Vorläufige Untersuchungen über den bairischen Bulgarenmord von 631/632
Heinrich Kunstmann 

 

I. DER TATBESTAND

 

2. Auf der Suche nach dem Tatort

 

 

- Zur Geographie einiger Bulgaren-Ortsnamen  (24)

- Die bairisch-pannonische Ennsgrenze  (29)

- Die anonymen Toten von St. Florian  (40)

 

 

 

Zur Geographie einiger Bulgaren-Ortsnamen

 

Den Quellen zufolge muß der Ort des Geschehens außerhalb der alten bulgarischen Aufenthalts- und Siedelgebiete, also westlich von Pannonien zu suchen sein. Erste Hinweise auf den Tatort oder seine nähere Umgebung können möglicherweise von Ortsnamen erwartet werden, in denen das Bulgaren-Ethnonym enthalten ist. Es gibt eine Handvoll solcher Ortsnamen, die sowohl unter unserem Gesichtspunkt als auch im Blick auf die frühe bulgarische Geschichte von Interesse sein können. Ortsnamen, die das Bulgaren-Ethnonym aufweisen, begegnen an vier, geographisch weit auseinanderliegenden Punkten: in Italien und Südmähren, in Sachsen und Oberösterreich.

 

Was Bulgaren-Immigrationen nach Italien anlangt, so ist hier wenigstens mit drei verschiedenen Zeitstellungen zu rechnen. Erstmals wanderten, laut Paulus Diaconus, Bulgaren unter dem Langobardenkönig Alboin, also um 568 zu [57]. Auf diese Bulgaren-Einwanderung könnten der für 830 und 885 im Gebiet von Cremona belegte ON Bulgari [58] sowie der für 890 westlich des Mailändischen nachgewiesene comitatus burganensis [59] zurückzuführen sein. Als zeitlich zweite bulgarische Einwanderung ist sodann der schon erwähnte Bericht des Theophanes in Betracht zu ziehen, nach welchem sich zur Zeit des byzantinischen Kaisers Konstans II. (641-668) Bulgaren in der Pentapolis von Ravenna niedergelassen haben [60]. Es handelt sich dabei, wie gesagt, wahrscheinlich um den

 

 

57. Paulus Diaconus II, 26. Auf den Vorgang wird auch durch R. Wenskus: Stammesbildung und Verfassung. Köln-Wien 21977, 497 f. u. Ann, 451, hingewiesen.

 

58. Bruckner 5 f.

 

59. Ebda. Daß es in Italien aber auch zur Ansiedelung von Awaren ( ! ) gekommen ist, mag der für 940 belegte ON Auaringo bei Asti bestätigen, ebda.

 

60. Theophanes I, 357, 19 ff. Vgl. dazu Moravcsik 100 f.

 

 

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fünften der bulgarischen Stämme. Möglicherweise hängen damit der PN Bulgarus in einem Codex der Kirche von Ravenna und der gleichnamige, vielleicht als Toponym zu verstehende Personenname ebenda zusammen [61]. Die zeitlich dritte Ansiedelung von Bulgaren in Italien ist dann wohl identisch mit den oben beschriebenen Vorgängen um Alciocus-Alzeco und dessen Einweisung ins Benevent durch den Langobardenkönig Grimoald. Die für 821 bezeugten Namen Pulcari und Polcari könnten Niederschläge davon sein [62].

 

Etwa acht Kilometer nordostlich von Nikolsburg (Mikulov) in Südmähren, östlich der Pollauer Berge, an der Thaya gelegen, gibt es noch heute das Dorf dtsch. Pulgram / č. Bulhary, das für 1244 als Bulgarn nachgewiesen wird [63], jedoch - angeblich - kein ursprünglicher (původní) Ortsname, sondern eine Übertragung des oberösterreichischen ON Pulgarn sein soll [64]. Ob südmährisches Pulgram mit dem hier interessierenden Bulgarenmord in Verbindung gebracht werden darf, ist wieder eine andere Frage. Ernst Schwarz hat dazu gemeint, dies sei unsicher, ja unwahrscheinlich, denn nach seiner Meinung sei Südmähren im 7, Jahrhundert "wohl im Machtbereich der Avaren" gewesen [65]. Statt dessen dachte Schwarz an eine Bulgaren-Ansiedlung vielleicht erst aus der Zeit der fränkisch-bulgarischen Kämpfe von 827 oder, was ihm noch wahrscheinlicher schien, "daß es sich hier um einen von Bulgaren (nicht Balkan-, sondern Wolgabulgaren) in der Magyarenzeit des 10. Jhds. besetzten Grenzplatz handelt". Mit dieser Meinung

 

 

61. Glossar A, II, 261 f.

 

62. Bruckner 6.

 

63. L. Hosák, R. Šrámek : Místní jména na Moravě a ve Slezsku. Praha 1970. Bd. I, 134.

 

64. L. Hosák, R. Šrámek sagen "odkud byla ves patrně založena". Dieses offensichtliche Mißverständnis läßt sich leicht aufklären: Fr. Beranek: Die ON Südmährens. In: Heimat Südmähren. Hg. v. A. Krebs. Geislingen 1955 , 83, sagt über den fraglichen südmährischen ON: "Auch ein Häuflein Bulgaren haben (!) die Völkerstürme des Ostens nach Südmähren hereingeweht. Pulgram heißt 1244 Bulgarn und hat ein Gegenstück im oberösterreichischen ON Pulgarn". Zu Recht sagt Beranek somit nicht, daß oberöster. Pulgarn nach Südmähren übertragen worden sei.

 

65. E. Schwarz: Die Ortsnamen der Sudetenländer als Geschichtsquelle. München 21961, 70.

 

 

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bewegt sich Schwarz in der Nähe einer nicht ausdrücklich erwähnten Vermutung von Mitscha-Märheim [66]. Eine andere Frage ist die der etymologischen Deutung von südmährischem Pulgram / Bulhary. Hosák und Šrámek verweisen - mit Fragezeichen versehen - auf den Deutungsvorschlag von Eichler (vgl. unten).

