Auxilius und Vulgarius. Quellen und Forschungen zur Geschichte des Papstthums im Anfänge des zehnten Jahrhunderts

Ernst Dümmler

 

IV. EUGENIUS VULGARIUS.

 

 

Die beiden letzten Streitschriften unseres Codex, von denen nur die eine bisher ungedruckt war, lassen uns über ihren Urheber nicht im Zweifel, denn er wird sogleich in der Ueberschrift beider Eugenius Vulgarius genannt. In der zweiten dialogischen, die der Vorrede nach auf den Wunsch eines Diakonus Petrus unternommen wurde, spricht der Verfasser davon, dass er über diesen Gegenstand schon mehrfach gehandelt habe, [1] womit zum Theil auch jene erste Schrift gemeint sein mag. Während in der zweiten jede Andeutung fehlt, aus der sich eine Vermutung über den näheren Zeitpunkt ihrer Abfassung schöpfen Hesse, enthält die andere widersprechende Angaben. Sie gibt sich nämlich zunächst als Bericht von einer Pariser Synode, die im siebzehnten Jahre der Regierung Karls des Einfältigen, d. h. etwa 910 versammelt über die neuesten päpstlichen Massregeln gegen die Formosianer in Berathung tritt. Diese angebliche Synodalverhandlung ist aber offenbar nur eine Maske, die der Verfasser selbst bald genug fallen lässt. Jene Zeitangabe wird dadurch völlig in die Luft gestellt, dass gleich darauf von dem Konzile von Ravenna im J. 898 in der Weise Erwähnung geschieht, als sei es im vorhergehenden Jahre abgehalten worden, Da ·indessen später auf Ereignisse aus der Regierung des Papstes Sergius angespielt wird, [2] so ist gar nicht zu bezweifeln,

 

 

(1) Cod. Bamb. f. 103': Quod respondeam non inuenio: totum enim responsum est. Uerborum enim copia frustra perstrepere uitium est, praesertim cum apostolus breui clausula responderit: Si quis aliud euangelizauerit etc. Iam enim pudet fatuitatis. Quid igitur pxodest tot membranas occupare et de exemplaribus plenariis quotidie capitularia in tomis transferre, cum desit auditorium etc.

 

(2) Vulg. erwähnt c. 14 das Unglückliche Ende der Päpste Leo und Christophorus als unlängst erfolgt und c. 15 wird an die Verdrängung des P. Sergius durch Johann IX erinnert.

 

 

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dass die Veranlassung zu dieser Schrift und wahrscheinlich auch zu der andern die nämliche war, die Auxilius bewog die Feder zu ergreifen.

 

Den Namen unseres Autors möchte ich keinesfalls für erdichtet halten, weil er sich auch in seinen Briefen Vulgarius nennt. Als Italiener dürfen wir ihn ansehen, denn es weist nichts in seinen Schriften auf einen fremden Ursprung hin. Zum Vorkämpfer der Formosianer würde er sich wohl schwerlich aufgeworfen haben, wenn nicht auch er von Formosus geweiht worden wäre. Die Briefe, Gedichte und Lehrstücke, welche unser Codex von demselben Verfasser [1] ausser den Streitschriften enthält, gestatten uns noch einige weitere Schlüsse auf die Persönlichkeit des Vulgarius. Olmgefähr auf den gleichen Zeitpunkt weisen die Namen des Papstes Sergius III (904—911), der Senatorin Theodora, des griechischen Kaisers Leos des Weisen (gest. 912), der Bischöfe Athanasius III von Neapel (etwa 907—915) und Petrus von Salerno (887—914), [2] des Herzogs Atenolf von Benevent und Kapua (900—910) [3] und des Neapolitanischen Heermeisters Gregor (etwa 900—917), [4] während einige andere Freunde des Dichters, wie der Bischof Vitalis, der Diakonus Johannes, [5] der Mönch Benedikt unbekannt bleiben.

 

 

(1) Der Name des Autors ist meist genannt, s. auch auf f. V Sermones interpretati. Quis pro qualis et pro quantus inuenitur, qualis uero et quantus non pro quis et meonmiter (!) fit interrogatio. Quid sit, ut quid est Uulgarius? animal. Quale sit: rationalis uel stultus uel rusticus uel caluus. Quomodo sê habet: aut sedet aut leget et cetera.

