H.-W. Haussig (mündliche Mitteilung) soll Alcious alttï-oq ”sechs Pfeile” bedeuten.

27. Über diesen und den folgenden Namen ebenda

28. Georgius Continuatus ed. Gy. Moravcsik in “Bizanci Krοnikak a honfοglalas elötti Magyarsagrολ”, in: Antik Tanulmanyok 4 (1957) 288, 84

29. Marquart, Streifzüge 500: “Anchialos bulgarisch Tutchon hiess, aus der altslawischen Übersetzung der Chronik des Symeon des Logotheten, Vizantijski Vremenik II 114, Thochun neben “Nezembur” (Mesembria) in einer ungarischen Urkunde 1367”. Vgl. auch Zlatarski, Istorija I 1, 218 Anm.

30. B. von Arnim, Urbulgarisch kaluber - κουλούβρος, in: Festschrift für M. Vasmer, Wiesbaden 1956, 45-46

 

320

 

 

Die Endung: -čii [31], z.B. sarăčii

 

  6. Reste im Neubulgarisch [32]: balvan, biser, beleg, belcug, boljarin, băbrek, kapiste, kumir, san, tojaga, tuča, čertog, čipag, horugva, šaran u. andr.

 

  7. Über die Entlehnungen im Ungarischen s. Zoltan Gombocz, Die bulgarischtürkischen Lehnwörter in der ungarischen Sprache, in: MSFOu, XXX, Helsinki 1912, 1-34, hierzu Julius Németh in MNy. XVIII (1921) 23-26: G. Féher, Beziehungen 15-23; anders Joh. Benzing, Die angeblichen bulgar-türkischen Lehnwörter im Ungarischen, in: ZDMG, 98 (1944) 25 ff. und Istvan Fodor, Altungarn, Bulgarotürken und Ostslawen in Südrussland (Archäologische Beiträge), Szeged 1977, 7-40 mit Lit. Irrtümlich wurde κουκούμιον auch zu einem protobulgarischen Wort erklärt [33]. Die indirekt überlieferten Sprachreste zeigen noch grössere Abweichungen von dem Original, die einerseits ungenaue Wiedergabe der bulgarischen Formen durch verschiedene Alphabete, anderseits Kopistenfehler, falsch verstandene Formen und Wörter, Anlehnung an bekannte Wörter, willkürliche Deutungen, Verlesung u.dgl. darstellen. Die indirekt überlieferten Sprachreste lassen sich selten nachprüfen und man ist meistenfalls nur auf Vermutungen angewiesen. Sie sind daher mit Vorsicht zu verwerten. Nachstehend folgen die wichtigsten Fälle.

 

Der Personenname Βατβαιᾶν, der bei Nikephoros als Βαιανὸς überliefert ist, besteht aus zwei Teilen:

 

 

31. Pritsak, Fürstenliste 75 Anm. 1, vgl. A. Vaillant, Manuel 197

32. St. Mladenov, Vestiges de la langue des Protobulgares touraniens d'Asparuch en bulgare moderne, in: Revue des études slaves I (1928) 38-53 und Geschichte der bulgarischen Sprache, Berlin-Leipzig 1929, 13 ff., 42 f.; K.H. Menges, Igor’ Itale 20-23; 59-63; 72 Anm. 188 und 76 und Substratfragen 112-121; Em. Boev, Za predturskoto türsko vlijanie v bălgarski ezik - ošte njakolko prabălgarski dumi, in: Bălgarski ezik XV (1965) I, 3-17; G.E. Kornilov, K voprosu o vozmoznosti gunsko-bulgarskogo proishozdenija nekotoryh toponimov v basejnah Dona i Dunaja, in: Učenye zapiski, UNU, XXVII (1964), Čeboksary.

33. Ki Mijatev, Novi danni za bălgarite prez X v., in: IBAI 6 (1939-1931) 281-283; Gy. Moravcsik, Κουκούμιον ein altbulgarisches Wort?, in: Körösi-archivum 11 6 (1932) 436-440

 

321

 

 

Βατ- und βαιαν, die man nicht nur als ein Ganzes, sondern auch als etwas Besonderes, dem Türkischen Eigentümlichen aufgefasst hat und daher nicht mit einer griechieschen Endung versah. Der zweite Teil βαιαν stellt die reine Form des Namens Baianos [34] dar. Was Βατ- anbelangt, ist seine Bedeutung noch nicht festgestellt [35]. Βοίνος ist wohl die slawisierte Form von Βαιανος und demnach als Βοίανος zu lesen. Theophanes und Nikephoros teilen den Namen eines Bulgarenherrschers verschieden mit. Er lautet bei dem ersteren Παγάνος, bei dem letzteren dagegen Καμπαγάνος. Man könnte die Form Παγάνος für ursprünglich halten, die bei Nikephoros mit einem Attribut Καμ- zu Καμπαγάνος verschmolzen wurde. So fasste J. Marquart [36] den Namen auf und sah in Καμ- den Titel Καν- qan. Der Name hätte demnach Qan-Pagan gelautet. Καμ- lässt sich aber auch qam “Schamane” deuten (s. hier S. 380). Wenn man jedoch in Betracht zieht, dass es sich bei diesem Herrscher wohl um einen zweiten Khan handelte, liegt die Vermutung nahe, dass in Καμπαγάνος der bekannte türkische Titel qap(a)gan, awar. capcanus steckt. Die byzantinischen Schriftsteller haben dann irrtümlich den Titel für den Personennamen gehalten. Κορμέσιος ist identisch mit dem inschriftlich überlieferten Κρουμεσις. Schwierig ist jedoch zu sagen, welche Form die ursprüngliche war und ob Krumesis nicht eine Ableitung von Krum ist. Μουρτάγων und Ὀμβριτάγος sind mit den griechischen Endungen -ων und -ος versehene entstellte Formen von Ομουρταγ. Der Herrscher Πρεσιάμ ist mit dem direkt überlieferten Περσιανος identisch. Σαβῖνος statt Σιβινος stellt wohl eine Anlehnung an den bekannten Personennamen Sabinus dar,

 

 

34. Über die Namen s. K.H. Menges. Igor’Tale 16-18

35. Nach Marquart, Chronologie 40 Anm. 1 und 85 Anm. 2 und Streifzüge 505, ist Βατ - als Βαγ zu lesen, also βαγ βαϊάν = Bäg Bajian. Die Annahme einer Dittographie (Iv. Dujčev in IAI 19, 1955, 332) ist ganz abwegig und irreführend. Ob es nicht mit baiat bei Menges, Igor’Tale 17, in Zusammenhang steht?

36. Chronologie 40 Anm. 1. Über Titel qapqan s. D. Sinoer, Qapqan, in: Journal oi the Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland, London, 1954, Parts 3-4, 174-184

 

322

 

 

vgl. den direkt überlieferten Namen Σηβην. Der Träger des Namens Nesundicus ist ohne Zweifel mit Sondoke und Sundice in anderen gleichzeitigen Urkunden identisch. Das sprachliche Verhältnis der Namen zu einander ist jedoch unklar. Was die Anfangssilbe Neanbelangt, lässt sich Nesundicus mit den Namen Νέβουλος und Νεγαβον..ς vergleichen. Vineh ist zweifellos mit dem Herrscher Sabinus identisch. Beide Formen sind aus *Sivinek (s. hier S. 212, 492) und *Sivin entstellt. Der Name Ditzeng ist mit Δίτζευγος identisch. Die erst Form gebrauchen Ducange (Ditzengus) und Lebeau. Sie ist entweder eine Verlesung der zweiten oder entstammt einer anderen Handschrift. Irnik entspricht dem Namen des jüngsten Attilassohnes Ἠρνάχ, Hernac. Die Formen Isperih und Ispor sind aus Ἀσπαρούχ entstanden, wobei die zweite dem Original näher steht [37]. Kormisos ist gleich Κορμεσιος, Kurt oder Kurat ist mit Κουβράτος oder Κοβρᾶτος identisch. Man zieht die Form Kurt zu Unrecht vor, da sie sich als qurt “Wurm, Wolf” deuten lässt. Die griechischen Formen, die besser bezeugt sind, da sie durch die Form Chubrathaj bei Pseudo-Moses Chorenaçi bestätigt werden, lassen auch eine gute türkische Etymologie zu [38]. Die Form Kurt kann aus den griechischen Formen entstehen, aber nicht umgekehrt. Umor entspricht dem Namen Οὔμαρος mit dem bekannten Übergang des fremden a zu o im Slawischen.

 

Der bei Theophanes (433, 16 und 197, 19) überlieferte Name Κορμέσιος lautet in der lateinischen Übersetzung des Anastasius Bibliothecarius (225, 6) Comersius. Bei Fredegar (Chron. IV 72) Alciocus ist bei Paulus Diaconus (Hist. Longob. V 29) Alcezo neben Alzeconem.

 

Nicht weniger entstellt und verballhornt erscheinen auch die indirekt überlieferten Titel. Der Titel ἀλογοβότουs ist im Hinblick auf das direkt überlieferte ßayaxous bzw. βογοτορ zu ἀλο βογοτουρ zu korrigieren, wobei der zweite Teil in slawischer Phonetik erscheint. Der erste Teil kann auch verdorben sein.

 

 

37. Beševliev PI 312-313

38. vgl. Moravcsik, ByzTurc. II 161-162

 

323

 

 

Wie irrtümlich die byzantinischen Chronisten die bulgarischen Namen und Titel verstanden haben und wiedergeben, zeigt der bei Theophanes überlieferte Titel βοιλᾶν καὶ Τζιγάτον deutlich, der aus βοιλα τζιγατος entstellt worden ist. Τζιγατος erscheint slawisiert als čigot mit der Bedeutung σπαθάριος in einem slawischen Text [39]. Der Titel βοριτακανος ist wohl in βορι ταρκανος zu verbessern. Das Amt Μινικὸν τῶν ἱπποκόμων τὸν πρῶτον (Skylitz. ed. Bonn. II 299, 8) ist in folgenden Formen überliefert worden: ἡμνῆκος, μηνικὸς, μινικόν, slaw. minik. Welche Form ist die richtige? Die drei letzten sind nur orthographisch verschieden. Die erste scheint aus den letzteren durch Metathese entstanden zu sein [40]. Der Titel ἠτζβόκλια ist wohl aus ητζιργου βουλια verdorben. Die Form καλοτερκάνος neben κουλουτερκάνος, slav. kalutorokan (mit Übergang von a zu o in der ersten Silbe) ist wohl ein Kopistenfehler. Die beiden letzten Formen weisen auf ein κουλουταρκανος hin. κνῆνος ist offenbar aus καυχανος entstellt worden. Der Titel σαμψής ist auch als οὔσαμψις, campsis und sampsi überliefert worden. Canna taban ist aus canna tarkan verlesen worden. Die Formen σουρσούβουλις, slav. sarsubylja und cerbule stellen wohl entstellte Formen von ητζιργου βοιλας und zerco boilas dar. Uagartur ist offenbar als vagatur, d.h βαγατουρ zu lesen. Klogatin ist aus mogatin verlesen. Das letztere ist die slawisierte Form von μαγοτῖνος [41]. Die Wörter alem und šegor erscheinen als ελεμ und σιγορ in einer protobulgarischen Inschrift.

 

Die in der heutigen bulgarischen Sprache erhaltenen protobulgarischen Wörter haben auch phonetische Umgestaltungen erfahren. Manche von diesen Wörtern können aus anderen Türksprachen wie kumanisch oder petschenegisch entlehnt sein. Für protobulgarisch werden auch manche Ortsnamen gehalten, z.B. Tileorman [42].

 

 

39. Jor. Trifonov, Boljarstvo 16

40. Pritsak, Fürstenliste 68

41. Darüber Menges, Igor’Tale 38-39

42. Nach K.H. Menges (Igor’Tale 55 und 57) dürfte der heutige Stadtname Tutrakan auch protobulgarischer Herkunft (zu tarkan) sein.

 

324

 

 

Die richtige Lesung der einzelnen wolga-bulgarischen Wörter in den arabisch verfassten Grabinschriften kann auch nicht als sicher gelten [43].

 

Und schliesslich spiegeln die protobulgarischen Lehnwörter im Ungarischen die protobulgarischen Formen nur bedingt richtig wieder.

 

Nur aufgrund von den Personennamen und Titeln kann man keinen richtigen Begriff von der Sprache der Protobulgaren haben. Denn manche von ihnen sind ohne Zweifel fremder Herkunft. So z.B. ist Asparuch ein iranischer Personenname [44]. Nach Fr. Altheim sollen folgende Titel auch iranisch sein: βαγαινος [45], ζουπαν [46], καυχανος [47] und τικεῖνος [48]. D. Dečev [49] erklärte den Personennamen Μαλάμης für gotisch. Für die verschiedenen Deutungen der protobulgarischen Personennamen und Titel, die hier nicht angeführt sind, sei auf das Werk von Gy. Moravcsik, Byz.Turc. II, mit reicher Literatur verwiesen. Flierzu noch Fr. Altheim, Die Hunnen I, 213 (ταρκανος), 225 (Κροβᾶτος, und V 24-25), 227 (Kurt), 226

 

 

43. O. Pritsak, Bolgaro-Tschuwaschica, in: UAJ, 31 (1959) 274-314; K. Thomsen, Zur Wolgobolgarische Epigraphie, in: Acta Orientalia XXVI 189-192

44. V. Beševliev, Protobulgarica 225-227; Fr. Altheim, Hunnen 1 9-10; III 283 (türkisch) und IV 19

45. Hunnen I 214 f.: “Alttürkisches bag, bäg geht, wie anerkannt, auf alt iranisches baga- zurück (W. Bang in: Muséon 38, 34).” S. auch V 308-309; Menges, Introduction 168

46. ebenda IV 39 Anm. 6

47. ebenda I 37: “Die verschiedenen Formen -+qavqan (καύχανος, καύκανος) qapgan (καπχάνης), +qaqan (arab. hakan, arm. xak’an) und qagan (Χαγάνος) lassen sich auf ein älteres +kavikan zurückführen”, (mitteliranischer Herkunft S.50); I 207-212 (gegen D. Sinor, s. hier Anm. 36); I 243 qagan iranischen Ursprungs, hierzu Menges, Introduction 178; Altheim I 213 ist geneigt καυχάνος von +kavakan als Nachname des Schmiedes Kava(k) zu erklüren. S. noch A. von Gabain in Anthrop. 48, 543 “König Qapagan”, H.H. Schaeder in ZOMG 82 XCV (qapgan ältere Form von qagan); L. Krader, Qan-Qagan and tne beginnings of mongol kingship, in: Central Asiatic lournal. Vol. I (1955) 17-35

48. ebenda I 50-51

49. Prabălgarski imena ot indoevropejski proizhod, in: VI Otčet na Bălgarskija Arheol. institut za 1926, Sofia 1927, 20

 

325

 

 

(βοριτάκανος), 243 (qagan), IV 54-65 und V 310-311 (Yabgu).

 

Die Frage nach der Zugehörigkeit der Sprache der Protobulgaren zur grossen Familie der Türksprachen und ihre Beziehung zu den übrigen altaischen Sprachen in erster Linie dem Mongolischen ist ein viel diskutiertes und noch nicht endgültig gelöstes Problem der Turkologie. Es wird fast allgemein angenommen, dass die Sprache der Protobulgaren türkisch war und jener türkischen Sprachgruppe oder Sprache angehörte, von der die heutige tschuvachische Sprache abstammt. Es ist jedoch nach manchen fraglich, ob die Sprache der Protobulgaren von Anfang an eine Türksprache war oder einer anderen altaischen Sprachgruppe zugeteilt werden muss [50]. Diese Unsicherheit ist den sehr spärlichen Sprachresten zu verdanken, unter denen sich auch türkische Elemente befinden. Nach B. von Arnim [51]:

 

“Nur ein kleiner Teil dieser Sprachreste lässt sich mit Sicherheit aus den Türksprachen erklären.”

 

K. H. Menges [52] nahm an, dass es ein nicht türkisches Stratum im Protobulgarischen und Tschuvachischen gab, von dem die nicht türkischen Elemente herkommen und das hunnisch war. Auf diese Schicht hat sich ein türkisches Superstratum überlagert, das sie türkisiert hat. Nach Istahri und Ibn Hauqal soll die Sprache der Bulgaren der der Chazaren ähnlich sein [53]. Nach Biruni war die bulgarische Sprache eine Mischung aus dem Türkischen und Chazarischen [54].

 

Die markanteste phonetische Eigentümlichkeit der protobulgarischen Sprache, die auch von der Sprache der Tschuvaschen geteilt wird, ist der sog. Rhotazismus [55],

 

 

50. Menges, Igor’Tale 4 und Elements 88-91; N. Poppe, Asia Major I 775 f., UAbb 7, 151 f., anders Altheim, Hunnen V 307 Anm. 14

51. Prinzipieles zur Frage nach Sprache und Volkstum der Urbulgaren, in : Zs slav. Phil. X (1933) 351

52. Menges, Elements 89

53. Dunlop 98 mit Anm. 41; Artamonov, Hazar 115. Nach einer Sage bei Johannes von Ephesos waren Bulgharioz und Khazarig, die Vorfahren der Bulghar und Khazar, Brüder, s.W. Barthold in Enzyklopaedia Islamica 1819 s.v. Bulghar.

54. bei Togan IF 200, hierzu Barthold, Türks in Encykl. Isl. 949-951

55. O. Pritsak, Der “Rhotazismus” und “Lambdazismus”, in: UAJ 35 (1964) 337-349. Über κολοβρος s. J. Marquart, Kultur- und sprachgeschichtliche Annickten, in: UJbb IX, 90 f.

 

326

 

 

d.h. dem Gemeintürkischen z entspricht i im Protobulgarischen und Tschuvachischen, z.B. protbulg. κολοβρος (mit Übergang von gh in v) = osm. türk. qolaghuz, tschuv. xer “Tochter” = osm. türk. qiz. Der Rhotazismus erscheint auch in den neubulgarischen Wörtern protobulgarischer Herkunft, z.B. šaran “Karpfen” = osm. türk. sazan [56].

 

Die Feststellung, dass in der Sprache der Protobulgarenzwei verschiedene Schichten zu erkennen sind, gilt auch für die Herkunft des protobulgarischen Volkes selbst, das aus zwei bzw. mehreren Volkselementen bestanden zu haben scheint.

 

Es ist eine ungelöste Frage, warum keine protobulgarischen Wörter in den zeitgenössischen altbulgarischen bzw. slawischen Texten heiligen Inhalts Vorkommen [57]. Die Sprache der Protobulgaren ist wohl im Laufe des 12. Jhs. verschwunden.

 

 

56. Menges, Igor’Tale 66

57. Menges, Substratfragen 112-121

 

327

 

 

 

3. Die Gesellschaftsordnung

 

Allgemeine Literatur: K. Jireček, Bulgaren 91, Serben I 189-190; Liao 16-19; B. Vladimirtsov, The Life of Chingis-Khan, tr. from the Russian by Prince D. S. Mirsky, London 1930, 1-7 (Grousset, L’empire 247-250); derselbe, Le régime social des Mongols. Le Féodalisme nomade, Paris 1948; O. Pritsak, Stammesnamen; derselbe, Hunnen 240; J. Harmatta, The Golden Bow 134-142 und The Dissolution 281-304

 

 

In dem Aufbau der altaischen Steppenreiche lassen sich zunächst zwei gesellschaftliche Haupteinheiten: das Geschlecht oder der Klan und der Stamm unterscheiden. Das Reich selbst stellte eine Vereinigung mehrerer Stämme von verschiedenen Sprachen und verschiedenem Volkstum dar. Der Name des führenden Stammes wurde zum Namen der ganzen Vereinigung [1]. Derselbe Aufbau lässt sich auch bei den Protobulgaren fetsteilen.

 

Die Bulgaren am Kaukasos bestanden nach Pseudo-Moses Chorenaçi aus folgenden vier Stämmen: Kup’i-Bulgar, Duči-Bulkar, Olchontor Blkar und Čdar Bolkar (s. hier S. 147), von denen Theophanes nur die Unnogunduren (Οὐννογουνδούρων Βουλγάρων) = Olchontor erwähnt. Nach demselben byzantinischen Chronisten gehörten dem bulgarischen Reich auch die Kotragen (Κότραγοι) an.

 

 

1. Vladimirtsov, Chingis-khan 5-6; 64 (vgl. Grousset, L’empire 274); Pritsak, Stammesnamen 51-52; 61. Vgl. Priskos (El 130, 8-11):

 

"... τὸ τῶν Ἀκατίρων ἔθνος ... ὅ ἐστι Σκυθικὸν ἔθνος ... πολλῶν κατὰ φῦλα καὶ γένη ἀρχόντων τοῦ ἔθνους”,

 

Mauric. ed. Mihăescu 270, 8-10:

 

(Ἀβάροις καὶ Τούρκοις καὶ λοιποῖς ὁμοδιαίτοις αὐτῶν Οὐννικοῖς ἔθνεσιν). Ἀπληκεύουσι δὲ οὐκ ἐν φοσσάτῳ, ὥσπερ Πέρσαι καὶ Ῥωμαῖοι, ἀλλα μέχρι μὲν τῆς τοῦ πολέμου ἡμέρας διεσπαρμένως κατὰ γένη καὶ φυλάς...

 

Hierzu J. Harmatta, The Golden Bow 137 und Anm. 78.

 

328

 

 

Der Stamm der Unnogunduren kam unter der Führung von Asparuch in Untermösien an, wo sie für immer blieben und das erste Bulgarische Reich gründeten. In Untermösien gliederten sich die Bulgaren in mehrere Geschlechter (rod, γενεά in PI Nr. 58, 59, 61, 62 und γένος in Inschrift 60), deren Zahl unbekannt ist und die bereits in ihrer älteren Heimat vorhanden waren. Bekannt sind nur die Namen folgender Geschlechter: Dulo, Ermi, Vokil oder Ukil, Ugain (alle in der Fürstenliste), Ermiar (Nr. 62) wohl mit Ermi identisch, Kubiar (Nr. 59), Kürigir (Nr. 60) und Čakarar (Nr. 58). Hinzu kommt noch eins, dessen Name auf -duar (Nr. 61) endete und das Adjektiv Ηρτχιθυηνος (Nr. 78), das wohl aus einem Geschlechts-oder Ortsnamen *Ηρτχιθυ gebildet war. Die Endung -ar wird mit dem türkischen är, ir oder äri “Leute” verbunden [2]. Nach K. H. Menges [3] sind die Geschlechtsnamen mit dem Kollektivsuffix -r gebildet. Die Endung -gir lässt sich zur tungusischen Kollektivform auf -gi-r stellen [4].

 

Die Geschlechter hatten wohl wie bei anderen Türkvölkern ihre Anführer.

 

Bis 760 war Dulo [5] das regierende bzw. führende Geschlecht, aus dem die bulgarischen Herrscher stammten. Das Geschlecht Ermi spielte auch eine wichtige Rolle in älterer Zeit, da Gostun, der nach der Fürstenliste Statthalter war, diesem Geschlecht angehörte. Nach 760 ging die Herrschaft für kurze Zeit in die Hände der Geschlechter Vokil und Ugain über.

 

Der bulgarische Staat bestand also in Untermösien aus dem bulgarischen Stamm der Unnogunduren, der in Geschlechter eingeteilt war,

 

 

2. Menges, Igor’Tale 19 und Anm. 49; 53; Beševliev, PI 284 mit Lit.

3. Menges, Elements 101-103 und Introduction 88; Pritsak, Fürstenliste 18; 75

4. Menges, Introduction 112: “It should rather be connected with the Tungus suffix Ewenki -gin, designating a person belonging to a group or organisation, the collective form of which, -gir, désignâtes the belonging to a tribe (as e.g. Sama-gi-r, Bulto-gi-r etc.).” S. auch Pritsak, Stammesnamen 82-83

5. Pritsak, Stammesnamen 55; 74; Hunnen 245, Fürstenliste 64; 94; Marquart, Streifzüge 172; s. auch Togan 1F 273 f.; 277 f.; Kollautz, Awaren I 45 f.; Liao 432; 666

 

329

 

 

und mehreren slawischen Stämmen, von denen der bedeutenste die Severen waren. Hinzu kam die alte, Vorgefundene Bevölkerung: die Thraker und die mehr oder weniger romanisierten bzw. hellenisierten Einheimischen und Eingewanderten aus anderen Ländern, die jedoch keine Rolle in der Staatsleitung spielten.