 

Schwierig hinsichtlich einer Klärung von Herkunft und Bedeutung ist auch der verhältnismäßig spät belegte ON Pulgar: 1464 Pulger(n), 1548 Bulgern, 1562 Polgern in Sachsen im Kreis Borna bei Leipzig, südöstlich von Zwenkau [67]. Ernst Eichler meint dazu, "ein Zusammenhang mit dem Volksnamen (sei) natürlich nicht anzunehmen", was aber keineswegs so natürlich ist, da doch nicht auszuschließen ist, daß kleinere bulgarische Stammessplitter - vielleicht schon zur Zeit der Awaren-Wirren - bis nach Sachsen verschlagen werden konnten. Immerhin kennen wir analoge Fälle, beispielsweise den der Kroaten, deren Ethnonym sich bekanntlich in den sächsischen ON Groß- und Klein-Korbetha nordöstlich von Weißenfels sowie Korbetha nördlich von Merseburg widerspiegelt [68]. Wenn schon Kroaten nach Sachsen verschlagen wurden, warum dann nicht auch Bulgaren? Eichlers Vermutung, Pulgar sei aus altsorbisch. *Polěgary bzw. *Polelěgary durch Haplologie entstanden, wirkt konstruiert. An das Bulgaren-Ethnonym zu denken, selbst wenn es dafür vorerst keine Beweise gibt, scheint doch näher zu liegen.

 

 

66. H. Mitscha-Märheim: Oberleis, Niederleis, von der Urzeit zum Mittelalter. In: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich 32, 1955/6, 35. Hier wird u.a. gesagt, Pulgram sei 'wohl' (!) ein von Bulgaren besetzter Gyepüplatz, also ein Grenzplatz gewesen, bei dem es sich, laut Fußnote 32a, "keineswegs um Bulgaren vom Balkan, sondern Wolgabulgaren, Nordnachbarn der Kasaren" gehandelt habe; "Teile dieser beiden Turkstämme sind auch sonst im 10. Jhd. in enger Fühlung und Gefolgschaft mit den Magyaren nachweisbar!" - Nicht nachgewiesen ist damit natürlich, ob südmährisches Pulgram nun wirklich etwas mit den Wolga- und nicht den Donau-Bulgaren zu tun hat.

 

67. E. Eichler: Studien zur Frühgeschichte slawischer Mundarten zwischen Saale und Neiße. Berlin 1965, 235, Nr. 38.

 

68. Eichler 103 f.

 

 

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Es bleibt nur noch der ON Pulgarn in Oberösterreich, Gemeinde Steyregg, Bezirk Urfahr, zu besprechen, der Name einer noch heute gegebenen kleinen Ortschaft östlich von Linz, am rechten Donau-Ufer, unmittelbar gegenüber dem alten Mautplatz Raffelstetten [69]. Der ON ist erstmals als ad Pulgarin für 1111 nachgewiesen [70]. Weitere Belege und Schreibvarianten: 1111 ad Pulgarn [71] , 1113 ad Pulgarn [72], 1122 ad Pulgarn [73], 1303, 1305 hospitale pauperum in Pulgarn [74], 1351 Pullegarn [75], 1431 Pulgarn [76], 1467 Pulgarn [77], 1481 Buligarn [78] und 1787 Bulging [79].

 

Dieser aufschlußreiche Ortsname [80], der fraglos als Dativ pluralis eines Insassennamens auf -er zu verstehen und in dieser Form namentlich in bairischen Siedlungsnamen anzutreffen ist [81], hat bisher vier verschiedene etymologische Deutungen erfahren. Johann Andreas Schmeller meinte, der ON Pulgarn sei vielleicht auf ein mysteriöses slavisches Wort Poldigoeri

 

 

69. Über die Geschichte des Ortes, insbesondere eines alten, seit 1303 nachgewiesenen Spitals vgl. Handbuch der Historischen Stätten. Donauländer und Burgenland. Hsg. K. Lechner. Stuttgart 1970, 89.

 

70. Datierung nach Koller (1977) 288.

 

71. Datierung ebda.

 

72. Datierung nach Walter 104.

 

73. Datierung ebda.

 

74. K. Schiffmann S. 163, UB OÖ 4 Nr. 482, 522.

 

75. UB OÖ 7 Nr. 252.

 

76. Archiv für die Geschichte der Diözese Linz. Linz 1904-10, V, 120.

 

77. Die mittelalterl. Stiftsurbare des Landes ob der Enns. Hsg. K. Schiffmann, Wien 1912-25. II, 432, Nr. 25.

 

78. Urbare der Herrschaft Steyreck von 1481 (Abschrift aus dem 19. Jhd.), 1512, 1555, 1619, 1668 (OÖ. Landesarchiv).

 

79. C. Schütz: Mappa von dem Lande ob der Enns, 1787. - Für die Mitteilung aller dieser Belege bedanke ich mich ergebenst bei Frau Dr. Isolde Hausner von der Kommission für Mundartkunde und Namenforschung bei der österreichischen Akademie der Wissenschaften zu Wien.

 

80. Zu Recht unerwähnt, da nicht slavischer Provenienz, bleibt der ON in den ansonsten wichtigen Arbeiten von O. Kronsteiner: Die slavischen ON in Oberösterreich. In: Österreichische Namenforschung 1978, H. 1-2, 5 ff.; ders.; Die slawischen Orts- und Flurnamen in Oberösterreich. In: Baiernzeit 344 ff.

 

81. A. Bach: Deutsche Namenkunde. Die deutschen ON. Heidelberg 1953. II, 1, 192 f.

 

 

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zurückzuführen [82], während Förstemann später die Ansicht vertrat, Pulgern bei Mauthausen in Oberösterreich sei mit Puhelarn gleichzusetzen, welches Wort "fast so aussieht, als läge hier Bulgaren im sinne des altfranz. bougre, bolgre (von bulgarus) = ketzer vor..." [83]. Die dritte Deutung des fraglichen Ortsnamens stammt dann von K. Schiffmann, der ihn zu altkirchenslavisch bzw. (neu)-slovenisch pologъ, 'bei den Leuten im Talkessel' [84] stellt. Schiffmanns Interpretation, die sich zwar durch die Realprobe bestätigt, die aber auf Grund der zahlreichen urkundlichen Überlieferungen, wie Ernst Schwarz schon 1926 beanstandete, wenig wahrscheinlich wirkt, muß wohl hinter die Deutung von Schwarz zurücktreten, der den ON eben mit dem Volksnamen der Bulgaren in Zusammenhang bringt [85]. Schwarz dachte im Blick auf den oberösterreichischen Bulgaren-Ortsnamen aber auch bereits ganz konkret an den bairischen Bulgarenmord von 631/2. Dieser Auffassung, die Schwarz später wiederholt, schließen sich in der Folge mehrere andere Forscher an [86], wobei auch die Vermutung geäußert wurde, es könnten womöglich Bulgaren in Baiern geblieben, also dem Massaker entgangen sein, was zwar durch nichts zu belegen ist, was aber möglich sein und vielleicht so erklärt werden könnte, daß tatsächlich einige wenige Bulgaren - außer den rechtzeitig entkommenen

 

 

82. J.A. Schneller: Bayerisches Wörterbuch. 3. Heudruck: Aalen 1973. Bd. I, Sp. 237, wo gesagt wird: "(locus) qui lingua Slavica Poldigoeri dicitur". Schneller beruft sich dabei auf einen Artikel in den Wiener Jahrbüchern der Literatur. Bd. 40, 1827, 141.