 

(2) Die Zeit Athanasius III wird durch 2 Urk. aus den J. 907 und 915 (bei Ughelli von 937 und 960 datiert!) bestimmt vgl. darüber di Meo ahnali di Napoli V, 130, 169. Ueber Petrus s. ann. Benevent. 887, 914: Obiit Petrus episcopus (Scr. III, 174, 175).

 

(3) Ib. 900, 912; Ann. Cavens. 900: Atenulfus magnus princeps; 910; Chron. S. Benedicti (Scr. III, 188, 202, 206); Leonis chron. Casin. 1. I c. 50—52.

 

(4) Köpke (Pertz Archiv IX, 89) bemerkt : „Gregors Regierungsantritt fällt in den Sept. 902, wie Meo annali di Napoli V, 110 dargethan hat.“ Leider sind die Beweise für diese Annahme a. a. O. sämtlich aus Ubald hergenommen, dessen Unechtheit gerade durch Küpke erwiesen worden ist. Gr. wird zuerst bei der Transl. S. Sever. i. J. 902 erwähnt (s. oben S. 37), dann in einer Urk. v. J. 907 (Ughelli It. sacra VI, 124), zuletzt 916 bei dem Feldzuge gegen die Saracenen am Garigliano (Leonis chron. Casinens. I c. 52 vgl. c. 50, Scr. VII, 616), die Dauer seiner Herzogswürde wird in einem Verzeichnis auf 16 J. 10 M. 10 T. angegeben (Scr. III, 212).

 

(5) Bei dem Leviten Johannes, dem V. ein Gedicht widmet, könnte man vielleicht an den Neapolitan. Diakonus Johannes denken, der die Bischofschronik bis 872 und die Uebertragung des h. Severin schrieb.

 

 

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Aus den Beziehungen zu diesen Personen sowie aus dem bestimmten Gegensätze, in welchen der Autor sich zu den Römern und Rom stellt, ist ferner zu folgern, dass er jedenfalls in Unteritalien und zwar vermutlich in Neapel gelebt hat, woselbst die poetische Verherrlichung des byzantinischen Kaisers, in der Hoffnung auf goldenen Lohn, nicht auffallen kann. [1]

 

Aus den seltsamen, man möchte sagen greisenhaften Wendungen der Briefe des Vulgarius ergeben sich nun die Thatsachen, dass er wegen seines Verhaltens vom Papste gebannt in stiller Zurückgezogenheit, vielleicht in einem Kloster lebte, von wo ihn Sergius mit freundlichen Worten und Verheissungen einlud, zu ihm nach Rom zu kommen. Er aber, von dieser Ladung irgend ein schweres Unheil gewärtigend, versuchte derselben durch demütige Bitten und Entschuldigungen sowie durch die Verwendung des ihm befreundeten Bischofs Vitalis auszuweichen und abwesend den päpstlichen Segen und die Absolution zu erlangen. Ueber den weiteren V erlauf dieser Angelegenheit wissen wir leider nichts, wohl aber sind uns mehrere Gedichte erhalten, in denen dem feindseligen Papste Weihrauch im Ueberschwange gestreut wird. [2] Wunderbar sticht die Kriecherei dieser Verse gegen den kühnen Freimut der früheren Angriffe auf Sergius ab, in denen als einzige Lösung der obwaltenden Wirren gleichfalls ein allgemeines Konzil erscheint und sogar die vermessene Forderung aufgestellt wird, dass der wahre Nachfolger Petri nicht bloss die Rechte, sondern auch die Tugenden Petri erben müsse.

 

 

(1) Die Erklärung der Pyramide f. 3 schliesst: denique nomen sanctae dominationis diui augusti, quod huic triangulae figurae inseparabiliter tribus lineis insertum est, id designat, quod sublimitas tanti imperatoris tripertitum orbem ui fortitudinis suique sapientiae omnia domando penetret. Diuinitus enim actum est, ut orbem tribus partibus subsistentem nomen tribus elementis constans siui glorioso subderet imperio.

