Die bulgarische Volkskultur

 
Die Aufrichtung der türkischen Herrschaft fegte mit einem Schlage die Träger des bisherigen kultu­rellen Lebens — den Hof, den Adel und die hohe Geistlichkeit — hinweg, so daß es bald erlosch, da die offizielle Kultur in keiner organischen Verbundenheit mit dem Volke gestanden hatte. Eine Primitivisierung und Nivellierung des künstlerischen Schaffens trat ein. Das Volk schuf sich langsam eine eigene, wenn auch einfache Volkskultur, die bald für sein nationales völkisches Dasein von schicksalhafter Bedeutung werden sollte. So ist es natürlich, daß in der türkischen Zeit an größeren Kulturdenkmälern lediglich einige Kirchenbauten entstanden, die, um die Muslims nicht herauszufordern, möglichst klein und unscheinbar, oft halb in den Erdboden hinein gebaut werden mußten. Die Wandmalereien dieser Epoche erfolgten weiterhin im byzantinischen Stil.

Andererseits brachten die Türken eine neue eigene Kultur nicht mit, die von den Bulgaren in derselben Weise, wie seinerzeit der Byzantinismus, übernommen werden konnte. Das, was gemeinhin heute auf dem Balkan als „türkisch" angesehen wird, ist im wesentlichen islamlsierter Byzantinismus. Der Islam legte sich als eine weitere mächtige Schicht kultureller Überfremdung für 400—500 Jahre über alle unterworfenen Völker des Balkans, so daß unter dieser schützenden Decke sich die altbalkanischen Volkskulturen und die eigene kulturelle Wesenshaftigkeit der Balkanvölker bis heute behaupten konnten. So auch in Bulgarien, wo unter der Fremdherrschaft der ewige Strom der volkstümlichen Kultur weiterging, dem bulgarischen Volke den Rückhalt gebend, um nicht im türkischen Meer aufzugehen. Auch die Entwicklung der neuzeitlichen bul­garischen Kultur, die in wenigen Jahrzehnten nach der Befreiung bereits eine beachtliche Höhe und fast auf jedem künstlerischen Gebiete eine gewisse Originalität zu erreichen vermochte, wäre ohne den kerngesunden und fruchtbaren Boden dieser bulgarischen Volkskultur kaum möglich gewesen. Vor allem die bulgarische Volkskunst, das Volkslied, der Volkstanz und die Volksdichtung sind hier zu nennen. Der unbändigen Freude am künstlerischen Schaffen verdankt die bulgarische Volkskunst ihren noch heute vorhandenen Reichtum. Manchmal vom Morgenland beeinflußt oder vom Abendland angehaucht oder aus dem Urgut der auf der Halbinsel vorgefundenen und ererbten Kultur entsprossen und unter den lebenserweckenden Strahlen des Volksglaubens aufgeblüht, am häufigsten jedoch von der schöpferischen Phantasie echter, inmitten des Volkes geborener Künstler befruchtet, wurde sie von dem trotz aller äußeren Hindernisse ewig wachbleibenden Geiste des Bulgaren geschaffen. So entstanden der Hausschmuck in seiner großen Mannigfaltigkeit, sorgfäl­tig und kunstvoll geschnitzte Decken und Möbel sowie Portale und Ikonastase für die Kirchen und Klöster, bunte Teppiche, Geschirre aus Ton, Holz und Metall usw. Damals entstand auch der heute noch das Auge er­freuende künstlerisch wertvolle Körperschmuck, von den für jede bulgarische Landschaft charakteristi­schen wunderbaren Volkstrachten bis zu den verschiedenen Kleinigkeiten des Frauenschmucks — Spangen, Ketten, Armbändern und Ohrgehängen. Vieles wurde vom Bauern selbst hergestellt, manches jedoch — wie zum Beispiel die Decken und der Metallschmuck — von speziellen fachlich ausgebildeten Meistern.