 

83. E. Förstemann: Altdeutsches Namenbuch. Zweiter Band: Ortsnamen. Bonn 1913 (Neudruck: Hildesheim-München 1967). Bd. I, Sp. 616; Bd. II, Sp, 1512. - Die Bulgaren-Etymologie = altfranz. bougre = boulgre 'Ketzer' findet sich im übrigen schon bei Schnellet I, Sp. 217: "Die Bulgaren waren meist Manichäer, also für die kreuzfahrenden Franken Ketzer". - Diese Etymologie bestätigt auch W. Meyer-Lübke: Romanisches etymologisches Wörterbuch. Heidelberg 51972, 126, Nr. 1383.

 

84. K. Schiffmann: Das Land ob der Enns. München 1922, 239; sowie ders.: Ortsnamen-Lexikon. Erg. Bd. 95.

 

85. Schwarz 98.

 

86. Vgl. E. Schwarz; Die OK der Sudetenländer... 70. - Zöllner (1950) 252 sagt: "es scheint auch denkbar, daß einzelne Bulgaren in Baiern blieben...", worauf "möglicherweise der ON Pulgarn, nördlich Linz..." hinweise.

 

 

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700 unter Alciocus - infolge Versklavung, Knechtschaft oder Dienstbarkeit (ex captivitate) dem ihnen zugedachten Schicksal entgingen, weil ein vornehmer Baier der Gegend den Befehl Dagoberts nicht ausführte, ihm zugewiesene Bulgaren verbarg und sich nutzbar machte.

 

Pulgarn in Oberösterreich aber ist von allen bisher bekannten Bulgaren-Ortsnamen in Italien, Südmähren und Sachsen ohne Frage der einzige geographische Punkt, der sich mühelos und logisch mit dem Geschehen von 631/2 in Verbindung bringen läßt, und zwar deshalb, weil er an der östlichsten Peripherie sowohl des merowingischen Frankenreiches als auch des frühen Herzogtums Baiern, unmittelbar an der bairisch-pannonischen Ennsgrenze gelegen ist.

 

 

Die bairisch-pannonische Ennsgrenze

 

Die topographische Lage von Pulgarn an der östlichsten Peripherie des frühmittelalterlichen bairischen Siedlungsraumes lenkt bei der Suche nach dem Tatort des Bulgarenmordes das Augenmerk naturgemäß auf die älteste bairische Ostgrenze an der oberösterreichischen Enns. Der Bericht Fredegars, das darf nicht unbeachtet bleiben, bietet zwei geographische Orientierungshilfen - Baiern und Pannonien. Beide Angaben lassen es realistisch erscheinen, die Verübung der Tat in Grenznähe, das heißt in unmittelbarer Nähe der bairisch-pannonischen Ennsgrenze zu vermuten, und zwar mit großer Wahrscheinlichkeit auf dem westlichen Ufer dieses Flusses.

 

Das seit der Römerzeit [87] historisch gut greifbare oberösterreichische Kulturland gliederte sich ursprünglich in einen nördlichen,

 

 

87. Pauly's Real-Encyclopädie d. Class. Alterturaswiss. 33. Halbbd. Stuttgart 1936, Sp. 971 ff.; Zibermayr; G. Alföldy: Noricum. London, Boston 1974; G. Winkler: Die Römer in Oberösterreich . 1975. F. Kaphahn: Zwischen Antike und Mittelalter, Das Donau-Alpenvorland im Zeitalter St. Severins. München 1947 (Neudruck: Aalen 1980). F. Lotter: Severinus von Noricum. Stuttgart 1976.

 

 

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Das Donaubecken Linz-Raffelstetten-Mauthausen und Enns (Lorch).

Entwurf: J.A. Zimmermann

Zeichnung: Dipl. Ing, S. Schmidtner.

 

 

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an der Donau gelegenen Teil, das Ufer-Noricum (Noricum ripense), und in einen südlichen, das Binnen-Noricum (Noricum mediterraneum). Vom nördlichen Teil war der hier namentlich interessierende Traungau später Bestandteil der Drei Grafschaften (comitatus tres). Noch später wurde das Gebiet Land ob der Enns (Ennsland) genannt, im Gegensatz zu dem östlich anrainenden Pannonien Oder Land unter der Enns.

 

Für Rom war dieser Raum die nördlichste Grenze des Reiches. Nach dem Abzug Roms und nach der bairischen Besiedlung [88] des Landes wird die Enns für lange Zeit zur festen Ostgrenze des bairischen Stammesgebietes [89]. Dabei, das ist gebührend hervorzuheben, war die Ennsgrenze freilich niemals Grenze im Sinne einer befestigten Linie oder eines limes. Am besten charakterisieren die Funktion der Enns bereits für 791 die sog. Einhard-Annalen (Annales qui dicuntur Einhardi): nam is fluvius inter Baioariorum atque Hunorum terminos medius currens certus duorum regnorum limes habebatur [90]. Übersetzt man den Begriff limes certus mit natürliche Grenze, dann erhält man damit auch die treffendste Charakteristik der Ennsgrenze: sie war Scheidelinie zwischen Baiern und dem im 6. und 7. Jahrhundert wohl noch siedlungslichten Pannonien. Die Funktion der Scheidelinie hatte die Enns zuletzt noch 1945, als sich die Heere der Amerikaner und Russen an ihr trafen und sie zur Demarkationslinie zwischen beiden wurde.