 

Es gab im bulgarischen Staat, wie die Inschrift Nr. 57 zeigt, zwei Adelsstände, die Boilen und die Bagainen (τοὺς βοιλαδας καὶ βαγαινους) [6] und gewöhnliches Volk (τοὺς Βούλγαρης = Βούλγαρεις) [7]. Das letztere entspricht vielleicht der Bezeichnung qara budun bzw. qara qamaj budun für das einfache Volk in den türkischen Orchon-Inschriften. Die Boilen waren der höhere Stand, in deren Händen sich alle wichtigen Militär- und Verwaltungsämter befanden. Die Adelsbezeichnung βοιλας (plur. βοιλαδες) kommt auch unter der Form βουληα (Nr. 47), βολιαδες (Const. Porph. De cer. 681, 17, 682, 16, 17), βωυλε (Nr. 52), altbulg. bylja (Nr. 69) vor. Die neubulgarische Form boljarin stellt die türkische Pluralform boilar mit der slavischen Endung -in dar [8].

 

 

6. Die titel Boila baγa tarqan des Tonjukuk in den Orkhoninschriften (Thomson, Orkhon 131 Z. 15 und Mongolei 163 Z. 6 = Malov, Pamjatniki 61 Z. 6 und 65 Z. 7) und baγa tarqan in einer uigurischen Inschrift aus der Nord-Mongolei (G. J. Ramstedt, Zwei uigurische Runeninschriften in der Nord-Mongolei JSFOU 30, (1913) H. 3, 3-9 (= Malov, Pamjatniki 84-90) lassen darauf schliessen, dass die beiden Adelsstände auch bei den Orkhontürken existierten.

 

7. In der bekannten Begrüssungsformel, die der byzantinische Logothet an die bulgarische Gesandtschaft zu richten pflegte, wird auch nach dem Wohlbefinden des (πῶς ἔχουσιν) τὸ κοινὸν τοῦ λαοῦ gefragt (Const. Porph. De cer. 681, 18-19 = 682, 17). Die Frage nimmt die letzte Stelle in der Formel ein. Dieser Ausdruck kann selbstverständlich “das gesamte bulgarische Volk” bedeuten, wie J.J. Reiske ihn (commune populi) aufgefasst hat. Wenn man aber berücksichtigt, dass die Frage πῶς ἔχουσιν οἱ στρατηγοὶ καὶ τὰ στρατεύματα τοῦ βασιλέως τοῦ ἀγίου (682, 8-10) in der entsprechenden bulgarischen Begrüssungsformel ebenfalls die letzte Stelle einnimmt, darf man mit Recht den fraglichen Ausdruck auf das bulgarische Heer beziehen, zumal das Wort λαός oft bei Konstantin Porphyrogennetos diese Bedeutung hat, z.B.: De cer. 651, 15; 662, 1; 6; 667, 2; De adm. ed. Moravcsik 26, De them. 123 usw.

 

8. Menges, Igor’Tale 18-19; 23-24; Moravcsik, ByzTurc. II 93 f.

 

330

 

 

Die Bagainen waren der niedere Adelsstand und bekleideten kleinere Militärdienststellen. Das Wort βαγαινος wird von dem Iranischen baγa, baga hergeleitet [9]. Die griechische Form βαγαινος stellt vielleicht eine slawisierte Form von baga + slav. Suffix -in (vgl. boljarin) [10] oder türkische Plural -bzw. kollektivform mit Suffix -n dar.

 

Eine besondere Adelsklasse bildeten, wie es scheint, die Tarkanen. Der Titel tarqan bezeichnete bekanntlich einen höheren Adelsrang [11]. In den protobulgarischen Inschriften war er, wie es scheint, mit der Ausübung eines Amtes verbunden.

 

In welcher Beziehung die Stände zu den Geschlechtern standen ist unbekannt. Es lässt sich jedoch mit Bestimmtheit annehmen, dass zumindest die Boilen von vornehmen Geschlechtern stammten. Es ist auch unbekannt, ob es feste Grenzen zwischen den drei Ständen gab, die keinen Übergang von einem Stand in einen anderen erlaubten. Ennodius [12] berichtet von den pannonischen Bulgaren:

 

“Haec est natio..., in qua titulos obtinuit, qui emit adversariorum sanguine dignitatem, apud quam campus est vulgator natalium - nam cuius plus rubuerunt tela luctamine, ille putatus est sine ambage sublimior.”

 

Aus diesen Worten lässt sich aber nicht erschliessen, ob das im Allgemeinen zu verstehen ist, d.h. ob es für alle Bulgaren ohne Rücksicht auf Stand und Herkunft galt oder ob es sich um daselbe wie bei den alten Germanen handelte: reges ex nobilitate, duces ex virtute sumunt [13]. Die angeführten Worte des Ennodius lassen sich jedoch ohne Zweifel mit dem Ehrentitel βαγατουρ “Held” [14] verbinden, der nicht selten in den protobulgarischen Inschriften vorkommt.

 

 

9. Liao 430 und Anm. 36; Menges, Introduction 168; Brandenstein-Mayrhofer 109 f.

10. Gabain 61 § 56; Pritsak, Stammesnamen 84

11. Menges, Igor’Tale 54-57

12. Panagyricus regi Theodorico V ( = MGH, AA, VII, Berolini 1885, 205-206)

13. Tacitus, Germania VII

14. Menges, Elements 93 f.; Beševliev. PI 143; 230

 

331

 

 

Es scheint, dass sich unter den Bagainen und Tarkanen Leute sowohl aus dem dritten Stand als auch Slawen befanden.

 

Die Boilen und Bagainen erinnern an die beiden höheren persischen Adelsstände “vazurgän” und “âzâdân” in der Sassanidenzeit, die verschiedene hohe Ämter bekleiden konnten [15].

 

 

15. Harmatta, Dissolution 209 f.

 

332

 

 

 

4. Die Staatsorganisation

 

Allgemeine Literatur: s. Kapitel 3.

 

 

   a. Der Herrscher

 

An der Spitze des bulgarischen Staates stand ein Herrscher, der wie bei den anderen Türkvölkern [1] aus einem bestimmten Geschlecht stammte. Das wird sowohl durch die bulgarische Fürstenliste, als auch durch den altbulgarischen Schriftsteller Exarch Johannes bezeugt, der folgendes berichtet: “Auch bei den Bulgaren werden die Fürsten ihrem Geschlecht nach...” [2] Wenn das regierende Geschlecht aus irgendeinem Grund beseitigt wurde, wurden die Herrscher aus einem anderen Boilengeschlecht gewählt [3].

 

In den protobulgarischen Inschriften trägt der Bulgarenherrscher den einheimischen Titel κανα συβιγι [4], dessen erster Teil der bekannte türkische Titel khan [5] ist. Der zweite Teil συβιγι erinnert an das türk. jabγu [6] und das awarische canizauci [7].

 

 

1. Togan IF 268 ff., 273; Liao 191 f.; Kollautz-Miyakawa, Awaren 1 44; Dunlop 97; Artamonov Hazar 410

2. R. Aitzetmüller, Das Hexameron des Exarchen Johannes IV., Graz 1966, 243, 21-245, 1

3. Niceph. 70, 2-3: Οἱ δὲ Βούλγαροι... κύριον αὐτῶν καθιστῶοιν ἕνα τῶν ἐν αῦτοῖς ἀρχόντων τυγχάνοντα

4. Beševliev, Ρ1 71 und 249-251. W. Tomaschek (AEM 17, 1894, 200 und 10, 1896, 238) las irrtümlich den Buchstabenkomplex KANACYBΙΓΙ in den protobulgarischen Inschriften, wobei er die Vermutung aussprach, dass υβιγι bzw. υβυγη “vielleicht dem kumanisch-türkischen öweghü, öwghü “erhaben, gepriesen” entspricht. Sowohl die Lesung als auch die Deutung wurden bisher von allen Forschern übernommen. Der fragliche Buchstabenkomplex ist jedoch nur κανα συβιγι zu lesen, s. Beševliev, PI 249.

5. Beševliev, PI 249 ff.; Moravcsik, ByzTur. II 149, s. auch Togan IF 106; Mengen, Igor’Tale 32-35 und Introduction 20; 168; Liao 105; 428 ff. und 4,’9 ff.; Kollautz Awaren 134 ff.; Kollautz-Miyakawa, Awaren II 7 ff.; Vlаdimirtsov, Chingis Khan 3

6. Togan IF 28 32; 106; 140-142; 260-261; Liao 102 f.; 105; 134 Anm. 72 und 470 Anm. 2; Menges, Igor’Tale 33 und Introduction 20-22; 45; 88; 168; s. auch die Literatur bei Beševliev, PI 250

 

333

 

 

Der alttürkischen Titel jabγu erscheint in verschiedenen Formen wie šan-jü, zoγbu usw [8]. συβιγι steht jedoch lautlich dem sübeki d.h. sübasi “Heerführer” bei den Oguzen [9], *sü beg-i “Lord of the army, commander (in chief) [10] näher, mit dem es ohne Zweifel identisch ist [11]. Demnach bedeutete κανα συβιγι “Khan oder Befehlshaber des Heeres”, vgl. die Wortstellung bei Boilas: Βοηλα καυχανος, βοιλα κολβρον, βοιλας τζιγατος und ὁ βουλίας ταρκάνος. Ob dieser Titel der ursprüngliche des Bulgarenherrschers war oder später aufgekommen ist, lässt sich nicht feststellen. Der Zusatz συβιγι war nötig, da auch andere Personen den Titel Khan tragen konnten, wie die Inschrift Nr. 78 zeigt. Dieser Khan war vielleicht ein Stammesanführer. In den Inschriften nach dem Herrscher Malamir kommt der Titel κανα συβιγι nicht mehr vor. Der Heerführer war ja wieder der Kapkhan.

 

Der griechische offizielle Titel des Bulgarenherschers lautete ὁ ἐκ Θεοῦ ἄρχων in den protobulgarischen Inschriften als auch in den byzantinischen Schriftquellen [12]. Man wäre geneigt den Ausdruck für eine Übersetzung eines ähnlichen türkischen Titels zu halten, denn die Herrscher der Türkvölker galten als von ihrem höhsten Gott Tengri eingesetzt [13]. In den alttürkischen Inschriften von Orhhon ist Bilgä qagan “der durch den Himmel (Tängridä) gewordene Khan” oder

 

 

7. Einhardi annales (Pertz MGH I) a. 811: Canizauci princeps Avarum

8. s. Anm. 6

9. Togan, IF 141-142

10. Menges, Byz. 28 (1958) 448

11. Menges op. cit. Bei den Hunnen und Mongolen trugen die Anführer der Klane bzw. Stämme den Titel “beki”, die zugleich Schamanen waren. Denselben Titel hatten auch die Mitgleider der Steppenaristokratie, s. Vladimirtsov, Chingis-Khan 4; 77 (vgl. Grousset, L’empire 249); Togan, II· 273 und 275 f.; Kollautz-Miyakawa, Awaren I 47

12. Beševliev, PI 74-75; 263

13. Roux, Tängri (Bd. 150) 27 ff.; Grousset, L’empire 276 und Anm. 2; Köprülü, Notes 315 mit Lit.; Kollautz, Awaren 135; Kollautz-Miyakawa, Awaren I 34 und II 7

 

334

 

 

“der von Himmel eingesetzte (Tängri jaratmis) Khan” [14]. Dschingis war Khan auch durch die Gunst des ewigen Himmels (mongka tängri-yin kütchün-dür) [15]. Dieselbe Auffassung hatten ohne Zweifel auch die Protobulgaren. Der Ausdruck ὁ ἐκ Θεοῦ ἄρχων ist jedoch keine wörtliche Übersetzung eines einheimischen Titels, sondern eine Nachahmung des byzantinischen Kaisertitels ὁ ἐκ Θεοῦ βασιλεύς, den der Kaiser bis zum 9. Jh. geführt hat [16]. Die Protobulgaren haben also von Byzanz bzw. der byzantinischen Kaiserkanzlei nur die Titulaturformel, aber nicht die Auffassung von dem göttlichen Ursprung der Khansgewalt übernommen. Der Titel ὁ ἐκ Θεοῦ ἄρχων der bulgarischen Herrscher wurde zumindest in der christlichen Zeit offiziell von Byzanz anerkannt, wie aus dem Zeremonienbuch des Konstantin Porphyrogennetos zu ersehen ist.

 

Um seine Souveränität bzw. Unabhängigkeit von dem byzantinischen Kaiser zu unterstreichen, erklärt Omurtag am Anfang einer Inschrift (Nr. 56), er sei Herrscher der Erde ( = des Landes), wo er geboren ist. Hier könnte eventuell ein türkischer Ausdruck vorliegen, weil ein Brief des Shêng-tsung, Herrscher von Ch’i-tan, aus dem Jahre 1024 an Mohmud Qara-khan, Emir von Khorasan, ähnlich beginnt: “The Lord of the Heavens has granted to us kingdoms upon the face of (this) wide earth and placed us in possession of regions occupied by numerous tribes” [17].

 

Dem Titel ὁ ἐκ Θεοῦ ἄρχων wurde später noch τῶν πολλῶν Βουλγάρων (Nr. 14) hinzugefügt. Der Zusatz ist jedoch bereits in dem Polychronion in einer Inschrift (Nr. 56) von Omurtag angedeutet: τοὺς πολοὺς Βούλγαρις ἐπέχοντα. Dieselbe Titulatur ohne πολλῶν erscheint auch in der Grenzinschrift (Nr. 46) des Zaren Symeon: ἐπὶ Συμεὼν ἐκ Θεοῦ ἄρχοντος Βουλγάρων. Mit geringer Abweichung kommt dieser Titel einmal auch in der Adresse der von der byzantinischen Kaiserkanzlei an den Bulgarenherrscher gerichteten Briefe vor:

 

 

14. Thomsen, Inscriptions 122

15. Vladimirtsov, Chingis-Khan 65 (vgl. Grousset, L’empire 274-275)

16. Beševliev, IM 263-264

17. Angeführt in Liao 52

 

335

 

 

πρὸς τὸν... ἐκ Θεοῦ ἄρχοντα τοῦ... ἔθνους τῶν Βουλγάρων [18]. Der Zusatz τῶν Βουλγάρων in der Titulatur des bulgarischen Herrschers war nicht nur eine blosse Nachahmung des byzantinischen Kaiserstitels βασιλεὺς Ῥωμαίων, sondern hatte auch eine politische Bedetung. Das byzantinische Reich erkannte den Zusatz daher offiziell nicht an. In allen offiziellen und halboffiziellen byzantinischen Staatsdokumenten, mit Ausnahme der angeführten Adresse aus dem Zeremonienbuch des Konstantin Porphyrogennetos, wurde er nur ἄρχών Βουλγαρίας genannt [19]. Dass die Formeln ἐκ Θεοῦ und ἐν Θεῳ bzw. Χριστῷ sowie Βουλγάρων politische Bedeutung hatten, zeigen die Aufschriften der Bleisiegel der Zaren Symeon und Peter. Während ein Bleisiegel Symeons die Aufschrift † Συμεὼν ἐν Χριστῷ βασιλεὺς Ρομέων trägt, lauten die Aufschriften der Bleisiegel von Peter zunächst Πέτρος βασιλεὺς Βουλγάρων, später nur Πέτρος βασιλεὺς εὐσεβής. Alle Merkmale, die der Titulatur des byzantinisdhen Kaisers eigen waren, schwanden allmählich aus der Titulatur des bulgarischen Herrschers [20].

 

In den älteren byzantinischen Schriftwerken wird der Bulgarenherrscher einfach κύριος genannt [21]. Bei dem ungarischen Anonymos ist er als magnus Keanus bezeichnet [22].

 

Der Titel Khan wurde ausser von dem Staatsoberhaupt anscheinend auch von anderen Personen geführt. Es sind drei solcher Fälle bekannt τὸν κανα κολοβρον (Nr. 14), canna taban tarcan (Moravcsik Byz. Turc. II 355) und βαγατουρ κανα (Nr. 78). Die Beispiele reichen leider nicht aus, um ihre genaue Bedeutung festzustellen. In den ersten zwei Fällen dürfte κανα etwa “Hof-” oder “Ober-” bedeuten. Der letzte Fall könnte einen kleinen Ortsfürst bezeichnen.

 

 

18. Const. Porphyr., De cer. 690, 9 f.

19. ebenda 681, 5 f.; 13 ff. hierzu Beševliev, PI 77-778

20. Beševliev, PI 329-334 (Nr.Nr. 89-92)

21. V. Beševliev, Κύριος Βουλγαρίας bei Theophanes, in: BZ 41 (1941) 289 ff. und PI 72. Über Κύριος s. K. Amantos in: Ἀθηνᾶ 51 (1941-1946), 124-126

22. Gy. Moravcsik in: RESSE VII (1969) 169

 

336

  

 

   b. Die Thronfolge

 

Der Altbulgarische Schriftsteller Exarch Johannes berichtet über die Thronfolge bei den Bulgaren folgendes [23]:

 

“Auch bei den Bulgaren werden die Fürsten ihrem Geschlecht nach, der Sohn anstelle des Vaters, der Bruder anstelle des Bruders und bei den Chazaren hören wir, dass es ebenso ist.”

 

Demnach konnte der Nachfolger des Bulgarenherrschers nicht nur sein Sohn, sondern auch sein Bruder sein, d. h. bei den Bulgaren galt die sog. Senioratserbfolge. Sie war auch bei anderen Türkvölkern gut bekannt [24]. Ein solcher Fall war wohl Dukum der Nachfolger von Krum und vielleicht Ditzevg, der zweite Nachfolger (s. hier S. 267 f.). Der Bruder von Krum, vielleicht Dukum, hatte nach Theophanes und einer protobulgarischen Inschrift (Nr. 47) eine hohe Kommandostellung gemäss der Sitte der Türkvölker [25] und vielleicht als präsumtiver Thronfolger inne.

 

Bei dem Erben des Thrones von dem Sohn des Khanes wurde das Prinzip der Erstgeburt nicht immer streng eingehalten. Der Nachfolger des Omurtag war sein jüngster Sohn Malamir. Der Nachfolger des Fürsten Boris war sein dritter Sohn Symeon. Der älteste Vladimir wurde nach kurzer Regierung dethroniert, da er den christlichen Glauben aufgeben wollte. Der Nachfolger des Zaren Symeon war Peter, das Kind seiner zweiten Frau, welche die Schwester des mächtigen Würdenträgers Georgios Sursuvulis war. Michael, der Sohn seiner ersten Frau, der als erstgeborener und Thronfolger den christlichen Namen seines Grossvaters trug, wurde dadurch beseitigt, dass man ihn in die Kutte steckte [26].

 

 

23. Der altbulgarische Text bei R. Aitzetmüller, Das Hexameron des I xarchen Johannes IV Graz (1968) 243-245

24. Über diese Sitte s. Togan IF 184-185; J. Marquart, Komanen 69 Anm. 4; Liao 398-399, 400-403; 414 Anm. 50; 417; Altheim, Hunnen I 365; Kollautz-Miyakawa, Awaren I 44; 76

25. Kollautz-Miyakawa, Awaren I 76

26. Zlatarski, Istorija I 2, 516; 537-539

 

337

 

 

Ähnliche Fälle sind auch bei zentralasiatischen Völker bekannt [27].

 

Wenn der Khan keinen direkten Thronerben hatte, bekam sein Brudersohn die Herrschaft. Das war der Fall mit Persian, dem Nachfolger von Malamir.

 

Der Thronerbe trug den einheimischen Titel καναρ τικεῖνος [28]. Die Bedeutung des ersten Teils ist unbekannt. Nach J.J. Mikkola [29] ist καναρ das mongolische aqanar “der ältere Bruder, Hausherr’. Bei den Oguzen und Karluken hiess der Thronerbe “yanal tekin” [30]. Der zweite Teil des Titels τικεῖνος ist der bekannte türkische Titel tegin oder tigin, der in den Orkhoninschriften “prince du sang” bedeutet [31].

 

Der zweite Sohn des Khans trug den Titel βουλιὰς ταρκάνος [32], dessen erster Teil die wohlbekannte Standesbezeichnung und der zweite den türkischen Titel tarqan darstellen. Der Träger des letzteren Titels genoss bekanntlich besonders grosse Vorrechte [33].

 

 

   c. Der zweite Herrscher — der Kapkhan

 

Fast alle Türkvölker kannten die Institution des zweiten Herrschers, das sog. Doppelkönigtum oder den Doppelkhaganat, d.h. der Herrscher hatte einen Stellvertreter, der alle Staatsgeschäfte leitete und nicht selten den Krieg führte.

 

 

27. Liao 399; Grousset, L’empire 182 und 319

28. Const. Porph., De cer. 681, 15, hierzu ein Scholion bei C. Mango and I. Sevčenko, A New Manuscript of the de Cerimoniis, in: Dumbarton Oaks Papers XIV (1960), 248: ἱστέον, ὅτ(ι) τῶν ἀρχόντων Βουλγαρί(ας) οἱ υἱοὶ οὕτ(ως) ἐτιμῶντο· καναρτικεινο(ς) (καὶ) ὁ βουλιας (τ)αρκανος.

29. Was ist kanar-tigin?, in: Sbornik V. N. Zlatarski, Sofia 1925, 132-133; s. auch Moravcsik, ByzTurc. II 148

30. Togan, IF 141

31. Thomsen, Inscriptions 59 Anm. 1; W. Radloff, Die alttürkischen Inschriften der Mongolei, Petersburg 1987, 75 und Versuch eines Wörterbuches der Türkischen Texte, Petersburg III 1034; Liao 432 und 438; Kollautz-Miyakawa, Awaren I 134

32. Const. Porhp., De cer. 681, 15-16

33. Menges, Igor’Tale 54-57 und Introduction 168; Liao 433 und Anm. 96; 445; Moravcsik, ByzTurc. II 299-300; Kollautz, Awaren 155; Kollautz-Miyakawa, Awaren I 57; 76; II 10; Grousset, L’empire 282, Gabain, 338; Beševliev, PI 44 f.; 218

 

338

 

 

Das Doppelkönigtum ist für die Hunnen, Wu-Sun, Awaren, Westtürken, Uiguren, Oguzen, Karachaniden, Karakirgizen, Ungarn und Mongolen bezeugt [34]. Besonders viel und ausführlich sind die Nachrichten über diese Institution bei den Chazaren [35]. An der Spitze des Chazarenstaates stand der Khagan, der eine sehr grosse Achtung genoss, aber fast gar keine Macht hatte. Er war nur nominell der Herrscher. Die ganze Herrschergewalt lag in den Händen eines zweiten Herrschers, der sein Stellvertreter war und bei Konstantin Porphyrogennetos [36] ὁ πέχ genannt ist.

 

Das Doppelkönigtum war auch bei den Protobulgaren vorhanden, das tritt in den Quellen aber nicht deutlich genug hervor, sodass man es bisher nicht erkennen konnte. Die Nachfolger Tervels waren nur nominell Staatsoberhäupter. Die Herrschergewalt übte Kormesios aus (s. hier S. 198 f.), der sie gänzlich in den Schatten stellte, sodass die byzantinischen Quellen sie nicht erwähnen. Ihre Namen erscheinen nur in der Fürstenliste, die lediglich die Hauptherrscher anführt. Daher erscheint Kormesios bei Theophanes als derjenige Bulgarenherrscher, unter dem der Friedensvertrag im Jahre 716 geschlossen wurde.

