Vorläufige Untersuchungen über den bairischen Bulgarenmord von 631/632
Heinrich Kunstmann 

 

I. DER TATBESTAND

 

1. Fakten, Spuren. Hypothesen

 

 

- Die Quellen  (9)

- Alciocus alias Alzeco  (13)

- Zur Datierung der Tat  (17)

- Zum Tatmotiv  (20)

- Zur Herkunft der ermordeten Bulgaren  (22)

 

 

Die Quellen

 

Eine Kennern bairischer Geschichte nicht unbekannte Tatsache ist es, daß für fast das gesamte 7. Jahrhundert so gut wie keine zuverlässigen Nachrichten über die Schicksale des Baiernstammes zur Verfügung stehen. Mit der berühmten, in ihrer verfassungsgeschichtlichen Seriosität indes umstrittenen Behauptung des späteren Langobarden-Chronisten Paulus Diaconus, im Jahre 592 sei der agilolfingische Herzog Tassilo zum bairischen König erhoben worden, endet die Berichterstattung über die frühmittelalterliche Geschichte der Baiern für rund hundert Jahre. Sieht man von den zeitlich ungenauen Kämpfen der Baiern gegen Slaven im Puster-Tal ab, dann ergibt sich bis 688 oder 691, bis zum Bericht der Annales Mettenses Priores über gewisse Unternehmungen der Franken gegen ihnen ehemals unterworfene Völker (quae quondam Francis subiectae fuerant) wie Schwaben, Sachsen, Friesen und eben auch Baiern ein völliges Informationsvakuum. Nicht einmal über die von den Gelehrten vieldiskutierte Frage nach der Rolle der Baiern in der historischen Entscheidungssohlacht von Wogastisburc verlautet etwas.

 

Die buchstäblich einzige Information in dieser Nachrichtenleere liefert die Franken-Chronik des sogenannten Fredegar. Es ist dies indes eine Nachricht, die eines der düstersten Kapitel bairischer Geschichte berührt, die Ermordung nämlich von etwa 8300 Bulgaren, Man wird in dieser 631 oder 632 begangenen Tat mit vielen Historikern [1] einen Beweis für die gewiß starke bairische Abhängigkeit von den Franken, namentlich von dem auch

 

 

1. S. Riezler: Geschichte Baierns. Stuttgart 21927, 150; "der schlimmste Schandfleck in der bairischen Geschichte"; Zibermayer 88: "Dieser grausame Vorfall lehrt uns, unter wie harter Botmäßigkeit die Baiern damals gehalten wurden." - Bosl 28 sieht darin ebenfalls ein Abhängigkeitsverhältnis zum Frankenreich; ähnlich Barton 195.

 

 

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sonst äußerst resoluten Merowingerkönig Dagobert I, zu sehen haben. Nach Aussage Fredegars erfolgte das Bulgaren-Massaker auf eben dessen Befehl.

 

Es gibt somit nur eine einzige, über das Bulgaren-Genozid berichtende Quelle. Das mag zum einen an der allgemeinen schlechten Informationslage des 7. Jahrhunderts liegen, es liegt zum anderen aber gewiß und nicht zuletzt daran, daß den Baiern naturgemäß nicht an einer Verbreitung von Nachrichten über die von ihnen unter fränkischer Botmäßigkeit angerichtete Bluttat gelegen sein konnte. Das allerdings schließt nicht aus, ja es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß es lokale mündliche Überlieferungen - Lieder, Legenden, Sagen - darüber gegeben hat, auch wenn die wahren historischen Hintergründe rasch unkenntlich wurden. Versucht man, den Tatbestand zu ermitteln, so zeigt sich, daß der genaue Tatort und, was am schwersten wiegt, das Tatmotiv nicht zu ermitteln oder nur zu vermuten sind. Mit nicht absoluter Sicherheit zu ergründen ist auch die Tatzeit (Jahr). Etwas mehr wissen wir dagegen über den Tathergang, den die primäre Quelle, also Fredegars Chronik, leider nicht allzu differenziert so erzählt:

 

Eo anno in Abarorum cuinomento Chunorum regnum in Pannia [2] surrexit viaemens intentio, eo quod de regnum certarint, cui deberetur ad sucedendum: unus ex Abares et al ius ex Bulgaris, collicta multetudinem, utergue in invicem inpugnarint. Tandem Abaris Burgarus superant. Burgaris superatis, nove milia verorum cum uxoris et liberis de Pannonias expulsi, ad Dagoberto expetint, petentes, ut eos in terra Francorum manendum receperit. Dagobertus iobit eos iaemandum Badowarius [3] recipere, dummodo pertractabat cum

 

 

2. = Pannonia.