 

 

88. Uhlirz 141 ff., Zöllner (1979) 39 ff.; vgl. auch: S. Haider: Oberösterreich im bairischen Stammesherzogtum; J. Reitinger: Die baierische Landnahme aus der Sicht der Archäologie; P. Wiesinger: Die bairische Besiedlung Oberösterreichs auf Grund der Ortsnamen; A. Slawik; Siedlungs- und Sippengemeinschaften in Oberösterreich zur Zeit der ersten bairischen Landnahme im Spiegel der ON; H, Wolfram: Die Christianisierung der Baiern; alle in; Baiernzeit.

 

89. Koller (1960) 11 ff. Danach (S. 53) spricht einiges dafür, daß der ältere Besitz der bairischen Kirche nur westlich der Traun lag und sich die Baiern erst nach Gründung von Kremsmünster (777) auch östlich der Traun festsetzten. Dazu jedoch auch K. Holter: Die Gründung von Kremsmünster und die Besiedelungsgeschichte des mittleren Oberösterreich. In: Hitteilungen des oberöst. Landesarchivs 8, 1964, 43 ff.

 

90. MGH, Annales regni Francorum, Hannover 1895, 89.

 

 

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Überblick über die historischen Gebiete von Oberösterreich.

Zeichnung: Dipl. Ing. S. Schmidtner.

 

 

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Als die Baiern im 6. Jahrhundert daran gingen, ihre Herrschaft nach Süden, in die Alpenländer auszubreiten, bekamen sie östlich der Enns erst die Awaren, dann die Slaven zu neuen Nachbarn [91]. Allem Anschein nach kam die bairische Siedlungsbewegung östlich der Enns, in "Awarien", anfangs nur zögernd voran, und es ist denkbar, daß die östlich der Enns gelegenen bairischen Siedlungen zwischen 680 und 700 durch den von manchen Historikern als "Schlacht um die Ennslinie" bezeichneten awarischen Zugriff wieder verloren gingen. Diesen vielleicht bei Amstetten oder der heutigen Stadt Enns ausgetragenen Kampf überliefert bekanntlich der Freisinger Bischof Arbeo in seiner Vita sancti Emmerami [92]. Auch wenn so das östlich der Enns gelegene heutige Niederösterreich weder ein bairischer noch ein awarischer Herrschaftsschwerpunkt gewesen zu sein scheint, einfach deshalb nicht, weil es noch keine straffen Herrschaftsstrukturen gab [93], so bleibt doch wohl unbestritten, daß die Ennsgrenze bis zur Vernichtung der Awaren durch Karl den Großen in den Feldzügen von 791 bis 805 die Tangente einer rund zweihundertjährigen bairisch-awarischen Nachbarschaft bildete.

 

Urbane Kernpunkte des "oberösterreichischen Zentralraumes" [94] bildeten die alten römischen Stationen Lentia, Ovilava und Lauriacum, aus denen sich die späteren Städte Linz, Wels und Lorch (heute: Enns) entwickelten [95]. Von größter Bedeutung dürfte dabei

 

 

91. Reindel (1970) 71 ff.; Awaren, Slawen, Ungarn. Bayerns Nachbarn in Osten.

 

92. E. Klebel: Zur Geschichte des Herzogs Theodo, In: Verhandlungen d. Hist. Ver. f. Oberpf. u. Regensburg 99, 1958, 165 ff.; Barton 202 ff.

 

93. Koller (1960) 43 vertritt sogar die Ansicht, das Land zwischen Traun-Enns und Wienerwald sei durch lange Zeit hindurch wenig oder überhaupt nicht besiedelt gewesen; Koller denkt, die planmäßige und radikale Räumung dieses Gebietes durch die Romanen habe ein "wenig einladendes Niemandsland" hinterlassen. Die Siedlungsleere zwischen Enns und Wienerwald, für die eine Fundlücke so gut wie ausgeschlossen ist, bestätigt neuerdings auch F. Daim: Die Awaren in Niederösterreich. St. Pölten 1977, 29; außerdem: Germanen. Awaren. Slawen in Niederösterreich. Das erste Jahrtausend nach Christus. Wien 1977.

 

94. Pfeffer (21958) 37 ff.

 

95. Pfeffer spricht vom 'oberösterreichischen Städteviereck', zu dem er auch Steyr zählt, das erst 1254 obezösterreichisch wird.

 

 

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Lauriacum-Lorch gewesen sein, wo Rom schon kurz nach der Okkupation Noricums (16 v. Chr.) einen Militärstützpunkt errichtete und das Straßennetz auszubauen begann. Man glaubt in Lauriacum - neben Ovilava-Wels - eine oder die Provinzhauptstadt Ufer-Noricums zu sehen, und der Linzer Landesarchivdirektor Ignaz Zibermayr hielt Lauriacum-Lorch für die erste Hauptstadt Baierns, die erst nach der Niederlage gegen die Awaren (680-700 ?) auf Regensburg "zurückverlegt" wurde [96]. Zibermayrs Ansicht, die in den Quellen keine Stütze findet, wird indes heute nicht mehr geteilt. Lorch aber, daran kann es keine Zweifel geben, war um 631 die am weitesten nach Osten vorgelagerte 'Grenzstadt' des fränkischen Reiches, die, unmittelbar an der bairisch-awarischen Ennsgrenze postiert, zugleich im Schnittpunkt uralter bedeutungsvoller mitteleuropäischer Fernverkehrswege gelegen war.

 

Lorch, als römisches Lauriacum Garnison der legio II Italica und wichtigste Militärstation an der oberösterreichischen Donau, erhielt seine deutsche Namensform (Lorahha, Loriaca) um 791; es nennt sich seit 977 Anesa purch 'Burg an der Enns', woraus letztlich die heute übliche Bezeichnung Enns entstand [97]. Die strategisch wichtige Position von Lorch an der Mündung der Enns in die Donau wird vermutlich schon zur Regierungszeit Kaisers Claudius militärisch gesichert [98] und erhält nach Diokletian einen Grenzgeneral, der als dux Pannoniae primae et Norici ripensis den zu einem Dukat zusammengefaßten norischen und ehemals oberpannonisehen Donau-Limes befehligte.

 

In der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts kam es - möglicherweise als Folge von Attilas Kriegszügen - zur Zerstörung des römischen Lagers. Nach der bairischen Landnahme darf mit der Errichtung einer herzoglichen Pfalz gerechnet werden [99], die jedoch während

 

 

96. Zibermayr 94 ff.

 

97. Im folgenden wird die ältere Form Lorch beibehalten.

 

98. P. Karnitsch: Das römische Erdkastell und ein spätmerowingisch-frühkarolingisches Kriegergrab in Enns, In: Forschungen in Lauriacum. II. Linz 1954, 107 ff.