 

 

34. A. Alföldi, A kettös királyság a nomádknál, Károlyi Árpád-Emlékkönyv, Budapest 1933, 28-39 = Türklerde Çift Krallik (Ikinci Türk Tarihi Kongresi, Istanbul 20-25 Eylül 1937. Kongrenin calismalari, kongreye sunulan tebliger, Istanbul 1943) 507-519 (hierzu: Bahaedin Ogel, Note critique sur la théorie de la paire royauté chez les peuples turques, présenté par Prof. Alföldi, in: Université d’Ankara, Revue de la Faculté de Langues, d’Histoire et de Géographie, 6-me année, tome VI, Nr. 4, Septembre-Octobre, 1948, 159-360); Togan IF 142; 253; 271-295; Kollautz Awaren 139 f.; Kollautz-Miyakawa, Awaren II 7 f.; O. Pritsak in Oriens 3 Nr. 2 (31. 10. 1950) Leiden 212 Anm. 10 und Fürstenliste 40; Altheim, Hunnen I 120; Frazer, Der goldene Zweig 256-260; Ed. Lehmann Religionsgeschichte I 48

35. Const. Porph., De adm. ed. Moravcsik 42, 27: ὁ γὰρ χαγάνος ἐκεῖνος καὶ ὁ πὲχ Χαζαρίας εἰς τὸν αὐτὸν βασιλέα κτλ. Togan IF 98-99 94, hierzu 256-260; 263-264; 271-273; Dunlop, 97; 104 f.; 111; 159; 207 f.; Minorsky 15! ; A Krymskyj, Istorija chazariv usw. 2, 257-267 von O. Pritsak, (Yowar und Kawar, in: UAJ 25 [1953] 390-392) in deutscher Übersetzung angeführt; Artamonov, Hazar 408 f. mit Lit.

36. s die vorhergehende Anmerkung.

 

339

 

 

Die Existenz des zweiten Herrschers tritt deutlich in den Thronwirren von 763-765 hervor. Die Hauptherrscher wurden nach Kormesios sein Schwiegersohn Sabin (= Vineh in der Füstenliste) und dann Umar ( = Umor in der Liste) und der zweite Herrscher Kampagan. Der Name des letzteren soll nach Theophanes Paganos gelautet haben. Er ist als zweiter Herrscher nicht in der Fürstenliste erwähnt. Darauf folgten beide Brüder Tokt und Bajan, wobei der erstere wohl der Hauptherrscher und der letztere sein Stellvertreter war. Man darf selbstverständlich auch das Umgekehrte vermuten. In beiden Fällen, sei es als Hauptherrscher oder als Stellvertreter bzw. Oberbefehlshaber, spielte Bajan die erste Rolle und war den Byzantinern besser als sein Bruder bekannt. Tokt wird deshalb durch den Namen seines Bruders eingeführt. Unter den Herrschern Malamir und Persian erscheint Kapkhan Isbul als zweiter Herrscher für kurze Zeit, dem wie dem Khan selbst in einer Inschrift viele Jahre gewünscht werden: ὁ θεὸς ἀξηόση ζίσιν τὸν ἐκ Θεοῦ ἄρχοντα ἔτι ἑκατὸν μετὰ τὸν Ισβουλον τὸν καυχανων [37]. Der Titel Kapkhan (καυχανος in den Inschriften) kommt in den alttürkischen Inschriften unter der Form qap(a)γan [38], bei den Awaren als capcanus [39] und den byzantinischen Autoren als καυκάνος [40] vor. In der Wiener Handschrift (U) des Johannes Skylitzes steht die Form καπχάνης [41] als variante von καυκάνος. Die Form καπχάνης, die den Formen qapγan und capcanus lautlich fast genau entspricht, legt die Vermutung nahe, dass sie die richtige protobulgarische Form war und das καυχανος oder καυκάνος eine konventionelle Wiedergabe derselben darstellen. Sowohl καπχάνης als auch qap(a)γan und capcanus erscheinen als καμπαγάνος, das der Chronist Nikephoros anführt, und sind mit ihm identisch.

 

 

37. Beševliev, PI Nr. 57

38. s. hier S. 298 Anm. 40

39. Einhardi Annal., 805 (Pertz MHG I) 192: Capcanus princeps Hunorum etc. hierzu Kollautz, Awaren 137; Marquart, Chronologie 109 f.

40. Moravcsik, ByzTurc. II 156-157

41. ebenda

 

340

 

 

Die angeführten alttürkischen, awarischen und bulgarischen Titel stimmen nicht nur lautlich, sondern auch in Bezug auf ihre hohe Stellung in der Staatshierarchie überein. Wenn man berücksichtigt, dass der Kapkhan in der späteren Zeit der Oberbefehlshaber des Heeres und Mitregent war, dürfte man kaum fehlgehen in der Annahme, ihn als den ursprünglichen zweiten Herrscher in Bulgarien anzusehen. Unter Krum verlor er anscheinend diese Stellung und behielt nur das wuchtigste Amt des Befehlshabers des linken Heeresflügels (s. hier S. 348 f.). Unter Malamir war er ( = Isbul) wohl nur zeitweise Mitregent wegen der Jugend des Herrschers. Bei Persian ist der Kapkhan wieder nur Oberbefehlshaber. In der christlichen Zeit nahm er die Stellung eines der ersten Berater des Zaren ein, wobei er seine Militärfunktionen beibehielt [42]. Er war wohl eine Art Minister-Präsident geworden. Der Kapkhan gehörte dem Stand der Boilen an. Ob er aus einen bestimmten Geschlecht enstammte, ist wahrscheinlich, aber nicht sicher. Von Georgios Voitach, dem Führer des Aufstandes im Jahre 1072 wird jedoch berichtet, dass er aus dem Geschlecht τῶν Κοπχάνων enstammte [43]. Demnach gab es anscheinend ein bestimmtes Geschlecht, das die Kapkhane hergab. Die Kapkhanwürde erscheint bis zum 11. Jahrhundert.

 

 

   d. Der sakrale Königsmord

 

Die Herrscher sind nach der uralten und allgemeinen Auffassung, die bei den Naturvölkern besonders klar hervortritt, am stärksten von allen Menschen mit einer übernatürlichen Kraft erfüllt. Vermöge deren die regieren und die sie der Gunst des höchsten Gottes verdanken (vgl. hier S. 334 und S. 357-358). Diese Kraft vererbt sich mit der Würde und deren Abzeichen [44].

 

 

42. Scyl.-Cedren. 299, 6-8: Ὁ δὲ Συμεὼν πάλιν δήναμιν βαρεῖαν ἐκπέμπει κατὰ Ῥωμαίων ἔξαρχον ἔχουσαν Χαγάνον (Georg. Mon. Cont. 893: καυκάνῳ) ἕνα τῶν παρ’ αὐτῷ μέγα δυναμένων.

43. Ιο. Skyl. Cont. 715, 20

44. Togan IF 276 277; Bdw. Lehmann in Religionsgeschichte I 48

 

341

 

 

Der König ist Herrscher, solange er über die übernatürliche Kraft verfügt und somit das Gottesgnadentum geniesst. Wenn sich ein Unglück wie Hunger, Seuche, Überschwemmung, Niederlage im Kriege u dgl. in dem von ihm regierten Land ereigne oder er persönlich von einem Gebrechen wie Blindheit oder schwerer Krankheit befallen wurde, galt dies als ein sicheres Zeichen dafür, dass seine übernatürlichen Kräfte nachgelassen hatten, oder das der Gott ihm sein Gnadentum entzogen hatte. Er musste als untauglich oder sogar schädlich getötet und durch einen neuen kräftigeren Herrscher ersetzt werden [45]. Deshalb wurde der zweite Herrscher bei den Chazaren oft ermordet [46]. Dieses Schicksal erreichte nicht nur den Herrscher allein, sondern manches Mal sein ganzes Geschlecht [47]. Es wurde ausgerottet, da seine Mitglieder keine Günstlinge des höchsten Gottes mehr waren und nur dem Lande Unglück bringen konnten.

 

Der sakrale Königsmord war den Bulgaren auch bekannt, wie folgende Fälle deutlich zeigen. Die Niederlage von 756 war die erste seit der Gründung des bulgarischen Staates. Sie wurde als ein Zeichen dafür gehalten, dass der Himmelsgott Tängri dem alten Khansgeschlecht Dulo bereits seine Gnade entzogen hatte oder von Kormesios in diesem Sinne ausgelegt. Daher wurde das ganze Geschlecht ausgerottet. Die darauffolgenden Herrscher Teletz, Sabin, Tokt und der Kampagan, die die Niederlage von 756 rächen mussten, haben die von den Bulgaren auf sie gesetzten Hoffnungen enttäuscht [48]. Es erwies sich, dass sie nicht die Gnade des Tängri genossen. Teletz wurde von dem Kaiser geschlagen und daher getötet. Sabin zeigte sich dadurch untauglich da er, statt einen Krieg gegen den Kaiser zu führen, vorschlug Frieden mit ihm zu schliessen.

 

 

45. Frazer, Der goldene Zweig 387-400; Lehmann op. cit. 48-49; Roux, Tängri II 31

46. G. Frazer, The Killing of ths Khazars Kings, in: Folk-Lore 28 (1917) 382 ff·; Deguignes, Histoire des Huns I 2, 460; W. Radloff, Aus Sibirien 1. Leipzig 1884, 129; Dunlop 97; Artamonov, Hazar 409-410; Nilsson, Geschichte I 54, Frazer, Der goldene Zweig 387-413

47. Roux, Tängri II 31

48. ebenda 39-42. Vgl. Niceph. 70, 1-2: Οἱ δὲ Βούλγαροι τὸ δυστυχὲς Τελεσσίου θεασάμενοι τοῦτόν τε στασιάσαντες κτείνουσι. Hierzu V. Beševliev, Berichte 67-82

 

342

 

 

Er entging dem Tode, als er zum Kaiser überlief. Der Kampagan, der Nebenherrscher war, erwies sich auch nicht als Günstling des höchsten Gottes, was seine Flucht nach Varna deutlich bewies, und wurde von seinen Dienern ermordet (s. hier S. 219). Im Zusammenhang mit den Ereignissen zwischen 763 und 766 berichtet Nikephoros, dass es bei den Bulgaren Sitte (Migne, PG 100, col. 508: τοῦτο πολλάκις ποιεῖν αὐτοῖς εὐπετές, ἅτε βαρβαρικοῖς ἤθεσιν ἐντρεφομένοις) war, ihre Elerrscher abzusetzen, wenn sie ihren Beschlüssen entgegentraten, wobei sich nicht selten zwei Parteien eine dafür, die andere dagegen, bildeten, die miteinander stritten. Der Patriarch, dem der wahre Sinn der Sitte entging, erklärte sie verkehrt.

 

Ditzevg, der zweite Nachfolger Krums, wurde von seinen Leuten (τῶν οἰκείων) [49] getötet, da er blind geworden war. Hinzu kam wahrscheinlich noch der Umstand, dass er den Krieg mit den Byzantinern verloren hatte (s. hier S. 274). Das war die erste Niederlage nach den glänzenden Siegen Krums. Er zog sich daher den Hass seines Volkes zu und wurde erwürgt [50]. Es war kein Ausbruch schlechter Laune, der das Volk hierzu hinriss, sondern die Blindheit bzw. Niederlage zeigte, dass er nicht mehr das Gottesgnadentum besass. Man beseitigte den untauglichen Herrscher, indem man ihn erwürgte. Das Töten durch Erwürgen kam bei den Türken und Mongolen, vor allem bei höheren Adligen wie Prinzen und Tarkanen vor, deren Blut nicht auf die Erde gegossen werden durfte [51].

 

   e. Der Rat der Boilen

 

Es wird in den Miracula Sancti Demetrii berichtet,

 

 

49. Synaxarium 415: Δίτζευγος... Ὅς ἀορασίᾳ πληγεὶς ὑπὸ τῶν οἰκείων ἀναιρεῖται.

50. Menologium Basilii 276 D: ... τυφλωθεὶς ἐμισήθη παρὰ του οἰκείου λαοῦ, καὶ παρ’ αὐτοῦ μετὰ οχοινίων ἀνεπνίγη.

51. Togan IF 139; 246; 268 f.; Frazer, Der goldene Zweig 331; Grousset, L’empire 272; 361; Roux, Tängri III 47

 

343

 

 

dass Kuber umgeben war von Archonten, den sog. Boilen [52], die seine Ratgeber [53] waren. Ihre Beschlüsse wurden geheim gehalten, wozu sich sie durch einen Eid verpflichteten [54]. Unter ihnen nahm ein gewisser Mauros die erste Stelle ein, der wohl der Intimus von Kuber war. Ihre Zahl wird nicht angegeben. Von solchen vertrauten Archonten (ἄρχοντες, βοιλάδες, οἰκεῖοι) der Bulgarenherrscher in Untermösien berichten Theophanes und Nikephoros, die deren Anzahl aber nicht mitteilen. Nach der Niederlage bei Anchialos (763) wurde Teletz mit seinen Archonten getötet [55]. Kampaganos, d.h. der Kapkhan, erschien vor dem Kaiser auch mit seinen Boilen [56]. Die Pläne des Bulgarenherrschers Teleryg wurden dem Kaiser von manchen seiner Vertrauten [57] verraten. Der erblindete Ditzevg wurde von seinen Leuten erwürgt [58]. Den Hunnenherrscher Attila umgab nach Priscus [59] auch ein Adelskreis, deren Mitglieder er ἐπιτήδειοι oder λογάδες nennt und die mit den bulgarischen Archonten oder Boilen identisch sein dürften.

 

Der Kreis von vertrauten Adligen bestand auch bei den christlichen Bulgarenherrschern fort. Die beim VIII. ökumenischen Konzil (869/870) in Konstantinopel anwesenden bulgarischen Gesandten werden gloriosissimi iudices Michahelis sublimissimi principis Bulgariae [60] genannt.

 

 

52. Tougard 190 § 113: τῶν αὐτοῦ ἀρχόντων; 192 113: τῶν λοιπῶν ἀρχόντων.

53. ebenda 190 § 113: ἐσκέψατο μετὰ τῶν αὐτοῦ συμβούλων.

54. ebenda 192 § 114: ταύτης οὖν τῆς σκέψεως καὶ γνώμης γενομένης καὶ ὅρκῳ τὸ παρ’ αὐτῶν βουλευθὲν πιστοποιησάντων.

55. Theoph. 433, 14 f.: τὸν δὲ Τελέτζην στασιάσαντες οἱ Βούλγαροι ἀπέκτειναν σὺν τοῖς ἄρχουσιν αὐτοῦ.

56. Theoph. 436, 9-11: καὶ λαβὼν λόγον κατῆλθε πρὸς αὐτὸν μετὰ τῶν βοιλάδων αὐτοῦ. Niceph. 70, 15-16: ὁ κύριος τὰ πιστὰ παρὰ βασιλέως λαβὼν σὺν τοῖς ἄρχουσιν αὐτοῦ πρὸς βασιλέα παραγίνεται.

57. Theoph. 448, 4 f.: ὁ δὲ Τελέριγος, ὁ κῦρις Βουλγαρίας, γνοὺς ὅτι ἐκ τῶν οἰκείων αὐτοῦ τὰς βουλὰς αὐτοῦ ὁ βασιλεὺς μανθάνει κτλ.

58. Synaxarium 415: Δίτζευγος... ὑπὸ τῶν οἰκείων ἀναιρεῖται.

59. Darüber s. J. Harmatta, Dissolution 297-300

60. Moravcsik, ByzTurc., II 355

 

344

 

 

Ein Brief des Papstes Johannes VIII. von Jahre 879 ist an optimatibus et consiliariis ... Michaelis regis Bulgarorum [61] gerichtet.. In den Begrüssungsfragen des Logotheten, des byzantinischen Aussenministers, die er an die bulgarische Gesandtschaft zu richten hatte, werden sechs Grossboilen gleich nach der Herrschersfamilie erwähnt [62]. Dieselbe Stelle nehmen die byzantinischen hohen Würdenträger, die beiden Magister, die Anthypaten und Patrikier in der Begrüssungsfrage der bulgarischen Gesandtschaft nach dem Wohlergehen der Kaiserfamilie und des Patriarchen ein [63]. Demnach waren die sechs Boilen die höchsten Würdenträger in dem bulgarischen Staat. Unter ihnen befanden sich ohne Zweifel der Kapkhan und der Ičirgu Boilas. Wer die übrigen vier Grossboilen waren, lässt nicht sagen. Die sechs Grossboilen waren anscheinend die nächsten Berater (consiliarii) und Vertrauten des Bulgarenherrschers, die den engen Hofrat und gewissenmassen die Regierung bildeten.

 

Konstantin Porphyrogennetos [64] berichtet, dass die Bulgaren eine schwere Niederlage durch die Serben erlitten haben, wobei der Königssohn Vladimir mit zwölf “Gross”-boilen in Gefangenschaft geraten ist. Das Fehlen des griechischen bestimmten Artikels vor dem Ausdruck βοιλάδων δώδεκα μεγάλων [65] zeigt, dass diese Boilen weder identisch mit den erwähnten sechs Grossboilen waren, noch eine bestimmte Einheit bildeten, In diesem Ausdruck bedeutet μέγας nicht “gross”, sondern “angesehen”. Die zwölf angesehenen Boilen waren hohe Offiziere.

 

 

61. ebenda 357

62. Const. Porph. De cer. 681,17 682,15-16: πῶς ἔχουσιν οἱ ἕξ Βολιάδες οἱ μεγάλοι;

63. ebenda 681, 9-10: πῶς ἔχουοιν οἱ δύο μάγιστροι; und 682, 7-8: πῶς ἔχουσιν οἱ μάγιστροι, ἀνθύπατοι, πατρίκιοι;

64. De adm. ed. Moravcsik 32, 48

65. Der Ausdruck bedeutet nicht “zwölf angesehene Boilen”, sondern “zwölf Boilen und zwar angesehene”. Die Stellung von μέγας ist betont.

 

345

  

 

   f. Der Reichstag

 

Im Frühling 1206 hat Dschingis-Khan die Ältesten aller Stämme, die sein Steppenreich bildeten, zu einem grossen Reichstag zusammengerufen. Er wurde an diesem Reichstag, der mongolisch “qurultai oder quriltai” hiess, zum Khan aller Mongolen ausgerufen [66]. Das qurultai spielte auch später bei den Mongolen eine wichtige Rolle [67]. Eine ähnliche Volksversammlung hatten auch die Petschenegen, die Johannes Skylitzes [68], der darüber berichtet, κομέντον [69] nennt. Diese Bezeichnung ist, wie Gy. Moravcsik [70] nachgewiesen hat, das gräzisierte lateinische conventus bzw. conventum “Zusammenkunft, Versammlung”. Mit demselben Wort nur unter der Form κόμβεντον ist die Volksversammlung der Protobulgaren bei Theophanes [71] bezeichnet, die sich den Friedensvorschlägen des Khans Sabin wideretzte. Der bulgarische Reichstag oder die Volksversammlung war wohl kein ständiges Staatsorgan, sondern wurde fallweise bei besonderen, wichtigen Staatsangelegenheiten einberufen. Sie konnte über Friedensverhandlungen entscheiden und, wie bei anderen Türkvölkern, die Khane absetzen und neue wählen. Wie ihre bulgarische Benennung lautete ist unbekannt. Theophanes und Nikephoros teilen mit [72], wenn sie von den Thronwirren (763-765) in Bulgarien berichten, dass die Bulgaren die Mitglieder des alten Königsgeschlechtes ausgerottet, dass sie Teletz, Sabin, Kampagan und Tokt zu Herrschern eingesetzt bzw. getötet, und dass wiederum dieselben das Konventum gemacht haben. Es kann jedoch kein Zweifel darüber bestehen, dass mit οἱ Βούλγαροι nicht das gesamte Bulgarenvolk, sondern nur ein Teil davon, eine bestimmte Klasse, gemeint war.

 

 

66. Vladimirtsov, Chingis Khan 63-64 (Grousset, L’empire 273-274); O. Pritsak, Stammesnamen 51; Liao 399

67. Grousset, L’empire 339-340; 352

68. Io Skyl. 588, 12

69. s. Moravcsik ByzTurc. II 163

70. in Studia Byzantina 275-282

71. Theoph. 433, 18: κομβέντον ποιήσαντες οἱ Βούλγαροι, κτλ. hierzu Trifonov, Boljarstvo 40 ff.

72. Theoph. 432, 25-433, 22; Niceph. 69, 3-7; 70, 1-8; 70, 27-71, 1. Hierzu V. Beševliev, Die Berichte 81

 

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Diese Klasse kann keine andere als die Boilen sein [73]. In der Begrüssungsfrage des byzantinischen Logotheten nach dem Wohlbefinden der bulgarischen Herrscherfamilie und der sechs Grossboilen werden an dritter Stelle die “inneren und äusseren Boilen” genannt [74]. In der bulgarischen Begrüssungsformel entspricht dieser Frage der nach dem Wohlergehen der ganzen byzantinischen Synkletos, deren Mitglieder fast 2000 waren [75]. Die Parallelität der gestellten Fragen in den beiden Begrüssungsformeln zeigt, dass die inneren und die äusseren Boilen die bulgarische Volksversammlung bildeten, die keinen besonderen offiziellen Namen hatte, sondern in der christlichen Zeit einfach der byzantinischen Synkletos gleichgestellt wurden. Die Volksversammlungen verliefen nicht ganz ruhig. Nicht selten bildeten sich, wie Nikephoros berichtet [76], zwei Parteien, die miteinander stritten.

 

 

   g. Die Militär- und Zivilgewalt

 

Die sozialpolitische Organisation der altaischen Völker war zugleich eine militärische. Es ist daher schwierig eine feste Grenze zwischen den militärischen und zivilen Ämtern bzw. Titeln zu ziehen. Auch bei den Protobulgaren war es nicht anders. Viele Boilen und Bagainen, die ein Militäramt versahen, nahmen auch an der zivilen Verwaltung teil.

 

Der Staat des Kubrat am Kaukasus war unter seinen Söhnen Asparuch, Kuber, Alzeco, dem Thronfolger Batbaian und Kotrag aufgeteilt [77], an deren Spitze Kubrat selbst stand.

 

 

73. Vgl. jedoch Al-Masudi bei Dunlop 208: “When Khazaria suffers from death or any calamity befalls their country ... the commons and the nobles hasten to the king of the Khazars, saying ... so kill him, or hand him over to us to kill.”

74. Const. Porph. De cer. 681, 17-18 = 682, 16-17: πῶς ἔχουσι καὶ οἱ λοιποὶ οἱ ἔσω καὶ ἔξω Βολιάδες;

75. ebenda 681, 10 = 682, 8: πῶς ἔχει ἡ σύγκλητος πᾶσα;

76. P G 100, 508: ... καὶ διχῆ τοῖς μέρεσιν ὡς τὰ πολλὰ διαιρουμένοις...

77. Theoph. 357, 18-19: μετὰ τοῦ εν ὑπεξουσιότητι ἑκάστου αὐτῶν ὑποκειμένου λαοῦ, Niceph. 33, 24-25: ἕκαστος αὐτῶν τοῦ λαοῦ ἴδιον μέρος ἀποτεμνόμενος

 

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Vier von diesen Unterherrschern befehligten wohl die sog. vier Ecken der altaischen Staaten (s. hier S. 152 mit Anm. 17). Ob die Vierteilung des Staatsterritoriums auch in Donau-Bulgarien beibehalten wurde, ist ungewiss.