Der andere Schatz der bulgarischen Volkskultur ist das Volkslied. Es fängt in seiner Mannigfaltigkeit und seiner tonlichen Schönheit das ganze Erlebnis der Zeit der türkischen Herrschaft neben den stolzen Erinnerungen an ruhmvolle Vergangenheit, der unerschütterlichen Gotteszuversicht und dem festen Glau­ben an kommende bessere Zeiten ein. Helden- und Haidukenlieder erwecken die Taten von den in ihrer Kühnheit unübertroffenen bulgarischen Fürsten und Freiheitskämpfern; Balladen, religiöse und rituelle Lie­der deuten in ihren mythischen Bildern und Vorstellungen die ewige Rätselhaftigkeit der Natur und ihres Schöpfers. Eng verwandt mit dem Volkslied ist die Volksdichtung. Kleine Erzählungen schildern die Viel­seitigkeit des alltäglichen Lebens. Daneben blüht eine Lyrik, die von dem blutvollen und empfindsamen, jedoch energisch pulsierenden Herzen der Bulgaren zeugt. Die Phantasie des Volkes schwingt sich in den Volksmärchen in das Unglaubliche empor. Unzählige Legenden ergänzen das Volksepos, während sich die Weisheit eines vom Schicksal schwer geprüften, dadurch aber innerlich gereiften Volkes in einer Fülle von Sprichwörtern verewigt hat.

Unzertrennlich vom bulgarischen Volkslied ist die Volksmusik und der Volkstanz. Die Volksmusik ist vielleicht die eigentümlichste Äußerung der bulgarischen Volkskultur. Gekennzeichnet durch eine ganze Reihe von nur in ihr vorhandenen technischen Besonderheiten, entspricht die bulgarische Volksmusik durch das Vorherrschen der schnellen, rhythmisch stark ausgeprägten Tanzweisen einerseits und der langsamen, ganz frei vorgetragenen und in keiner metrischen Form erstarrten Melodien andererseits jener Doppelseitigkeit des östlichen Menschen, die ihn oft in die Ekstase mitreißt, ihn aber nachher auch mitleidslos in die Tiefe der Schwermut schleudert. Aber die Schwermut des Bulgaren ist von jeder Krankhaftigkeit frei: selbstsicher und diesseitsverbunden, verliert er nie den Boden der Lebensbejahung unter den Füßen.

Von der Lebenslust des bulgarischen Volkes zeugt auch die große Reihe fast ausnahmslos lebhafter und schwungvoller Volkstänze und der unglaubliche rhythmische Reichtum der bulgarischen Volksmusik. Der bulgarische Volkstanz ist aber noch etwas mehr als nur ein letztes Glied der Dreiheit Lied—Musik—Tanz: er stellt auch einen der natürlichsten Ausdrücke der bulgarischen Volksgemeinschaft dar. Denn wenn ein Volkstanz oder eine Volksweise von irgend jemand begonnen wird, so reißt er bald das ganze Dorf, Alt und Jung, zum Tanz des Reigens — des Horo — mit. Solistisch wird im Volke fast nur um die Wette ge­tanzt — hauptsächlich jene feurige Ratschenitza, deren Rhythmus, oft mit schrillem Klang des Dudelsacks verbunden, das Gemüt eines jeden Bulgaren erregt und sein Blut zum Siedepunkt bringt. Diese Schöpfun­gen der bulgarischen Volksseele schufen das wirksame Mittel zur völkischen Selbstbehauptung unter der Türkenherrschaft. Aber auch heute, inmitten der fortschreitenden Europäisierung des bulgarischen Lebens, sind sie die festen Stützen für die Erhaltung des echten, urwüchsigen Bulgarentums gegen die gleichmachende Zivilisation städtischer Herkunft.

Als 1762 das Büchlein über „Die Geschichte von den bulgarischen Zaren und Heiligen" von Otez Paissi auf dem Athosberge im Kloster Chilandar niedergeschrieben wurde, war der zündende Funke da, der ein neues bulgarisches kulturelles und geistiges Leben entfachte. Die bulgarische Wiedergeburt wurde vom Volke her eingeleitet. Alle ihre führenden Persönlichkeiten und die Träger des geistigen Befreiungskamp­fes saugten ihre Kraft aus den Wurzeln des Volksliedes und der Volksdichtung. Aber auch auf den an­deren Gebieten des kulturellen Lebens begann der neue Aufstieg. 1830 wurde von Wassil Apriloff in Gabrowo die erste bulgarische Schule eingerichtet, der bald überall weitere folgten. Eine neue Epoche bul­garischen Bildungs- und Erziehungswesens begann, die bulgarische Sprache wurde wieder zum Träger des bulgarischen geistigen Lebens.

Mit der Erringung der kirchlichen Selbständigkeit unter einem eigenen Exarchen (1870) und mit der Schaffung des neuen eigenen Staates (1878) war die 500jährige Unfreiheit beendet. Eine neue Epoche be­gann für das kulturelle Leben des bulgarischen Volkes.


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