 

(2) In dem aus 34 Hexametern bestehenden Akrostichon (f. 12) lautet V. 24 flg.: Imploramus iam dominum solito misereri, | Sergius ut sanus, sospes letos ueat annos, | maior sit magnis et maximus almificorum und das auf f. 12' sich anschliessende Gedicht an ihn beginnt: Solo tu nutu natis ediceris unus | a uero diuo factus mirabilis actu | lux eoi pyr neeron illaberis orbem etc., die Erklärung dazu: Denique quia instar organici psalterii formula haec uersuum paret, quod in modum deltae litterae est Δ ad hoc innuit, quia par erat, ut diuus diuinis mulceretur laudibus. Nam quia mundus decem uerbis clauditur contraque et decem uerbis scribitur. . . .

 

 

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Sind jene Gedichte als ein blosses Mittel der Beschwichtigung für den erzürnten Gebieter aufzufasseu oder legen sie Zeugnis von der vollständigen Unterwerfung eines früheren Widersachers unter die Macht des päpstlichen Stuhles ab? Für die letztere Auffassung könnte das zugleich schmeichelnde und erbauliche Schreiben an Theodora, die Gemahlin des römischen Consuis und Senators Theophylaktus [1] sprechen, welches an diese mächtige Freundin des Sergius wohl kein in der Ungnade des Papstes lebender Verbannter zu richten gewagt haben würde. Das Misgeschick, dem Vulgarius in Rom zu erliegen fürchtete, bestand ohne Frage darin, dass man ihn gegen seine bessere Ueberzeugung durch moralischen Zwang nöthigen würde, ebenfalls die Formosianer und ihre Weihen zu verdammen. Sobald man, wie es der ungenannte Gegner des Auxilius that, [2] den unbedingten Gehorsam gegen den augenblicklichen Inhaber des apostolischen Stuhles als höchstes Gebot der Kirche erachtete, konnte freilich jeder Widerruf früherer Meinungen hiedurch gerechtfertigt werden.

 

Einen weiteren Einblick in die Geschicke des Vulgarius würden wir gewinnen, wenn wir ihm die von Bianchini ohne den Namen eines Verfassers veröffentlichte Invektive gegen Rom zuschreiben dürften, die mit seinen Schriften jedenfalls in engem Zusammenhänge steht. Eine Reihe von einzelnen Sätzen nämlich werden hier grossentheils wörtlich aus der von uns so betitelten Schrift De causa Formosiana wiederholt und zwar in einer Weise umgestellt oder verwendet, die an einen blossen Abschreiber zu denken verbietet. [3]

 

 

(1) Vgl. über die ältere Theodora, nach Liudprand die Schwiegermutter des P. Sergius, Koepke de vita Liudprandi p. 90 n. 4, Giesebrecht Gesch. der deutschen Kaiserzeit I, 364.

 

(2) Ich habe einen Augenblick daran gedacht, ob nicht möglicher Weise dieser ungenannte Gegner und Vulgarius eine und dieselbe Person sein möchte, so dass die beiden in unserer Handschrift enthaltenen Streitschriften für Formosus eben die wären, auf welche Auxilius de ordin. c. 43 hinweist. Dazu würde die Bezeichnung scolasticus gut stimmen, die er ihm beilegt und die Briefe und Gedichte bezeichneten dann den Abfall von der Sache des Formosus. Abgesehen davon aber, dass Vulg. mehr als zwei Schriften in jenem Sinne verfasst zu haben scheint, so spricht gegen obige Annahme vorzüglich der Umstand, dass er als mutmasslicher Verfasser der Invektive die Regierung Johanns X noch erlebt haben müsste, während Auxilius, der doch unter Sergius III schrieb, von seinem Widersacher als einem bereits Verstorbenen redet. Völlig sicher sind diese Schlüsse freilich alle nicht.

 

(3) In unserer Ausgabe ist überall auf die Parallelstellen der Inv. verwiesen.

