Bomben
in Belgrad
Sankt-Veits-Tag 1921.
Die Sonne schüttet ein freundliches Morgenlicht auf Belgrad, die
Hauptstadt des Königreichs Jugoslawien. Glockengeläut und
patriotische Lieder hallen durch die Straßen der „Weißen
Stadt" an der Donau. Denn heute ist nicht nur das große
religiöse Fest aller Serben, sondern auch der 7. Jahrestag des
Attentats von Sarajewo, dem der österreichisch-ungarische
Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie zum Opfer fielen
und der den Ersten Weltkrieg auslöste.
An dieses Ereignis muß der junge elegante Mann in der Uniform
eines Gardeoffiziers denken, der am frühen Vormittag von der
königlichen Residenz durch die Straßen der Stadt zum
Gottesdienst in die orthodoxe Kathedrale fährt. Nicht nur an die
furchtbaren Folgen jener Bluttat des Studenten Princip erinnert sich
der junge Offizier, sondern auch daran, daß der Weltkrieg den
Traum aller Serben erfüllte: Das Großreich der
österreichisch-ungarischen k. u. k. Monarchie war zerbrochen und
ein großer südslawischer Einheitsstaat entstanden. Ihm, dem
33jährigen Kronprinzen Alexander, sind von der Geburtsstunde
Jugoslawiens an die Staatsgeschäfte übertragen. Schon vor
sieben Jahren hat der sieche König Peter I. von Serbien seinem
Sohn die Regentschaft überlassen müssen. Jetzt rechnen die
Ärzte täglich mit dem Ableben des greisen Monarchen.
Nur selten huscht ein Lächeln über die ernsten Züge des
Thronfolgers, als sich sein offener Wagen durch die festtäglich
gestimmte und hurrarufende Menge seiner Untertanen drängt. Nicht
nur der kritische Gesundheitszustand des Königs macht den Regenten
so ernst. Es gibt andere Sorgen: Leidenschaftliche Ansprüche
nationalistischer und separatistischer Gruppen im Vielvölkerstaat
Jugoslawien gefährden die - Einheit des Landes. Alexander regiert
mit eiserner Hand, er kennt keine Kompromisse. Und er hat nicht nur
Freunde. Auch unter dem Staatsvolk der Serben gibt es harte Widersacher
seiner Politik.
Der Wagen mit dem Thronfolger fährt durch die kurze
Dobrinjska-straße. Ein Spalier von Polizisten drängt die
jubelnde Menge zurück, damit eine Gasse für den Wagen des
Thronfolgers und seine Eskorte entsteht. Hände und Mützen
strecken sich dem Kronprinzen entgegen, die Hurrarufe schwellen zum
Orkan an, in den sich die feierlichen Klänge der Kirchenglocken
mischen. Der Wagen biegt in die Hauptstraße Belgrads ein. Da
wirbelt plötzlich durch die Luft ein dunkler Gegenstand hinter dem
Wagen her und fällt wenige Schritte hinter ihm aufs
Straßenpflaster. Der Feuerball einer Explosion wirft einen der
berittenen Leibgardisten aus dem Sattel. Aber das Fahrzeug des Regenten
ist bereits um die Ecke gebogen. Ihm kann die Bombe nichts mehr anhaben.
„Haltet ihn! Er hat die Bombe geworfen! Da ist er!" ruft eine
kräftige Stimme in den panischen Wirrwarr, der der Explosion
folgt. Am Boden liegen verwundete Menschen. Niemand kümmert sich
um sie. Alles blickt auf einen schmächtigen jüngeren Mann in
unscheinbarer Kleidung, der vergeblich das Weite zu gewinnen versucht.