 

99. v. Jenny, Vetters 18.

 

 

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Der Raum Linz-Enns-Wels-Eferding.

Entwurf: F. Pfeffer.

Zeichnung: Dipl. Ing. S. Schmidtner.

 

 

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des Awaren-Überfalls zwischen 680 und 700 verwüstet wurde und erst unter Herzog Tassilo III. wieder fest in bairische Hände kam. Den ursprünglichen antiken Siedlungsbezirk wird man wohl erst zu Beginn des 10. Jahrhunderts im Zuge der Ungarneinfälle endgültig aufgegeben haben [100].

 

Von ganz eminenter Bedeutung ist die Erwähnung von Lorch in Karls des Großen Diedenhofer Kapitular (805), aus dem hervorgeht, daß dieser Ort den südöstlichsten Grenzhandelsplatz im Verkehr mit Awaren und Slaven bildete. Die bedeutende merkantile Position von Lorch ist allerdings nicht erst für 805 zu erwarten, da, wie bekannt, alle in Karls einschlägigem Kapitular zitierten Orte - mit Ausnahme von Magdeburg - schon lange vordem "traditionelle Grenzhandelspunkte an der slavischen Westgrenze waren" [101]. Lorch als herausragender Stützpunkt im Donauhandel war zugleich Umladeplatz von Schiffs- auf Landverkehr, und es spielte noch im 12. Jahrhundert neben Regensburg und Wien eine bedeutende Rolle im damaligen Donauhandel, der sich von den süddeutschen und rheinischen Städten bis nach Rußland hin erstreckte [102]. Es wäre denkbar, daß das an der Mündung der Enns in die Donau gelegene Lorch seinen Donauhafen in Raffelstetten hatte, was sich zwar nicht belegen läßt, wohingegen feststeht, daß beide Punkte durch einen Altweg von nur 6 km Länge miteinander verbunden waren [103]. In Raffelstetten, dem Tagungsort der berühmten Zollkonferenz von 904/6, auf der die Zoll- und Mautrechte festgehalten wurden, wie sie schon zur Zeit der Könige Ludwig des Deutschen, Karlmann und ihrer Nachfolger bestanden, fertigte man das früheste Dokument aus, das einen

 

 

100. Ebda. 19. - Aus der höchst umfangreichen Literatur zu Lorch seien nur einige neuere Arbeiten genannt: F. Lotter: Lauriacum-Lorch zwischen Antike und Mittelalter. In: Mitteilungen des oberöst. Landesarchivs 11, 1974, 31 ff.; R. Zinnhobler: Lorch und die Passauer Bistumsorganisation. Ebda. 51 ff. - Lorch in der Geschichte Hsg. R. Zinnhobler. Linz 1981 (darin mehrere einschlägige Forschungsarbeiten).

 

101. S.A. Wolf: Die slavische Westgrenze in Nord- und Mitteldeutschland im Jahre 805. In: Die Welt der Slaven 2, 1957, 42.

 

102. Pfeffer (1954) 63, 74.

 

103. Ebda. 47.

 

 

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Handel zwischen dem spätkarolingischen Imperium und der Kiever Rus' bestätigt [104]. Das ist einer der Gründe, warum Friedrich Panzer annahm, das Motiv des Brautwerbermärchens sei aus Rußland über Raffelstetten in das Nibelungenlied eingeführt worden [105].

 

Den Ausschlag für die nicht geringe handelspolitische Bedeutung von Lorch gab natürlich dessen Verkehrslage. Lorch befindet sich nämlich in der Schnittlinie mehrerer morphologisch von der Natur vorgezeigter Straßenzüge, die bereits vorrömisch begangen wurden. Man trifft hier zum einen auf die große Ost-West-Transversale längs der Donaufurche, auf die der Donau folgende UferLimes-Straße, welche über Eferding nach Passau führte [106]. Zum anderen trafen sich hier mehrere Nord-Süd-Linien, einmal - im Süden - die längs des Traunflusses nach Ischl führende Salzstraße, dann - im Norden - jenseits der Donau ein in der Aistfurche verlaufender bequemer Zugang nach Böhmen, darüber hinaus, die Enns entlang, die Straße zum norischen Eisen. Von allergrößter Tragweite aber war die schon in römischer Zeit ausgebaute Pyhrnstraße, die nach Virunum und letzten Endes bis nach Aquileja führte. Sie war schon zur Römerzeit eine der Hauptverkehrsadern des Noricums [107]. Die verkehrsgeographische Lage Lorchs läßt somit sagen, daß dieser Ort innerhalb der oberösterreichischen Nord-Süd- und Ost-West-Pfortenstellung einen der prominentesten

 

 

104. W. G . Wasiliewski: Kiew's Handel mit Regensburg in alter Zeit. In: Verhandlungen d. Hist. Ver. E. Oberpf. u. Regensburg 57, 1905, 192 ff.; Pfeffer (1954) 51 ff.; SłownStarSłow IV, 460 (Strzelczyk); Zibermayr 303 ff; M. Mitterauer; Wirtschaft und Verfassung in der Zollordnung von Raffelstetten. In: Mitteilungen d. oberöst. Landesarchivs 8, 1964, 344 ff.

 

105. Panzer (1950) 494 ff., 497; anders im Anschluß an diese Arbeit Th. Frings, 498, der mehr an den 'Nordweg' dachte.

 

106. Pfeffer (1953) 557 f.

 

107. v. Jenny, Vetters 1: J. Deringer: Die römische Reichsstraße Aquileja-Lauriacum. Diss. Univ. Wien 1936 (Masch.); ders.: Die römische Reichsstraße Aquileja-Lauriacum. Ein Beitrag zur Verkehrsgeschichte Österreichs in der Römerzeit. In: Carinthia I, 139 (Klagenfurt) 1949, 193 ff.; 140, 1950, 171 ff.; 1016 ff.; H. Krawarik: Die historische Bedeutung des Pyhrn-passes. In: Zeitschrift des Ver. f. Steiermark 59, 1968, 65 ff.

 

 

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Römische Fernstraßen im Raum Linz - Lorch (Enns) - St. Florian - Wels.