 

3. = Baiovarios.

 

 

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Francis, quid exinde fierit. Cumque dlspersi per domus Baioariorum ad hyemandum fuissent, consilium Francorum Dagobertus Baioariis iobet, ut Bulgarus ilius cum uxoris et liberis unusquisque in domum suam una nocte Baiuariae interficerint. Quod protinus a Baiovaries est impletum; nec quisquam ex illis remansit Bulgaris, nisi tantum Alciocus cum septinientis viris et uxoris cum liberis, qui in marca Vinedorum salvatus est. Post haec cum Wallucum ducem Winedorum annis plurimis vixit cum suis. [4]

 

 

Fredegars Kapitel De Chunis in Bagioquares interfectis (121.10), in seinem Latein oft nur schwer zu durchschauen [5], ist, wie es

 

 

4. Fredegar Cap. 72; Seite 157, Zeilen 4-16. - Der lateinische Wortlaut zusammen mit seiner Übersetzung ins Englische findet sich auch bei Wallace-Hadrill 59-61. Kritisch ediert die Passage außerdem E. Herrmann: Slawisch-germanische Beziehungen im südostdeutschen Raum von der Spätantike bis zum Ungarnsturm. Ein Quellenbuch mit Erläuterungen. München 1965, 42.

 

5. Zum besseren Verständnis sei daher auch die von Otto Abel besorgte Übersetzung in den von G.H. Psitz, J. Grimm, K. Lachmann, L. Ranke und K. Ritter herausgegebenen 'Geschichtsschreibern der deutschen Vorzeit in deutscher Bearbeitung...', Berlin 1849: 'Die Chronik Fredegars und der Frankenkönige', S. 47 f., gegeben:

 

"In diesem Jahr erhob sich im Reich der Abaren, die den Beinamen Chunen haben, in Pannonien ein heftiger Zwist: es stritten nemlich ein Abare und ein Bulgare um die Thronfolge. Beide sammelten sich eine gehörige Streitmacht und kriegten dann mit einander. Endlich unterlagen die Bulgaren; 9000 von ihnen wurden nun mit Weib und Kind aus Pannonien vertrieben und wandten sich an Dagobert mit der Bitte, ihnen bleibende Wohnsitze im Land der Franken anzuweisen, Dagobert hieß sie einstweilen bei den Bajoariern überwintern, bis er mit den Franken sich berathen hätte, was weiter geschehen könnte. Wie sie sich nun in den Häusern der Baiern zerstreut hatten, um da den Winter zuzubringen, erließ Dagobert nach dem Rath der Franken das Gebot an die Baiern, sie sollten Jeder in seinem Hause jene Bulgaren mit Weibern und Kindern in einer Nacht umbringen. Und das wurde von den Baiern auch sofort ausgeführt: nur Alciocus mit 700 Männern, Weibern und Kindern blieb von den Bulgaren am Leben und rettete sich nach der Wendenmark, wo er samt den Seinigen noch viele Jahre bei Wallucus, dem Herzog der Wenden, lebte."

 

 

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scheint, einzige Quelle unseres Wissens über den Bulgarenmord. Die um schätzungsweise hundertfünfzig Jahre jüngeren Gesta Dagoberti I. regis Francorum [6] basieren in ihrer inhaltlichen Substanz wiederum auf Fredegar. Das Bulgaren-Kapitel (28) heifit nun De intentione Avarorum et Bulgarorum, et qualiter Dagobercius Bulgares, qui ad eum venerant, interfici iusserit und hat folgenden Wortlaut:

 

Si quidem eodem anno inter Avaros cognomento Chunos et regnum Hispaniae [7] vehemens surrexit intentio, eo quod certarent inter se, cui deberetur regnum ad succedendum, altera pars ex Avaris et altera ex Bulgaris. Collecta itaque multitudine, cum utrigue se invicem inpugnarent, tandem ab Avaris Bulgari superantur. Qui devicti, novem millia cum uxoribus et liberis de Pannonia expulsi, regem Dagobertum expetunt, petentes, ut eos in terram Francorum ad manendum reciperet. Rex autem hiemandum eos in Baiuvariam recipere praecepit, dummodo pertractaret cum Francis, quid ex in de faceret. Cumque dispersi per domus Baiuvariorum ad hiemandum fuissent, sapienti consilio Francorum rex Baiuvariis iubet, ut Bulgares illos cum uxoribus et liberis unusguisque unumquemque in domo sua in una nocte interficeret. Quod protinus a Baiuvariis impletum est, nec quisquam ex illis remansit. [8]

 

 

Abgesehen von einigen geringfügigen, meist sprachlichen Abweichungen von Fredegar, sticht an diesem Bericht ins Auge, daß kein Wort über die Flucht des Alciocus und seiner 700 Anhänger fällt, sondern behauptet wird, nicht ein einziger Bulgare habe das Geraetzel überlebt. Da Fredegars Chronik einen zeitgenössischen Berichterstatter vermuten läßt, ist ihr hinsichtlich der

 

 

6. Wattenbach-Levison 113.

 

7. = Pannonia.

