Zur
Einführung
Das Jahr 1934 ist in vielerlei
Beziehung ein Schicksalsjahr für Europa. Der Kontinent steht an
der Schwelle einer Katastrophe. Die Menschen fühlen das nahende
Unheil. Sie sind verwirrt und beunruhigt. In Deutschland hat Hitler den
Röhm-Putsch zur Ausschaltung seiner Gegner benutzt, und der Tod
Hindenburgs räumt bei denen die Hoffnung aus, die vom greisen
Reichspräsidenten einen mäßigenden Einfluß auf
die braune Diktatur erwarteten. In Wien kommt es zu blutigen
Straßenkämpfen und im Juli zu einem nationalsozialistischen
Putsch, bei dem Bundeskanzler Dollfuss ermordet wird. Mit ihrer
Aufnahme in den Völkerbund gewinnt die Sowjetunion Einfluß
auf viele internationale Gremien. Entscheidend für diese
de-jure-Anerkennung der UdSSR ist die Haltung Frankreichs, dessen
Außenminister Louis Barthou den Versuch unternimmt, die deutsche
Wiederaufrüstung durch eine Ost-West-Koalition gegen Hitler zu
paralysieren. Italien schickt sich an, durch eine engere
Tuchfühlung zu Österreich und Ungarn seinen Einfluß auf
den Donauraum zu erweitern. In Estland und Lettland kommt es zu
Staatsstreichen, autoritäre Kräfte setzen sich auch hier
durch. Blutige kommunistische Unruhen in Asturien, Sturmzeichen des
Bürgerkrieges, erschüttern die Grundfesten der spanischen
Republik. Mit der Ermordung des Stalinschen Kronprinzen Kirow wird
schließlich in diesem Unheilsjahr der Terror der Großen
Tschistka, der Säuberung in der sowjetischen KP, ausgelöst.
Verwirrend und widersprechend sind alle diese Meldungen. Propaganda ist
zur Politik, die Politik zur Propaganda geworden, und die
europäischen Durchschnittsbürger sind plötzlich in einen
Strudel undeutbarer Ereignisse und Vorgänge geraten. Alle Werte
werden umgewertet. Die Gegenwartsgeschichte ist zu einer Wissenschaft
geworden, zu der nur noch wenige den Schlüssel haben. Darin
gleicht sie jener ebenso unwirklichen Wissenschaft von den Atomen, von
einer neuen, irrationalen Welt, in die das Ehepaar Joliot-Curie im
Jahre 1934 einen kühnen Riesenschritt hineingeht, als ihm die
künstliche Herstellung radioaktiver Stoffe gelingt. Ein neues
Zeitalter ist angebrochen. Die Menschheit ahnt es, aber sie kennt noch
nicht seine gewalttätigen Formeln.
Dieses Jahr wird auch zum Schicksalsjahr des europäischen
Südosten. Im Februar verbünden sich Jugoslawien,
Griechenland, Rumänien und die Türkei zum Balkanpakt. Er
soll, so versichern seine Urheber, die Keimzelle einer
südosteuropäischen Völkergemeinschaft werden, eines
neutralen Machtblocks zwischen Adria und Schwarzem Meer. Das
geographische Kernstück, Bulgarien, eingebettet in die neue
Allianz, bleibt dem Balkanpakt fern. Nicht ohne Grund. In Sofia
träumt man von einem Großbulgarien, und man weiß,
daß sich der Pakt nicht zuletzt gegen den bulgarischen
Revisionismus wendet. Alexander, „König der Serben, Kroaten und
Slowenen" und gleichzeitig der Initiator des Balkanpaktes, ist nicht
nur aus Sorge um die Grenzen seines Landes dem Bündnis so zugetan.