 

In der Zeit Khans Krum war das bulgarische (Angriffs?) Heer nach Ausweis einer protobulgarischen Inschrift in zwei Flügel, einen linken und einen rechten, geteilt. Das ganze Heer hiess nach dieser Inschrift [78] σαρακτον bzw. σαρακτος [79]. Den linken Flügel befehligte der Boilas Kapkhan und den rechten der Ičirgu Boilas. Den beiden bulgarischen Kommandeuren wurden je zwei Feldherren (Strategen), merkwürdigerweise von nicht bulgarischer Herkunft, unterstellt. Über den bulgarischen Befehlshabern stand, wie es scheint, der Bruder des Khans, dessen Name und Titel in der Inschrift nicht erhalten sind bzw. nicht erwähnt werden. Man dürfe ihn wohl mit Dukum, dem ersten Nachfolger Krums identifizieren [80]. Er befehligte nach einer anderen Inschrift (Nr. 2) und nach Theophanes auch eine eigene Armee [81]. Auch ihm war ein Feldherr von fremder Herkunft unterstellt. Der Bruder Krums, dessen türkischer Titel unbekannt ist, war der Stellvertreter des Khans bzw. der zweite Herrscher oder der designierte Thronerbe. Der Bruder des Khans war Befehlshaber eines Teiles des Heeres auch bei anderen Türkvölkern [82]. Der Oberbefehl lag in den Händen Krums. Man darf also annehmen, dass das bulgarische Heer in der Zeit Krums von drei Befehlshabern befehligt wurde und somit in drei bzw. vier Teile geteilt war. Ob die Dreiteilung des bulgarischen Heers nur vorübergehend war oder dem System der obersten Staatsleitung von Chakhan, mit drei Stellvertretern bei manchen Türkvölkern [83], entsprach, lässt sich nicht sicher feststellen.

 

 

78. Beševliev, PI Nr. 47

79. Darüber ebenda S. 225, σαρακτον ist, wie es scheint, von türk, jaraq-sarak mit der griechischen Endung -τον nach dem Vorbild φοσάτον vom fossa gebildet.

80. s. hier S. 267

81. Theoph. 503, 6-7: Κροῦμμος.,.καταλιπὼν τὸν ἴδιον ἀδελφὸν μετὰ τῆς ἰδίας δυνάμεως...

82. s. hier Anm. 25

83. Togan, IF 261-263; Beševliev, PI 227-228 mit Lit.

 

348

 

 

Die Einteilung des Heeres in zwei Flügel, einen rechten und einen linken, kam bei vielen Türkvölkern vor, z.B. bei den Hunnen [84], den Orkhontürken [85], bei den Mongolen [86] usw. Die Ernennung des Kapkhans zum Befehlshaber des linken Flügels wurde wohl von dem Umstand diktiert, dass der linke oder östliche Flügel der Armee den Einfällen der Byzantiner vom Meer aus mehr als der rechte ausgesetzt war. Hier spielte die linke Seite als Ehrenplatz auch eine Rolle (s. darüber S. 419-420). Von beiden Befehlshabern war der Kapkhan der höhere. Das geht nicht nur daraus hervor, dass er früher der zweite Herrscher war, sondern auch aus einer anderen protobulgarischen Inschrift (Nr. 14), wo der Ičirgu Boilas dem Kapkhan unterstellt erscheint. Beide Befehlshaber konnten ihr Amt auch bei dem Nachfolger des Khans beibehalten. So war Ičirgu boilas Mostič unter Symeon und seinem Sohn Peter (Nr. 69) und Isbul Kapkhan unter Malamir und Persian.

 

 

Der Ičirgu Boilas, dessen Titel wörtlich “innerer oder Hofboilas” [87] bedeutet, war wohl der “intimus”, der Vertraute, des Herrschers unter den Boilen. Sein Amt ist bei anderen Türkvölkern nicht belegt. Er war eine genau bestimmte Person, wie dies klar und unzweideutig aus dem griechischen Artikel (6) vor dem Titel in den protobulgarischen Inschriften hervorgeht. Er war nicht nur Heerführer, sondern auch Diplomat. Ein Ičirgu Boilas Stasis (zerco boilas) [88] führte die bulgarische Gesandtschaft, die am VIII. ökumenischen Konzil (869/870) in Konstantinopel teilnahm. Derselbe Würdenträger erscheint auch in den Notizen der Evangelienhandscrift von Cividale: Zergobula St(as)is [89]. Zu Beginn eines Briefes des Papstes Johannes VIII aus dem Jahre 879,

 

 

84. de Groot, Hunnen I, 55-58 und 60; Kollautz-Miyakawa, Awaren I 44-45

85. Thomsen, Inscriptions 146

86. Τogan II 191-193; Alföldi, Doppelkönigtum 508 ff.; Grousset, L’empire 282 f,;

87. Βeševliev, PI 169; Moravcsik, ByzTurc. II 133; 357; 358; 359

88. Moravcsik, ByzTurc. II 355

89. ebenda 356

 

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der an die optimates et consiliarii des Bulgarenherrschers Boris gerichtet wurde, ist Petro Cerbule, d.h. Petro cerbulae, zu lesen [90]. Der hohe bulgarische Würdenträger, der mit dem Khan Krum die Friedensverhandlungen vor Konstantinopel (813) führen sollte und von den Byzantinern heimtückisch erschlagen wurde (s. hier S. 256), dürfte wohl ein Ičirgu Boilas gewesen sein. Scriptor incertus bezeichenet ihn als Logotheten des bulgarischen Herrschers. In Byzanz spielte der λογοθέτης τοῦ δρόμου bekanntlich [91] die Rolle eines Ministers der Auswärtigen Angelegenheiten.

 

Die übrigen Boilen versahen auch verschiedene Ämter. In der christlichen Zeit unterschied man nach der Begrüssungsformel des Logotheten bei Konstantin Porphyrogennetos [92] zwei Arten: οἱ ἔσω καὶ ἔξω βολιάδες. Man hat über die Bedeutung von ἔσω und ἔξω viel diskutiert [93]. In Anlehnung an J. Németh [94] nahm man an, dass οἱ ἔσω βολιάδες eigentlich Ičirgu Boilen waren. Diese Deutung scheiterte jedoch an der Tatsache, dass der Ičirgu Boilas nur eine Person war. Die richtige Deutung ist bereits von J. J. Reiske in seiner Ausgabe von De cerimoniis [95] gegeben. Die Bezeichnungen οἱ ἔσω und οἱ ἔξω βολιάδες besagen lediglich, dass die einen Boilen in der Hauptstadt, die anderen in der Provinz lebten [96]. In den protobulgarischen Inschriften kommen noch folgende Boilen vor: ὁ κανα βοιλα κολοβρος (Nr. 14), βογοτορ βοιλα κουλουβρος (Nr. 67) und υκ βοιλας (Nr. 50). Hinzu kommt noch ὁ βοιλα τζιγατος, den Theophanes unter der verdorbenen Form βοιλᾶν καὶ τζιγάτον anführt [97].

 

 

90. ebenda 357

91. Dölger, Diplomatik 61

92. s. hier Anm. 74

93. s. z.B.: Trifonov, Boljarstvo 54-60; I. Dujčev, Les boljars dits intérieurs et extérieurs de la Bulgarie médiévale, in: Acta Orientalia III 3 (1953) 167-178; Köprülü, Notes 316-319.

94. Die Inschriften 13

95. Const. Porph. De cer. II 803

96. Beševliev, PI 48-49

97. Theoph. 447, 3

 

350

 

 

Boilas Tzigatos entsprach dem byzantinischen σπαθάριος [98]. Die Bedeutung von υκ βοιλας ist unbekannt. Es war jedenfalls eine Offizierscharge. Der letzte Teil κολοβρος bzw. κουλουβρος von ὁ καναβοιλα κολοβρος und βογοτορ βοιλα κουλουβρος ist nach W. Tomaschek [99] verwandt mit osm. türk. qolaghuz, der nordtürkischen Dialektform qolabur, qolobur “Wegweiser, Führer” [100] und dem awar. Βοοκολαβρᾶς [101]. Das awar. Βοοκολαβρᾶς bedeutet nach Theohylaktos Simokattes [102], der es erwähnt, μάγος oder ἱερεύς. Die beiden Bedeutungen von Kolobros lassen sich gut vereinigen, wenn man Kolobros als Wegweiser oder Führer in religiösen Dingen bzw. in magischen Handlungen auffasst. Sein Amt und seine Teilnahme an Kriegszügen werden verständlich, wenn man seine Amtstätigkeit mit der 35. Antwort des Papstes Nikolaos I. in Verbindung bringt. Laut dieser Antwort pflegten die Bulgaren die Tage und die Stunden zu beachten, manche Spiele zu spielen, bestimmte Gesänge zu singen und zu weissagen, wenn sie in einen Krieg auszogen (s. darüber ausführlich S. 383-384). Das Amt des Kolobros bestand also darin, dass er die Tage und die Stunden für den Kampf wählte, magische Handlungen vollbrachte und weissagte, um dadurch dem Heer den Erfolg zu sichern. Nach Zonaras haben die pannonischen Bulgaren die Schlacht (519) mit den Byzantinern dadurch gewonnen, dass sie Zauberlieder und Zaubereien gebrauchten (s. hier S. 81). Der Khana Boilas Kolober war wohl der Oberpriester.

 

 

98. Trifonov, Boljarstvo 16

99. AEM 19 (1896) 240, s. Moravcsik ByzTurc. II 162

100. Marquart, Chronologie 40 Anm. 3; Menges, Elements 90 und 96. Nach G.N. Potanin, Putešestvie 1884-1886. Tangutsko-Tibetskaya okrajna Kitaja i Zentralnoj Mongolij, in: Imper. Russk. geogr. Ob., I, St. Peterburg, 1895, 367-376 ist das Wort auch in der Form chulabyr vorhanden. Es bezeichnete eine “Person, die bei den Tempeln wohnt.” Sie hatte mit drei in das Obergewand gesteckten Pfeilen die “Capej” genannten Pfähle zur Abwendung des Hagelschlages aufzustellen.

101. Theophyl. Sim. ed. de Boor 53, 14-19. Hierzu Moravcsik, ByzTurc. II 95 mit Lit.

102. ebenda

 

351

 

 

Die niedrigen Militärposten wurden von dem zweiten Adelsstand der Bagainen besetzt. Diese trugen verschiedene Benennungen nach der Diensstellung, deren Bedeutung und Rangstufe nicht bekannt sind. Die protobulgarischen Inschriften erwähnen bisher folgende Bagainen [103]: βαγατουρ βαγαινος (Nr. 48 und Nr. 63), βηρη βαγαηνος (Nr. 50), ητζηργου βαγαηνος (ebenda), σετητ βαγαηνος (Nr. 49) und υκ βαγανηος (Nr. 50). Unter diesen Bagainen scheint der Ičirgu Bagain der höhste gewesen zu sein. Zu den Militärchargen gehörte auch ζη[τκ]ομηρος (Nr. 50), dessen Bedeutung unbekannt ist. Neben den beiden Adelsständen der Boilen und Bagainen erscheint eine besondere Adelsklasse — die Tarkanen — in drei protobulgarischen Inschriften und in manchen byzantinischen Quellen. Sie sind bisher in folgendem Zusammensetzungen belegt: ζερα ταρκανος (Nr. 59), ζουπαν ταρκανος (Nr. 60), ολγου ταρκανος (Nr. 46) und ὁ βουλίας ταρκανος, βορι τακάνος = βορι ταρκάνος [104], canna tarcan [105] und καλουτερκάνος [106] bzw. κουλου τερκάνος [107]. Der Titel Tarkhan, der bekanntlich einen hohen Adelsrang bezeichnet [108], wurde bei den Protobulgaren mit einem hohen Amt verbunden. Die Grenzinschrift aus der Zeit des Zaren Symenon vom Jahre 904 wurde gesetzt, als Theodoros olgu tarkan und Dristros cornes waren (Nr. 46). Nach P. Wittek [109], ist ολγου das türkische Adjektiv ulug “gross”, nach K. H. Menges [110] dagegen das türkische oγul “Sohn”. Der Bori Tarkan war der Kommandant der Stadt Belgrad. Seine Stellung entsprach nach der Quelle dem byzantinischen ὑποστράτηγος [111]. Sowohl Zera Tarkan als Kalu bzw. Kulu Tarkan [112] dürften bestimmte Ämter bezeichnen.

 

 

103. Moravcsik, ByzTurc. II 83; Beševliev PI 230 f.

104. Moravcsik, ByzTurc. II 97

105. ebenda 355

106. Theoph. Cont. 413, 9

107. Georg. Cont. B 55, 30

108. s. hier Anm. 33

109. Byz 21 (1951) 275

110. Elements 99

111. Migne PG 126, col. 1221 B-C

112. Parker, Tartars 131: “Koli or kari meant “old”; hence the kari tarkhan”.

 

352

 

 

Beide Tarkanen, Zera Tarkan und Župan Tarkan, entstammten vornehmen Geschlechtern, die von dem betreffenden Gedenkinschriften ausdrücklich hervorgehoben werden. Über die Bedeutung von Župan Tarkan sind wir nur auf Vermutungen angewiesen. Auf dem Boden einer Silberschale aus Preslav ist eine sechszeilige griechische Inschrift eingegraben, die einens (Κ(ύρι)ε βο(ή)θη) + Σηβην ζουπανος μέγας ἠς Βουργαρήαν erwähnt [113]. Die Župane waren bekanntlich [114] die Oberhäupter der slawischen Gaue. Aber weder der Župan Tarkan Šun, noch der Grossžupan Sivin waren Slawen, wie ihre Personennamen und der Geschlechtsname des ersteren deutlich zeigen. Sie waren also keine Vorsteher slawischer Gaue. Bei der Bezeichnung “Grossžupan Bulgariens” liegt es nahe zu vermuten, dass der Träger dieses Titels ein Bulgare war, dessen Dienst darin bestand, sich um die slawischen Župane zu kümmern, sich mit ihren Angelegengeiten zu beschäftigen und die Oberaufsicht über sie zu führen. Das Amt des Župan Tarkan war vielleicht dem des Grossžupans ähnlich.

 

Eine Gedenkinschrift erwähnt einen Titel κοπανος (Nr. 58), dessen Bedeutung unbekannt und mit Kapkhan durchaus nicht identisch ist, wie manche irrtümlich annehmen.

 

Ausser den oben angeführten Titeln werden noch folgende in den byzantinischen Quellen erwähnt, deren Bedeutung nicht feststeht: ἀλογοβότουρ (Const. Porph. de Adm. 158, 127) verdorben aus ἀλοβογότουρ [115], μηνικὸς (Georg. Cont. A. 893, 5; Theophan. Cont. 401, 4, 413, 11; μινικὸν τῶν ἱπποκόμων τὸν πρῶτον; Io. Scyl. 299, 8; ἡμνήκος Const. Porph. de Adm. 158, 118) [116], ἠτζβόκλιας (Const. Porph. de Adm. 158, 118) wohl ἠτζβούλιας oder ἠτζίργου βούλιας [117], κνήνου (ebenda 158, 117) [118], κρόνος (Theopan. Cont. 413, 11) [119],

 

 

113. V. Beševliev, Silberschale, 1-9

114. Jireček, Serben 127

115. Moravcsik, ByzTurc. II 64

116. ebenda 132; Pritsak, Fürstenliste 68

117. ebenda 133

118 Zlatarski, Istorija I 2, 475

119. Moravcsik, ByzTurc. II 11

 

353

 

 

μαγοτῖνος (Theophan. Cont. 413, 11) [120] und οὔσαμψος (Theophan. Cont. 413, 9, σαμψὴς τὸ ἀξίωμα Vita Clem. 116, 11, campsis und sampsi) [121]. Alle diese Titel mit Ausnahme des letzteren bezeichneten Militärpersonen.

 

Aus einer Gedenkinschrift [122] lässt sich entnehmen, dass es am Hof des Khans die sog. Kandidaten gab, die eine reine byzantinische Institution [123] waren. Es ist jedoch nicht klar, ob es sich um einen alten bulgarischen, nach byzantinischem Vorbild umgenannten, Dienst oder um einen neueingeführten handelte.

 

Die Grenzgebiete des bulgarischen Reiches bildeten, wie es scheint, besondere Verwaltungsbezirke, die je einem Befehlshaber unterstellt waren. Solche Grenzgebiete waren unter Krum und seinen Nachfolgern das Bulgarien jenseits der Donau, das von dem Strategen Kordyles verwaltet wurde (s. hier S. 292 und 294) und das Gebiet zwischen Donau und Theiss, das nach dem ungarischen Anonymos unter der Herrschaft eines dux Salanus stand [124]. Er war nach derselben Quelle [125] Sohn des bulgarischen Khans (vgl. hier S. 236). Es handelt sich wohl um dasselbe Gebiet, das in der Zeit des Bulgarenherrschers Boris I. von einem Bori Tarkan bzw. υποστράτηγος, der seinen Sitz in Belgrad hatte, verwaltet wurde [126]. Unter dem Zaren Symeon war Makedonien Grenzgebiet, das einem Comes Dristros unterstellt war [127]. Später war sein Verwalter Nikolaos, der Vater des Zaren Samuel [128].

 

 

120. Menges, Igor’Tale 38-39; Moravcsik, ByzTurc II 179; Beševliev PI 48 Anm. 1

121. Zlatarski, Istorija I 2, 794 ff.; Moravcsik, ByzTurc. II 238; 266; 355; Pritsak, Fürstenliste 72

122. V. Beševliev, Gedenkinschrift 394-399

123. R. Guilland, Candidatus, 210-225

124. Gy. Moravcsik, in: RESSE VII (1969), 168, vgl. auch D.A. Rassovsky in Seminarium Kondakovianum VI (1933) 4

125. Moravcsik, op. cit. 168-169

126. Migne PG 126, col. 1221 B-C

127. Beševliev PI Nr. 46, hierzu Migne PG 126, col. 213

128. Skyl.-Kedr. II 347; 434; Zonar. IV 75; 110, hierzu Zlatarski, Istorija I 2, 633 ff.

 

354

 

 

 

5. Die Religion

 

Allgemeine Literatur: F. Pfister, Die Religion der Griechen und Römer mit einer Einführung in die vergleichende Religionswissenschaft (Bursians Jahresbericht, Suppl.-Bd. 229, Leipzig 1930); Μ. P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, 2. Aufl., Bd. 1. München (1955) 1-255; derselbe, Primitive Religion, Tübingen (1911); J. C. Frazer, The Golden Bough, 12 Bde, London (1911-1918); derselbe, Der goldene Zweig (verkürzte Ausgabe in deutscher Übersetzung), Leipzig (1928); Ed. Lehmann, Erscheinungs- und Ideenwelt der Religion, in: Chantepie de la Saussaye, Lehrbuch der Religionsgeschichte, vierte Auflage, I. Bd., Tübingen (1925) 23-130; B. Ankermann, Die Religion der Naturvölker, ebenda 121-192; H. Vambéry, Die primitive Cultur des Turko-tatarischen Volkes, Leipzig (1879); U. Harva, Die religiösen Vorstellungen der altaischen Völker, Helsinki (1938) ( = FF Communications, edited for the Folklore Fellows, Vol. Nr. 125); P. W. Schmidt, Die asiatischen Hirtenvölker. Die primären Hirtenvölker der Alt-Türken, der Altaiund Abakan-Tataren ( = Der Ursprung der Gottesidee, Bd. III, IX-XII), Münster i. W. (1931, 1949-1955); J. P. Roux, Tängri. Essai Sur le ciel-dieu des peuples altaiques. in: Revue de l’Histoire des religions 149 (1956) Nr. 1,49-82 und 197-230; 150 (1956) Nr. 1,27-54 und 172-212; und La religion des Turcs de l’Orkhon des VIIe et VIIIe siècles, ebenda 161 (1962) 1-24 und 199-231; C. Nioradze, Der Schamanismus bei den sibirischen Völkern, Stuttgart (1952); H. Findeisen, Schamanentum, Stuttgart (1957); A. Lommel, Die Welt der frühen Jäger, Medizinmänner, Schamanen, Künstler, München (1965) mit reicher Literatur; V. Beševliev, Verata na parvobalgarite (Der Glaube der Protobulgaren), in: CSU if Bd. 35 (1939) Sofia

 

 

Die Quellen über die Religion der Protobulgaren sind genauso spärlich wie die über ihre politische Geschichte, Sprache, Kultur und Lebensweise.

 

355

 

 

Sie lassen sich in Schriftquellen, archäologische Funde und sprachliche Zeugnisse einteilen. Unter den schriftlichen Quellen nehmen die sog. Responsa Nicolai I. papae ad consulta Bulgarorum [1] an Zahl und Zuverlässigkeit den ersten Platz ein. Sie enthalten die Anweisungen über die Führung kirchlicher und ziviler Angelegenheiten, um deren Erteilung der erste christliche Bulgarenfürst Boris I. den Papst Nikolaus I. durch eine (866) nach Rom entsandte bulgarische Gesandtschaft gebeten hat. Von den Antworten kommen nur diejenigen in Betracht, die sich auf die heidnischen Sitten und Gebräuche der Bulgaren beziehen. An zweiter Stelle sind die zufälligen Bemerkungen über manche religiösen Gebräuche der Protobulgaren bei den byzantinischen Chronisten und manchen arabischen Schriftstellern sowie in anderen Schriftquellen zu nennen. Die archäologischen Funde geben hauptsächlich Auskunft über die mit dem Totenkult verbundenen Sitten. Schliesslich werfen einzelne protobulgarische Wörter auch Licht auf die Religion der Protobulgaren.

 

 

   a. Der Dynamismus (Orendismus)

 

Die Protobulgaren glaubten wie alle Türkvölker [2], dass die ganze Welt von einer besonderen, übernormalen bzw. Übernatürlichen Kraft oder Kräften erfüllt sei,

 

 

1. Neue kritische Ausgaben: E. Perels in MGH. Epistolae Karolini aevi IV, tom. VI, Berolini MCMXXV, 568-600 und D. Detschew, Responsa Nicolai usw., Serdicae 1939 mit bulgarischer Übersetzung. S. noch R. Sullivan 58-60

2. Vambéry, Cultur 245:

 

“...so werden wir ohne jegliche Anstrengung entdecken, dass beim primitiven Menschen der Turko-tatarischen Rasse die Idee der höchsten Gottheit mit dem Begriffe der unbegrenzten, dem menschlichen Blicke unzugärlichen geheimen Urkraft identisch gewesen, und dass er in allen ihm unerklärlichen Erscheinungen und Vorkommnissen des Lebens eben nur den Einfluss und die Wirkung dieser geheimen Kraft sah”.

 

Liao 214:

 

“The Ch’i-tan people believed that their World was inhabited by supernatural powers, both “wonderful” and frightful. In many cases these powers were immanent in the objects themselves, in trees, banners and drums, mountains, sun, heaven and earth”.

 

Vgl. Kašgari III bei Togan IF 136:

 

“tenri bedeutet Gott..., die Ungläubigen nennen so den Himmel, so wie alle grossen Gegenstände, die ihren Augen als gross scheinen, wie z.B. ein grosser Berg oder hoher Baum”,

 

hierzu Roux, Tängri 71.

 

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die nicht immer eine fest umrissene Gottheit darstellten. Sie steckt in allen irgendwie greifbaren Gegenständen. Die übernatürliche Kraft kann von Menschen in Menschen oder von Gegenständen in Menschen und umgekehrt übergehen. Der Glaube an diese übernormale Kraft wird von den Naturvölkern verschieden genannt, z.B.: Orenda bei dem Indianerstamm der Irokesen (daraus die Bezeichnung Orendismus) [3], Tondi bei den Batak auf Sumatra, Mana bei den Melanesiern usw. Zuletzt hat man die neutrale Bezeichnung “Dynamismus” [4] geprägt.