 

8. Fredegar 411.

 

 

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Authentizität der Vorrang zu geben. Darin bestärkt auch die Nennung des Personennamens Alciocus, der, wie zu zeigen sein wird, kaum ein Phantasieprodukt Fredegars sein kann. Somit läßt sich sagen: ohne Fredegar wäre der Nachwelt kein Wort über den Bulgarenmord oder Alciocus und dessen Flucht zum Großfürsten der karantanischen Slovenen [9] hinterbracht worden. Wallace-Hadrill, der britische Mediävist, trifft den Kern der Dinge: Fredegar is the only authority for this story. [10]

 

 

Alciocus alias Alzeco

 

Schon 1837 hat der Bamberger Sprachforscher und Historiker Kaspar Zeuß Zusammenhänge zwischen Fredegars Bulgaren-Geschichte und einem in der Historia Langobardorum des Paulus Diaconus erwähnten Bulgaren namens Alzeco vermutet [11]. Besagter Alzeco, dux Bulgarorum, begab sich rund dreißig Jahre nach dem Bulgarenmord nach Italien, wo ihm der Langobardenkönig Grimoald Asyl gewährte. Paulus Diaconus berichtet darüber folgendes:

 

Per haec tempora Vulgarum dux Alzeco nomine, incertum quam ob causam, a sua gente digressus, Italiam pacifice introiens, cum omni sui ducatus exercitu ad regem Grimuald venit, ei se serviturum atque in eins patria habitaturum promittens. Quem ille ad Romualdum filium Beneventum dirigens, ut ei cum suo populo loca ad habitandum concedere deberet, praecepit. Quos Romualdus dux gratanter excipiens, eisdem spatiosa ad habitandum loca, quae usque ad illud tempus deserta erant, contribuit, scilicet Sepinum, Bovianum et Iserniam et alias cum suis territoriis civitates, ipsumque Alzeconem, mueato dignitatis

 

 

9. Kunstmann.

 

10. Wallace-Hadrill 60, Anm. 1.

 

11. Zeuß 717.

 

 

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nomine, de duce gastaldium vocitari praecepit. Qui usque hodie in his ut diximus locis habitantes, quamquam et Latine loquantur, linguae tamen propriae usum minime amiserunt. [12]

 

 

Das Bulgarenkapitel der Historia Langobardorum erlaubt zwar keine exakte Datierung der Ankunft Alzecos in Italien, doch wird man dafür das Jahr 662 oder 663 ansetzen dürfen. Das allerdings besagt weiter, daß zwischen der Flucht von Fredegars Alciocus (631/2) und der Ankunft Alzecos in Italien (662/3) an die dreißig Jahre liegen. Anders ausgedrückt: Fredegars Alciocus müßte genau diese Zeit beim Großfürsten der Slovenen in der marca Vinedorum zugebracht haben. Fredegar sagt zwar, Alciocus habe da mehrere Jahre gelebt (annis plurimis vixit), doch ist diese Angabe zu vage, auch muß angenommen werden, daß der Chronist um 658 starb, von den weiteren Vorgängen also nichts wissen konnte. Die verhältnismäßig große Zeitspanne von dreißig Jahren zwischen dem Bulgarenmord und der Ankunft Alzecos bei den Langobarden hat in der Forschung zu kontroversen Standpunkten geführt.

 

Wenig wahrscheinlich ist die Ansicht des bulgarischen Historikers Zlatarski [13], der Fredegars Alciocus für eine Mystifikation ("völlig frei erfundene Person") und nur den Alzeco der Langobardengeschichte für glaubwürdig hält. Ein Zusammenhang zwischen den Ereignissen von 631/2 und 662/3 ist für Zlatarski somit nicht gegeben. Anders urteilt der slovenische Historiker Milko Kos, der im Zusammenbruch des Samo-Reiches (nach 658) und erneuten Vorstößen der Awaren um 663/4 Ursachen zu erkennen glaubt, die eine Übersiedlung des Alciocus-Alzeco von den Slovenen zu den Langobarden zur Folge gehabt haben können. [14] Zusammenhänge zwischen beiden Vorgängen halten auch Fehér, Zöllner, Deér und zahlreiche