 

 

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Wenn wir hiedurch auf Vulgarius geführt werden, so muss es allerdings unser höchstes Befremden erregen, dass derselbe Mann, der sich vor Sergius so schimpflich erniedrigt hatte, unter Johann X (914—928), dessen Rechtmässigkeit er zu bestreiten wagte, wenige Jahre später noch einmal mit alter Heftigkeit für die Formosianer eintritt. Denn dass die Invektive erst unter diesem Papste verfasst worden ist, der demnach den Standpunkt seines Vorgängers Sergius vollständig wahrte, geht aus dem Schlüsse deutlich hervor. [1] Um diese Räthsel noch zu vermehren, finden wir aber in der Invektive zwei längere, in den andern Schriften des Vulgarius nicht wiederkehrende Stücke, die wörtlich gleichlautend bei Auxilius Vorkommen. Wenn das eine von beiden aus einer gemeinschaftlichen Quelle, Cassiodor und Pseudo-Anterus geschöpft sein könnte, [2] ist das andere eine allem Anscheine nach von Auxilius selbständig gemachte Zusammenstellung derjenigen Bischöfe, die, nachdem sie aus irgend einem Grunde abgesetzt worden, von Päpsten nachmals in ihr Bisthum wieder eingesetzt wurden. [3] Hier bleibt also nur die Wahl, entweder anzunehmen, dass der Verfasser der Invektive geradezu aus Auxilius jene Beispiele entnommen hat oder dass beide Eine Person sind. Wiewohl sich einige scheinbare Gründe auch für die letztere Voraussetzung anführen Messen und natürlich in der Art der Beweisführung sowie in dem Endziele aller dieser Schriften eine wesentliche Uebereinstimmung obwalten muss, [4]

 

 

(1) A. a. O. p. LXXIV: Iohannem (abusiue tuae sedi praeest). . qua relicta sanctam Romanam et apostolicam ecclesiam nefariis ausibus usurpauit. Et nunc pro libitu suo uult soluere et ligare et uelut lucifer ille . . . catholicam et uniuersalem ecclesiam uult excommunicare et iustiores et sanctiores se quaerit anathematizare; vorher p. LXXII heisst es: ab ipso Ioannis tempore, qui ante tricennium defunctus est und p. LXXIII: totus pene mundus per annos triginta in ruina positus est, wodurch wir ohngefähr auf das J. 912 oder eines der folgenden geführt werden.

 

(2) Dies Stück beginnt p. LXXI und wird nach längerer Unterbrechung p. LXXIII vollendet vgl. oben S. 20, 35.

 

(3) Inv. p. LXXIII. Das Verzeichnis endet mit Rothad, ohne den von Auxilius (Inf. et Def. c. 21, In def. Form. I c. 6) aufgeführten Soffren (Suffrid) v. Piacenza zu erwähnen, dagegen wird selbständig noch der Bischof Zacharias von Anagni eingeschoben und der Erzb. Ansbert v. Mailand hinzugefügt. Alles übrige stimmt wörtlich.

 

(4) Mabillon, der von Vulgarius nichts wusste, wollte daher die Schrift desselben in defens. Form, gleichfalls Auxilius beilegen. Wie bei diesem heisst es dort im Eingänge: neminem carpens ne minem que reprehendens, nullum certum tangens distribuam tibi etc. Unter den Gründen kehrt namentlich der wieder, dass Rom bei der Wahl des Formosus nicht habe Gewalt erleiden können.

 

 

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so ist doch andrerseits die Verschiedenheit des Stiles unverkennbar und sticht gegen die reinere und klarere Sprache des Auxilius Vulgarius durch gesuchte Wendungen und ungebräuchliche Worte nicht zu seinem Vortheile ab. [1] Diese ungleichartige Haltung, wozu auch noch die fast völlige Nichtberücksichtigung der Kirchenväter bei Vulgarius kommt, nöthigt uns in Uebereinstimmung mit den Handschriften zwei verschiedene Autoren festzuhalten und eine Benutzung des Auxilius in der Invektive, der jüngsten dieser Schriften, als wahrscheinlich vorauszusetzen.

