Bomben in Belgrad
Sankt-Veits-Tag 1921.

Die Sonne schüttet ein freundliches Morgenlicht auf Belgrad, die Hauptstadt des Königreichs Jugoslawien. Glockengeläut und patriotische Lieder hallen durch die Straßen der „Weißen Stadt" an der Donau. Denn heute ist nicht nur das große religiöse Fest aller Serben, sondern auch der 7. Jahrestag des Attentats von Sarajewo, dem der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie zum Opfer fielen und der den Ersten Weltkrieg auslöste.

An dieses Ereignis muß der junge elegante Mann in der Uniform eines Gardeoffiziers denken, der am frühen Vormittag von der königlichen Residenz durch die Straßen der Stadt zum Gottesdienst in die orthodoxe Kathedrale fährt. Nicht nur an die furchtbaren Folgen jener Bluttat des Studenten Princip erinnert sich der junge Offizier, sondern auch daran, daß der Weltkrieg den Traum aller Serben erfüllte: Das Großreich der österreichisch-ungarischen k. u. k. Monarchie war zerbrochen und ein großer südslawischer Einheitsstaat entstanden. Ihm, dem 33jährigen Kronprinzen Alexander, sind von der Geburtsstunde Jugoslawiens an die Staatsgeschäfte übertragen. Schon vor sieben Jahren hat der sieche König Peter I. von Serbien seinem Sohn die Regentschaft überlassen müssen. Jetzt rechnen die Ärzte täglich mit dem Ableben des greisen Monarchen.

Nur selten huscht ein Lächeln über die ernsten Züge des Thronfolgers, als sich sein offener Wagen durch die festtäglich gestimmte und hurrarufende Menge seiner Untertanen drängt. Nicht nur der kritische Gesundheitszustand des Königs macht den Regenten so ernst. Es gibt andere Sorgen: Leidenschaftliche Ansprüche nationalistischer und separatistischer Gruppen im Vielvölkerstaat Jugoslawien gefährden die - Einheit des Landes. Alexander regiert mit eiserner Hand, er kennt keine Kompromisse. Und er hat nicht nur Freunde. Auch unter dem Staatsvolk der Serben gibt es harte Widersacher seiner Politik.

Der Wagen mit dem Thronfolger fährt durch die kurze Dobrinjska-straße. Ein Spalier von Polizisten drängt die jubelnde Menge zurück, damit eine Gasse für den Wagen des Thronfolgers und seine Eskorte entsteht. Hände und Mützen strecken sich dem Kronprinzen entgegen, die Hurrarufe schwellen zum Orkan an, in den sich die feierlichen Klänge der Kirchenglocken mischen. Der Wagen biegt in die Hauptstraße Belgrads ein. Da wirbelt plötzlich durch die Luft ein dunkler Gegenstand hinter dem Wagen her und fällt wenige Schritte hinter ihm aufs Straßenpflaster. Der Feuerball einer Explosion wirft einen der berittenen Leibgardisten aus dem Sattel. Aber das Fahrzeug des Regenten ist bereits um die Ecke gebogen. Ihm kann die Bombe nichts mehr anhaben.

„Haltet ihn! Er hat die Bombe geworfen! Da ist er!" ruft eine kräftige Stimme in den panischen Wirrwarr, der der Explosion folgt. Am Boden liegen verwundete Menschen. Niemand kümmert sich um sie. Alles blickt auf einen schmächtigen jüngeren Mann in unscheinbarer Kleidung, der vergeblich das Weite zu gewinnen versucht. Berittene Leibgardisten aus der Eskorte des Kronprinzen springen mit gezückten Säbeln und Pistolen hinter dem Flüchtenden her. Aber schon hat ihn eine kräftige Hand gepackt und zu Boden gerissen. Ein breitschulteriger Schmiedegeselle aus Zemun, der zu diesem Feiertage aus dem nahen Donaustädtchen in die Hauptstadt gekommen ist, kniet als erster auf dem gestürzten Attentäter und drückt ihm die Kehle zu. „Es lebe die Weltrevolution! Der König wird sterben!" keucht der Gewürgte, dem schon die Augäpfel heraustreten. Fäuste und Stiefelabsätze fahren auf ihn nieder. Ein wüstes Knäuel müssen die Polizisten und Leibgardisten auseinandertreiben, um der wütenden Menge ihr Opfer noch lebend zu entreißen. Alexander befiehlt, den Attentäter schonend zu behandeln.