Berittene Leibgardisten aus der Eskorte des Kronprinzen springen mit
gezückten Säbeln und Pistolen hinter dem Flüchtenden
her. Aber schon hat ihn eine kräftige Hand gepackt und zu Boden
gerissen. Ein breitschulteriger Schmiedegeselle aus Zemun, der zu
diesem Feiertage aus dem nahen Donaustädtchen in die Hauptstadt
gekommen ist, kniet als erster auf dem gestürzten Attentäter
und drückt ihm die Kehle zu. „Es lebe die Weltrevolution! Der
König wird sterben!" keucht der Gewürgte, dem schon die
Augäpfel heraustreten. Fäuste und Stiefelabsätze fahren
auf ihn nieder. Ein wüstes Knäuel müssen die Polizisten
und Leibgardisten auseinandertreiben, um der wütenden Menge ihr
Opfer noch lebend zu entreißen. Alexander befiehlt, den
Attentäter schonend zu behandeln.
Was hatte Spasoje Stejić
veranlaßt, einen Mordanschlag auf den Regenten zu unternehmen? Es
war nicht das erste Attentat und wird auch nicht das letzte sein, das
Alexander I. von Jugoslawien den traurigen Ruhm verschaffte, derjenige
Herrscher der europäischen Neuzeit zu sein, gegen den die meisten
Mordanschläge unternommen wurden. Das Rätsel wird völlig
undurchsichtig, als sich herausstellt, daß Spasoje Stejić ein
fanatischer Kommunist ist. Gibt es einen plausiblen Grund dafür,
warum gerade dieser Monarch so gefährlich für die
kommunistische Weltrevolution sein kann, deren Zentrum
Moskau 2000 km von Belgrad entfernt ist?
Die kommunistische Theorie, wohlgemerkt die Theorie, ist dem Heldenkult
abgeneigt. Nach ihr formen die Massen und ihre ökonomischen
Interessen, nicht aber einzelne Persönlichkeiten, die Geschichte
der Menschheit. In der Praxis unterwirft sich jedoch die Kommunistische
Internationale oft der Erkenntnis, daß es Persönlichkeiten
gab und gibt, die ihren Plänen schädlicher sind als
irgendeine Massenbewegung.
Die kommunistische Theorie erkennt den individuellen Terror nicht als
politisches Kampfmittel an. Aber es gibt viele Beweise, daß auch
diese Theorie den Wünschen der kommunistischen Praxis nicht
standhält. Seit der Oktoberrevolution sind auffallend viele
politische Persönlichkeiten auf rätselhafte Art und Weise
just in einem Augenblick gestorben, in dem ihr Tod für Moskau nur
begrüßenswert sein kann.
Zweifellos gehört auch Alexander, der einen Monat nach dem
Attentat seinem verstorbenen Vater auf den Thron folgt, zu den
Persönlichkeiten, die den kommunistischen Interessen in
Südosteuropa im Wege stehen. Er ist ein Mann von großem
staatsmännischen Format, mit dessen Person der
großjugoslawische Staatsgedanke eng verbunden ist. Solange er am
Leben bleibt und mit fester Hand regiert, gibt es weder in Jugoslawien
noch auf dem übrigen Balkan Chancen für die Ausbreitung des
Kommunismus.
Man verspricht sich in Moskau viel von der Herstellung diplomatischer
Beziehungen zwischen Belgrad und Moskau. Auch davon kann keine Rede
sein, solange Alexander am Leben ist. Nicht umsonst hat er den letzten
serbischen Gesandten am Zarenhof von St. Petersburg, Dr. Miroslav
Spalajković, zu einem seiner politischen Hauptberater gemacht. Der
greise Diplomat hat mit eigenen Augen die Greueltaten des
bolschewistischen Putsches gesehen. Er bestärkt den Monarchen in
seiner anti-sowjetischen Politik. Die Ironie des Schicksals wird Jahre
später die sowjetische Botschaft in Belgrad ausgerechnet im Palais
eben dieses Dr. Spalajković ansiedeln.