 

Was uns von Vulgarius vorhegt, zeigt ihn als einen in der antiken wie in der kirchlichen Literatur wohlbewanderten Mann: er citiert Cicero, [2] Lukan, Vergil, Juvenal, Petronius Arbiter, [3] Martianus Capella, [4] Boethius, Ennodius, Augustinus. [5] Griechische Worte werden von ihm angeführt und erklärt. Er kennt ferner die antiken Versmasse in grosser Vollständigkeit, versucht sich in allen nicht ohne eine gewisse Gewandtheit und zeigt namentlich eine untibertreffliehe Meisterschaft in akrostichischen Spielereien, Kreuzen, Pyramiden u. dgl., denen er ausführliche Erläuterungen beizufügen liebt.

 

 

(1) Ein bewusster Gegensatz scheint darin zu liegen, dass Vulg. in der Vorrede in defens. ausdrücklich schreibt: distribuam tibi.. sub rhetorico phasmate actionales causarum uoces, quarum intentione et repulsione quis sibi ueritatis palmam acquirat, possis uigilanter discernere und nun streng logisch gliedert, Aux. dagegen an Leo : non hic syllogismorum quaeratur arcta conclusio, non perihermeniaca subtilitas, utpote qui discipuli sumus piscatoris. V. schreibt apostolicalis, paeilicalis, patricialis, realis, canonicalis, accidentialis, discriminalis, Rauennalis, actionalis, morigeralitas, homululus, amphibologicus, anacephaleosis, ypofora, polissemus, obmallare, eruderare, moderamia, reatitas (von reatus), antistitare, Romanicus, belligerare, eneruiter, generatim, factiositas, impectorare u s. w.

 

(2) In def. Form. (p. 29 ed. Mabillon): Silent quidem leges inter arma aus Cicero pro Milone c. 4, Lucan. Pharsal. 1. I v. 95 wird f. 11 citiert; auf Verg. Eclog IX, 53—54 findet sich eine von Bianchini nachgewiesene Anspielung in der Inv. p. LXX, B. f. 11' torrere enim immittere plerumque dicitur, ut Virgilius: torrêre parant flammis (Aen. I, 179); aus der Aen. XI, 386 stammt auch wohl die uiuida uirtus (senatuum) bei Mabillon p. 29; f. 11': hinc metaphorice torrens torrentior torrentissimus dicitur orator, qui copiam facultatem fandi prestantissimam supeique effluentem diffusim habet, hinc Iuuenalis ait: torrentior Iseo id est eloquentior ueloci emissione argumentationis (vgl. Sat. III, 74).

 

(3) S. f. 8: Petronius arbiter. Iam alumna creperam graeculis calcem impingere norit. creperam uel dubiam unde crepusculum vgl. Petronii satir. c. 46 (p. 24 ed. Büchler): ceterum iam Graeculis calcem impingit. Ebendaher p. 96 stammt auch wohl das seltene Wort aumatium.

 

(4) S. f. 6 Martianus autem doctissimus de pentadis numero inter cetera, folgt eine Stelle aus 1. VII § 735 (p. 588 ed. Kopp).

 

(5) Von Ennodius wird der libell. apologet, in der Inv. citiert, von Augustin de civit, dei 1. XVIII c. 8.

 

 

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Offenbar sollten diese Verse, wie gerade ihre bewusste Manigfaltigkeit beweist, als Muster und Vorbilder der lateinischen Prosodie dienen, ja sie mögen theilweise von Hause aus nur für diesen Zweck gedichtet worden sein. Die Beschäftigung mit der Grammatik erhellt aus allerlei etymologischen Anläufen, [1] die Mathematik liefert den Stoff zu mystischen Deutungen von Zahlen und Figuren, [2] Liebhaberei für die Dialektik geht aus einem eigenen Gedichte über die Thesis und Hypothesis [3] sowie aus dem streng logischen Schema hervor, welches Vulgarius der einen seiner Streitschriften zu Grunde legt. Wir dürfen hiernach in ihm ohne Zweifel einen jener Grammatiker oder Schulmeister erblicken, wie sie damals in den italienischen Städten die Jugend in die klassischen Studien einführten. [4] Während einige seiner Nachfolger, wie Gunzo und Stephan von Novara selbst mit ihren Büchern den Pfad über die Alpen zurücklegten, um den nordischen Barbaren von ihrer Weisheit mitzutheilen, fanden lange Zeit nach dem Tode unseres Vulgarius wenigstens seine Schriften den gleichen Weg und harrten Jahrhunderte hindurch geduldig ihrer Auferstehung, um dann freilich einer völlig anderen Bestimmung zu dienen. Diese von wirklichem Inhalte ganz entblössten,