Entwurf: F. Pfeffer.

Zeichnung: Dipl. Ing. S. Schmidtner.

 

 

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Plätze einnahm. Daß hier bei Lorch (Enns) auch die Nibelungen auf ihrem Zug ins Hunnenland die Enns überschritten haben sollen - sehr wahrscheinlich, wenn überhaupt, dann über die alte römische Straßenbrücke [108] -, ist schon einige Male angenommen worden [109]. Es muß aber auch der wohl schon wichtige bairische Grenzort gewesen sein, an dem 631/2 die aus Awarien flüchtigen 9000 Bulgaren die Enns nach Westen überschritten. Und es wird sicher auch diejenige Gegend Baierns gewesen sein, wo auf Befehl des Frankenkönigs Dagobert im Laufe einer Macht an die 8300 Bulgaren ermordet wurden, und von wo aus nur dem Bulgaren Alciocus mit 700 weiteren Personen die Flucht zum Großfürsten der Slovenen gelang. Kein Zweifel: sein Fluchtweg muß die alte römische Reichsstraße von Lauriacum-Lorch nach St. Florian und Wels, über den Pyhrnpaß in die marca Vinedorum, nach Kärnten, in die Steiermark gewesen sein.

 

Daß die 8300 Bulgaren in der oberösterreichischen Gegend ermordet wurden, hat man schon einmal angenommen, und zwar im Zusammenhang mit dem Fund des Awarengrabes Nr. 74 bei Linz-Zizlau, nur wenige Kilometer von Lorch entfernt. Allerdings dürfte der von der ungarischen Archäologie auf Grund der awarischen Beigaben des bairischen Gräberfeldes [110] vermutete Zusammenhang mit den ermordeten Kuturgur-Bulgaren kaum zutreffen, da es sich ja nur um ein einziges Kriegergrab handelt, dessen ethnische Einschätzung ohnehin umstritten ist [111]. Wenn man sich ausschließlich an Awaren-Funden

 

 

108. H. Cüppers: Eine römische Straßenbrücke über die Enns. In: Bonner Jahrbücher. Bd. 165 (Bonn), 1965, 97 ff.

 

109. Bohnenberger 520 f.; Heuwieser 19; u.a.

 

110. D. Csallány: A kuturgur-bolgárok (-Hunok) régészeti hagyatékának meghatároszasa. In; Archaeologiai Ertesitö 90, 1963, 21 ff.

 

111. Vgl. H. Mitscha-Märheim: Awarisch-bairische Wechselbeziehungen im Spiegel der Bodenfunde. In: Archaeologica Austriaca 4, 1949, 125 ff., wo (S. 129) der 'Aware' schon als Baier erkannt wird; H. Ladenbauer-Orel: Ein bairisches Gräberfeld in Linz-Zizlau. In; Jahrbuch der Stadt Linz 1949, 281 ff.; dies.: Linz-Zizlau. Das Baierische Gräberfeld an der Traunmündung. Wien-München 1960, 43 f., 86; J. Reitinger: Die ur- und frühgeschichtlichen Funde in Oberösterreich. Linz 1968, 273; K.W. Zeller: Kulturbeziehungen im Gräberfeld Linz-Zizlau. In: Baiernzeit 75 ff., hier: 80.

 

 

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orientiert, um über sie in Oberösterreich auf die Spuren des Bulgarenmordes zu kommen, dann steht zu befürchten, daß dieser Weg nicht weit führt, da außer den wenigen awarischen Funden im Gräberfeld von Linz-Zizlau "aus Oberösterreich an älteren Funden nur noch eine Riemenzunge aus Enns und eine Gürtelgarnitur aus Micheldorf" [112] bekannt sind, also wirklich nichts, was auf ein Genocidium schließen lassen könnte.

 

 

Die anonymen Toten von St. Florian

 

Zum Schutzpatron der bairischen Ennsgrenze [113] wurde schon im Frühmittelalter jener christliche Märtyrer Florianus, der laut Legende Amtsvorsteher des römischen Statthalters von Lauriacum-Lorch war und nach dem sich zur Zeit der siegreichen Awarenfeldzüge Karls des Großen an einem bis dahin vermutlich Buch 'Buchenwald' [114] genannten Ort eine monastische Urzelle den Namen St. Florian gab. Sie war seit der Karolingerzeit sowohl monastische Gemeinschaft als auch frühe Herrscher-Herberge [115]. Grabungen in der Gruft der Stiftskirche von St. Florian erbrachten den Nachweis eines bis in die Römerzeit zurückreichenden Baukontinuums; Fragmente einer römischen Mauer sind noch heute erkennbar.

 

Bemerkenswert ist auch die Lage von St. Florian an oder in nächster Nähe der alten römischen Reichsstraße Lauriacum (Lorch) - Aquileja. Franz Pfeffers Forschungen zufolge lag St. Florian "nahe bei einem wichtigen Knotenpunkt des römisch-frühmittelalterlichen Fernstraßennetzes" [116], worunter zum einen eben die Nord-Süd-Route (Lauriacum-Aquileja), zum anderen die Ost-West-Trasse (Wien-Augsburg)

 

 

112. Laut Brief Dr. Josef Reitingers von 16.9.1981.

 

113. Zibermayr 319 ff.

 

114. Schwarz 22 f. ON mit Sanct + Heiligennamen sind nach Schwarz häufig an die Stelle älterer ON getreten. Der Name Florianus selbst hat sich in kirchlicher Buchform erhalten, also nicht volkstümlich-mundartlich weiterentwickelt.

 

115. Koller (1977) 285 f.

 

116. Pfeffer (1953) 551.

 

 

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zu verstehen ist [117]. Von den bisher bekannten sechs Varianten dieser Trassenführung ist das Segment Lorch-St. Florian-Ansfelden-Wels eine der ganz alten Ost-West-Heerstraßen ("Hörstraße"), die bis in die Ungarnzeit hinein von strategischem Wert war [118]. Der St. Florian durchziehende Ost-West-Straßenzug ist noch für 1111 urkundlich erwähnt, und man hat schon einmal wegen St. Florians Lage an dieser alten Heerstraße angenommen, es sei in unmittelbarer Nähe dieses Ortes eine große Schlacht geschlagen und die Gefallenen, an die 6000 Menschen, nahe der Stiftskirche bestattet worden [119].