 

Über diese Kraft verfügen in besonderen Masse die Herrscher und der Adel, die Häuptlinge, die Zauberer, die Medizinmänner, die Schamanen und dgl. Sie erhebt sie über die gewöhnlichen Menschen und macht sie den Geistern ebenbürtig oder überlegen. Mit Hilfe dieser übernatürlichen Kraft üben die Herrscher ihre Pflichten aus, das Land zu beschützen, die Feinde zu besiegen, für reiche Ernte zu sorgen, Regen zu senden usw. Der Wohlstand des von ihnen regierten Volkes hängt mit einem Wort von ihrer besonderen Kraft ab.

 

Der Herrscher darf nicht schwach und kraftlos werden, denn dann Schwinden die Fruchtbarkeit und der Wohlstand des Volks dahin. Die Kraft zu verlieren, ist für einen Herrscher das schwerste Geschick und für das von ihm beherrschte Volk das grösste Unglück. Deshalb wird er entweder vom Volk oder von seinem Nachfolger erschlagen, wenn er schwach zu werden beginnt, und durch einen jüngeren, kräftigeren Herrscher ersetzt [5].

 

 

3. Fr. R. Lehmann, Mana. Der Begriff des “ausserordentlich Wirkungsvollen” bei den Südseevölkern, Leipzig 1922; Fr. Pfister, Der Glaube an das “ausserordentlich Wirkungsvolle” (Orendismus), in: Blätter zur bayrischen Volkskunde, Heft 11 (Würzburg 1927), 24-48; derselbe, Die Religion 108-115; K. Thurnwald, Neue Forschungen zum Mana-Begriff, in: Archiv f. Religionswissenschaft, Bd. 27 (1929) 93 ff.; B. Ankermann, Machtvorstellung und Magie, in: Religionsgeschichte I, 145-150; Nilsson, (ieschichte I, 48-49; 68-74 mit Lit.; Lommel, Die Welt 30

4. A. Bertholet, Dynamismus und Personalismus in der Seelenauffassung, s. Nilsson, Geschichte I 48

5. M.P. Nilsson, Primitive Religion, 56-57; L. Frobenius, Und Afrika sprach, Berlin, 1912,1, 183 f.; II 316 f.; III, 147 f.; N. Söderblom, Einführung in die Religionsgeschichte, Leipzig 1920, 17; F. Graebner, Das Weltbild der Primitiven, München 1924, 113 f.; E. Lehmann in Religionsgeschichte I 48

 

357

 

 

Bei manchen Türkvölkern wird der Herrscher nach einer von ihm selbst bei der Thronbesteigung bestimmten, oder hergebrachten Frist getötet [6]. Der Sinn dieses sog. sakralen Königsmordes war, dass die übernatürliche Kraft möglichst unversehrt auf den Nachfolger übergehen konnte. Der sakrale Königsmord existierte in Griechenland, Rom, Ethiopien, Südindien, Schweden, bei den alten Preussen, bei manchen afrikanischen Stämmen usw. Er war auch bei den Protobulgaren vorhanden (s. hier S. 341-343).

 

Für den Sitz der übernatürlichen Kraft wird gewöhnlich das Blut der Tiere und Menschen gehalten [7], da das Leben aller lebenden Wesen sichtbar mitdemVerlust des Blutes schwindet. Deshalb muss jeder Mensch darauf bedacht sein, das Blut nicht unbesonnen zu vergiessen bzw. ausfliessen zu lassen, sondern durch dessen Aufnahme seine eigene Lebenskraft zu mehren. Daher hatten die Protobulgaren die Sitte, wie viele andere Völker, die zum Verzehren bestimmten Tiere und das Geflügel durch Schläge zu töten, damit ihr Blut erhalten blieb (Responsa 90). Die vornehmen Persönlichkeiten bei den Bulgaren wurden wie bei den Türken und Mongolen aus demselben Grund durch Erwürgen getötet (s. hier S. 343 mit Anm. 51).

 

Ausser dem Blut wurde auch der Kopf als der Sitz der übernatürlichen Kraft betrachtet. Daher eignete sich derjenige mehr Lebenskraft an, der aus einer Schale trank, die aus dem Schädel von besonders krafterfüllten Menschen wie Herrschern, berühmten Kriegern, Heiligen usw.verfertigt war. Diese weit verbreitete und in das Altertum zurückreichende Sitte [8] ist auch für die Protobulgaren gut bezeugt.

 

 

6. Liao 224 Anm. 475; 274 Anm. 189; Kollautz-Miyakawa, Awaren I, 69 f.; Dunlop, 97; Artamonov Hazar 410

7. Ankermann in Religionsgeschichte 146; Pfister, Religion 141 und 143; derselbe in RE IX 2148; 2182

8. R. Andree, Menschenschädel als Trinkgefässe, in: Zeitschrift des Vereins f. Volkskunde, Bd. 22 (1912), 1 ff.; Hovorka und Kronfeld, Vergleichende Volksmedizin, Bd. I, Stuttgart 1908 s.v. Schädel; Fr. Pfister, Heiligenschädel und Kopf, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens; vgl. noch: V. Beševliev Brauch, 20-21; Kollautz-Miyakawa, Awaren I, 85 f; II, 156-157; 252-253; 255-261; 265;269; 270; 283 Anm. 73. Schädelbecher sind für die Türkvölker bezeugt: F.W.K. Müller, Toxri und Kuisan (Sitzungsber. Berlin 1918) 571:

 

"Als der Hiung-nu-Fürst (san-yü) Lau sang den König der Yüe-tsi getötet hatte, nahm er dessen Schädel und machte daraus ein Trinkgeschirr.”

 

(vgl. J.J. de Groot, Die Hunnen I, 223:

 

"den Kopf des Königes von Goat-si, den Tan-hu Lo-sang abgeschlagen hatte als Trinkgefäss verwendend..”;

 

Grousset, L'empire 55 und J. Deguignes, Histoire II, 347:

 

Der Awar Ceu-nu "Attaqua et défit les Tartares Kao-tsche, tua leur roi nommé Mi-gno-to, lui coupa la tête, et forma du crâne, qu’il l’avoit fait enduire de vernis, un vase don il se servit pour hoir”),

 

über die Petschenegen s. Chron. Nestoris ed. Fr Miklosich 43

 

358

 

 

Theophanes [9] berichtet, dass der Bulgarenherrscher Krum aus dem Schädel des umgekommenen byzantinischen Kaisers Nikephoros eine Trinkschale machen liess, die von aussen versilbert wurde. Krum war darauf sehr stolz und nötigte bei Gastmählern auch die Häuptlinge der Slawen daraus zu trinken (s. hier S. 246).

 

Nach der 66. Antwort des Papstes Nikolaus I [10]. Trugen die Bulgaren auf dem Kopf eine Leinenbinde, die wohl auch mit dem Glauben an die übernatürliche Kraft zusammenhing, da das Leinen bei vielen Völkern für rein [11] und daher für apotropäisch galt.

 

Die 33. Antwort teilt mit, dass die Bulgaren einen Rossschweif als Kriegsfahne zu tragen pflegten [12]. Diese Sitte steht wohl wieder in Verbindung mit der übernatürlichen Lebenskraft, die nach der primitiven Auffassung auch in dem Schweif mancher Tiere stecken kann [13].

 

Mit übernatürlicher Kraft können auch unbelebte Gegenstände erfüllt sein. Nach der 62. Antwort hatten die Bulgaren einen Stein entdeckt, der für einige Krankheiten heükräftig, war für andere aber nicht [14].

 

 

9. Chron., 491, 17-22

10. Responsa 66: Graecos prohibere vos asseritis cum ligatura lintei, quam in capite gestatis, ecclesiam intrare.

11. Pfister, Religion 323

12. Responsa 33: Quando praelium inire soliti eratis, indicatis vos hactenus m signe militari caudam equi portasse...

13. Das weisse Banner -touq- des Dschingiskhan bestand aus neun Jakschweifen und wurde für den Sitz dzw. das Symbol des Schutzgeistes vom mongolischen Kaisersclan (sulde) gehalten, s. Grousset, L’empire 275

 

359

 

 

Der Glaube an die wundertätige Kraft mancher Steine kommt auch bei anderen Türkvölkern vor [15].

 

 

   b. Die Tabusitten

 

Mit dem Glauben an die übernatürliche Kraft, die nach der Auffassung der Naturvölker sowohl nützlich, als auch schädlich sein kann, ist der Begriff “Tabu” eng verbunden.Tabu, d.h. “bezeichnet” nach der Sprache der Polynesiern [16], ist jede Person oder jeder Gegenstand, die von der übernatürlichen Kraft erfüllt oder der Wirkung dieser Kraft besonders ausgesetzt sind. Sie müssen gemieden werden, da sie bei Berührung schädlich wirken, oder da man dadurch von einen Unglück betroffen werden könnte. Sie sind kurz gesagt, verboten.

 

Bestimmte Tiere und bestimmtes Geflügel durften bei den Bulgaren, wie aus der 43. Antwort hervorgeht, nicht gegessen werden [17], da sie wohl Tabu waren. Die Wöchnerinnen waren bei den Bulgaren wie bei vielen Völkern besonders stark Tabu. Sie durften die Kirche erst nach Ablauf eines bestimmten Termines besuchen [18] und wieder mit ihren Gatten Zusammenkommen [19]. Ausserdem wurden die Frauenköpfe, wohl wegen der langen Haare, anscheinend für unrein, d.h. Tabu, gehalten.

 

 

14. Responsa 62: Refertis, quod lapis inventus sit apud vos, antequam Christianitatem suscepissetis, de quo, si quisquam ob aliquam infirmitatem quid accipit, soleat aliquotiens remedium corpori suo praebere, aliquotiens vero sine profectu remanere.

15. Vambéry, Das Türkenvolk, 117; derselbe, Cultur 249 f.

16. J.G. Frazer, Der goldene Zweig Kap. XIX-XXII; F.R. Lehmann, Die polynesischen Tabusitten, Leipzig 1930; Fr. Pfister, Tabu, in: Oberdeutsche Zeitschrift für Volkskunde, 6. Jahrg., Heft 2(1932) 131-139; derselbe, Religion 109-122; derselbe, Tabu, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens Bd. VIII, 629-635; E. Lehmann in Religionsgeschichte I 47; B. Ankermann ebenda 152-153

17. Responsa 43: Quae animalia, seu volatilia liceat manducare,...

18. Responsa 68: Requisistis, post quot dies mulier possit ecclesiam intrarc, postquam genuerit;

19. Responsa 64: Quot diebus viro, postquam mulier filium genuerit, ab ea sit abstinendum...

 

360

 

 

Daher fragten die Bulgaren den Papst Nikolaus I., ob die Frauen mit bedeckten oder unbedecktem Haupt in den Kirchen stehen sollten [20].

 

Nach Al Maçudi [21] bei den Bulgaren:

 

“Les chevaux dont ils se servent dans les combats sont toujours en liberté dans les prairies, et personne ne doit les monter en dehors du temps de la guerre. S’ils découvrent qu’un homme a monté un de ces animaux en dehors de ce temps, ils les tuent.”

 

Die Kriegspferde waren also Tabu. Sie gelten für heilig, da sie anscheinend dem Krieg bzw. dem Kriegsgott geweiht waren.

 

 

   c. Der höchste Gott Tangra

 

Nach Ausweis einer türkischen Handschrift [22] und einer stark beschädigten protobulgarischen Inschrift (Nr. 6) hiess der höchste Gott der Protobulgaren Tangra (Ταγγρα). Tangra, Tängri in anderen Türksprachen [23], bedeutet eigentlich “Himmel” und war bei allen Türkvölkern der höchste Gott [24]. Die protobulgariche Inschrift teilt mit, dass der Herrscher, wohl Omurtag, dem Tangra Opfer brachte. Dieselbe Inschrift erwähnt einen protobulgarischen Würdenträger, dessen Titel mit ητζηργου begann. Das lässt sich entweder zu βοηλας oder κολοβρος ergänzen. Wenn man jedoch bedenkt, dass der Kolobr mit der Religion zu tun hatte (s. hier S. 351), ist die zweite Ergänzung wahrscheinlicher.

 

 

20. Responsa 58: Utrum velato an nudato capite mulier in ecclesia stare debeat. S. darüber Fr. Heiler, Das Gebet, München 1923; E. Fehrle, Deutsche Feste und Volksbräuche, 2. Aufl., Leipzig 1920, 95

21. Marquart, Streifzüge 205

22. W. Schott, Altajische Studien oder Untersuchungen auf dem Gebiete der tatarischen (turanischen) Sprachen, in: Abhandl. der Preuss. Akad. d. Wiss. 1866, 147: “Bulghar dilinge tangry dir d.h. in der Bulgarensprache ist (der fragliche Name) tangry.”, angeführt bei R. Roesler, Romanische Studien, Leipzig 1871, 251 Anm. 4, hierzu Menges, Elements 111-112

23. Menges, Elements 111; derselbe. Introduction 173

24. Vambéry, Cultur 150 f.; 240; Marquart, Streifzüge 15; derselbe, Komanen 33 f.; Thomsen, Orkhon 144, derselbe, Mongolei 110 f.; Harva, Vorstellungen 140-153; J.-P. Roux, Tängri

 

361

 

 

Andere Nachrichten über den Tangra bei den Bulgaren sind nicht bekannt. Man darf jedoch mit grosser Wahrscheinlichkeit annehmen, dass die Verehrung des Tangra, sein Kultus und alles, was damit zusammenhing, bei den Bulgaren ähnlich oder fast ähnlich wie bei anderen Türkvölkern war. Die Türken glaubten, dass er den Himmel und die Erde geschaffen hat [25]. Bei den Chazaren war er der Schöpfer aller Wesen [26]. Nach Plano Carpini (bei Togan IF 149) glaubten die Mongolen an einen Gott, den Schöpfer der ganzen sichtbaren und unsichtbaren Welt. In den alttürkischen Inschriften leitet Tängri die Schicksale der Menschen und verleiht den Khaganen die Macht [27]. Er ist auch der Gott des Krieges [28] und Hüter der Weltordnung [29]. In einer protobulgarischen Inschrift (Nr. 14) heisst es: “Wer Wahrheit sucht, sieht Gott. Den Christen taten die Bulgaren viel Gutes, und doch vergassen die Christen, aber Gott sieht es”. Mit dem Wort θεός kann selbstverständlich der christliche Gott, aber auch der Tängri gemeint sein. Bei den Hunnen der vorchristlichen Zeit, den Awaren und Mongolen galt der Eid bei dem Himmel und dem Himmelsgott als der stärkste [30]. Die Hunnen der vorchristlichen Zeit und die Türken brachten dem Himmel an bestimmten Tagen Opfer dar [31]. Die Ch’ i-tan opferten ihm bei der Mobilmachung [32]. Die Opfertiere waren bei den Türken Pferde, Rinder und Schafe [33]. Bei den Ch’i-tan kamen noch Gänse hinzu [34].

 

 

25. Theophyl. Sim. 260, 15-16: προσκυνοῦσι δὲ μόνως καὶ θεὸν ὀνομάζουσι τὸν πεποιηκότα τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν.

26. Marquart, Streitzüge 15

27. Roux, Tängri III 27-30

28. ebenda 39-42            29. ebenda 42-47

30. De Groot, Die Hunnen 223; Menandros EL 473, 17-24 und Roux, Tängri III 45-46

31. De Groot, Die Hunnen 59; 120; 121; 123; 213 f.; 224; 226; Roux. Tängri IV 184-190

32. Liao 215; 268

33. Theophyl. Sim. 260, 16-17

34. Liao 215; 268

 

362

 

 

In den protobulgarischen Inschriften ist der Begriff “Gott” immer durch das griechische Wort θεός ausgedruckt. Es ist daher wohl möglich, dass der protobulgarische Tangra mit dem christlichen Gott gleichgestellt wurde, wie bei den Türken Tängri mit Allah nach der Annahme des Islams [35].

 

 

   d. Die übrigen Gottheiten

 

Theophanes Continuatus berichtet, dass die Bulgaren bei der Eidesleistung die Hunde als Zeugen anriefen, denen die Heiden auch Opfer darzubringen pflegten [36]. Das gleiche erwähnt auch der Erzbischof von Achrida, Theophylaktos. Nach ihm verehrten die Bulgaren die Sonne, den Mond und die Sterne. Manche unter ihnen, fährt die Quelle fort, pflegten sogar den Hunden Opfer darzubringen [37]. Die Nachricht stammt aus einer Zeit, als die Protobulgaren und die Slawen fast zusammengeschmolzen waren, so dass es ungewiss ist, ob sie sich auf die Protobulgaren oder auf die Slawen beziehen, zumal von den Letzteren bekannt ist, dass sie die Sonne, den Mond und die Sterne verehrten [38]. Ihr Kult ist aber auch für manche altaische Völker gut bezeugt, so dass die Verehrung der erwähnten Himmelskörper auch bei den Protobulgaren vorhanden sein konnte. Der Shan-yü der vorchristlichen Hunnen war “von Himmel und der Erde erzeugt, von Sonne und Mond eingesetzt”. Bei den Uiguren heisst es: “Der berühmte, weise Khagan, der seine Würde vom Mond bekommen hat” [39].

 

 

35. Roux, Tängri IV 190 f.

36. Theoph. Cont. rec. J. Bekker, 31

37. Migne PG 126, 189, 28: Οἱ ( = Βούλγαροι) Χριστοῦ μὲν ὄνομα οὐδ’ ᾔδεσαν. Σκυθικῇ δὲ ἀφροσύνῃ δουλεύοντες ἡλίῳ τε καὶ, σελήνῃ καὶ τοῖς λοιποῖς ἄστροις· εἰσὶ δέ, οἵ καὶ τοῖς κυσὶ θυσίας προσέφερον.

38. Fontes historiae religiones Slavicae, colil C.H. Meyer, Berolini 1931, 21; alii solem alii lunam et sidera colebant. Vgl. G. Krek, Einleitung in die slawische Literaturgeschichte 2 Aufl., Graz 1887, 390; K.H. Meyer, Slawische Religion, in: C. Clemen, die Religion der Erde, München 1927, 268-69

39. Kollautz-Miyakawa, Awaren II, 7, über die Verehrung der Sonne und des Mondes s auch Alföldi, Doppelkönigtum 517

 

363

 

 

Die Ch’ i-tan verehrten die Sonne, der sie auch Opfer darbrachten [40], und die Mongolen den Mond [41]. Der Schamanenrock ist unter anderem mit Figuren von Sonne, Mond und Hund behängt [42].

 

Bei der Leistung des Friedenseides pflegten die Protobulgaren nach Ignatios Diakonos [43] Wasser auf die Erde auszugiessen. Dieser Brauch deutet wohl auf einen Erdkult hin. Die vorchristlichen Hunnen [44], die Türken [45], Ch’ i-tan [46] und andere Türkvölker [47] verehrten bekanntlich die Erde. Der Himmel und die Erde bildeten in vielen Religionen ein untrennbares Götterpaar, so dass es naheliegend ist anzunehmen, dass die Verehrung der Erde bei den Bulgaren auch vorhanden war.

 

Die Bemerkung des Theophylaktos von Achrida, dass manche Bulgaren auch den Hunden opferten, bezieht sich nur auf einen Teil der Bulgaren, der sich nicht näher bestimmen lässt. In dem Bericht des Theophanes Continuatus [48] über den bulgarischen Friedenseid werden die Hunde nur als Opfertiere erwähnt. Es ist daher schwierig zu sagen, ob manche Bulgaren die Hunde wirklich verehrten oder der Berichterstatter schlecht unterrichtet war. Die Hunde als gute Wächter und Geisterseher [49] spielten wohl eine gewisse Rolle in dem Glauben der Protobulgaren. Aber sonst nahmen sie kaum einen besondern Platz in der protobulgarischen Religion ein. Nach einer hagiographischen Quelle (s. hier S. 272) wurde die verstümmelte Leiche Manuels, des Erzbischofs von Adrianopel, den Hunden zum Frass geworfen.

 

 

40. Liao 18; 202; 214 ff.; 218; 256; 267 f.; 561

41. ebenda 214. über den Sternkult bei den altaischen Völkern s. Harva, Vorstellungen 177-203

42. Nioradze, Der Schamanismus 70; Lommel, Die Welt 131

43. Vita Nicephori ( = Nicephori archiep. Opuscula historica ed. C. de Boor) 207, 3

44. De Groot, Die Hunnen 59

45. Theophyl. Sim. 260, 14-15; ὑμνοῦσι τὴν γῆν.

46. Liao 214 f.; 256; 268

47. Harva, Vorstellungen 243-249; E. Lot-Falck, A propos d’Ätügän, Déesse mongole de la Terre, in: Revue de l’histoire des religions, 149 (1956), 157-196

48. Theoph. Contin. rec. J. Bekker 31

49. E. Samter, Volkskunde 87-88; Nioradze, Der Schamanismus 70

 

364

 

 

Ob das eine religiöse Handlung oder eine arge Schändung war ist ungewiss.

 

Die Bulgaren glaubten wie viele Türkvölker wohl an das Vorhandensein guter und böser Geister, denen man Opfer darbringen und vor denen man sich hüten sollte [50].

 

 

   e. Der Totemismus

 

Der Totemismus [51] lässt sich bei den Protobulgaren nicht mit Sicherheit nachweisen, sondern nur vermuten. Die Geschlechtsnamen Τζακαραρης und Κουβιαρης, die man als Beweise für den Totemglauben bei den Bulgaren aufgrund ihrer mutmasslichen Etymologie anführen könnte, werden nicht nur als caqyr “Habicht” und qoγu “Schwan”, sondern auch anders gedeutet [52]. Der Personenname Boris, den man zu bars “Tiger, Panther” stellen möchte, kann auch nicht als zwingender Beweis dienen. Der Totemismus bleibt also bei den Protobulgaren z. Z. fraglich.

 

 

   f. Die Idole und Heiligtümer

 

Die 41. Antwort des Papstes Nikolaus I. erwähnt, dass die Bulgaren Götzenbilder besassen, die sie verehrten und denen sie Opfer darbrachten [53]. Das wird durch Theophylaktos von Achrida bestätigt, der auch von Heiligtümern berichtet [54]. Nach der gruzinischen Vita des Heiligen Georgios Hagiorites verehrten die Bulgaren im Hinterland von Thessalonike eine antike weibliche Statue [55].

 

 

50. s. z.B. Liao 14; 214-219; 265, 268, 271

51. B. Ankermann, Totemismus in Religionsgeschichte 165-173 mit Lit.; M.P. Nilsson, Primitive Religion 22-30

52. Menges, Elements 103-104

53. Responsa 41: De his autem, qui Christianitatis bonum suscipere renuunt et idolis immolant vel genua curvant...

54. Migne PG 126, c. 197:

 

Ἑνὶ λόγῳ, τὰ μὲν ἀγάλματα τῶν Ἑλλήνων ὡς ἄθεα καὶ ἀκάθαρτα βδελύσσω καὶ ἀποστρέφομαι σὺν πάσῃ τῇ λατρείᾳ αὐτῶν... Εἴδωλα δὲ καὶ οἱ αὐτῶν βωμοὶ καὶ ἀνίεροι ναοὶ συντριβήσονται...

Worte Enravotas, Bruders des Bulgarenherrschers Malamir.

 

365

 

 

Die chinesischen Quellen für die vorchristlichen Hunnen berichten, dass einer ihrer Könige beim Opfern an den Himmel ein goldenes Bild gebrauchte [56]. Der byzantinische Chronist Malalas [57] erzählt, dass die Hunnen, die in der Nähe des Bosporos wohnten, Bilder aus Siber und Elektron hatten.