 

 

12. Paulus Diaconus 154.

 

13. Zlatarski 120.

 

14. M. Kos; O bolgarskem knezu Alcioku in slovenskem knezu Valuku. In: Šišičev zbornik. Zagreb 1929, 251 ff.

 

 

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andere Forscher [15] für durchaus möglich. An zwei verschiedene Gruppen von Bulgaren und keine Zusammenhänge denken neuerdings sowohl der polnische Forscher Tryjarski [16] als auch der bulgarische Historiker Angelov [17]. Angelov läßt Fredegars Alciocus allerdings gleich 631/2 nach Italien weiterziehen, deshalb, weil er Fredegars marca Vinedorum ( = Wendenmark!) mit Venedig verwechselt [18].

 

Fredegars Alciocus ist zwar mit keinem eigenen Titel ausgestattet, doch dürfte er, da ihm offensichtlich 700 Männer, Frauen und Kinder anvertraut waren, durchaus eine führende Rolle gespielt haben. Bruno Krusch, der kritische Herausgeber der Fredegar-Chronik, nennt ihn daher dux Bulgarorum [19], Wallace-Hadrill bezeichnet ihn als Bulgar leader [20] und Halina Kappesowa als Führer einer der protobulgarisehen Horden [21]. Demgegenüber weist Alzeco in der Langobardengeschichte deutlich den Titel eines Vulgarum dux auf, in welches Bild sich dann vortrefflich Alzecos Ernennung oder Umbenennung zum langobardischen Gastalden "Stellvertreter" fügt [22]. Die Änderung des nomen dignitatis Alzecos in den Langobardentitel gastald(i)us (gastaldio) ist möglicherweise auch ein Hinweis auf

 

 

15. G. Fehér: Bulgarisch-Ungarische Beziehungen in den V-XI Jahrhunderten. In: Keleti Szemle - Revue Orientale XIX. 2. Pécs 1922, 35 f.; Zöllner (1950) 252; J. Deér: Karl der Große und der Untergang des Awarenreiches. In: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben. Persönlichkeit und Geschichte. Hsg, v. H. Beumann, Düsseldorf 31967, 738.

 

16. K. Dąbrowski, T. Nagrodzka-Majehrzyk, E. Tryjarski: Hunowie europejscy. Protobułgarzy. Chazarowle. Pieczyngowie. Wrocław-Warszawa-Kraków-Gdańsk 1975, 245 f.

 

17. Angelov 35.

 

18. Diese Verwechslung ist Angelov auch schon vordem in seinem Buch Obrazyvanie na bъlgarskata narodnost. Sofija 1971, 205, unterlaufen.

 

19. Fredegar 526.

 

20. Wallace-Hadrill 127.

 

21. SłownStarSłow I, 19, sub voce Alciok-Alzek.

 

22. Zum Begriff des Gastald(i)us vgl. Bruckner 207 f. und F. van der Rhee: Die germanischen Wörter in den langobardischen Gesetzen. Rotterdam 1970, 73 f.

 

 

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den Rang von Fredegars Alciocus: der als gastald(i)us bezeichnete Langobardenbeamte hatte nämlich Grafenbefugnis, führte vielfach den Titel comes und entsprach vergleichsweise dem actor dominicus der Franken [23].

 

Nicht einfach ist die etymologische Beurteilung des Namens Alciocus, zu dem in den Fredegar-Handschriften die Schreibvarianten Altiaus, Alticus und Alticcus vorkommen. Die Codices der Langobardengeschichte bieten zu Alzeco außerdem die Formen Alzegone, Algeco sowie Alzeo [24]. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist der etymologische Hintergrund von Alciocus-Alzeco turksprachig, was schon die ethnische Komponente der Protobulgaren erwarten läßt. Jedenfalls erinnert das Wort Alciocus - man vergleiche hier namentlich die erwähnte Variante Altiaus [25] — an den Namen (?) jenes Hunnen Ἀλθίας, der, wie Prokopios für 530 berichtet, als Anführer hunnischer Hilfstruppen in der oströmischen Armee Dienst tat. [26] Fraglos steckt in anlautendem altï — das Zahlwort 'sechs', so daß die von Prof. Omeljan Pritsak, Harvard LJniversity, gegebene Deutung Altï - oq = 'six arrows' plausibel erscheint [27], vorausgesetzt freilich, die Information Fredegars ist ohne Fehler. Weiter hält Prof. Pritsak Alciocus nicht für einen Personennamen, sondern für die Bezeichnung einer tribal confederation [28].