Was hatte Spasoje Stejić veranlaßt, einen Mordanschlag auf den Regenten zu unternehmen? Es war nicht das erste Attentat und wird auch nicht das letzte sein, das Alexander I. von Jugoslawien den traurigen Ruhm verschaffte, derjenige Herrscher der europäischen Neuzeit zu sein, gegen den die meisten Mordanschläge unternommen wurden. Das Rätsel wird völlig undurchsichtig, als sich herausstellt, daß Spasoje Stejić ein fanatischer Kommunist ist. Gibt es einen plausiblen Grund dafür, warum gerade dieser Monarch so gefährlich für die kommunistische Weltrevolution sein kann, deren Zentrum Moskau 2000 km von Belgrad entfernt ist?

Die kommunistische Theorie, wohlgemerkt die Theorie, ist dem Heldenkult abgeneigt. Nach ihr formen die Massen und ihre ökonomischen Interessen, nicht aber einzelne Persönlichkeiten, die Geschichte der Menschheit. In der Praxis unterwirft sich jedoch die Kommunistische Internationale oft der Erkenntnis, daß es Persönlichkeiten gab und gibt, die ihren Plänen schädlicher sind als irgendeine Massenbewegung.

Die kommunistische Theorie erkennt den individuellen Terror nicht als politisches Kampfmittel an. Aber es gibt viele Beweise, daß auch diese Theorie den Wünschen der kommunistischen Praxis nicht standhält. Seit der Oktoberrevolution sind auffallend viele politische Persönlichkeiten auf rätselhafte Art und Weise just in einem Augenblick gestorben, in dem ihr Tod für Moskau nur begrüßenswert sein kann.

Zweifellos gehört auch Alexander, der einen Monat nach dem Attentat seinem verstorbenen Vater auf den Thron folgt, zu den Persönlichkeiten, die den kommunistischen Interessen in Südosteuropa im Wege stehen. Er ist ein Mann von großem staatsmännischen Format, mit dessen Person der großjugoslawische Staatsgedanke eng verbunden ist. Solange er am Leben bleibt und mit fester Hand regiert, gibt es weder in Jugoslawien noch auf dem übrigen Balkan Chancen für die Ausbreitung des Kommunismus.

Man verspricht sich in Moskau viel von der Herstellung diplomatischer Beziehungen zwischen Belgrad und Moskau. Auch davon kann keine Rede sein, solange Alexander am Leben ist. Nicht umsonst hat er den letzten serbischen Gesandten am Zarenhof von St. Petersburg, Dr. Miroslav Spalajković, zu einem seiner politischen Hauptberater gemacht. Der greise Diplomat hat mit eigenen Augen die Greueltaten des bolschewistischen Putsches gesehen. Er bestärkt den Monarchen in seiner anti-sowjetischen Politik. Die Ironie des Schicksals wird Jahre später die sowjetische Botschaft in Belgrad ausgerechnet im Palais eben dieses Dr. Spalajković ansiedeln.

Zehntausenden von russischen Emigranten hat König Alexander Asyl in Jugoslawien gewährt. Er unterstützt sie auch weiterhin durch großzügige Geldspenden in ihrer anti-kommunistischen Tätigkeit. Russische Soldaten und Offiziere, die im Bürgerkrieg gegen die Rote Garde gekämpft haben, werden in das jugoslawische Heer aufgenommen. Man rechnet in Belgrad damit, daß ein anti-kommunistischer Aufstand in Rußland bald die bolschewistischen Machthaber beseitigen wird. Als der erwartete Aufstand ausbleibt, befiehlt König Alexander die Gründung einer weißrussischen Militärakademie auf jugoslawischem Boden. Sie wird in einem Schloß in der Nähe der Stadt Bela Crkva untergebracht und nimmt die Söhne zaristischer Offiziere und hoher Würdenträger des zaristischen Regimes auf, die dort unter der Anleitung der fähigsten Köpfe der Zarenarmee für ihre zukünftige Mission, die Befreiung Rußlands, ausgebildet werden.