 

Die Ausgrabungen in Pliska und Madara brachten die Fundamente von Gebäuden ans Licht, deren Grundriss zwei ineinander hineingelegte Rechtecke darstellt. Das eine der beiden Gebäude mit diesem Grundriss in Pliska ist später in eine christliche Kirche verwandelt worden. Man nimmt daher zu Recht an, dass diese Gebäude protobulgarische Heilligtümer waren [58]. Unter dem Fundament der sog. grossen christlichen Basilika bei Pliska entdeckte man zuletzt kleine Teile der Grundmauern eines älteren Baues, die die Überreste eines früheren heidnischen Heiligtums zu sein scheinen.

 

Das ehemalige Vorhandensein protobulgarischer Götzenbilder und Heiligtümer lässt sich aus den Wörtern kumir und balvan “Götzenbild” und kapište “Götzentempel” im Neubulgarischen erschliessen, die protobulgarischer Herkunft sind [59].

 

Die Felsblöcke genossen anscheinend bei den Protobulgaren auch Verehrung. Bei dem Dorf Madara, nicht weit von der senkrechten Felswand, wurde ein Felsblock mit einer Mauer umgeben bei den Ausgrabungen entdeckt.

 

 

55. Vie de St. Géorges d'Hagiorite, in: Anal. Boll XXXVI-XXXVII (1917-1919), 104 36, hierzu T. Gerasimov, Svedenije za edin mramoren idol usw., in: Festschrift Romanski, Sofia 1960, 557-561; V. Beševliev, Zur Frage der slawischen Einsiedlungen im Histerland von Thessalonike im 10. Jahrnundert, in: Serta slavica in memoriam Aloisii Schmaus, München 1971, 37-41 mit Lit.

56. De Groot, Die Hunnen 120 und 121

57. Malalas Chronographia ex rec. L. Dindorfii, Bonnae 1831, 432, 5-13

58. N. Mavrodinov, Izkustvo 40 (Abd. 30), 43 ff. (Abd. 38); Mijatev, Arhitektura 73-77, über die Kontinuität der Kultplätze s. Pfister, Religion 86-87; 96; Nilsson, Geschichte 74; 303-307; 339

59. A. Brückner, Slawen und Litauer, in: Religionsgeschichte II 512; St. Mladenov, Verojatni i mnimi ostatăci ot ezika na Asparuhovite bălgari v novobălgarskata reč, GSUif XVII (1920/21), 201-287; Menges, Igor’Tale 23; derselbe, Substratfragen, 113; M. Vasmer, ESRI I, 186-187 s.v. bolvan; II, 185-186 s.v. kapište; 416 s.v. kumir.

 

366

 

 

Es handelt sich wohl um einen heiligen Felsen [60].

 

 

   g. Die Zauberzeichen

 

Bestimmte Zeichen waren bei vielen Völkern Symbole mancher Gottheiten. Sie galten für krafterfüllt und zauberhaft. Sie konnten daher die Gegenstände oder den Ort, wo sie eingemeisselt sind, heiligen, d.h. mit einer besonderen Kraft erfüllen. Sie wurden auch als Schutz-oder Abwehrzeichen und apotropäisch gebraucht [61]. Bereits in mykenischer Zeit tritt das Zeichen der Doppelaxt in dieser Bedeutung in Kreta auf [62]. Besondere magische, “rettende” Zeichen, die verschiedene Gestalten hatten, spielten eine grosse Rolle in der antiken Zauberkunst [63]. Die altgermanischen Runen wurden bekanntlich von altersher als Heils-, Segens und Abwehrzeichen verwendet.

 

Der Glaube an die Zauberkraft mancher Zeichen war den Protobulgaren nicht fremd. Verschiedene Gegenstände, die aus ihrer Zeit stammen, sind oft mit besonderen Zeichen versehen, unter denen das Zeichen IYI am häufigsten erscheint (s. die Zeichenliste Abb. 1.) Die Gegenstände, auf denen dieses Zeichen eingemeisselt oder eingeritzt ist, lassen sich in folgende fünf Gruppen einteilen: 1. Felsen und Grotten [64], 2. Steinerne Bauquader [65], 3. Dachziegel und Backsteine [66], 4. Tongefässe [67] und 5. Metalgegenstände: Ring, und runde Amulette [68].

 

 

60. Mijatev, Arhitektura 74 (Abd. 69)

61. Pfister, Religion 94 f.; Nilsson, Geschichte 275-279 und Taf. 9,3. A.v. Gabain, Inhalt und magische Bedeutung der alttürkischen Inschriften, in: Anthropos 48 (1953) 537-556

62. Pfister, ebenda.

63. R. Wünsch, Zaubergerät 31-35

64. Sbornik Madara I, 392; 396; 397; 398; II 109 f.

65. ebenda 1, 82 und 393

66. St. Angelova, Za proizvodstvoto na stroitelna keramika v Severoiztočna Bălgarija prez rannoto srednovekovie, in: Arheologija XIII (1971) 3, 3-24

67. Sbornik Madara I, 397; IA1 XIV (1940-42), 70; XVIII (1952), 317-319; XXII ( 1959), 252; XXIII (1960), 56; XXVI (1963) 19; D. I. Dimitrov, Keramikata ot rannobălgarskite nekropoli văv Varnensko, in: INM-Varna IX (XXIV) 1973, 89-97 und Taf. XII

 

367

 

 

Das Zeichen IYI ist sehr verbreitet. Es tritt in Bulgarien hauptsächlich in Pliska, Madara, Kalugerica, Vinica, Preslav, Varna und anderswo und ausserhalb Bulgariens in Calei (Rumänien) und Šudikovo (Jugoslavien) [69] auf. (Abb. 2) Man hat bisher das Zeichen als Steinmetzzeichen [70], Tamga [71], Buchstaben [72] oder Ziffer [73] erklärt. Diese Deutungen sind aber nicht plausibel. Das Zeichen an dem Ring aus Presotvac (Jugoslavien) [74] (Abb. 3) und an der Gesichtsseite eines Helmes aus Uzana (Kreis Gabrovo, Bulgarien) [75] sollte ihre Besitzer ohne Zweifel vor Unheil bzw. Pfeilen und Lanzen beschützen. Dieselbe Bedeutung hatte das Zeichen auf den Dachziegeln, Backsteinen und Steinquadern. Die Dachziegel mit diesen Zeichen schützen die Gebäude vor Blitzschlägen. Nach Ibn Fadlan [76] hatten die Wolga-Bulgaren besonders grosse Furcht vor Blitzschlägen:

 

“Hat der Blitz in ein Haus eingeschlagen, so nähern sie sich dem Haus nicht und lassen es für sich und auch alles, was darin ist an Menschen, Vermögen und anderen — bis die Zeit es verfallen lässt. Sie sagen: Dieses ist das Haus von solchen, denen Gott gezürnt hat”.

 

Die Gebäude, die mit solchen Dachziegeln bedeckt oder in deren Steinquadern das erwähnte Zeichen eingemeisselt war, standen unter kräftigem Schutz. Dasselbe Zeichen an den Tongefässen angebracht sollte nicht nur die bösen Geister fernhalten, sondern auch denen, die sich ihrer bedienten, Heil und Glück bringen.

 

 

68. T. Totev, Sur un groupe d’objets découverts à Preslav à représantations et marques, in: Byzantinobulgarica III (1969), 133-153

69. I. Pudic, Šudikovski znaci, 179-185

70. G. Fehér in IAI III (1925)53-54

71. St. Stančev in Pazkopki i proučvanija III (1949) 243 f.; T. Totev in Arheologia IX (1967) 2, 37, über die Verwendung des Tamgas als Zauberzeichen oder Glückszeichen s. Gabain, Inhalt 542

72. G. Fehér in Sbornik Madara I, 399

73. G. Fehér in IAI III (1925) 53-54

74. N. Mavrodinov, Trésor 78-83

75. Derselbe in Razkopki i proučvanija III (1949) 165-166

76. Togan IF 64 § 63 und S. 185, vgl. Harva, Vorstellungen 205-219 besonders 213: “Die Mongolen hätten den Donner ausserordentlich gefürchtet.” Über die Abwendung des Hagelschlages, s. hier S. 325 Anm. 100

 

368

 

 

Das Zeichen Y allein hatte auch magische bzw. apotropäische Bedeutung. Es ist in einen Goldring aus Vidineingraviert [77]. Dieses Zeichen sollte den Träger des Ringes ebenfalls vor schädlichen Mächten schützen. Mit dem gleichen Zeichen beginnt eine protobulgarische Inschrift (Nr. 48). Es entspricht dem Kreuz bei den übrigen Inschriften, das an ihrem Anfang steht. Das bestätigt seine magische Bedeutung.

 

Um die Zauberkraft des Zeichens zu verstärken, pflegte man mehrere Zeichen dergleichen Art so miteinander zu verbinden, dass sie kreuzähnliche Verbindungen bilden: 4, 5, 6, 7. (Abb. 4). Dasselbe Zeichen kommt manchmal unterstrichen vor: 14. In dieser Gestalt erscheint es auch auf Dachziegeln [78] und Steinquadern [79] (Abb. 5). Seine Abarten sind wohl auch die Zeichen 8, 9, und 12, deren Bedeutung uns verborgen bleibt. Abwehrende Bedeutunhg hatte auch das Zeichen 16, das dem griechischen Buchstaben Ψ ähnelt (Abb. 6). Es erscheint auf Steinen und Dachziegeln eingemeisselt [80]. Es weisst auch Abarten auf wie das Zeichen 1 und zwar mit einen senkrechten Haste auf der rechten Seite, mit zwei Hasten links und rechts, verdoppelt (20), kreuzartig (Abb. 7) zusammengesetzt und unterstrichen. Manchmal ist es an andere Zeichen angehängt.

 

Magisch bzw. apotropäisch wurde auch das dem griechischen Buchstaben Omega ähnelnde Zeichen 29 verwendet, (Abb. 6) das auch auf Dachziegeln vorkommt [81]. Die beiden ersterwähnten Zeichen und das Letztere treten auf einem Steinquader in folgender Reihenfolge eingemeisselt auf: 14, 3, 29 (s. Abb. 8). Sie sollten dem Bau offenbar eine sehr grosse abwehrende Kraft verleihen, in den der Quader eingebaut war. Der Quader mit diesen Zeichen wurde in der Nähe eines Walles beim Dorf Bjala, Kreis Varna gefunden [82].

 

 

77. St. Stančev, Novi pazar 102-103

78. Op. cit. in Arheologija XIII (1971) 13 und 18

79. s. Sbornik Madara 1 393

80. Sbornik Madara 1 394 und 418

81. s. Arheologija XIII (1971) 11; 12 und 13

82. IVAD VII (1921) 122

 

369

 

 

In den Ruinen einer Kirche in Šudikovo (Jugoslavien) befindet sich ein Steinquader, der folgende auf fünf Seiten verteilte Hauptzeichen trägt: 3, 11, 13, 29 und 47 (s. Abb. 9-12). Unter den Hauptzeichen sind noch andere Zeichen: Kleine horizontale Striche und Halbkreise eingemeisselt [83]. Das Gebiet von Šudikovo wurde im 9. Jh. von den Protobulgaren beherrscht und bildete wohl die bulgarische Grenze nach Westen hin. Die Zeichen hatten auch in diesem Fall apotropäische Bedeutung.

 

Die Verwendung mancher dieser Zeichen als magisch dauerte auch nach der Bekehrung der Bulgaren zum Christentum, vielleicht mit bereits verblasster Bedeutung, fort. So z.B. erscheint das Zeichen 16 an der Wand einer Kleinen Kirche an dem Prespasee noch im 14. Jh. [84] (Abb. 14).

 

Die Schutzzeichen waren krafterfüllt als Symbole bestimmter Gottheiten oder Geister. So z.B. darf man wohl für das Zeichen 31 vermuten, dass es das Sinnbild des Himmelsgottes Tangra war. Es lässt sich darüber jedoch nichts Sicheres sagen.

 

Die Herkunft der protobulgarischen Zauberzeichen ist dunkel. Man möchte gern annehmen, dass sie aus irgendeinem Alphabet entnommen sind. Diese Vermutung könnte man durch den Umstand stützen, dass auf manchen Gegenständen aus Pliska und Preslav glagolitische, kyrilische oder griechische Buchstaben eingemeisselt sind. Die Verwendung dieser Buchstaben unterscheidet sich jedoch anscheinend grundsätzlich von den protobulgarischen Zeichen. Sie dürften entweder Steinmetzzeichen sein oder Zahlwert haben. Die protobulgarischen Zeichen 1 und 16 kommen als Buchstaben im griechisch en Alphabet vor. Sie erscheinen aber auch in dem alttürkischen Runenalphabet von Orkhon [85]. Das erste Zeichen unterstrichen (14) ähnelt dem chinesischen Zeichen für das Wort T’ien “Himmel”, das wie ein Winkel mit der Spitze nach oben und zwei Strichen darüber aussieht [86].

 

 

83. s. hier Anm. 69

84. N.K. Μουτσόπονλος, Βυζνατινὰ μνημεία τῆς Μεγάλης Πρέσπας, in: Χαριστήριον εἰς Α.Κ. Ὀρλάνδον II Athen 1964, 145.

85. A. von. Gabain, 12

86. Roux, Tängri I 61 und 70

 

370

 

 

Das zweite Zeichen ist dem chinesischen Buchstabenzeichen “wu” mit der Bedeutung “Schamane” ähnlich [87]. Es ist auch als germanische Man-Rune bekannt. Der Sinn Man-Rune ist deutlich und einheitlich als Zeichen Mensch, Mannussohn (Lautwert m). Diese Rune wird in ihrer späteren Zauberbedeutung als Schutz gegen Unholde und Unwetter verwendet [88]. Die sog. Hagal-Rune, ein Stern mit sechs Strahlen und Lautwert h, hat mehrfache Bedeutung. Sie ist das “All-Hegende”, Gottesrune, Lebensstern usw. [89]

 

Die Zeichen 1, 16 und manche anderen kommen auf einem antiken Zaubergerät aus Pergamon [90] vor. Nach R. Wünsch, dem Herausgeber des Gerätes, geht 1 auf das ägyptische Zeichen für m zurück [91]. Der Ursprung der protobulgarischen Zauberzeichen ist also kaum sicher zu ermitteln. Sie sind mit ihrer Bedeutung wohl das Erbe einer sehr weit zurückliegenden Vergangenheit.

 

 

   h. Die Amulette

 

Die übernatürliche Kraft kann nicht nur den Naturobjekten wie Pflanzen, Tieren, Menschen oder Felsen und dgl. innewohnen, sondern sich auch in künstlichen, von Menschenhand verfertigten Gegenständen wie Zeichen, Bildern, Amuletten usw. offenbaren bzw. wirken. Nach der 79. Antwort des Papstes Nikolaus I. trugen die Kranken bei den Bulgaren ein unter der Kehle herabhängendes Amulett, um ihre Gesundheit wieder herzustellen [92]. Über die Art des Amuletts teilt die Quelle nichts mit. Die Amulette sind bekanntlich [93] kleine, krafterfüllte Gegenstände,

 

 

87. H. Miyakawa-A. Kollautz, Zur Ur- und Vorgeschichte 167-168; 183-184 und 188; Liao 17; 217 und 308

88. O.A. Erich und R. Beitl, Wörterbuch der deutschen Volkskunde, Leipzig 1936, 473 s.v.

89. ebenda 268 s.v.

90. Wünsch, Zaubergerät, Tafel 1 bis 4

91. ebenda 34

92. Responsa 79: Perhibentes, quod moriš sit apud vos infirmis ligaturam quandam ob sanitatem recipiendam ferre pendentem sub gutture...

93. Fr. Pfister, Amulett, in: Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens, Bd. I, 374-384; derselbe, Religion 303-304; 328-329; A. Bertholet, Amulette und Talismane, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl. (Tübingen 1926) 315-317; Ed. Stemplinger, Aberglaube, 88-89; derselbe, Volksmedizin 88-90; S. Seligmann, Die magischen Heil- und Schutzmittel aus der unbelebten Natur 1927

 

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deren Kraft sich dort wirksam zeigt, wo sie angehängt oder befestigt sind. Sie wirken hauptsächlich apotropäisch d.h. sie können böse Geister, böse Einflüsse, den bösen Blick usw. abwehren, ihre Kraft kann durch eingeritzte Bilder, Worte und Sprüche verstärkt werden. Als Amulett kann alles dienen, das nach dem Glauben des Trägers mit einer besonderen Kraft erfüllt ist.

 

In fünf Gräbern der Nekropole bei Novi Pazar [94] sind folgende Gegenstände gefunden worden, die der Herausgeber mit Recht für Amulette hält: ein kleines, gebogenes Horn, zwei Adlerklauen mit Löchern am oberen Ende und Hasen- und Hundeknochen. Unter den Anhängseln am südsibirischen Schamanenrock befinden sich auch Adlerklauen [95]. Nach der Auffassung der Primitiven kommt ein Teil sowie auch das Abbild eines Gegenstandes, dem Gegenstand selbst an Kraftwirkung gleich (pars pro toto) [96].

 

Aus Preslav stammen drei runde, medaillonähnliche Amulette. Das eine ist aus Bronze, die übrigen Beiden sind aus Kupfer [97]. Sie waren ursprünglich mit Ösen versehen. Auf der Vorderseite des Bronzeamulettes befindent sich das bereits erwähnte Krafterfüllte, abwehrende Zeichen 3 und auf der Rückseite das Schutzzeichen 1 sechsmal so miteinander verbunden, dass die Verbindung wie ein Doppelkreuz aussieht (Abb. 15-16). Auf der Vorderseite des ersten der beiden Kupferamulette, das Spuren von Vergoldung trägt, ist eine Schamanenmaske dargestellt (Abb. 17). Sie sollte die bösen Geister von dem Träger des Amulettes fernhalten [98].

 

 

94. St. Stančev, Novi pazar 25-26

95. Nioradze, Der Schamanismus 72

96. Lommel, Die Welt 130 und 131

97. V. Beševliev, Părvobălgarski amuleti, in: INM-Varna IX (XXIVO 1973 53-64

98. A. Kollautz, Der Schamanismus der Awaren, in: Palaeologia, IV ( 1955) Nr. 3/4, 291-294; Nioradze, Der Schamanismus 74-77; H. Miyakawa und A. Kollautz, Zur Ur- und Vorgeschichte des Schamanismus 165-187; Harva, Vorstellungen 523 f.; Findeisen, Schamanentum 84-85; Lommel, Die Welt 111; 114; 115-116; s. noch M. Biber, s.v. Maske RE2 XIV 2070-2071; Nilsson, Primitive Religion 54; Pfister, Schwäbische Volksbräuche 15-16

 

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Die Vorderseite des zweiten Kupferamulettes zeigt wieder eine ähnliche Maske, die ebenfalls apotropäisch wirken sollte (Abb. 18).

 

Von anderer Art sind die Amulette aus Bronze, die einen auf einem Pferd reitenden Menschenkopf mit Spitzenbart (oder Maske?) darstellen (Abb. 19-20). Sie sind bisher in Vidin [99], Prolaznica (Dorf bei Belogradčik) [100], Vraca (Dorf im Kreis Loveč) [101] und Plovdiv [102] gefunden worden, d.h. in Ortschaften, die zeitweise in Grenzgebieten Bulgariens lagen. Amulette dieser Art wurden wahrscheinlich von Soldaten getragen.

 

Im archäologischen Musem in Šumen wird eine kleine in der Umgebung dieser Stadt gefundene, Sandsteinplatte mit einem merkwürdigen Relief aufbewahrt, das einen Mann mit spitzem Vollbart und Schnurbart sowie einer dreizackigen Krone [103] darstellt. Die Figur, die nackt zu sein scheint, hält einen kreuzartigen Gegenstand mit langem Schaft, wohl ein Schwert [104], und hat zu beiden Seiten je zwei Tiere: eine Schlange und einen unbestimmten Vierfüsser. Oben, wieder zu bieden Seiten von Kopf und Schulter, ist eine Inschrift angebracht, deren Buchstaben deutlich, aber unverständlich sind (Abb. 21). Das Relief ist wohl auch ein Apotropaion.

 

 

99. Mavrodinov, Trésor 116 und Izkustvo 82

100. I. Balkanski, Arheologičeska karta na Belogradčiško, Sofia, 1965, 73 und 148 mit Taf. XI

101. s. Anm. 99

102. ebenda

103. B. von Arnim, Das Relief von Charakcy-Boaz mit unentzifferter Inschrift, in: Anzeiger der Akademie der Wiss. in Wien, phil.-hist. Klasse, Jahrg. 1932, Nr. IX, 4-10; Mavrodinov, Tréser 110 und Izkustvo 68. - Über die dreizackige Krone s. A. von Gabain, Die Dreizack-Kappe uigurischer Würdenträger, in: UAJ 36 (1964) 331-335; A. Kollautz, Frühes Schamanentum 17-18

104. Das Relief erinnert stark an zwei Abbildungen sassanidischer Herrschei, die auf einem Thron sitzend und sich auf ein ähnliches Schwert stützend dargestellt sind, s. Kollautz-Miyakawa, Awaren II, 9-10 mit Abbildungen.

 

373

 

 

Dieselbe Bedeutung hat anscheinend eine auf einem in Madara gefundenen Dachziegel eingeritzte männliche Figur mit Spitzbart, Schnurrbart, Brustwarzen und mit einem enganliegenden und bis zu den Füssen reichenden Gewand bekleidet, auf deren rechter Hand ein Vogel [105] sitzt (Abb. 22). Die Gestalt stellt höchstwahrscheinlich einen Schamanen dar. In Pliska wurde ein kleiner Bronzestern mit sieben Zacken gefunden, in dessen Mitte das Zeichen IYI und auf der Rückseite in jeder Zacke je zwei verschiedene protobulgarische Zeichen übereinander eingraviert sind (St. Vaklinov, Ein Denkmal runischen Schriftums Pliskas, in: Studia in honorem V. Beševliev, Sofia 1978, 245-254). Der Gegenstand stellt wahrscheinlich ein Zaubergerät für Weissagung dar.

 

 

   i. Das Opfer

 

Die Protobulgaren brachten ihren Gottheiten wie viele Völker Opfer dar. Nach der 89. Antwort des Papstes Nikolaus I. pflegten sie von alters her die neuen Früchte und Erstlinge als Opfer darzubringen [106]. Aus der Antwort lässt sich nicht entnehmen, wem sie geopfert wurden. Die Erstlinge oder die sog. Primitiae wurden gewöhnlich dem höchsten Gott dargebracht. Diese Art Opfer kommt hauptsächlich bei den Ackerbau und Viehzucht treibenden Völkern vor.

 

 

105. Mavrodinov, Trésor 111 ; Rašo Rašev, Prabălgarski kultov pametnik ot Madara, in: Arheologija XV 2 (1973) 29-38 - Was die Brustwarzen betrifft, s. Nioradze, Der Schamanismus 54: “Man findet auch an diesen ( = Schamanen-Gewändern) aus Metal gemachte Bilder von weiblichen Brüsten”. Der Vogel lässt sich verschiedentlich deuten: Hilfs- oder Schutzgeist, Tiermutter oder die Seele in Vogelgestalt, s. darüber Nioradze, Der Schamanismus 42 Findeisen, Schamanentum 29; 199; Kollautz, Frühes Schamanentum 14; Lommel, Die Welt 65-67. - Über ähnliche Bilder von Oranten s. Kollautz, Franken 269 Abb. 9 Nr. 2 und 3 und Dobrogei III 205 und 209 Abb. 58, über die Bedeutung der Vogeldarstellung Gabain, Inhalt 546 -548

106. Responsa 89: Fruges novas et rerum offerre primitias etiam veteribus moris erat... Kollautz, Franken 269 Abb. 9 Nr. 2 und 3 und Dobrogei III 205 und 209 Abb. 58

 

374

 

 

Sie dankten damit den Gottheiten für die gute Ernte und baten um Fruchtbarkeit für das nächste Jahr. Ursprünglich galten die Erstlinge bekanntlich als krafterfüllt oder als die Verkörperung des Korngeistes und durften daher nicht verzehrt werden [107]. Nach H. Vambéry [108] ist das Opfern von Erstlingen bei den Tschuwaschen noch heute anzutreffen.