 

 

23. E. Haberkern, J. F. Wallach: Hilfswörterbuch für Historiker. I. München 31972 , 223.

 

24. Zur Schreibweise von Alzeco meinte Zeuß: 'o in Alzeco ist nur die schwachformige langobardische Endung'.

 

25. Diese Variante findet sich in den verhältnismäßig frühen Fredegarschen Codices tertii generis (Lugduno-Batav., saec, VIII/IX; Codex Vaticanus saec. VIII/IX.).

 

26. G. Moravcsik: Byzantinoturcica. II. Berlin 1958, 62, wo allerdings für 430 eben 530 zu lesen ist. Vgl. ebda. II, 357. – Dazu auch O.J. Maenchen-Helfen: Die Welt der Hunnen. Eine Analyse ihrer historischen Dimension, Köln-Wien 1978, 274.

 

27. Brief vom 18. April 1980.

 

28. Ebda.: The name goes back to Alti'oq meaning six arrows -- arrow is used here to represent a tribal unit.

 

 

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Zur Datierung der Tat

 

Ein weiteres Problem stellt die Datierung der Tat dar. Bruno Krusch, der verdiente Fredegar-Editor, hat im Bulgaren-Kapitel (S. 157) den Satz Tandem Abaris Burgarus superant durch eine 'kühne' Fußnote mit Nikephoros, dem Patriarchen von Konstantinopel, und Theophanes Homologetes in Verbindung gesetzt. Krusch zitiert dabei aus des Nikephoros 'Breviarium' jenen Teil der bulgarischen Stammessage, wonach der 4. Sohn Kubrats "über die Donau ging und in dem jetzt unter den Awaren stehenden Pannonien ein Vasall des einheimischen Stammes wurde". Daraus schließt Krusch: Id post a. 641 factum esse... Weiter verweist Krusch auf die 'Chronographia' des Theophanes, wo sich, weitgehend gleichlautend mit Nikephoros, ebenfalls die Sage von den fünf Söhnen Kubrats findet. Daraus folgert nun Krusch und mit ihm Schnürer und weitere Gelehrte, daß sich die Niederlage der Bulgaren im Kampf mit den Awaren um einen Thronprätendenten und damit natürlich auch die bairischen Ereignisse nach 641 zugetragen haben müßten [29], da sie in die Regierungszeit des byzantinischen Kaisers Konstans II. (641-668) gefallen seien. Offenbar hat sich Krusch zu dieser 'Anleihe' bei Nikephoros und Theophanes durch den Hinweis auf Pannonia verleiten lassen, doch ergibt sich daraus keinerlei Datierungskriterium, da in Pannonien bekanntlich verschiedene bulgarische Stämme zu verschiedenen Zeiten Ein- oder Durchzug hielten [30]. Dieses Datierungsversehen von Krusch ist, wie gesagt, in der späteren historischen Literatur nicht

 

 

29. Schnürer 117.

 

30. Wie unsicher es ist, die bulgarische Stammessage von den fünf Söhnen Kubrats zur Grundlage von Datierungen zu machen, ergibt sich aus der recht unterschiedlichen Einschätzung von Kubrats Regierungszeit: zwischen 584 und 642, sagt Zlatarski 84 f.; 605-662, meint I. Dujčev: Princes et tzars de Bulgarie. In: V. Grumel: La chronologie. Paris 1959; an 605-65 dachte O. Pritsak: Die bulgarische fürstenliste und die Sprache der Protobulgaren. Wiesbaden 1955.

 

 

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ohne Folgen geblieben [31]. Die Vermengung der Vorgänge um den bairischen Bulgarenmord mit der bulgarischen Stammessage von den fünf Söhnen Kubrats, wie sie Nikephoros und Theophanes erzählen, hat indes noch weitere Folgen gehabt. Alciocus-Alzeco wird nämlich nun sogar zum fünften Sohn Kubrats! So behauptete schon Zlatarski, die drei Quellen, also Nikephoros, Theophanes und Paulus Diaconus machten deutlich, daß Alzek (d.i. Alzeco) sich eben als fünfter Sohn Kubrats in das ravennische Exarchat Pentapolis begeben habe [32]. Genau diese Ansicht findet sich dann wieder in dem ansonsten verdienstvollen Werk von Waldmüller, wo es wörtlich heißt: "der fünfte Sohn Alzek soll sich in Italien, im Exarchat von Ravenna niedergelassen haben" [33]. Ein Blick in die griechischen Quellen, in Nikephoros' 'Breviarium' und Theophanes' 'Chronographia' indes gibt unmißverständlich zu erkennen, daß nach der bulgarischen Stammessage Kubrat, Schöpfer und Organisator des Groß- oder Altbulgarischen Staates, wohl fünf Söhne hatte, von denen die ersten drei Baïan, Kotrag und Asparuch hießen, für den vierten und fünften aber überhaupt keine Namen genannt werden [34]. Das stärkste Argument gegen Krusch aber ist, daß das Verbrechen ja unter Dagobert I. verübt wurde, und Dagobert starb am 19. Januar 639. Also kann die Datierung von Krusch nicht richtig sein. Die Ereignisse des Bulgarenmordes gehören somit nicht in die Regierungszeit Kaisers Konstans II., auch haben weder der dem Massaker entronnene Alciocus noch der Alzeco des Paulus Diaconus etwas mit der Sage von den Söhnen Kubrats zu tun.