Obwohl das Zarenreich schon seit langem zu bestehen aufgehört hat, erkennt Alexander den letzten Gesandten des Zaren Nikolaus II. in Belgrad, Wassilij Strandman, auch weiterhin als den rechtmäßigen „Gesandten des Kaiserreichs Rußland in Jugoslawien" an. Das Gesandtschaftsgebäude genießt nach wie vor exterritoriale Rechte. Es wird zum Sammelpunkt von anti-kommunistisch gesinnten russischen Emigranten, auch solchen, die außerhalb Jugoslawiens eine neue Heimat gefunden haben. Der letzte weißrussische Oberbefehlshaber im Bürgerkriege, General Baron Wrangel, wird ungeachtet seiner Niederlage feierlich wie ein Triumphator in Belgrad empfangen, und das von ihm gegründete Komitee kann eine emsige Tätigkeit entfalten. Als er im April 1928 stirbt, wird Wrangel in einer orthodoxen Kathedrale, die eigens für die Exilrussen erbaut worden ist, mit unerhörtem Pomp beigesetzt. Sein Grab wird zur Wallfahrtsstätte der gesamten russischen Emigration.

Der Tod des Generals zersplittert die antibolschewistische Einigkeit der Emigranten. Wiederum ist es Alexander zu verdanken, wenn sich die rivalisierenden Gruppen miteinander aussöhnen. In Belgrad wird eine mehr als zwanzig Vereine umfassende „Liga Russischer Offiziere" unter Leitung des Generals Ekk gegründet; König Alexander versieht sie mit reichlichen Geldmitteln, so daß sie eine starke propagandistische Tätigkeit entwickeln, Konferenzen abhalten und eine Wochenzeitschrift „Der russische Militärbote" erscheinen lassen können. Außerdem wird eine „Gesellschaft ehemaliger Generalstabsoffiziere" ins Leben gerufen, die eine vielbeachtete Zeitschrift herausgibt, die sich mit der rein militärischen Planung eines Volksaufstandes in Rußland befaßt. Alexander von Jugoslawien hat eine klare Vorstellung von dem, was er will. Eine großzügige Aufklärung über die Hintergründe und die Greuel des bolschewistischen Putsches erscheint ihm als zweckmäßiges Mittel, die traditionelle Sympathie der Südslawen zum „Mütterchen Rußland" nie zu einer Sympathie für die kommunistische Räte-Republik werden zu lassen.

In den frühen zwanziger Jahren träumt man in Moskau noch von der unmittelbar bevorstehenden Weltrevolution. In ihrem Interesse wird es dringend notwendig, Alexander als Initiator einer antisowjetisehen Tätigkeit, aber auch als Symbol einer neuen Ordnung in Südosteuropa beiseite zu räumen. Obwohl die im Jahre 1917 von Felix E. Dsershinski ins Leben gerufene Tscheka („Sonderkommission zur Bekämpfung von Gegenrevolution und Sabotage") über eine Auslandsabteilung unter der Leitung von M. A. Trilisser verfügt, die für derartige Aktionen zuständig ist, ist sie durch die innerpolitische Situation in der Sowjetunion zu stark in Anspruch genommen, als daß sie ein so kompliziertes Unternehmen wagen kann. Die Komintern spannt daher zunächst die KP Jugoslawiens dafür ein, Alexander zu beseitigen.
Bis zum Dezember 1920 war die KP im jugoslawischen Königreich noch eine legale Partei mit mehr als 60 000 eingeschriebenen. Mitgliedern. Dann wird sie jedoch auf Veranlassung des Regenten durch ein Dekret des konservativen Ministers Milorad Drasković verboten. Die Kommunisten gehen sofort in die Illegalität. Sie haben das Verbot erwartet.

Eine Geheimgesellschaft unter dem Namen „Der rote Terror" wird ins Leben gerufen; diese Gesellschaft besteht in erster Linie aus Intellektuellen. Sie arbeiten eine ganze Serie von Mordanschlägen aus. An der Spitze steht das Attentat auf den König. In dem geistig etwas zurückgebliebenen, aber fanatischen Jungkommunisten Spasoje Stejić finden sie ein willkommenes Werkzeug für die Bluttat. Sein Anschlag mißlingt, obwohl alle Voraussetzungen für einen Erfolg gegeben waren.