Zehntausenden von russischen Emigranten hat König Alexander Asyl
in Jugoslawien gewährt. Er unterstützt sie auch weiterhin
durch großzügige Geldspenden in ihrer anti-kommunistischen
Tätigkeit. Russische Soldaten und Offiziere, die im
Bürgerkrieg gegen die Rote Garde gekämpft haben, werden in
das jugoslawische Heer aufgenommen. Man rechnet in Belgrad damit,
daß ein anti-kommunistischer Aufstand in Rußland bald die
bolschewistischen Machthaber beseitigen wird. Als der erwartete
Aufstand ausbleibt, befiehlt König Alexander die Gründung
einer weißrussischen Militärakademie auf jugoslawischem
Boden. Sie wird in einem Schloß in der Nähe der Stadt Bela
Crkva untergebracht und nimmt die Söhne zaristischer Offiziere und
hoher Würdenträger des zaristischen Regimes auf, die dort
unter der Anleitung der fähigsten Köpfe der Zarenarmee
für ihre zukünftige Mission, die Befreiung Rußlands,
ausgebildet werden.
Obwohl das Zarenreich schon seit langem zu bestehen aufgehört hat,
erkennt Alexander den letzten Gesandten des Zaren Nikolaus II. in
Belgrad, Wassilij Strandman, auch weiterhin als den
rechtmäßigen „Gesandten des Kaiserreichs Rußland in
Jugoslawien" an. Das Gesandtschaftsgebäude genießt nach wie
vor exterritoriale Rechte. Es wird zum Sammelpunkt von
anti-kommunistisch gesinnten russischen Emigranten, auch solchen, die
außerhalb Jugoslawiens eine neue Heimat gefunden haben. Der
letzte weißrussische Oberbefehlshaber im Bürgerkriege,
General Baron Wrangel, wird ungeachtet seiner Niederlage feierlich wie
ein Triumphator in Belgrad empfangen, und das von ihm gegründete
Komitee kann eine emsige Tätigkeit entfalten. Als er im April 1928
stirbt, wird Wrangel in einer orthodoxen Kathedrale, die eigens
für die Exilrussen erbaut worden ist, mit unerhörtem Pomp
beigesetzt. Sein Grab wird zur Wallfahrtsstätte der gesamten
russischen Emigration.
Der Tod des Generals zersplittert die antibolschewistische Einigkeit
der Emigranten. Wiederum ist es Alexander zu verdanken, wenn sich die
rivalisierenden Gruppen miteinander aussöhnen. In Belgrad wird
eine mehr als zwanzig Vereine umfassende „Liga Russischer Offiziere"
unter Leitung des Generals Ekk gegründet; König Alexander
versieht sie mit reichlichen Geldmitteln, so daß sie eine starke
propagandistische Tätigkeit entwickeln, Konferenzen abhalten und
eine Wochenzeitschrift „Der russische Militärbote" erscheinen
lassen können. Außerdem wird eine „Gesellschaft ehemaliger
Generalstabsoffiziere" ins Leben gerufen, die eine vielbeachtete
Zeitschrift herausgibt, die sich mit der rein militärischen
Planung eines Volksaufstandes in Rußland befaßt. Alexander
von Jugoslawien hat eine klare Vorstellung von dem, was er will. Eine
großzügige Aufklärung über die Hintergründe
und die Greuel des bolschewistischen Putsches erscheint ihm als
zweckmäßiges Mittel, die traditionelle Sympathie der
Südslawen zum „Mütterchen Rußland" nie zu einer
Sympathie für die kommunistische Räte-Republik werden zu
lassen.
In den frühen zwanziger Jahren träumt man in Moskau noch von
der unmittelbar bevorstehenden Weltrevolution. In ihrem Interesse wird
es dringend notwendig, Alexander als Initiator einer antisowjetisehen
Tätigkeit, aber auch als Symbol einer neuen Ordnung in
Südosteuropa beiseite zu räumen. Obwohl die im Jahre 1917 von
Felix E. Dsershinski ins Leben gerufene Tscheka („Sonderkommission zur
Bekämpfung von Gegenrevolution und Sabotage") über eine
Auslandsabteilung unter der Leitung von M. A. Trilisser verfügt,
die für derartige Aktionen zuständig ist, ist sie durch die
innerpolitische Situation in der Sowjetunion zu stark in Anspruch
genommen, als daß sie ein so kompliziertes Unternehmen wagen
kann. Die Komintern spannt daher zunächst die KP Jugoslawiens
dafür ein, Alexander zu beseitigen.