 

Die Datierung des Bulgarenmordes konzentriert sich ansonsten

 

 

31. An eine Zeit um 641 denkt wohl auch Bosl 28.

 

32. Zlatarski 120.

 

33. L. Waldmüller: Die ersten Begegnungen der Slawen mit dem Christentum und den christlichen Völkern vom VI. bis VIII. Jahrhundert, Die Slawen zwischen Byzanz und Abendland, Amsterdam 1976, 402. - Ähnlich Tryjarski 246, Ann. 5,

 

34. Nicephori, archiepiscopi Constantinopolitani, Opuscula historica. Ed. C. de Boor. Lipsiae 1880, 33 f.; Theophanis Chronographia. Ree, C. de Boor. Lipsiae 1883 (Neudruck: Hildesheim 1980), Bd. 1, 357.

 

 

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im wesentlichen auf zwei Jahresangaben, entweder auf 630/31 [35] oder aber auf 631/32 [36]. Relative Anhaltspunkte, keine absoluten, ergeben sich aus den Ereignissen der Kapitelfolge in Fredegars Chronik. So berichten die Kapitel 69-70 zum 9. Regierungsjähr Dagoberts I., das heißt zum Jahr 631/2 über gewisse langobardische Dinge, während im folgenden Kapitel (71), das ebenfalls noch von langobardischer Geschichte handelt, der Erzähler ( = Verfasser C) infolge seiner Faszination für die Familie der Theudelinde ex genere Francorum 'außer Kontrolle' gerät, so daß sich im Annalenschema deutlich Unregelmäßigkeiten einzustellen beginnen [37]. Das übernächste, von westgotischen Angelegenheiten berichtende Kapitel 73 schließt dann jedoch chronologisch wieder richtig an das 9. Regierungsjähr Dagoberts an, was durch die Thronerhebung Sisinands zum König der Westgoten bestätigt wird [38]. Zwischen den langobardischen und dem westgotischen Kapitel liegt als Nr. 72 das Bulgarenkapitel, was nahelegt, daß das 9. Regierungsjähr Dagoberts [39], also das Jahr 631/2 mit hoher Wahrscheinlichkeit als das Datum des Bulgarenmordes angenommen werden darf. Aufschlußreich ist unter dem genannten Aspekt die thematisch geraffte Kapitelabfolge in den Gesta Dagoberti, wo nämlich Kapitel 27 über die Slaven und Samo-Ereignisse berichtet, Kapitel 28 die Schilderung des Bulgarenmordes bringt und Kapitel 29 dann zur Geschichte des Westgotenkönigs Sisinand übergeht. Auch das weist chronologisch in die genannte Richtung.

 

 

35. So etwa A. Burmov: Vъprosi iz istorijata na prabъlgarite. In: Godišnik na Sofijskija universitet, Ist.-filol. fak. 44, 1947, 48, S. 26; Barton 195; Reindel 117; Hellmann 367.

 

36. So beispielsweise Zlatarski 118; Zöllner (1950) 2S2; Tryjarski 245; Angelov 85.

 

37. Schnüret 114-117.

 

38. Schnürer 117 hat 631; K.-J. Matz: Regententabellen zur Weltgeschichte. München 1980, 46; 632; Handbuch der europäischen Geschichte. Bd. I, 441: 631/33; B. Wolfram: Geschichte der Goten. München 1979, 24: 631.