Die Richter erkennen auf begrenzte Zurechnungsfähigkeit des primitiven Spasoje und verurteilen ihn nur zu lebenslänglichem Zuchthaus. Im Zuchthaus Mitrovica erlebt Stejić den Zusammenbruch des Königreichs im Jahre 1941. Es gelingt ihm, mit einer Gruppe von Kommunisten in den Maquis zu fliehen. Aber der nun völlig Geistesgestörte wird zu einer ständigen Belastung für seine Partisanen-Kameraden, und da er gerne und hemmungslos über die Hintergründe des verfehlten Mordanschlages von 1921 schwatzt, wird er von seinen „Genossen" sang- und klanglos liquidiert.

Mehr Erfolg ist dem „Roten Terror" mit seinem zweiten Anschlag beschieden. Diesmal bedient er sich eines mohammedanischen Kommunisten, Alija Aliagić, der etwa einen Monat nach dem Attentat Stejićs im August 1921 Milorad Drašković ermorden kann, jenen Minister, der die Kommunistische Partei acht Monate zuvor verboten hat.(1)

Aliagić wird verhaftet. Bei seiner Vernehmung stellt sich heraus, daß die Verschwörung vom Kreml aus über Mittelsmänner in Wien angezettelt worden ist. Die erste Zelle des „Roten Terrors" hat Anfang des Jahres 1921 ein gewisser Rudolf Hercigonja gegründet, ein junger, zum Kommunismus bekehrter Nationalist. Kurze Zeit vor dem Anschlag war Hercigonja in Wien und hat sich dort den Abgesandten der Komintern gegenüber verpflichten müssen, mit allen Mitteln die Vorbereitungen für den Königsmord voranzutreiben, auch wenn unschlüssige und weniger radikale Elemente in der jugoslawischen Parteiführung dagegen opponieren würden. Es gelingt demharten und entschlossenen Hercigonja tatsächlich, den Widerstand einiger auf Legalität bedachter KP-Funktionäre zu beseitigen und in mehreren jugoslawischen Städten Organisationszellen des „Roten Terrors" aufzubauen. Ihre Mitglieder werden auf abgelegenen Übungsplätzen im Gebrauch der Schußwaffen unterrichtet. Ihre Zielscheiben stellen den Regenten Alexander, den Ministerpräsidenten Vesnić und Innenminister Drašković dar.

Ein Student der Zagreber Handelsschule ist der Motor des „Roten Terrors". Er entwickelt dabei große organisatorische Fähigkeiten und entwirft mehrere Attentatspläne, deren Ausführung allerdings an der Unentschlossenheit der kommunistischen Täter scheitert. Kurz vor einem Mordanschlag auf Drašković werden in Zagreb drei von ihnen, Zlatko Snajder, Janko Misić und Stefek Cvijić, gefaßt. Ihr hartnäckiges Schweigen bei den Vernehmungen bewahrt jedoch zunächst noch die rote Terrororganisation vor der Entdeckung.

Nicht so schweigsam und ungerührt beträgt sich der Kommunist Aliagić nach der Ermordung des Ministers Drašković. Reumütig gesteht er im Oktober 1921 vor dem Zagreber Gericht: „Ich bekenne mich schuldig, weil ich einer Frau den Gatten und Kindern den Vater raubte; als Mensch bereue ich, daß ich einem anderen Menschen das Leben nehmen mußte." Trotz dieses Bekenntnisses, das die furchtbare Tat Aliagićs zwar nicht entschuldigt aber doch mit einem echten politischen Motiv unterlegt, wird er zum Tode verurteilt und durch den Strang hingerichtet, weil er keine guten Beziehungen hat. Der Anstifter dagegen, der Zagreber Student, kommt mit 14 Jahren Zuchthaus davon, die er nicht einmal ganz verbüßt. Denn sein Vater, ein schwerreicher Exportkaufmann aus Bijeljina in Bosnien, findet bald Mittel und Wege, um den Sohn vor dem Ablauf seiner Strafe begnadigen zu lassen. Ein anderer Kommunist, der Arbeiter Lajos Csaki, der in den Mordanschlag Stejićs gegen den Regenten Alexander verwickelt und zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden ist, verfällt in eine Art religiösen Mystizismus'. Er darf die Gefängniskapelle betreuen und verbringt dort Tage und Nächte im Gebet. Vergeblich versuchen seine KP-Genossen, Csaki davon abzubringen. Man fürchtet sich vor weiteren Enthüllungen des Gefangenen über die kommunistische Attentatsorganisation, und so werden einige kommunistische Mithäftlinge beauftragt, den Abtrünnigen nachts unter seiner Schlafdecke zu erwürgen. Das mißlingt, aber Csaki zieht es vor, den Rest seiner Haft bis zu seinem natürlichen Tode in einer Einzelzelle zu verbringen.