Bis zum Dezember 1920 war die KP im jugoslawischen Königreich noch
eine legale Partei mit mehr als 60 000 eingeschriebenen. Mitgliedern.
Dann wird sie jedoch auf Veranlassung des Regenten durch ein Dekret des
konservativen Ministers Milorad Drasković verboten. Die Kommunisten
gehen sofort in die Illegalität. Sie haben das Verbot erwartet.
Eine Geheimgesellschaft unter dem Namen „Der rote Terror" wird ins
Leben gerufen; diese Gesellschaft besteht in erster Linie aus
Intellektuellen. Sie arbeiten eine ganze Serie von Mordanschlägen
aus. An der Spitze steht das Attentat auf den König. In dem
geistig etwas zurückgebliebenen, aber fanatischen Jungkommunisten
Spasoje Stejić finden sie ein willkommenes Werkzeug für die
Bluttat. Sein Anschlag mißlingt, obwohl alle Voraussetzungen
für einen Erfolg gegeben waren.
Die Richter erkennen auf begrenzte Zurechnungsfähigkeit des
primitiven Spasoje und verurteilen ihn nur zu lebenslänglichem
Zuchthaus. Im Zuchthaus Mitrovica erlebt Stejić den Zusammenbruch des
Königreichs im Jahre 1941. Es gelingt ihm, mit einer Gruppe von
Kommunisten in den Maquis zu fliehen. Aber der nun völlig
Geistesgestörte wird zu einer ständigen Belastung für
seine Partisanen-Kameraden, und da er gerne und hemmungslos über
die Hintergründe des verfehlten Mordanschlages von 1921 schwatzt,
wird er von seinen „Genossen" sang- und klanglos liquidiert.
Mehr Erfolg ist dem „Roten Terror" mit seinem zweiten Anschlag
beschieden. Diesmal bedient er sich eines mohammedanischen Kommunisten,
Alija Aliagić, der etwa einen Monat nach dem Attentat Stejićs im August
1921 Milorad Dra
šković
ermorden kann, jenen Minister, der die
Kommunistische Partei acht Monate zuvor verboten hat.
(1)
Aliagić wird verhaftet. Bei seiner Vernehmung stellt sich heraus,
daß die Verschwörung vom Kreml aus über
Mittelsmänner in Wien angezettelt worden ist. Die erste Zelle des
„Roten Terrors" hat Anfang des Jahres 1921 ein gewisser Rudolf
Hercigonja gegründet, ein junger, zum Kommunismus bekehrter
Nationalist. Kurze Zeit vor dem Anschlag war Hercigonja in Wien und hat
sich dort den Abgesandten der Komintern gegenüber verpflichten
müssen, mit allen Mitteln die Vorbereitungen für den
Königsmord voranzutreiben, auch wenn unschlüssige und weniger
radikale Elemente in der jugoslawischen Parteiführung dagegen
opponieren würden. Es gelingt demharten und entschlossenen
Hercigonja tatsächlich, den Widerstand einiger auf Legalität
bedachter KP-Funktionäre zu beseitigen und in mehreren
jugoslawischen Städten Organisationszellen des „Roten Terrors"
aufzubauen. Ihre Mitglieder werden auf abgelegenen
Übungsplätzen im Gebrauch der Schußwaffen unterrichtet.
Ihre Zielscheiben stellen den Regenten Alexander, den
Ministerpräsidenten Vesnić und Innenminister Drašković dar.