 

39. Unerfindlich bleibt, wieso Zlatarski 118 vom 3. Regierungsjahr spricht und dennoch auf 631/2 kommt.

 

 

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Zum Tatmotiv

 

Das Motiv, das König Dagobert veranlaßte, den Befehl zur Ermordung von 9000 Bulgaren zu geben, liegt völlig im Dunkeln. "Es gibt nur zwei Gründe für diese Schlächterei, und beide sind gleich erbärmlich", meinte J.H. Albers, "entweder fürchtete er (d.i. Dagobert) ihre (d.i. Bulgaren) Verbindung mit Samo, oder er wollte sich den Avaren gefällig erweisen..." [40]. Den Bulgarenmord mit den Vorgängen um Samo in Verbindung zu bringen, ist seither in der historischen Literatur nicht selten, obwohl es für eine solche Kombination keinerlei Anhaltspunkte gibt, M. Hellmann beispielsweise meint, die Empörung der Bulgaren gegenüber den Awaren könne mit dem Aufstand Samos gegen die Franken etwas zu tun gehabt haben [41], während Zöllner wiederum annimmt: "Das Blutbad unter den Flüchtlingen entsprang wohl der Furcht des Frankenkönigs vor einem Konflikt mit den Awaren, auch denkbar, daß die Bulgaren mit seinem Feind Samo im Einvernehmen standen" [42]. Weniger das eigentliche Tatmotiv als vielmehr die Ursache, die das mörderische Ereignis auslöste, hatte Zlatarski im Auge, der nämlich annahm, die Niederlage der Awaren vor Konstantinopel (626) und der Tod ihres Khans Baïan (602) hätten es notwendig gemacht, einen neuen Khan zu wählen. Gegen eine solche Auffassung spricht, daß die Awaren nach dem Tod Baïans kaum dreißig Jahre führerlos gewesen sein dürften [43]. Man wird auch nicht den historischen Tatsachen gerecht, wenn man von 'einer Abteilung aufständischer Bulgaren' spricht, 'die vor den Awaren auf ihr [d.i. der Baiern) Gebiet ausgewichen waren' [44].

 

 

40. J.H. Albers: König Dagobert in Geschichte, Legende und Sage besonders des Elsasses und der Pfalz. Leipzig, Kaiserslautern 1884, 13.

 

41. Hellmann 367.

 

42. Zöllner (1950) 252.

 

43. Zlatarski 117 f.

 

44. H. Löwe: Deutschland im fränkischen Reich (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte. 2), München 1973, 89.

 

 

21

 

Auf einen bislang unbeachteten, historisch verbürgten Vorgang, der möglicherweise ein Tatmotiv hergeben könnte, lohnt es sich aufmerksam zu machen. Ganz offensichtlich stand nämlich König Dagobert um 629/30 mit Byzanz in Verhandlungen. Fredegars Kapitel 62 berichtet, daß Dagoberts Gesandte Servatus und Paternus von erfolgreichen Verhandlungen mit Herakleios zurückgekehrt seien [45]. Schon kurz vordem, in Kapitel 59 erzählt Fredegar 'beiläufig', Dagobert habe bei allen Völkern solche Furcht erweckt, daß sie sich in Demut seiner Herrschaft unterwarfen, "und sogar die Völkerschaften, die an den Grenzen der Avaren und Slaven wohnen, von freien Stücken ihn ersuchten, zu ihnen zu kommen". Besondere Aufmerksamkeit verdient sodann der unmittelbar anschließende Satz: "Er (Dagobert) hoffte auch zuversichtlich, die Avaren und Slaven und die übrigen Völker bis an die Grenzen des byzantinischen Reiches seiner Herrschaft zu unterwerfen" [46]. Fredegar macht auch diese Bemerkungen zu 629/30. Die beiden, wenig beachteten Passagen lassen doch wohl, bei aller Vorsicht, den Schluß zu, daß Dagobert ungenaue, aber eben bis an die Grenzen des Rhomäerreiches gehende Expansionspläne hegte. An einer Schwächung der Barbarenvölker, also der Awaren-Bulgaren und Slaven - notfalls durch Genozid - konnte ihm daher nur gelegen sein. Der hier en passant vorgebrachte Verdacht verdiente von historischer Seite sorgfältiger in Augenschein genommen zu werden. Somit bleibt hinsichtlich der Ermittlung des Tatmotivs weiterhin die Feststellung Kurt Reindels zu beachten: "die Nachricht (vom Bulgarenmord) steht isoliert und entzieht sich, abgesehen von ihrer moralischen Wertung, jeder Einordnung in das politische Geschehen der Zeit" [47].

 

 

45. Fredegar 1 51.

 

46. Fredegar 150; Timorem vero sie forte sua concusserat utelitas, ut iam devotione adreperint suae se tradere dicionem; ut etiam gente, que circa limite Avarorum et Sclavorum consistent, ei prumptae expetirint, ut ille post tergum eorum iret feliciter, et Avaros et sclavos citerasque gentium nationes usque manum publicam suae dicione subiciendum fiducialiter spondebant, - Zur Bedeutung: manus publica (publeca) = populus imperii orlentalis. - Deutsch nach Otto Abel.