Anfang 1959, wenige Monate vor dem 40. Jahrestag der Gründung der jugoslawischen KP, aber auch vor dem 25. Jahrestage des Attentats von Marseille, entsinnt sich die jugoslawische Parteileitung plötzlich auf einmal wieder der Taten des „Roten Terrors", dessen Existenz bisher in allen Büchern und Aufsätzen über die Parteigeschichte hartnäckig, und höchst wahrscheinlich nicht zufällig, verschwiegen wurde. In mehreren, offensichtlich gelenkten Artikeln, werden die Taten des „Roten Terrors" verherrlicht. So schreibt die Belgrader „Politika" vom 7. März 1959: „Der Hauptgrund, der in den zwanziger Jahren die Kommunisten in unserem Lande zwang, den individuellen Terror im Kampf gegen die Bourgeoisie und Monarchie anzuwenden, war der „weiße Terror", — ein verstärkter und skrupelloser Angriff der herrschenden Klassen gegen die organisierte Arbeiterbewegung und die KP Jugoslawiens. Hinzu kam die schwankende und opportunistische Haltung der Parteiführung, die nicht mutig und fähig genug war, in einer solchen Lage die erfolgversprechenden Formen des Klassenkampfes anzuwenden ... So wurde die Organisation (Anmerkung des Autors: gemeint ist der „Rote Terror") von jungen Intellektuellen und Arbeitern gegründet, die den Zielen des Proletariats treu waren und kompromißlos für den Sozialismus kämpften..."

Energie, Intelligenz, Weitblick und Ehrgeiz sind die hervorstechenden Charaktereigenschaften des jungen Königs Alexander. Er will aus Jugoslawien einen Einheitsstaat bilden, der gleichzeitig ein Kristallisationszentrum für seine weiteren Balkanpläne sein soll. Obwohl seinerzeit nur ein kleiner Kreis über diese Ideen des Königs informiert war, läßt sich heute mit einiger Sicherheit aussagen, daß Alexander als fernes politisches Ziel auch die Einbeziehung Bulgariens in ein großes südslawisches Reich auf dem Balkan ins Auge gefaßt hatte. Im Juni 1922 hat er die rumänische Prinzessin Maria geheiratet und damit enge Beziehungen zu Bukarest hergestellt. Moskau befürchtet nicht ohne Grund die Schaffung eines antikommunistischen Blocks der balkanischen Völker, deren Nachbarschaft zur ohnehin separatistisch gesonnenen Sowjet-Ukraine gefährlich werden kann.

Aber Alexander hat auch andere Feinde. Aus der Emigration lenkt der kroatische Politiker Dr. Ante Pavelić eine kroatische Separatistenbewegung, die im jugoslawischen König das größte Hindernis für die Freiheit Kroatiens sieht. Auch die berüchtigte serbische Terroristen-Organisation „Die Schwarze Hand", die nach der blutigen Ermordung des letzten Herrschers aus dem Hause Obrenović und seiner schönen Gemahlin Draga, den Vater Alexanders, Peter I. zum König ausgerufen hat, sich aber später mit dem Thronfolger-Regenten überwirft, arbeitet an der Beseitigung des jungen Königs. Wenn in der jugoslawischen Hauptstadt Höllenmaschinen explodieren, müssen sie nicht unbedingt von kroatischen Nationalisten oder von der Schwarzen Hand stammen: es gibt auch noch mazedonische Separatisten der Vereinigung VMRO (2), die auf diese Art und Weise gegen die Mißachtung ihrer nationalen Wünsche durch das königliche Regime protestieren. Eine Zeitbombe mazedonischer Herkunft, die das Gebäude der königlichen Residenz hätte in die Luft fliegen lassen, wird in letzter Sekunde entdeckt und entschärft. Nach dem mißglückten Mordanschlag Stejićs leistet sich Alexander nicht mehr den Luxus, im offenen Wagen durch die Straßen Belgrads zu fahren. Bei öffentlichen Anlässen trägt er nicht selten Panzerhemden. Ein dichter Schleier von Leibwachen und Detektiven sichert ihn vor dem stürmischen Ausbruch der politischen Leidenschaften seiner Untertanen.