 

Die Geschichte dieser noch heute in der Stiftskirche von St. Florian aufbewahrten Toten reicht mit großer Wahrscheinlichkeit in das Frühmittelalter zurück, auch wenn erst seit dem Ende des 13. Jahrhunderts, seit etwa 1291, zuverlässige und verhältnismäßig genaue Angaben über sie vorliegen.

 

Nachdem St. Florians Stiftskirche 1235 ein Raub der Flammen geworden war, ihr erneuerter Chor aber 1250 einstürzte, entschloß man sich zu einem 1274 begonnenen Neubau, der 1291 eingeweiht werden konnte. Bei diesen Bauarbeiten wurden südlich der Kirche im alten Friedhof und um das Kloster Erdaufschüttungen abgetragen, wobei man die Gebeine von über 6000 Toten fand. Für diese Entdeckung gibt es gewissermaßen einen Augenzeugenbericht, der in der anläßlich der Kirchweih von 1291 verfaßten Kirchweihchronik enthalten ist. Verfasser dieser Chronik war, wie man annimmt, Propst Einwik (Ainwik) von St. Florian, um 1240 in St. Florian geboren, 1295 ebenda Propst geworden und 1313 ebenda

 

 

117. Ebda. 544 ff.

 

118. Ebda. 550, 580. - Etwas anders Jandaurek 347 ff., nach dessen Ansicht die alte 'Hörstraße' an St, Florian vorbeizieht, was besagt, der Ort St. Florian habe in vorbairischer, also römischer Zeit noch nicht bestanden; erst nach Gründung des Stiftes sei es notwendig geworden, dieses durch eigene Wege an das bestehende Verkehrsnetz anzubinden. Die von Jandaurek genannten Abweichungen sind indes so minimal, daß das von Pfeffer Gesagte nicht unbedingt falsch ist.

 

119. Pfeffer (1953) 550.

 

 

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gestorben [120]. Dieser Augenzeuge weiß folgendes zu berichten:

 

"(Altare hoc summum pluribus de causis pre aliis altaribus honoratur. Primo...Secundo...) Tercio pro eo, quod preter reliquias, que in eo in consecracione a domino episcopo sunt locate, omnes reliquie ad ecclesiam pertinentes vel in ipso altari, quod concavum estt vel super altare in sarchophago in capsis variis continentur. Insuper sub altari inter ossa mortuorum, que ibidem in cripta reposita sunt, innumerabiles sanctorum reliquias credimus interesse, maxime ex eo, quod cum terra cymiterii circa claustrum undique abduceretur et ossa defunetorum ibidem locarentur, plurimos defunctos ita profunde sepultos et in trucis diligenter invenimus communitos, ut ipsos de numero antiquorum sanctorum esse speremus, qui se ad exemplum sancti Floriani iusserant huc adduci vel propter antiquitatem sepulture a peccatis, si qua forte secum detulerant de hac vita, dudum in purgatorio expurgatos. Nam in tribus foveis tot ossa mortuorum simul invenimus collocata, quod ex eis absque terra quinquaginta currus vel amplius implebantur. Unde non solum gaudendum est, quod a terra murus monasterii, que ipsum deforme et infirmum reddidit, est solutus, verum etiam, quod tante sanctorum reliquie sub altari summo, sicut pie credimus, in uno simul loco pariter convenerunt" [121].

 

 

Auf eben diesen Bericht stützt sich dann im 19. Jahrhundert einer der großen Historiker St. Florians, Jodok Stülz, bei dem ebenfalls

 

 

120. A. Zauner: Die "Kirchweihchronik" des Stiftes St. Florian. In: Kitteilungen d. oberöst. Landesarchivs 10, 1971, 50 ff.; zu Einwik vgl. außerdem K. Rehberger: Ein Beitrag zur Vorgeschichte der "Historikerschule" des Stiftes St. Florian im 19. Jahrhundert. Ebda. 2 12.

 

121. Text nach der kritischen Edition von Zauner 92 f.

 

 

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 das Argument anklingt, es handle sich um Martyrer-Heilige, die sich in der Nähe 'ihres' Heiligen, des heiligen Florian, bestattet sehen wollten. Jodok Stülz schreibt in seiner 'Geschichte des regulierten Chorherrn-Stiftes St. Florian' [122] im einzelnen:

 

"Am Eingange ist eine große Menge von Gebeinen aufgeschichtet , mit welchen es folgende Bewandtniß hat. Wie schon im Eingange zu dieser Geschichte bemerkt worden ist, wurde das Stift auf einem kleinen Vorsprung der nördlichen Hügelreihe, welche das Ipfthal bildet, aufgeführt. Erst nach Vollendung der Kirche, um 1290 gewahrte man einen, durch diese Lage bewirkten Uebelstand, den man im Eifer der Aufführung nicht bemerkt hatte. Sie stand wie in den Berg eingepfercht; es war kein Raum zur Procession, und selbst der Zugang sehr beschwerlich, im Winter sogar gefährlich, denn um durch das Hauptthor (das westliche) in die Kirche gelangen zu können, mußte man über 30, und durch das kleinere Thor (das nördliche) über 14 Stufen herabsteigen. Zudem drang das Regenwasser, welch es von der Anhöhe niederfloß, in die Kirche ein, und beschädigte sowohl die Grundfesten, als auch die Mauern. Ermuthigt durch den Erfolg des Kirchenbaues unternahmen die Chorherren, was ihnen vorher unausführbar scheinen mochte. Mit unsäglicher Arbeit und großen Kosten wurde der Berg abgegraben, und mit der dadurch gewonnenen Erde große Gruben hinter dem Chore der Kirche ausgefüllt und der Hof des Klosters geebnet. Dadurch wurde nicht bloß dem bemerkten Uebelstande abgeholfen, sondern auch noch Raum genug für einen Gottesacker gewonnen.

 

Bei diesem Anlasse fand man tief unter der Erde in drei großen Gruben eine solche Menge von Menschenknochen,

 

 

122. Linz 1835, 35 f.

 

 

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daß 50 Wagen kaum zureichten, sie weiter zu bringen. Der fromme Glauben jener Zeit hielt sie für Reliquien der Märtyrer, welche in der Verfolgung Diocletians in Lorch gelitten haben, und in der Nähe der Grabstätte des heil. Florian, dessen Gebeine man innerhalb des Umganges der Kirche verborgen glaubte - zur Erde bestattet wurden. In solcher Voraussetzung -bewahrte man sie unter dem Hochaltare in der Gruft auf".