 

Die Bulgaren kannten auch das Tieropfer. Die diesbezügliche Quelle (s. hier S. 386) teilt nicht mit, welche Tiere geopfert wurden. Die alten Türken brachten ihrem höchsten Gott Pferde, Rinder und Schafe dar [109]. Es ist unbekannt, welcher Gottheit die Bulgaren Tiere opferten.

 

Eine Marginalnotiz zu Phylarchos [110] teilt mit, dass die Bulgaren vor ihrer Bekehrung zum Christentum vor Kriegszügen Menschen zu opfern pflegten. Das wird durch den Bericht des Scriptor Incertus über die Belagerung von Konstantinopel (813) bestätigt (s. hier S. 386). Das Menschenopfer kam bei vielen Völkern vor, da es als das kräftigste galt [111].

 

 

107. Thurnwald, Opfer in: Eberts Reallexikon IX 184 f.; Nilsson, Primitive Religion 71; Erstling in: Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens II, 976 f.; Heiler, Gebet 71 f.; Religionsgeschichte I 92; 619; 644; II 291

108. Das Türkenvolk 484

109. De Groot, Die Hunnen 223; Theophyl. Sim. 260, 16-17; Migne PG 111, 264; Liao 735 s.v. Sacrifice; Vambéry, Das Türkenvolk 113; 418 f.

110. Iv. Dujčev, Appunti di storia bizantino-bulgara, in: Medioevo I 218 f.: Φύλαρχος δὲ κοινῶς πάντας τοὺς Ἕλληνας πρὶν ἑπὶ πολεμίους ἐξιέναι ἀνθρωποκτονεῖν ἱστορεῖ, hierzu ση(μείωσαι) ὅτι καὶ Βούλγαροι τοῦτο ἐποίουν πρὸ τοῦ δέξασθαι τὸ ἅγιον βάπτισμα. Derselbe, Un nouveau témoignage sur les sacrifices hummains chez les Protobulgares, in: Studia historico-philologica Serdicensia II (1939) 93-94; Togan IF 188-189 und 236-237; De Groot, Die Hunnen 186; Kollautz-Miyakawa, Awaren 149; Liao 259; 268; 561; 635 und 670

111. Fr. Schwerin, Die Menschenopfer bei den Griechen und Römern, Giessen 1915 ( = RGVV XV 3); Nilsson, Geschichte 133; E. Mogk, Die Menschenopfer bei den Germanen, in: Abh Göttingen. XXVII (1909), 603 ff.; derselbe, Ein Nachwort zu den Menschenopfer bei den Germanen, in: Arch. f. Religionswissenschaft XV (1912), 422 ff.; vgl. noch Thurnwald, Menschenopfer, in: Eberts Reallexikon VIII 145 ff. und besonders Pfister, Religion 184 mit Lit.; derselbe, Menschenopfer, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. III 2113-2114.

 

375

 

 

   j. Der Eid

 

Es war bei den Protobulgaren laut der 67. Antwort Sitte, wenn sie jemand für irgendetwas durch einen Eid [112] binden wollten, ein Schwert herbeizubringen und bei diesem, wohl in die Erde gestossen [113], zu schwören [114]. Die Antwort teilt jedoch nicht mit, was der Schwörende mit dem Schwert machte. Wahrscheinlich hielt oder berührte er das Schwert, das als krafterfüllt im Falle des Meineides die Rache üben und den Frevler vernichten sollte. Der Eid beim Schwert war auch den Awaren und den alten Germanen bekannt. Der Khagan der Awaren Baian schwörte bei seinem eigenen Schwert: “Wenn er die Brücke über die Sawa gegen die Rhomäer erbauen wolle, so solle er und das ganze Volk der Awaren durch das Schwert vernichtet werden, der Himmel dort oben und der Gott, der im Himmel ist, Feuer auf sie regnen, die umgebenden Berg und Wald auf sie herabstürzen und die über die Ufer tretende Sawa sie verschlingen” [115]. Das Schwert war wohl ein Gegenstand des Kultes [116]. Der Eid beim Schwert wurde, wie aus der 67. Antwort zu entnehmen ist, im täglichen Leben praktiziert.

 

Der Eid, den die Bulgaren beim Friedenschliessen leisteten, war anderer Art und viel komplizierter. Über ihn berichten zwei byzantinische Quellen.

 

 

112. Responsa 67: Perhibetis vos consuetudinem habuisse, quotienscumque aliquem iureiurando pro qualibet re disponebatis obligare, spatham in medium affere, et per eam iuramentum agebatur.

113. Bei den Siebenbürger Sachsen wurde der Schwur bei in die Erde gestossenem Schwerte geleistet, s. Wörterbuch der deutschen Volkskunde 148 und 653.

114. G.I. Kacarov, Kletvata u ezičeskite bălgari, in: SpBAN, III (1912), 113-120; allgemein: R. Lasch, Der Eid, Thurnwald, Eid, in: Eberts Reallexikon III 38; Pfister, Kultus in: RE XI, 2170 f.; derselbe, Eid in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens II, 659 f.: E. Samter, Volkskunde 31-40; J. Trifonov, Kăm văprosa za vizantijsko-bălgarski dogovori, in: IBAI XI (1937) 263-282

115. Menander EL. 473

116. Nilsson, Geschichte I 208

 

376

 

 

Laut ihrer Nachrichten vollzog der byzantinische Kaiser Leon V. die bulgarischen Eidesriten beim Abschluss des 30-jährigen Friedensvertrages und die Bulgaren vollzogen die byzantinischen, d.h. christlichen. Nach Vita Nicephori [117] hat der Kaiser Wasser aus einem Becher auf die Erde gegossen, Pferdesättel eigenhändig umgeworfen, sowie Gras in die Höhe gehoben und durch alle diese Handlungen sich selbst verflucht. Nach Theophanes Continuatus [118] hat der byzantinische Kaiser Hunde geschlachtet und sie als Aufseher und Zeugen der Besprochenen und Verhandelten gebraucht. Er hat auch nicht verabscheut, das zur Bestätigung im Munde zu führen bzw. auszusprechen, wovon jene beseelt sind. Auf den ersten Blick scheint es, dass die beiden Berichte von verschiedenen Sachen sprechen und sich deshalb nicht auf das gleiche Ereignis beziehen. Bei näherer Betrachtung der darin enthaltenen Angaben stellt es sich jedoch heraus, dass sie verschiedene Momente der Eidesleistung mitteilen und sich daher gegenseitigt ergänzen. Jeder Eid ist im Grunde eine magische Handlung, deren Wirkung der Schwörende gegen sich selbst herbeiwünscht für den Fall, dass er falsch geschworen habe [119]. Der Verfasser des ersten Berichtes bemerkt ausdrücklich, dass der Kaiser durch die beschriebenen Handlungen sich selbst verflucht (διὰ πάντων τούτων ἑαυτὸν ἐπαρώμενον). Alle Handlungen hatten also diesen Sinn. Das Ausgiessen des Wassers auf die Erde kann als Libation gedeutet werden, die den Türkvölkern nicht unbekannt war [120].

 

 

117. Niceph. ed. de Boor, 207, 2-6:

 

ἐν αἷς ἦν ὁρᾷν τὸν βασιλέα Ῥωμαίων χερσὶν ἐχ κύλικος ὕδωρ κατὰ γῆς ἐπιλείβοντα, ἐπισάγματα ἵππων αὐτουργῶς ἀναστρέφοντα, ἱμάντων ἐντρίτων ἁπτόμενον, καὶ χόρτον εἰς ὕψος αἵροντα καὶ διὰ πάντων τούτων ἑαυτὸν ἐπαρώμενον.

 

118. Theoph. Cent. rec. J. Bekker, 31:

 

... ἀλλ’ οἶά τις ψυχὴ βάρβαρος θεοσεβείας ἀπῳκισμένη κύνας μέν, καὶ οἷς τὰ ἄνομα ἔθνη θύουσι, ἐχρῆτο μάρτυσι τῶν πραττομένων καὶ ἀπέτεμνεν καὶ διὰ στόματος ἄγειν οὐκ ἐμυσάττετο εἰς βεβαίωσιν, οἷς ἐκεῖνοι ἐμφορούμενοι...

 

119. Lasch, Der Eid 4 f.; 10 f.; 27 f.; Nilssort, Geschichte I 46-47; 139-142

120. Vambéry, Cultur 244; derselbe, Das Türkenvolk 118 f.; 482 f.; Ursprung 358 f. Bei den Ch’i-tan “Wine offerings were generously poured upon the ground as if the gods were capable of enjoying frequent and heavy potations (Liao 215 und 278). - Über Wasserspenden s. Nilsson, Geschichte 148 und 180

 

377

 

 

Es ist jedoch wahrscheinlicher anzunehmen, da es sich um Selbstverfluchung handelt, dass das Wasserausgiessen auf die Erde die Bedeutung hatte: das Blut des Schwörenden solle so auf die Erde fliessen wie das Wassers wenn er den Eid bräche [121]. Das Umwenden der Pferdesättel hatte wohl auch eine magische Bedeutung: der Kaiser solle kein Pferd mehr reiten oder tödlich vom Sattel fallen, wenn er einen Meineid geschworen habe [122]. Die Berührung der dreifachen Riemen lässt mehrere Deutungen zu. Es ist zunächst nicht klar, ob es sich um drei einzelne oder um drei geflochtene Riemen handelt. Es könnten dreifache Peitschen, Bogensehnen, Gürtel, Lassos, Zäume u. dgl. sein, durch die sich der Kaiser dem Tode weihte, wenn er falsch geschworen habe. Das In-die-Höhe-Heben des Grases lässt sich ebenfalls nicht sicher deuten. Das Gras und der Halm spielen bekanntlich [123] eine Rolle bei der Eidesleistung in den deutschen Rechtsgebräuchen. Bei den Siebenbürger Sachsen wurde der Eid bei einem Grenzstreit bis gegen 1500 mit einem Rasenstück auf dem Haupt, barfuss und mit gelöstem Gürtel geleistet. Der nordische Blutsbruderschwur geschah “unter dem Rasen”, d.h. unter hochgehobener, grasbewachsener Erde [124]. Man glaubte in Tirol, dass auf dem Platz, den ein Meineidiger betreten hatte, kein Gras mehr wüchse, in anderen Orten jedoch, dass auf diesem Platz das Gras verdorte [125]. Welche Bedeutung das Gras in unserem Fall hatte, entzieht sich unserem Wissen. Das Heben des Grases bedeutet vielleicht: Wenn der Kaiser seinem Eid bräche, solle über seinem Grab Gras wachsen, d.h. er solle vergessen werden. Wie dem auch sei, alle obigen magischen Handlungen waren eine Art Schadenzauber, der den Kaiser selbst bei Meineid treffen sollte.

 

 

121. Nilsson, Geschichte I, 139

122. Bei den Hunnen der vorchristlichen Zeit und den Ch’i-tan war der Sattel einer der Gegenstände, durch die man Freundschaft schloss, s. De Groot, Die Hunnen 216 und Liao 258 (und 239 mit Anm. 9)

123. s. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. III s.v. Gras und Halm.

124. s. Wörterbuch der deutschen Volkskunde 148 s.v. Eid

125. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens III, 1116

 

378

 

 

In dem ersten Bericht fehlen jedoch zwei wichtige Elemente des Eides: 1. Das Schwören bei einer Gottheit oder einem krafterfüllten Gegenstand, die man als Zeugen oder Bürgen des Schwörenden anruft und die den Meineidigen bestrafen sollen, und 2. Das Darbringen eines blutigen Opfers, das bei einem so wichtigen Akt wie einem Friedensschluss kaum fehlen dürfte [126]. Nach dem zweiten Bericht hat der Kaiser Flunde als Zeugen und Aufseher des Vertrages angerufen, denen die Bulgaren auch zu opfern pflegten. Ob dabei andere Gottheiten angerufen wurden, teilt die Quelle nicht. Die Türkvölker schwuren gewöhnlich beim Himmel und Himmelsgott, wie folgende Nachricht über die Eidesleistung der vorchristlichen Hunnen zeigt: “Sollte Han oder Hung-no es wagen, der erste zu sein, der diesen Vertrag bricht, dann soll alles Unheil des Himmels ihn treffen. Die Nachkommen aller Geschlechter sollen also ausnahmslos diesen Eid halten. Han Tsang und Tsang Mung bestiegen dann zusammen mit dem Tan-hu und seinen Ministern einen Berg im Osten des Hung-no-schen Lokflusses: dort schlachteten sie einen Schimmel; mit einem King-lu-Messer und mit einem kim-liu-lirührte der Tan-hu den Wein, und den Kopf des Königs von Goat-si, den der Tan-hu Lo-sang abgeschlagen hatte, als Trinkgefäss verwendend, tranken sie zusammen den Blüteid.” [127] Der Awarenkhagan Baian schwur auch beim Himmel (s. oben). Man darf mit grosser Wahrscheinlichkeit annehmen, dass auch die Bulgaren den Himmelsgott Tangra angerufen haben. In einer protobulgarischen Inschrift wird Gott, unter dem die Protobulgaren wohl Tangra verstanden, ausdrücklich als Aufseher der Wahrheit erwähnt: Ἤ [τη]ς τὴν ἀλήθηαν γυρεύη, ὁ Θεὸς θεορῖ κέ, ἢ τῆς ψεύδετε, ὁ Θεὸς θεορῖ (Nr. 14, 37-39).

 

Die Hunde, denen nur manche Bulgaren opferten (s. hier S. 364), wurden nicht nur als Zeugen und Aufseher des Verabredeten angerufen, sondern auch als Tieropfer geschlachtet. Nach der primitiven Auffassung [128] kann ein krafterfülltes Wesen gleichzeitig Objekt der Verehrung und des Opfers sein.

 

 

126. Lasch, Der Eid 13 und 17

127. De Groot, Die Hunnen 223

128. E. Lehmann in Religionsgeschichte 1 90-91

 

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Das Opfern von Hunden kommt in der Eidesleistung bei vielen Völkern wie Hunnen, Ungarn und anderen [129] vor. Beim Schliessen des byzantinisch-petschenegischen Vertrages (917) wurden Hunde neben Rindern und Schafen geopfert, wobei nach Nikolaos dem Patriarchen [130], der darüber berichtet, der Schwörende sprach: “So solle ich zerschnitten werden [131], so solle sich mein Blut ergiessen”. Der Patriarch warnte jedoch davor, dass man diese Worte nicht als bedeutungslos auffassen dürfe. Sie hätten einen tieferen, mystischen Sinn.

 

Die beiden Berichte über den bulgarischen Friedenseid ergänzen sich gegenseitig. Der Verfasser der Vita Nicephori, der zukünftige Patriarch Ignatios, hat nur die Riten erwähnt, die nicht so frevelhaft und gottlos erscheinen, Theophanes Continuatus dagegen diejenige, die den verhassten Kaiser als völlig gottlos und bar jeder Gottesfurcht brandmarken sollten (Περ'ι δὲ τὴν πάναν ἐμαίνετο κραταιώς, τοσοϋτον ὡς μηδέ -θεόν όνομάζεεν εδόκει τουτω καλόν).

 

 

   k. Der Schamanismus

 

Der arabische Schriftsteller Pseudo-Masudi [132] berichtet: “Les Bordjâns (die Protobulgaren) sont de la réligion des Mages”. Mit “Mages” sind wohl die sog. Schamanen (türk. kam) der altaischen Völker gemeint, die als Vermittler zwischen den Menschen und den übernatürlichen Mächten galten. Sie konnten aus sich heraustreten, in Ekstase bzw. Trancezustand geraten und besessen sein. In diesem Zustand, den sie durch Beschwörungen, Singen, Tanzen, Springen und dgl. erreichten,

 

 

129. Lasch, Der Eid, 30 f.; 51, 84 f.; Liao 216 und 271 mit Anm. 166; über das Hundeopfer s. noch H. Scholz, Der Hund in der griechisch-römische Magie und Religion, Diss. Berlin 1937, 12; Nilsson, Geschichte 95

130. Migne, PG 111, 264, Hierzu V. Grumel, Sur les coutumes des anciens Bulgares dans la conclusion des traités, in: IBID XIV-XV (1937) 82 ff.

131. Vgl. Liv. I 24: si prior defexit publico consilio dolo malo, tum illo die, Diespiter, populum romanum sic ferito, ut ego hune porcum hic hodie feriam

132. Bei Marquart, Streifzüge 205

 

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konnten sie heilen, prophezeien, Ratschläge geben, Geheimnisse enthüllen, in Verbindung mit Geistern treten, Himmelreisen unternehmen und magische Handlungen ausführen. Die Schamanen hatten eine besondere Tracht, angefertigt aus Fell oder Stoff, mit verschiedenartigen Zierden, Darstellungen, Amuletten und dgl. geschmückt oder behängt. Sie trugen auf dem Kopf eine besondere Haube aus Leder, ein Stirnband oder einen Kopfschmuck in Gestalt einer Krone aus Metall mit Hirschgeweih. Sie hatten auch noch Masken aus Leder, Holz oder Metall gemacht und einen Stab. Das wichtigste Attribut war jedoch eine grosse, flache Trommel, die das Weltall symbolisierte. Sie wurde mit verschiedenen symbolischen Figuren der Sonne, der Sterne, Bäume, Tiere und Menschen verziert [133]. Eine wage Andeutung vom Vorhandensein der Schamanen und ihrem Trancezustand enthalten folgende Worte des Patriarchen Photios in seiner Epistel an die Patriarchen im Osten:... Βουλγάρων ἔθνος βαρβαρικόν... τῶν δαιμόνιων καὶ πατρώων ἐκστάντες ὀργίων [134].

 

Der Schamanismus ist bei den Hunnen [135], Türken [136], Awaren [137], Ch’i-tan [138], Mongolen [139] und vielen anderen Völkern bezeugt. Mit dem Schamanismus steht wahrscheinlich die Nachricht des Liudprands über Baian, den Sohn des Zaren Symeon, in Zusammenhang, wonach jener sich in einen Wolf oder ein andres Tier verwandeln konnte [140].

 

 

133. Zu der allgemeinen Literatur noch: A. Kollautz, Frühes Schamanentum; H. Miyakawa und A. Kollautz, Vorgeschichte 161-193; Vambéry, Cultur 246 ff. und Das Türkenvolk 116 ff.; Harva, Vorstellungen 449-561; Togan IF 276-277; Liao 17; 216-218; 258; 308; 442; A.F. Anisimov, Religija evenkov, Moskva 1958, 127-234 Nilsson, Geschichte I, 54-56; 616-618

134. Migne, PG 102. 724B

135. Malalas 432,10; Kollautz-Miyakawa, Awaren I, 46-49

136. Menandros EL 192, 31-193, 7; Theophyl. Sim. 260, 16-17

137. A. Kollautz, Schamanismus, 285-295; Kollautz-Miyakawa, Awaren I 34-38 und passim; II passim

138. Liao 17; 216 f.; 258; 267 f.

139. Grousset. L’empire 250, Vladimirtsov, Chingis-Khan 4; 77

140. Liudprandi Antapodosis III 29: Oui ( = Symeon) duos filios habuit, nimm nomine Baianum, alterum, qui nunc usque superest potenterque Bulgaris principatur, nomine Petrum. Baianum autem adeo foere magicam didicisse, ex homine subito fieri lupum quamvecumque cerneres feream. Hierzu K.M. Menges, Igor’Tale 16

 

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Baian, der seinen christlichen Namen Benjamin ablegte und ostentativ die bulgarische Tracht trug [141], war offenbar ein Anhänger des alten bulgarischen Glaubens. Er hat sich wohl als Wolf oder ein anderes Tier verkleidet um dadurch grössere Zaubermacht zu erlangen [142].

 

Die Schamanen spielten eine wichtige Rolle in den Kriegszügen der Protobulgaren, wie man aus folgendem schliessen darf. Bei den Bulgaren galten manche Tage als unglücklich. An solchen Tagen durften keine Kriege und Reisen begonnen werden. Die Bulgaren haben daher dem Papst Nikolaus I. laut der Antworten 34, 35, und 36 die Frage gestellt, ob sie bestimmte Tage und Stunden beachten müssten, wenn sie zum Kampf ausziehen oder eine Reise unternehmen wollten [143]. Die Tage und die Stunden sind nach dem Glauben der Naturvölker mit guten und bösen übernatürlichen Mächten oder Geistern erfüllt, wie die Gegenstände von denen der Erfolg jeder Unternehmung hing. Eine Angelegenheit endet glücklich, wenn sie an guten Tagen und Stunden begonnen wird, die oft in Beziehung zu den Himmelskörpern stehen [144]. Unter allen Gestirnen hatte der Mondwechsel die grösste Bedeutung. Die Hunnen der vorchristlichen Zeit beachteten für ihre Kriegszüge folgende Regel:

 

 

141. Theoph. Cont. 412, 2

142. Fr. Pfister, Schwäbische Volksbräuche 16; Miyakawa-Kollautz, Vorgeschichte 165; Findeisen Schamanentum 89; 199; Lommel, Die Welt 68-69; 112; 131-132; 135-136; 163

143. Responsa 34: Praeterea consulitis, si debeatis, quando nuntius venerit, ut ad proeliandum pergatur, mox proficisci an sit aliqua dies, in qua non oporteat ad proeliandum exire. 35: Refertis, quod soliti fueritis, quando in proelium progrediebamini, dies et horas observare et incantationes et ioca et carmina et nonnulla auguria exercere... 36: Si die dominico vel ceteris festis diebus, quando necessitas urguet, liceat ambulare vel ad bellandum procedere.

144. R. Andree, Ethnographische Parallelen und Vergleiche, Stuttgart 1878, 1 ff. Pfister, RE XI 2149 ff.; Stemplinger, Aberglaube 113-117 und Volksmedizin 111-112; Miyakawa-Kolautz, Vorgeschichte 182

 

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 “Bei Vollmond oder bei zunehmendem Mond wird angegriffen oder gekämpft, bei abnehmendem Mond aber zieht man die Streitmacht zurück” [145].

 

Die 35. Antwort teilt noch mit, dass die Bulgaren vor einem Krieg manche Wahrzeichen zu beobachten pflegten [146]. Es wird jedoch nicht gesagt, welche diese Wahrzeichen waren. Der Gotenhistoriker Jordanes berichtet, dass Attila vor der bekannten Schlacht auf den Katalaunischen Feldern von den Wahrsagern ( = Schamanen) verlangte, dass sie die Zukunft erforschten. Jene beobachteten nach ihrer Sitte bald die Eingeweide von Tieren, bald die Linien auf abgeschabten Knochen und prophezeiten den Hunnen Unglück [147]. Die Mantik, weissagen, aus den Sprüngen und Rissen von Schafsschulterblättern wurde auch bei den Ch’i-tan von den gewöhnlichen Schamanen praktiziert. Ihre Truppen rückten nur bei einem guten Augurium aus [148]. Diese Art des Wahrsagens war bei den altaischen Völkern weit verbreitet [149]. Man darf daher annehmen, dass sie auch von den Protobulgaren praktiziert wurde.

 

Die 35. Antwort berichtet ferner, dass die Protobulgaren vor einem Kampf ausser die Tage, Stunden und Wahrzeichen zu beobachten, auch noch Zaubersprüche herzusagen pflegten, dass sie spielten und sangen (incantationes et joca et carmina), d.h. magische Handlungen ausführten, die dem Schamanismus eigen sind. Durch die Spiele, Tänze und Gesänge wurde die Kraft der Krieger erhöht [150].