Für die Kommunistische Partei Jugoslawiens hat das Attentat vom 28. Juni 1921 ernste Folgen. Der Umstand, daß der Attentäter ein Kommunist ist, macht die Partei im Volke so unbeliebt, daß die Zahl ihrer Anhänger rasch von 60 000 auf 30 000 absinkt. 1932 zählt sie schließlich nicht mehr als 200 echte Mitglieder. Sechzehn Jahre danach, auf dem V. Kongreß der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, 1948, schildert Marschall Tito diese Krise der Partei, allerdings ohne auf ihre Ursache einzugehen: „Damals war unsere Partei völlig ohnmächtig. Hier und dort bestanden einige zerstreute Gruppen. Fast alle höheren, mittleren und niederen Kader waren entweder umgebracht worden oder sie befanden sich im Zuchthaus oder in der Emigration."

Wie ist es dazu gekommen? Die KP Jugoslawiens wurde auf dem Belgrader Kongreß (20. bis 23. April 1919) gegründet. Schon auf dem Parteitag von Vukovar, ein Jahr danach, spaltet sich jedoch eine erste Oppositionsgruppe ab; ein Serbe, Professor Sima Marković, wird zum Sekretär des Zentralkomitees gewählt, wie übrigens auch alle neun Mitglieder des Exekutivkomitees zu jener Zeit Serben sind. Professor Marković, ein humanistisch gesinnter Intellektueller mit umfassender Bildung, ist keineswegs ein Mann nach dem Geschmack Moskaus. Er steht unter dem Einfluß indischer Philosophie, insbesondere der von Rabindranat Tagore, und die Idee von einer friedlichen und allmählichen Beilegung der gesellschaftlichen Spannungen ist nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben. Vor allem aber verdammt er aufs entschiedenste jedes Blutvergießen und wagt es sogar, sich in dieser Hinsicht auch dem Kreml zu widersetzen, als dieser den Kopf Alexanders fordert. Seine „linken" Gegner, an ihrer Spitze der Maler Moša Pijade, der später unter dem Regime Tito zu höchsten Ehren gelangen soll, nennen Marković einen „Anarchisten und Utopisten". Die Komintern setzt sich für die „Linken" ein, lädt sie nach Moskau zum IV. Weltkongreß der Komintern ein und verhilft ihnen zum Übergewicht im jugoslawischen ZK. Es stört den Kreml nicht im mindesten, daß der Exponent dieser „Linken" ausgerechnet ein wohlhabender Rechtsanwalt bürgerlicher Abstammung aus Belgrad ist, Triša Kaclerović; für Moskau ist es ausschlaggebend, daß Kaclerović widerspruchslos die Pläne der Komintern für eine Zerschlagung Jugoslawiens und die Beseitigung Alexanders gutheißt. Während Professor Marković nach wie vor jede Gewaltanwendung und den individuellen Terror ablehnt und auf der Einheit des Landes besteht, läßt Kaclerović auf der III. Nationalkonferenz der jugoslawischen KP, die im Dezember 1923 illegal in Belgrad abgehalten wird, die später von Stalin übernommenen Thesen Sinowjews propagieren. In diesen Thesen wird die territoriale Integrität Jugoslawiens als eine Schöpfung des Versailler Vertrags und für die Ausbreitung des Kommunismus hinderlich bezeichnet; Jugoslawien sei ein Vielvölkerstaat, heißt es in der Resolution, in dem die serbische Bourgeoisie das große Wort führe und dessen unterdrückte Völker nach Selbständigkeit dürsten.

Diese entscheidende Wendung in der Parteilinie, die gleichzeitig den Einfluß der serbischen Kommunisten eindämmt, wird nicht ohne Murren aufgenommen. Auf dem V. Kongreß der Komintern von 1924 findet sie eine erneute Bestätigung in einer Resolution, in der es heißt: "Die Losung vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, die von der KP Jugoslawiens vertreten wird, soll in der Abtrennung Kroatiens, Sloweniens und Mazedoniens von Jugoslawien und in ihrer Umwandlung in völlig unabhängige Republiken einen Niederschlag finden."