 

 

(1) S. z. B. f. 7' Caput de differentia calcis. Cals per s de calce, unde fit maceria, calx per x de compedibus, uterque feminini generis, inde calcar neutri a calcaneo; inde et calces feminini. Hinc et callis uia masculini generis. A calle pedis dicitur et calceus masculini et calcearium et calceamentum neutri et caliga femininum. Praeter haec unum est aptoton quod est in calce id est in fine.

 

(2) S. z. B. f. 3 Triangula figura in alias figuras non resoluitur, nisi in se ipsa, in trina enim triangula dissipatur. Haec enim figura piinceps est latitudinis et nullis est principiis obnoxia. Sicut enim omnium numerorum unitas principium est, ita omnium figurarum triangula figura initium est et sicut alii omnes numeri ex unitate procreantur et in unitatem resoluuntur: ita et omnes figurae superficiales ex triangula figura nascuntur et in triangulas figuras resoluuntur etc.

 

(3) Auf f. 4', woselbst V. 9 flg. lauten: Dedicat hic nam quadrifidus quin abdicat omne | ordine quadrato uerum falsumque sequestrans, | scilicet aut ex bis iunctis hoc tramite ueris | astruit aut ex bis iunctis hoc tramite falsis j aut ex ueridico primum post hinc quoque falso| aut ex falsidico primum post hinc quoque uero etc.

 

(4) Vgl. über diese Giesebrecht de litterar. studiis ap. Italos p. 15 flg., woselbst p. 27 von den Leistungen Monte Cassinos insonderheit gehandelt wird, Gregorovius Gesch. d. Stadt Rom III, 530, AVattenbach Deutschlands Geschichtsquellen (2. Ausg.) S. 200, 204—205.

 

 

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gekünstelten und frostigen Dichtungen nebst den andern prosaischen Lehrstücken und Brocken geben uns somit — und darin beruht hauptsächlich ihre Bedeutung — ein redendes Zeugnis von der eifrigen Fortpflanzung der klassischen und theologischen Studien im unteren Italien, woselbst Neapel, Benevent und Monte Cassino damals sicherlich den Musen eine bei weitem günstigere Stätte boten, als die tief gesunkene Roma, die zum Spotte der Ungläubigen geworden war. [1]

 

Jenes Rom, dessen Gründer schon in seinen kaum erbauten Mauern sich mit Bruderblut befleckt , das dann von den heiligen Aposteln Petrus und Paulus den einen gekreuzigt, den andern mit dem Schwerte gerichtet hatte, hörte auch jetzt nicht auf gegen seine Wohlthäter zu wüten. Denselben rechtgläubigen und tugendreichen Papst, den es in seinem Schosse grossgezogen und unter jubelnder Zustimmung der Häupter wie der Menge auf seinen Thron gesetzt, entriss es der Grabesruhe, um ein widersinniges und verruchtes Gericht über ihn zu halten. Nicht zufrieden, sein heiliges Andenken gebrandmarkt zu haben, verfolgte es unablässig auch die unschuldige Herde, die arglos von dem wahren Nachfolger Petri die Weihen empfangen, und nöthigte sie entweder zu dem Greuel einer zweiten Weihe oder stiess sie erbarmungslos aus der Gemeinschaft der Kirche aus. Die Stimmen der Unterdrückten aber sollten nicht ungehört verhallen, sondern der gerechteren Nachwelt das Bild der ungerechten Unterdrücker unauslöschlich vor Augen stellen.

 

 

(1) Die Invect., auf deren Ausführungen ich mich im Folgenden beziehe, citiert den Vers: Nam nisi te Petri meritum — misella fores, aus einem wahrscheinlich von Johannes Skotus (Ioannis Scoti opp. ed. Floss p. 1194) verfassten Gedichte. das aber auch einzeln vorkommt (Muratori antiquit. Ital. II, 147, Cod. Udalrici Babenb. bei Eccard. corp. histor. II, 7.)

 

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