Ein Student der Zagreber Handelsschule ist der Motor des „Roten
Terrors". Er entwickelt dabei große organisatorische
Fähigkeiten und entwirft mehrere Attentatspläne, deren
Ausführung allerdings an der Unentschlossenheit der
kommunistischen Täter scheitert. Kurz vor einem Mordanschlag auf
Drašković werden in Zagreb drei von ihnen, Zlatko Snajder, Janko Misić
und Stefek Cvijić, gefaßt. Ihr hartnäckiges Schweigen bei
den
Vernehmungen bewahrt jedoch zunächst noch die rote
Terrororganisation vor der Entdeckung.
Nicht so schweigsam und ungerührt beträgt sich der Kommunist
Aliagić nach der Ermordung des Ministers Drašković. Reumütig
gesteht er im Oktober 1921 vor dem Zagreber Gericht: „Ich bekenne mich
schuldig, weil ich einer Frau den Gatten und Kindern den Vater raubte;
als Mensch bereue ich, daß ich einem anderen Menschen das Leben
nehmen mußte." Trotz dieses Bekenntnisses, das die furchtbare Tat
Aliagićs zwar nicht entschuldigt aber doch mit einem echten politischen
Motiv unterlegt, wird er zum Tode verurteilt und durch den Strang
hingerichtet, weil er keine guten Beziehungen hat. Der Anstifter
dagegen, der Zagreber Student, kommt mit 14 Jahren Zuchthaus davon, die
er nicht einmal ganz verbüßt. Denn sein Vater, ein
schwerreicher Exportkaufmann aus Bijeljina in Bosnien, findet bald
Mittel und Wege, um den Sohn vor dem Ablauf seiner Strafe begnadigen zu
lassen. Ein anderer Kommunist, der Arbeiter Lajos Csaki, der in den
Mordanschlag Stejićs gegen den Regenten Alexander verwickelt und zu
lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden ist, verfällt in
eine Art religiösen Mystizismus'. Er darf die
Gefängniskapelle betreuen und verbringt dort Tage und Nächte
im Gebet. Vergeblich versuchen seine KP-Genossen, Csaki davon
abzubringen. Man fürchtet sich vor weiteren Enthüllungen des
Gefangenen über die kommunistische Attentatsorganisation, und so
werden einige kommunistische Mithäftlinge beauftragt, den
Abtrünnigen nachts unter seiner Schlafdecke zu erwürgen. Das
mißlingt, aber Csaki zieht es vor, den Rest seiner Haft bis zu
seinem natürlichen Tode in einer Einzelzelle zu verbringen.
Anfang 1959, wenige Monate vor dem 40. Jahrestag der Gründung der
jugoslawischen KP, aber auch vor dem 25. Jahrestage des Attentats von
Marseille, entsinnt sich die jugoslawische Parteileitung plötzlich
auf einmal wieder der Taten des „Roten Terrors", dessen Existenz bisher
in allen Büchern und Aufsätzen über die Parteigeschichte
hartnäckig, und höchst wahrscheinlich nicht zufällig,
verschwiegen wurde. In mehreren, offensichtlich gelenkten Artikeln,
werden die Taten des „Roten Terrors" verherrlicht. So schreibt die
Belgrader „Politika" vom 7. März 1959: „Der Hauptgrund, der in den
zwanziger Jahren die Kommunisten in unserem Lande zwang, den
individuellen Terror im Kampf gegen die Bourgeoisie und Monarchie
anzuwenden, war der „weiße Terror", — ein verstärkter und
skrupelloser Angriff der herrschenden Klassen gegen die organisierte
Arbeiterbewegung und die KP Jugoslawiens. Hinzu kam die schwankende und
opportunistische Haltung der Parteiführung, die nicht mutig und
fähig genug war, in einer solchen Lage die erfolgversprechenden
Formen des Klassenkampfes anzuwenden ... So wurde die Organisation
(Anmerkung des Autors: gemeint ist der „Rote Terror") von jungen
Intellektuellen und Arbeitern gegründet, die den Zielen des
Proletariats treu waren und kompromißlos für den Sozialismus
kämpften..."