 

 

Die Gebeine der Toten lagen, in der Krypta unter dem Hochaltar aufgeschichtet, so annähernd 600 Jahre, bis sie im Herbst 1879 umfielen und den Zugang zur Gruftkirche versperrten. Das führte zu ihrer Umbettung in die drei Nischen der Gruft, genau unter dem Spieltisch der großen Orgel, dort, wo dann im 20. Jahrhundert der berühmte Komponist Anton Bruckner beigesetzt wurde. Über diese Umbettung hat der damalige Chef der Kirchenverwaltung einen mit 30. April 1880 datierten genauen Bericht hinterlassen, dem die tatsächliche Anzahl der Gebeine zu entnehmen ist:

 

"Die in der unter dem Hochaltar befindlichen Gruftkirche zusammengelegten Todtengebeirie fielen im Herbste 1879 um und machten sie dadurch unzugänglich. Statt sie wieder aufzustellen wurden sie nun ganz weggebracht und in der großen Gruft in den drei Nischen, über welche die Vorhalle der Kirche und der große Chor sich aufbaut, vom Todtengräber Wenzl Kinzl aufeinander geschichtet und zwar

in der mittleren Nische 26500 lange Gebeine und 2780 Köpfe,

in den Seiten-Nischen 20500 " " 2870 "

____________

also zusammen 47000 lange Gebeine und 5650 Köpfe,

ungerechnet die Schulterblätter, Rippen und andere kleine Theile.

 

 

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Den großen Gebeinen nach sollten 5875 Köpfe da sein; alles in allem genommen wird man nicht fehl gehen, wenn man annimmt, daß die Überreste von 6000 erwachsenen Menschen friedlich bei einander liegen.

 

Die mittlere Abtheilung war am 6. April 1880 aufgestellt, die beiden Seiten wurden am heutigen Tage fertig gebracht. Die ganze Arbeit kostete 38 f.

 

St. Florian 30. April 1880.

 

Johann Bapt. Breselmayr

Custos der Stiftskirche." [123]

 

 

Über die Herkunft dieser somit rund 6000 Toten in der Stiftskirche von St. Florian gehen die Meinungen erheblich auseinander. Sicher ist, daß es sich um keinen der in Süddeutschland und Österreich nicht seltenen Karner (carnarium) handeln kann, eine solche Überlegung verbieten allein die obigen Schilderungen. Wenig stichhaltig ist natürlich auch die vom Verfasser der 'Kirchweihchronik' geäußerte Vermutung, die Gebeine stammten von antiken Martyrer-Heiligen (innumerabiles sanctorum reliquias credimus), die sich hier nach dem Vorbild des hl. Florian (ad exemplum s. Floriani) und in der Nähe dieses Heiligen hätten bestatten lassen [124]. Eine solche fromme Vermutung fügt sich, wie Alois Zauner sehr treffend bemerkt, auch in das sonst zu beobachtende Bild der Wundergläubigkeit Einwiks [125]. Schon die Formulierungen von Jodok Stülz

 

 

123. Eine Kopie der handschriftlichen, in der Bibliothek zu St. Florian deponierten Notiz ist Herrn o. Prof. DDr. Karl Rehberger , Bibliothekar und Universitätsprofessor, zu verdanken, der vorliegende Arbeit auch durch andere Auskünfte liebenswürdigerweise förderte.

 

124. K. Rehberger: Zur Verehrung des hl. Florian im Stift St. Florian. In: Mitteilungen d. oberöster, Landesarchivs 11, 1974, 89, wo ebenfalls zu lesen ist: "Indirekt legen diese vielen Toten Zeugnis ab für die Verehrung Florians, denn es war der Wunsch vieler Frommer, neben einem berühmten Heiligen bestattet zu sein".

 

125. Zauner 54.

 

 

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- "der fromme Glaube jener Zeit hielt sie für Reliquien der Märtyrer..." und "in solcher Voraussetzung bewahrte man sie...auf" - scheinen sich von dieser Auffassung zu distanzieren. Eher würde dann schon die oben angesprochene Meinung zutreffen, es habe sich bei den um 1291 freigelegten drei großen Gruben um den Bestattungsplatz, richtiger gesagt, die Massengräber von Gefallenen einer Schlacht bei St. Florian gehandelt [126]. Abgesehen davon, daß es über ein solches Ereignis keine konkreten Quellen zu geben scheint, sprach sich Pfeffer gegen diese Ansicht aus, weil die Gebeine zum Teil in Särgen bestattet waren. Der 'Kirchweihchronik' läßt sich indes nicht entnehmen, daß alle 6000 in Särgen beigesetzt waren, vielmehr entsteht der Eindruck, daß nur einzelne Sarg-Bestattungen stattgefunden haben, was natürlich auf völlig andere Zusammenhänge und wahrscheinlich auch unterschiedliche Zeitstellungen schließen lassen kann. An den anonymen Toten von St. Florian sind bislang noch keine Untersuchungen mit modernen wissenschaftlichen Methoden vorgenommen worden. Da eine Radio-Carbondatierung bekanntlich nur in situ sinnvoll ist, können bestenfalls ethnisch-anthropologische Untersuchungen weiterführen. Sie vermögen vielleicht (!) [127] zu klären, ob die 6000 Toten aus den Massengräbern von St. Florian mit den um 631/2 ermordeten 8300 Bulgaren etwas zu tun haben oder nicht. Vom Ort her gesehen - in unmittelbarer Nähe des alten Verkehrsknotenpunktes Lorch und der bairisch-pannonischen Ennsgrenze - wäre das sehr wohl denkbar.

 

 

126. Pfeffer (1953) 550.

 

127. Gewiß nicht geringe Schwierigkeiten dürften sich dabei allerdings aus der schon oben angesprochenen Kompliziertheit der ethnischen Zuweisung der Bulgaren und namentlich des hier zur Debatte stehenden, ethnisch völlig unbekannten Stammes (Kuturgur-Bulgaren?) ergeben. Zu analog diffizilen Problemen der rassischen Bestimmung - mongolid - europid? - der Zwölfaxinger Awaren vgl. J. Szilvássy: Die Skelette aus dem awarischen Gräberfeld von Zwölfaxing in Niederösterreich (= Anthropologische Forschungen. 3). Horn - Wien 1980, 80 ff.

 

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