 

 

145. De Groot, Die Hunnen 60-61; vgl. Stemplinger, Volksmedizin 110

146. Responsa 35: ... nonnulla auguria exercere...

147. Jordanis Getica 108, 20-24

148. Liao 216 und Anm. 348; 268 Anm. 139; Kollautz-Miyakawa, Awaren 1 87

149. Vambéry, Cultur 251; derselbe Türkenvolk 128 f. und Ursprung 29; Kollautz-Miyakawa, Awaren I 34; Findeisen, Schamanentum 138 mit Anm. 28 (S. 228)

150. Religionsgeschichte 1 49; 93; 162; II 423 f.; Pfister, Epode in RE Suppl. IV 323 f; derselbe, Kultus in RE XI 2160 f. und Religion 203; Samter, Volkskunde 69-74; Nilsson, Primitive Religion 80-84 und Geschichte I, 160 161; Mikyakawa-Kollautz, Vorgeschichte 182; Kollautz-Miyakawa, Awaren I 35-36; Lommel, Die Welt 21; 67; 131

 

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Aus dem Inhalt der 35. Antwort geht unverkennbar hervor, dass der Schamanismus auch bei den Protobulgaren existierte. Die Bulgaren gaben sich nach der 47. Antwort auch sonst den Spielen d.h. den sakralen Tänzen, hin was der Papst streng verboten hatte [151].

 

Die in der 35. Antwort erwähnten Zauberhandlungen vor dem Kampf werden durch den Bericht des byzantinischen Chronisten Johannes Zonaras bestätigt, wonach im Jahre 519 die pannonischen Bulgaren den Byzantinern eine vernichtende Niederlage beibrachten, da sie Zaubersprüche und magische Handlungen gebrauchten (s. hier S. 81). Nach Johannes von Antiochia [152] riefen die Hunnen, die der Rebelle Vitalian mit sich führte und unter denen sich auch Bulgaren befanden, durch Zaubereien eine so grosse Dunkelheit (wohl die Sonnenfinsternis im Jahre 514) hervor, die den byzantinischen Truppen die Augen mit Dunkelheit überzog, so dass sie in abschüssige Abgründe gerieten und dort umkamen [153].

 

Die Ausübung der magischen Handlungen und des Wahrsagens, von denen der Kriegserfolg abhing, lag ohne Zweifel den Schamanen ob [154], die daher die Kriegstruppen begleiteten. Sie übten sozusagen die magische Führung aus. Die protobulgarische Inschrift Nr. 14 teilt mit, dass der Bulgarenkhan Persian dem Kapkhan Isbul, der mit Kriegstruppen in das ägäische Gebiet auszog, ausser der Militärmacht und dem ičirgu boilas noch den kana boila kolobros mitgegeben hat.

 

 

151. Responsa 47: Consulitis, si liceat in quadragesimali tempore iocis vacare.

152. Johannes Antiocheus, Frg. 103 (Excerpta de insidiis ed. de Boor, Berolini 1905, 145)

153. Weitere Beispiele bei Kollautz, Schamanismus 288-289 und Franken 236-237. S. auch Suidas Lexikon ed. A. Adler 2, 112, 14-17 frg. 21 s.v. Διοπτῆρες ... καταχεσμένου τοῦ ἐξ ἐπιτεχνήσεως ὄμβρου τῶν Ἀβάρων καὶ συννεφοῦς ὄντος τοῦ ἀέρος καὶ ἐσέτι σκοτώδους, οὐχ οἷοί τε ἐγένοντο οἱ διοπτῆρες διαγνῶναι ἐπιόντας τοὺς δυσμενεῖς.

154. Liao 218: “In 980, while war was being waged against Sung China, shamans were ordered to “worship” Heaven and Earth and the god of War, a function normally performed by the emperor. Evidently in a military crisis the power of the Ch’i-tan shamans gave added hope of military sueccss”.

 

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Der protobulgarische Kolobros ist schon längst von W. Tomaschek mit dem osm. türk. qolobur “Wegweiser, Führer” zusammengestellt (s. hier S. 351), zu dem auch das awar. Βοοκολαβρᾶς gehört. Der bulgarische Kolobros war in der erwähnten Inschrift nicht ein gewöhnlicher Militärführer, sondern wie das angeführte awarische Wort zeigt, ein magischer oder religiöser Wegweiser oder Führer, der die in der 35. Antwort genannten magischen oder Zauberriten leitete bzw. ausführte.

 

Bei besonders wichtigen oder feierlichen Fällen trat der Herrscher selbst als Hauptpriester bzw. -zauberer auf [155], der das Opfern vollbrachte. Den gleichen Brauch hatten auch die Bulgaren, wie die Berichte der beiden byzantinischen Chronisten Theophanes [156] und Scriptor Incertus [157] über die Belagerung Konstantinopels von Krum 813 (s. hier S. 254 f.) zeigen. Beide Berichte ergänzen sich gegenseitig. Als der Bulgarenkhan Krum die Hauptstadt erreichte, “ging er vor den Mauern von den Blachernen bis auf das Goldene Tor umher, indem er seine Macht sehen Hess. Er brachte verruchte und teuflische Opfer auf der Wiese des Goldenen Tores am Meere dar und verlangte vom Kaiser seinen Speer an das Goldene Tor selbst aufzuspiessen.

 

 

155. ebenda 216; Kollautz-Miyakawa, Awaren I, 34-35; 46-47; 70;

156. Theophan. 503, 7-14:

 

περιῄιει πρὸ τῶν τειχῶν ἀπὸ Βλαχερνῶν ἕως τῆς Χρυσῆς πόρτης ἐπιδεικνύμενος τὴν περὶ αὐτὸν δύναμιν, (καὶ) ἐπιτελέσας μιαρὰς καὶ δαιμονιώδεις θυσίας ἐν τῷ πρὸς θάλασσαν λεβαδίῳ τῆς Χρυσῆς πόρτης ᾐτήσατο τῷ βασιλεῖ πῆξαι τὸ δόρυ αὐτοῦ κατ’ αὐτῆς τῆς Χρυσῆς πόρτης, τοῦ δὲ τοῦτο μὴ καταδεξαμένου, ὑπέστρεψεν εἰς τὴν ἰδίαν σκηνήν.

 

157. Scriptor incertus 342, 1-15:

 

καὶ λοιπὸν ἦλθον οἱ Βούλγαροι μηδενὸς αὐτοῖς ὑπαντῶντος ἢ κωλύοντος ἕως τῆς πόρτης καὶ ποιήσας ὁ Κροῦμμος θυσίαν κατὰ τὸ ἔθος αὐτοῦ ἔξωθεν τῆς Χρυσῆς πόρτης ἔθυσεν ἀνθρώπους καὶ κτήνη πολλά. καὶ εἰς τὸν αἰγιαλὸν τῆς θαλάσσης βρέξας τοὺς πόδας αὐτοῦ καὶ περικλυσάμενος καὶ ῥαντίσας τὸν λαὸν αὐτοῦ, καὶ εὐφημισθεὶς ὑπ’ αὐτῶν, διῆλθεν μέσον τῶν παλλακίδων αὐτοῦ, προσκυνηθεὶς ὑ’ αὐτῶν καὶ δοξασθείς, καὶ ταῦτα θεωρούντων ἐκ τῶν τειχῶν πάντων, καὶ μηδενὸς τολμῶντος κωλῦσαι αὐτὸν ἢ ἀπολῦσαι βέλος κατ’ αὐτοῦ. καὶ ποιήσας πάντα τὰ ἐπιθυμήματα αὐτοῦ καὶ ἅπερ ἐβούλετο, περιεκύκλωσεν τὴν πόλιν, καὶ ἔβαλεν χάρακα ἐν αὐτῇ, καὶ ποιήσας ἡμέρας τινὰς καὶ πραιδεύαας τὰ ἔξωθεν τῆς πόλεως, ἤρξατο ζητεῖν πάκτα χρυσίου καὶ ἱματισμῶν πολὺν ἀριθμόν, καὶ κοράσια ἐπίλεκτα ποσότητα τινά.

 

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Das wurde ihm jedoch nicht gestattet, und er kehrte in sein Zelt zurück”. So lautet der Bericht des Theophanes. Das gleiche Ereignis wird etwas vollständiger von dem unbekannten Autoren des zweiten Berichtes erzählt: “Krum opferte Menschen und viele Tiere nach seinem Brauch ausserhalb des Goldenes Tores. An der Meeresküste benetzte er seine Füsse, bespülte sich und besprengte sein Heer. Von diesem bejubelt schritt er zwischen seinen Kebsfrauen hindurch, die ihn verehrten und priesen”. Auf dasselbe Ereignis bezieht sich offenbar das Fragment einer grossen protobulgarischen Inschrift, wonach Krum am oder dem Meere Opfer dargebracht hat [158].

 

Durch das Einschliessen der Stadt in einen Kreis (eigentlich Halbkreis) wollte man ihre Bewohner in die Gewalt bekommen oder ihren Widerstand brechen [159]. Die Menschen, sicherlich Kriegsgefangene [160], und die Tiere wurden wohl dem Himmel, der Erde und vielleicht dem Kriegsgott oder dem Meer geopfert [161]. Die Opfertiere waren wahrscheinlich Pferde, Ochsen und Schafe [162]. Die Reinigung durch das Meereswasser, dem man eine besonders starke Reinigungskraft zuschrieb [163],

 

 

158. Beševliev PI Nr. 3 b

159. Kreis in Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 462 ff. mit Lit.: “Oft wird die Gewalt über das im Kreis Eingeschlossene dazu benutzt, dieses darin festzubannen, zumal wenn es sich um eine gefährliche Macht handelt, die auf diese Weise ungefährlich gemacht werden soll. Beschworene Geister werden in einen Kreis gebannt, damit sie dem Beschwörer nicht schaden können... Durch Einschliessen in einen Kreis bekommt man das Eingeschlossene in seine Gewalt. Schon uralter Rechtsbrauch kennt Besitzergreifung eines Landstückes durch Umkreisung desselben.” Wörterbuch der deutschen Volkskunde 419 s.v. Kreis mit Lit.; M.P. Nilsson, Arch. Jahrb. 31 (1916), 319 f.; derselbe, Geschichte 113-114; W. Rax in “Wörter und Sachen 28 (1937), 28 ff.

160. Liao 268 und Anm. 141

161. ebenda            162. ebenda

163. Samter, Volkskunde 54, über die Reinigung s. J. Scheftelowitz, Die Sündentilgung durch Wasser, in: Arch. f. Religionswissenschft, XVII (1914). 353 ff.; Pfister, Kultus RE XI, 2178 ff. Reinigung in; Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. IV, 1847-1848; Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens V, 1465 ff. s.v. Lustratio; VI, 67 fl. s.v. Meer; Nilsson, Geschichte I, 101-103; s. auch Liao 272

 

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sollte zweifelsohne jegliche Befleckung der bulgarischen Krieger tilgen.

 

Das Aufspiessen des Speeres in das Goldene Tor hatte gleichfalls magische Bedeutung. Der Speer war wohl ein Abzeichen der Herrschersgewalt bei den Protobulgaren, wie der Bogen und die Pfeile bei manchen asiatischen Völkern [164], und galt als krafterfüllt und zauberhaft. Sein Einschlagen in einen Gegenstand machte denselben zum Eigentum des Speerbesitzers [165] oder brachte ihn unter dessen Gewalt. Es entsprach wohl dem Schiessen der Teufelspfeile (devil arrows) bei Ch’i-tan [166]. In den schamanistischen Praktiken spielte der Pfeil eine wichtige Rolle [167]. Durch das Festsstecken des Speeres an das Haupttor Konstantinopels wollte Krum offenbar der ganzen Stadt Schaden zufügen (pars pro toto) [168] oder sie symbolisch in Besitz nehmen.

 

 

164. J. Harmatta, The Golden Bow, 107-151, besonders 127 ff.

165. So bereits Joh. Chr. von Engel, Fortsetzung der Algemeinen Welthistorie der Neuren Zeiten, 31 Teil, Halle 1797, 327: “wahrscheinlich ein Bulgarische Zeichen von Eigenthumsrecht”. Diodor (XVII 17, 2 = ed. C. Th. Fischer, vol. IV. p. 166, 20-25) berichtet über Alexander den Grossen folgendes:

 

αὐτὸς ( = Ἀλέξανδρος) δὲ μακραῖς ναυσὶν ἐξήκοντα καταπλεύσας πρὸς τὴν Τρῳάδα χώραν πρῶτος τῶν Μακεδόνων ἀπὸ τῆς νεὼς ἠκόντισε μὲν τὸ δόρυ, πήξας δ’ εἰς τὴν γῆν καὶ αὐτὸς ἀπὸ νεὼς ἀφαλλόμενος παρὰ τῶν θεῶν ἀπεφαίνετο τὴν Ἀσίαν δέχεσθαι δορίκτητον.

 

Hier könnte es sich um eine von dem Berichterstatter missverstandene Zauberhandlung handeln. H. Zeissberg, Hieb und Wurf als Rechtssymbole in der Sage. Beitrag zur vergleichenden Sagenforschung, in: Pfeiffers Germania N.R. 1 (13), 1868, 401-444; D. Cizevskijy, Der magische Speerwurf, in: Aus z wei Welten. Beiträge zur Geschichte der slawischen-westlichen Beziehungen, Den Haag 1956, 17-28; W. Schmitthenner, Über eine Formveränderung der Monarchie seit Alexander d. Gr., in: Saeculum 19 (1968) 32-37 und besonders Anm. 11 auf S. 33. F. Kanitz, Donau-Bulgarien und der Balkan I, Leipzig, 1875, 315: “Nach patriarchalischem Brauche steckten die Häuptlinge (der Ischerkessen) ihre Schwerter in den Boden und dachten in dieser Weise denselben in Besitz nehmen zu können.”

 

166. Liao 216; 240; 268 mit Anm. 141 und 414. Samter, Volkskunde 70 f.: “An der Torresstrasse hält der Zauberer einen Speer in die Richtung auf sein Opfer und singt: 'In den Leib, geh, geh! In die Hände, geh, geh, geh! In den Kopf, geh, geh!’” Ähnliches Ammian. Marcel. 19, 2, 6 bei den Hunnen.

167. Kollautz, Schamanismus 291

168. K Andree, Ethnographische Parallelen und Vergleiche. Neue Folge, Leipzig 1889, 8 ff.; Frazer, Der goldene Zweig 15 ff. und 53 ff.; Thurnwald, Zauber in Eberts Reallexikon XIV 483 f.; Nilsson, Geschichte I, 51-53

 

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Alle magischen Handlungen vor Konstantinopel wurden von dem Bulgarenkhan Krum ausgeführt. Er war also gleichzeitig Herrscher und Oberpriester [169]. Beide Funktionen erfüllte auch sein Sohn Omurtag. Er pflegte laut den Nachrichten des Theophylaktos von Achrida [170] und einer protobulgarischen Inschrift (Nr. 6) auch in manchen wichtigen Angelegenheiten Opfer darzubringen.

 

 

   l. Der Totenkult

 

Die Protobulgaren glaubten wie viele andere Völker, dass die Toten nach ihrem Tode weiterlebten. Ihre Leichen sind immer noch mit Leben erfüllt und ihr unvergänglicher Teil verwandelt sich in einen Geist [171]. Die Welt ist daher mit unzähligen Geistern erfüllt, die gut oder böse sein können. Als besonders schädliche Toten galten bei vielen Völkern die Selbstmörder [172]. Ihre Leichen wurden irgendwo abgesondert, ohne Ritual und Grabschrift begraben oder einfach weggeworfen [173]. Man nahm dabei besondere Massnahmen, um sie an der Wiederkehr zu hindern. Die Hinterbliebenen versuchten sie durch Opfer zu besänftigen. Daher fragten die Bulgaren nach der 98. Antwort des Papstes Nikolaus L, ob die Selbstmörder begraben und, wenn sie begraben wurden, ob für sie geopfert werden musste [174].

 

Aber auch die Geister derjenigen, die eines natürlichen Todes gestorben waren, konnten schädlich sein.

 

 

169. Kollautz-Miyakawa, Awaren I 46 f.

170. Migne PG 126, col. 29: (Ὀμβριτάγος) λαμπρὰν τινα θυσίαν ἐπιτέλεσας...

171. Nilsson, Geschichte I, 182-184

172. R. Hirzel, Der Selbstmord, in: Arch. f. Rel. Wiss. XI (1908), 75; 243 und 417; Samter, Volkskunde 122-123; Pfister, Schwäbische Volksbräuche 76-77

173. Hirzel, Der Selbstmord 264 f.

174. Responsa 98: Si sit sepeliendus, qui se ipsum occidit vel si sit pro eo sacrificium offerendum, requiritis.

 

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Man musste Massnahmen ergreifen, damit sie nicht wieder zurückkehrten und Schaden anrichteten. Man verstümmelte daher die Leiche oder schnürte sie zusammen [175]. Diese sehr alte und weitverbreitete Sitte spiegelt sich in manchen Gräbern der bisher ausgegrabenen protobulgarischen Nekropole wieder. Die zusammengeschnürten Leichen, die sog. Hocker, sind in den Nekropolen bei Novi Pazar [176] und Devnja (Nr. 3) [177] gefunden. In zwei Gräbern bei Novi Pazar waren nur die Beine zusammengebunden [178]. In den Nekropolen Nr. 2 bei Devnja wurden die Fusssohlen mancher Leichen abgeschnitten und weggeworfen oder zwischen die Beine gelegt [179]. Der Schädel einer Leiche war an der Stirn durchbohrt. Er wurde wohl auf diese Weise festgenagelt. In manchen Gräbern lagen die Knochen vorwiegend kleiner Kinder durcheinander. Die Leichen wurden wohl vor dem Begräbnis zerstückelt [180]. In anderen Gräbern lagen grosse Steine auf dem Brustkorb, dem Schädel oder den Beinen [181] der Begrabenen. Alle diese Massnahmen sollten verhindern, dass der Tote aus dem Grab herauskam und den überlebenden Schaden zufügte. Aus den Begräbnisgebräuchen und dem Gräberinventar lässt sich entnehmen, dass die Protobulgaren an das Jenseits glaubten (s. hier S. 405).

 

 

   m. Der Mythos

 

Der Mythos ist bekanntlich ein wichtiger Bestandteil der Religion [182], der ohne Zweifel auch in der Religion der Protobulgaren vorhanden war.

 

 

175. Pfister, Religion 37; 143; Samter, Volkskunde 180-181; Kollautz-Miyakawa, Awaren II, 147-152; 352

176. Stančev, Novi pazar 31-32

177. D. Il. Dimitrov, Nekropol Nr. 3, 50

178. Stančev, Novi pazar 32

179. D. Il. Dimitrov, Nekropol Nr. 2, 31-33

180. ebenda 32, vgl. Kollautz-Miyakawa, Awaren II 159

181. ebenda 32-33

182. Lehmann in Religionsgeschichte I, 100-101; Ankermann ebenda 188-190; Nilsson, Primitive Religion 104-122; Pfister, Religion 146-151

 

389

 

 

Er erzählte von der Entstehung der Welt und der Götter, der Herkunft des eigenen Volkes und seiner ältesten Herrscher sowie Helden usw. Spuren von solchen Erzählungen bei den Protobulgaren sind nur in der Fürstenliste und wohl in der anonymen bulgarischen Chronik aus dem 11. Jh. erhalten (s. hier S. 481-504). Das Lebender ersten bulgarischen Herrscher Avitohol und Irnik, von denen der eine 300 und der andere 150 Jahre lebten, war sicher mit vielen mythischen Erzählungen geschmückt. Davon ist nichts erhalten.

 

In einer fragmentarisch erhaltenen protobulgarischen Inschrift (Nr. 3a) ist das mythische Tierwesen Greif erwähnt. Aus dem jetzigen Kontex lässt sich nicht sicher entnehmen, in welchem Zusammenhang das Wort γρύψ gebraucht wurde. Es scheint jedoch, dass es als Vergleich gilt und zwar in dem Sinne, dass jemand sich als ein Greif auf etwas gestürzt oder sich so benommen hat. In den Sagen der Türkvölker erscheinen die Greifen als Feinde der im fernen Nordost lebenden Völker. Nach Herodot kämpften die Arimaspen ständig mit den goldhütenden Greifen [183]. Priskos erzählt, dass die Awaren von jenen Völkern verjagt wurden, die an der Küste des Ozeans lebten. Sie waren gezwungen ihre Wohnsitze wegen des Nebels und der das Menschengeschlecht mit Vernichtung bedrohenden Greifen zu verlassen [184]. Sagen über den Greif, den Todfeind des Menschengeschlechtes haben sich bei den Jukagiren erhalten [185]. Eine Anspielung auf diesen Mythos bei den Protobulgaren stellt offenbar die Erwähnung des Greifes in der protobulgarischen Inschrift dar. Nach Rhabanus Maurus [186] können die Greifen jedoch auch die Wildheit der Verfolger und den Hochmut der Übermütigen versinnbildlichen. Daher könnte sich das Wort Greif auf den Kaiser Nikephoros beziehen, dessen Namen die Inschrift auch erwähnt.

 

 

183. Gy. Moravcsik, Studia, 87

184. ebenda 86-87

185. Kollautz-Miyakawa, Awaren II, 227-229

186. Migne PL 111, 17

 

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   n. Die Abschaffung der Religion der Protobulgaren und ihr Fortleben

 

Die Religion der Protobulgaren hörte offiziell mit der Annahme des Christentums zu existieren auf. Ihre Abschaffung geschah jedoch nicht ohne Widerstand. Die Bekehrung der Bulgaren zum Christentum, die keine Folge der Überzeugung, sondern ein politischer Akt war, fand keine allgemeine Zustimmung. Viele hohe Würdenträger sprachen sich bekanntlich gegen die neue Religion aus und erhoben sich. Der Aufstand wurde jedoch unterdrückt und seine Anführer wurden grausam bestraft. Es wurden 52. Adlige samt ihren Familienangehörigen zum Tode verurteilt [187]. Nach dem Verzicht des Königs Boris auf den Thron und nach der Besteigung durch seinen älteren Sohn Vladimir loderte der Aufruhr gegen das Christentum nun unter der Führung des neuen Herrschers wieder auf. Boris verliess das Kloster, wo er sich als Mönch zurückgezogen hatte, und nahm den Kampf gegen seinen Sohn auf. Der letztere wurde besiegt und vom Thron gestürtzt. Man hat ihn grausam bestraft: er wurde geblendet und ins Gefängnis geworfen [188]. Für die breite Masse des Volkes war die Annahme des Christentums eigentlich an erster Stelle ein Ersetzen der alten Götter durch neue, kräftigere oder zu den alten Glauben und Bräuchen ein Zusatz von neuen. Das Volk glaubte weiterhin an die Kraft der Amulette, fuhr fort die geheimnisvollen Schutzzeichen einzuritzen, die heidnischen Ritten heimlich zu verrichten und an seinen von alters her überlieferten Gebräuchen zäh festzuhalten. Laut der 18. Antwort [189] nach der Bekehrung entsagten sich manche Bulgaren dem Christentum.

 

 

187. Zlatarski, Istorija I 2, 43-51; R.E. Sullivan 73-75

188. ebenda und R.E. Sullivan 76; 73

189. Responsa 18: Scire vos veile significatis, quid de his, qui legem Christianam respuunt, agere debeatis.

 

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Im Hinterland von Thessalonike gab es sogar im 10. Jh. [190] noch heidnische Bulgaren. Mit der Zeit gingen die heidnischen Gebräuche und Glauben allgemein in den Volkssitten und-bräuchen auf. In den sog. “Kukerispielen” haben sich wohl schamanistischen Züge bis in die neue Zeit erhalten.

 

 

190. V. Beševliev, Zur Frage der slavischen Einsiedlungen im Hinterland von Thessalonike im 10. Jahrhundert, in: Serta slavica in memoriam Aloisii Schmaus, München 1971, 37-41

 

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