Energie, Intelligenz, Weitblick und Ehrgeiz sind die hervorstechenden
Charaktereigenschaften des jungen Königs Alexander. Er will aus
Jugoslawien einen Einheitsstaat bilden, der gleichzeitig ein
Kristallisationszentrum für seine weiteren Balkanpläne sein
soll. Obwohl seinerzeit nur ein kleiner Kreis über diese Ideen des
Königs informiert war, läßt sich heute mit einiger
Sicherheit aussagen, daß Alexander als fernes politisches Ziel
auch die Einbeziehung Bulgariens in ein großes südslawisches
Reich auf dem Balkan ins Auge gefaßt hatte. Im Juni 1922 hat er
die rumänische Prinzessin Maria geheiratet und damit enge
Beziehungen zu Bukarest hergestellt. Moskau befürchtet nicht ohne
Grund die Schaffung eines antikommunistischen Blocks der balkanischen
Völker, deren Nachbarschaft zur ohnehin separatistisch gesonnenen
Sowjet-Ukraine gefährlich werden kann.
Aber Alexander hat auch andere Feinde. Aus der Emigration lenkt der
kroatische Politiker Dr. Ante Pavelić eine kroatische
Separatistenbewegung, die im jugoslawischen König das
größte Hindernis für die Freiheit Kroatiens sieht. Auch
die berüchtigte serbische Terroristen-Organisation „Die Schwarze
Hand", die nach der blutigen Ermordung des letzten Herrschers aus dem
Hause Obrenović und seiner schönen Gemahlin Draga, den Vater
Alexanders, Peter I. zum König ausgerufen hat, sich aber
später mit dem Thronfolger-Regenten überwirft, arbeitet an
der Beseitigung des jungen Königs. Wenn in der jugoslawischen
Hauptstadt Höllenmaschinen explodieren, müssen sie nicht
unbedingt von kroatischen Nationalisten oder von der Schwarzen Hand
stammen: es gibt auch noch mazedonische Separatisten der Vereinigung
VMRO
(2),
die auf diese Art und Weise gegen die
Mißachtung ihrer
nationalen Wünsche durch das königliche Regime protestieren.
Eine Zeitbombe mazedonischer Herkunft, die das Gebäude der
königlichen Residenz hätte in die Luft fliegen lassen, wird
in letzter Sekunde entdeckt und entschärft. Nach dem
mißglückten Mordanschlag Stejićs leistet sich Alexander
nicht mehr den Luxus, im offenen Wagen durch die Straßen Belgrads
zu fahren. Bei öffentlichen Anlässen trägt er nicht
selten Panzerhemden. Ein dichter Schleier von Leibwachen und Detektiven
sichert ihn vor dem stürmischen Ausbruch der politischen
Leidenschaften seiner Untertanen.
Für die Kommunistische Partei Jugoslawiens hat das Attentat vom
28. Juni 1921 ernste Folgen. Der Umstand, daß der Attentäter
ein Kommunist ist, macht die Partei im Volke so unbeliebt, daß
die Zahl ihrer Anhänger rasch von 60 000 auf 30 000 absinkt. 1932
zählt sie schließlich nicht mehr als 200 echte Mitglieder.
Sechzehn Jahre danach, auf dem V. Kongreß der Kommunistischen
Partei Jugoslawiens, 1948, schildert Marschall Tito diese Krise der
Partei, allerdings ohne auf ihre Ursache einzugehen: „Damals war unsere
Partei völlig ohnmächtig. Hier und dort bestanden einige
zerstreute Gruppen. Fast alle höheren, mittleren und niederen
Kader waren entweder umgebracht worden oder sie befanden sich im
Zuchthaus oder in der Emigration."