 

47. Reindel 117.

 

 

22

 

Zur Herkunft der ermordeten Bulgaren

 

Die Proto- oder auch Urbulgaren, eurasische Reiternomadenstämme, waren ethnisch kein einheitliches Volk, sondern, nach Meinung der heutigen Wissenschaft, entweder hunnischer, das heißt türkischer, oder auch ugrofinnischer, vielleicht mongolischer Herkunft. Verschiedene dieser bulgarischen Stämme gerieten unter awarische oder auch chazarische Botmäßigkeit.

 

Bei der Bestimmung desjenigen Bulgarenstammes, der 631/2 so gut wie ausgerottet wurde, ergeben sich nicht geringe Schwierigkeiten, obwohl Fredegars Bericht gleich zweimal den Hinweis auf Pannonien enthält, was schon Zeuß eben an pannonische Bulgaren denken ließ [48]. Unter pannonischen Bulgaren versteht man indes in der Regel jene Horden, die nach dem Zusammenbruch des sogenannten, östlich von Asovschem Meer und Kuban gelegenen Großbulgarischen Reiches um die Mitte des 7. Jahrhunderts nach Westen aufbrachen, eben nach Pannonien gelangten und sich hier unter Awaren niederließen [49]. Zeitlich läßt sich das aber nicht gut in Einklang bringen mit dem ja schon 631/2 erfolgten Mord. Nicht viel anders verhält es sich mit den sogenannten Donau-Bulgaren, die bekanntlich noch später, erst um 660 ein verhältnismäßig kleines Gebiet im Bereich der Donau-Mündung in Besitz nahmen [50]. Geeigneter erscheint dagegen eine Nachricht des Theophylaktos Simokattes [51], der für 598 zu berichten weiß, eine an die 10.000 Mann starke Gruppe (Stamm?) von Kuturguren (Kocagiri), Tarniach und Zabender-Hunnen sei auf der Flucht vor den Türken in Europa aufgetaucht und in die Dienste des Awaren-Khans getreten [52]. Eben diesen Vorgang hatte

 

 

48. Zeuß 716. Ebenso Angelov 85.

 

49. SłownStarSłow I, 204.

 

50. Ebda. 203 f. (W. Swoboda). – Aus zeitlichen sowie geographischen Gesischpunkten scheiden in diesem Zusammenhang natürlich erst recht die sog. Wolga-Bulgaren aus.

 

51. Theophylacti Simocattae Historiae. Ed, C. de Boor, Lipsiae 1887 (Neudruck: Stuttgart 1972). VII, 8, p. 260, 16 ff.

 

52. Marquart 488, 504.

 

 

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schon Zlatarski im Auge, der sogar meinte, die von Theophylaktos genannte Stärke der Horde, also 10.000 Mann, entspräche doch in etwa den 9000 Fredegars [53]. Auch zeitlich paßten die Vorgänge besser zusammen. Allerdings, das wäre gegen eine solche 'Identifizierung' einzuwenden, spricht Theophylaktos nicht ausdrücklich von Bulgaren. Doch brauchte dies nicht unbedingt zu stören, da die ethnischen Begriffe Hunnen - Awaren - Bulgaren in den frühen Quellen unscharf sind und promiscue gebraucht werden [54]. Gerade die von Theophylaktos genannten Kuturguren [55] lassen sich sehr wohl auch als hunnisch-bulgarisches Volk verstehen [56].

 

Selbst wenn es vorerst keine präziseren Anhaltspunkte für die Ethnizität der ermordeten Bulgaren zu geben scheint, so bleibt doch die begründete Annahme, daß es sich bei den von Fredegar genannten Bulgaren um einen (Teil-?)Stamm vielleicht von Kuturgur-Bulgaren oder Hunnen gehandelt haben kann, der schon früh, jedenfalls vor 631/2, mit awarischen Reiternomaden in Berührung gekommen ist und sich zusammen mit diesen in Pannonien niederließ. Man wird den Bulgarenstamm aber nicht mit den sogenannten pannonischen Bulgaren verwechseln dürfen, da diese, wenn die Vermutungen der Historiker zutreffen, erst um 650 in Pannonien eingetroffen sind.

 

 

53. Zlatarski 120.

 

54. Moravcsik 98 ff.

 

55. Vgl. etwa B. von Arnim: Turkotatarische Beiträge.1. Zur Geschichte der Onoguren und Urbulgaren. In: Zeitschrift für slavische Philologie 10, 1933, 343 ff.

 

56. Marquart 503; T. Lewicki in SłownStarSłow II, 571.

 

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