Professor Marković bezeichnet diese Resolution als eine Katastrophe. Tatsächlich setzt sich der durch die Mordanschläge ausgelöste Mitgliederschwund beschleunigt fort. Auch die „Unabhängigen Gewerkschaften", eine von der illegalen KP stark unterwanderte Organisation, verlieren danach rasch die meisten ihrer Mitglieder: von etwa 30 000 bleiben nur 2000 übrig.

Die innerparteilichen Auseinandersetzungen werden so erbittert, daß die Komintern dieses Thema auf die Tagesordnung einer Plenarsitzung im Jahre 1925 setzt und eine Kommission für die Diskussion des jugoslawischen Problems bildet, an deren Spitze sich kein Geringerer als Josef Stalin befindet. Am 30. März 1925 ergreift Stalin das Wort, um Professor Marković schwer zu rügen; der bulgarische Exilkommunist, Wassil Kolaroff, dem die These von der Zerstückelung Jugoslawiens besonders gefällt, weil er schon Mazedonien als Bestandteil eines künftigen kommunistischen Bulgariens sieht, unterstützt ihn dabei mit besonderem Eifer. Allmählich wird das ständige Gezänk der jugoslawischen „Rechten" unter Marković und der „Linken" unter Rajko Jovanović und Djuka Cvijić auch der Komintern zu viel, vor allem wohl deshalb, weil eine so zerrissene Partei außerstande ist, auch nur die wichtigsten Aufträge der Moskauer Zentrale erfolgreich ausführen zu können. Im Mai 1928 wendet sich der Exekutivausschuß der Komintern in einem offenen Brief an die KP Jugoslawiens, in dem unter anderem gesagt wird: „Die Komintern ist der Ansicht, daß die jetzigen intellektuellen Führer der Partei Schiffbruch erlitten und damit bewiesen haben, daß an der Spitze der Partei die besten proletarischen Elemente stehen sollten." Dementsprechend wird der Metallarbeiter Djura Djaković, ein in der Moskauer Emigration lebender Parteifunktionär, zum neuen Organisationssekretär des jugoslawischen ZK ernannt. Er kommt auf Schleichwegen über Österreich ins Land.

Ohne deshalb die beiden wichtigsten Forderungen des Kreml, die Beseitigung des Königs und die Zerschlagung des jugoslawischen Staates zu vernachlässigen, versucht Djaković mit allen Kräften den Mitgliederschwund der Partei aufzuhalten. Er erkennt bald, daß dazu eine straffe Ausrichtung aller KP-Führer notwendig ist. Aber selbst die verwegensten Kommunisten sehen ein, daß sich unter den gegebenen Umständen ein Parteikongreß im Lande nicht durchführen läßt. Auch Wien, wo die königlich-jugoslawische Polizei ein ausgezeichnetes Spitzelsystem unterhält, kommt als Versammlungsort nicht in Frage. So einigt man sich auf Dresden, wo die Delegierten im Oktober 1928 vom Abgesandten der Komintern, Professor Ercole Ercoli begrüßt werden. Niemand weiß damals, daß sich hinter diesem Namen Palmiro Togliatti verbirgt, der Mann, der nach dem Zweiten Weltkrieg Führer der italienischen KP werden soll. Ercoli zwingt Marković zur Selbstkritik. Später wird der Führer der „Rechten" in die Sowjetunion gelockt und dort liquidiert. Djaković wird vom Kongreß als Organisationssekretär bestätigt, der Montenegriner Jovan Malisić, der unter dem falschen Namen „Martinović" auftritt, wird zum ZK-Sekretär gewählt.

Zwei Monate nach dem Dresdener Kongreß führt König Alexander jedoch nach einem Staatsstreich ein autoritäres Regime in Jugoslawien ein. Malisic ruft zum verzweifelten Aufstand auf, aber es findet sich kaum ein Kommunist, der diesem Aufruf Folge leistet. Das gesamte ZK muß ins Ausland flüchten, und zahlreiche Kommunisten werden verhaftet. Von 1929 bis zum Tode König Alexanders werden gegen Kommunisten elf  Todesurteile, vier lebenslängliche Zuchthausstrafen und gegen 853 Parteimitglieder insgesamt 2342 Jahre Zuchthaus verhängt. Djuro Djaković, der treueste Verfechter der Moskauer Linie, wird von der königlichen Polizei beim Fluchtversuch erschossen. In jenen unruhigen Tagen zählt ein Menschenleben wenig auf dem Balkan.



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