Wie ist es dazu gekommen? Die KP Jugoslawiens wurde auf dem Belgrader
Kongreß (20. bis 23. April 1919) gegründet. Schon auf dem
Parteitag von Vukovar, ein Jahr danach, spaltet sich jedoch eine erste
Oppositionsgruppe ab; ein Serbe, Professor Sima Marković, wird zum
Sekretär des Zentralkomitees gewählt, wie übrigens auch
alle neun Mitglieder des Exekutivkomitees zu jener Zeit Serben sind.
Professor Marković, ein humanistisch gesinnter Intellektueller mit
umfassender Bildung, ist keineswegs ein Mann nach dem Geschmack
Moskaus. Er steht unter dem Einfluß indischer Philosophie,
insbesondere der von Rabindranat Tagore, und die Idee von einer
friedlichen und allmählichen Beilegung der gesellschaftlichen
Spannungen ist nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben. Vor allem
aber verdammt er aufs entschiedenste jedes Blutvergießen und wagt
es sogar, sich in dieser Hinsicht auch dem Kreml zu widersetzen, als
dieser den Kopf Alexanders fordert. Seine „linken" Gegner, an ihrer
Spitze der Maler Mo
ša
Pijade, der später unter dem Regime Tito zu
höchsten Ehren gelangen soll, nennen Marković einen „Anarchisten
und Utopisten". Die Komintern setzt sich für die „Linken" ein,
lädt sie nach Moskau zum IV. Weltkongreß der Komintern ein
und verhilft ihnen zum Übergewicht im jugoslawischen ZK. Es
stört den Kreml nicht im mindesten, daß der Exponent dieser
„Linken" ausgerechnet ein wohlhabender Rechtsanwalt bürgerlicher
Abstammung aus Belgrad ist, Tri
ša
Kaclerović; für Moskau ist es
ausschlaggebend, daß Kaclerović widerspruchslos die Pläne
der Komintern für eine Zerschlagung Jugoslawiens und die
Beseitigung Alexanders gutheißt. Während Professor Marković
nach wie vor jede Gewaltanwendung und den individuellen Terror ablehnt
und auf der Einheit des Landes besteht, läßt Kaclerović auf
der III. Nationalkonferenz der jugoslawischen KP, die im Dezember 1923
illegal in Belgrad abgehalten wird, die später von Stalin
übernommenen Thesen Sinowjews propagieren. In diesen Thesen wird
die territoriale Integrität Jugoslawiens als eine Schöpfung
des Versailler Vertrags und für die Ausbreitung des Kommunismus
hinderlich bezeichnet; Jugoslawien sei ein Vielvölkerstaat,
heißt es in der Resolution, in dem die serbische Bourgeoisie das
große Wort führe und dessen unterdrückte Völker
nach Selbständigkeit dürsten.
Diese entscheidende Wendung in der Parteilinie, die gleichzeitig den
Einfluß der serbischen Kommunisten eindämmt, wird nicht ohne
Murren aufgenommen. Auf dem V. Kongreß der Komintern von 1924
findet sie eine erneute Bestätigung in einer Resolution, in der es
heißt: "Die Losung vom Selbstbestimmungsrecht der
Völker, die von der KP Jugoslawiens vertreten wird, soll in der
Abtrennung Kroatiens, Sloweniens und Mazedoniens von Jugoslawien und in
ihrer Umwandlung in völlig unabhängige Republiken einen
Niederschlag finden."
Professor Marković bezeichnet diese Resolution als eine Katastrophe.
Tatsächlich setzt sich der durch die Mordanschläge
ausgelöste Mitgliederschwund beschleunigt fort. Auch die
„Unabhängigen Gewerkschaften", eine von der illegalen KP stark
unterwanderte Organisation, verlieren danach rasch die meisten ihrer
Mitglieder: von etwa 30 000 bleiben nur 2000 übrig.