Er möchte auch die Bulgaren in die Allianz einbeziehen, denn er
spürt die Gefahr, die ewig balkanische Gefahr der Zersplitterung,
in einer Welt von morgen, deren Machtblöcke sich schon
konsolidieren. Er will die Dritte Kraft, einen neutralen Block
schaffen, ohne zu ahnen, daß fünfzehn Jahre später ganz
ähnliche Impulse unter ganz anderen Voraussetzungen abermals aus
Belgrad kommen werden.
Im Mai 1934 bringt ein Militärputsch des sogenannten Zweno-Kreises
in Sofia Kimon Georgieff an die Macht. Von nun an wird auch Bulgarien
autoritär regiert, die demokratischen Parteien werden verboten.
Der Zweno-Kreis hinter der regierenden Offiziersjunta ist russophil,
ja mehr als das: obwohl die Kommunistische Partei des Landes schon seit
zehn Jahren verboten ist, haben sich die verschwommenen Theorien von
einer sozialen Weltverbesserung nach Lenins Rezept in den Köpfen
vieler Bulgaren festgesetzt. Auch die bulgarischen Militärs
entwickeln eine gefährliche Sympathie für die Mystik der
kommunistischen Theorie. Stalins vorsichtig angedeuteter „nationaler
Kurs" erweckt die alte bulgarische Liebe zum Mütterchen
Rußland, und so ist die offizielle Aufnahme diplomatischer
Beziehungen zwischen Moskau und Sofia einer der ersten Schritte der
neuen Regierung.
Am 9. Oktober 1934 wird schließlich in Marseille bei einem
Staatsbesuch der jugoslawische König Alexander ermordet. Neben ihm
sinkt, tödlich getroffen, auch Louis Barthou, Frankreichs
Außenminister, zusammen. Der Attentäter ist ein Mazedonier
namens Tschernosemsky.
Die Nachricht von der Bluttat löst die verschiedenartigsten
Kombinationen über Motiv und Anstifter aus. Daß der
Mazedonier nur Werkzeug war, darüber gibt es keinen Zweifel. Aber
welche der großen europäischen Mächte waren
außerdem interessiert am Tode König Alexanders, wer am Tode
Barthous?
Die Propagandamaschinen laufen an und verwirren ganz Europa. Ein Staat
beschuldigt den anderen, offen und versteckt. Dann ziehen neue
Gewitterwolken an Europas Himmel auf, neue Sensationen erschüttern
die Zeitungsleser. Ungelöst bleibt das Rätsel um den
Königsmord. Frankreichs Untersuchungsrichter sind froh, das
heiße politische Eisen in die Friedhofsruhe der Dossiers
zurücklegen zu können und einigen sich auf die bequemste
Lösung: Mazedonier und Kroaten haben einen Mann beseitigt, der
ihren leidenschaftlichen nationalistischen Träumen im Wege stand.
Ein innerjugoslawisches Problem also, etwas unverständlich in der
Logik zwar, aber eben nicht unverständlicher, als für die
meisten Europäer die wilden Eruptionen im Südosten des
Kontinents seit eh und je gewesen sind.
Erst jetzt, vor dem 25. Jahrestag des Attentats, haben die Publizisten
das Rätsel vom 9. Oktober 1934 wieder aufgegriffen. Das trägt
nicht immer zur historischen Klärung bei. Im Gegenteil, die
meisten „Tatsachenberichte" zu diesem Thema sind niedergeschrieben
worden im offensichtlichen Drang, eben zu diesem Thema etwas zu sagen,
weil es gerade zur Mode gehört.
Es muß daher besonders begrüßt werden, daß
Themistokles Papasissis nicht nur bisher unbekannte Tatsachen, das
Ergebnis jahrelanger Recherchen in Südosteuropa, in seinem Bericht
verarbeitet hat, sondern auch in flüssigem Erzählerstil die
besonderen Gegebenheiten von Ort und Zeit der Verschwörung gegen
König Alexander von Jugoslawien wieder vor unserem geistigen Auge
lebendig werden läßt.