Die innerparteilichen Auseinandersetzungen werden so erbittert,
daß die Komintern dieses Thema auf die Tagesordnung einer
Plenarsitzung im Jahre 1925 setzt und eine Kommission für die
Diskussion des jugoslawischen Problems bildet, an deren Spitze sich
kein Geringerer als Josef Stalin befindet. Am 30. März 1925
ergreift Stalin das Wort, um Professor Marković schwer zu rügen;
der bulgarische Exilkommunist, Wassil Kolaroff, dem die These von der
Zerstückelung Jugoslawiens besonders gefällt, weil er schon
Mazedonien als Bestandteil eines künftigen kommunistischen
Bulgariens sieht, unterstützt ihn dabei mit besonderem Eifer.
Allmählich wird das ständige Gezänk der jugoslawischen
„Rechten" unter Marković und der „Linken" unter Rajko Jovanović und
Djuka Cvijić auch der Komintern zu viel, vor allem wohl deshalb, weil
eine so zerrissene Partei außerstande ist, auch nur die
wichtigsten Aufträge der Moskauer Zentrale erfolgreich
ausführen zu können. Im Mai 1928 wendet sich der
Exekutivausschuß der Komintern in einem offenen Brief an die KP
Jugoslawiens, in dem unter anderem gesagt wird: „Die Komintern ist der
Ansicht, daß die jetzigen intellektuellen Führer der Partei
Schiffbruch erlitten und damit bewiesen haben, daß an der Spitze
der Partei die besten proletarischen Elemente stehen sollten."
Dementsprechend wird der Metallarbeiter Djura Djaković, ein in der
Moskauer Emigration lebender Parteifunktionär, zum neuen
Organisationssekretär des jugoslawischen ZK ernannt. Er kommt auf
Schleichwegen über Österreich ins Land.
Ohne deshalb die beiden wichtigsten Forderungen des Kreml, die
Beseitigung des Königs und die Zerschlagung des jugoslawischen
Staates zu vernachlässigen, versucht Djaković mit allen
Kräften den Mitgliederschwund der Partei aufzuhalten. Er erkennt
bald, daß dazu eine straffe Ausrichtung aller KP-Führer
notwendig ist. Aber selbst die verwegensten Kommunisten sehen ein,
daß sich unter den gegebenen Umständen ein
Parteikongreß im Lande nicht durchführen läßt.
Auch Wien, wo die königlich-jugoslawische Polizei ein
ausgezeichnetes Spitzelsystem unterhält, kommt als Versammlungsort
nicht in Frage. So einigt man sich auf Dresden, wo die Delegierten im
Oktober 1928 vom Abgesandten der Komintern, Professor Ercole Ercoli
begrüßt werden. Niemand weiß damals, daß sich
hinter diesem Namen Palmiro Togliatti verbirgt, der Mann, der nach dem
Zweiten Weltkrieg Führer der italienischen KP werden soll. Ercoli
zwingt Marković zur Selbstkritik. Später wird der Führer der
„Rechten" in die Sowjetunion gelockt und dort liquidiert. Djaković wird
vom Kongreß als Organisationssekretär bestätigt, der
Montenegriner Jovan Malisić, der unter dem falschen Namen „Martinović"
auftritt, wird zum ZK-Sekretär gewählt.
Zwei Monate nach dem Dresdener Kongreß führt König
Alexander jedoch nach einem Staatsstreich ein autoritäres Regime
in Jugoslawien ein. Malisic ruft zum verzweifelten Aufstand auf, aber
es findet sich kaum ein Kommunist, der diesem Aufruf Folge leistet. Das
gesamte ZK muß ins Ausland flüchten, und zahlreiche
Kommunisten werden verhaftet. Von 1929 bis zum Tode König
Alexanders werden gegen Kommunisten elf Todesurteile, vier
lebenslängliche Zuchthausstrafen und gegen 853 Parteimitglieder
insgesamt 2342 Jahre Zuchthaus verhängt. Djuro Djaković, der
treueste Verfechter der Moskauer Linie, wird von der königlichen
Polizei beim Fluchtversuch erschossen. In jenen unruhigen Tagen
zählt ein Menschenleben wenig auf dem Balkan.