IV.

 Das kulturelle Leben des bulgarischen Volkes

 
Die Kultur der beiden mittelalterlichen Reiche


      Die Entwicklung des kulturellen Lebens des bulgarischen Volkes wird entscheidend von seinen politischen Geschicken und den sich in seinem Lebensraum kreuzenden geistigen Strömungen anderer Völker und Kul­turkreise beeinflußt
.

In der Zeit des ersten bulgarischen Reiches (679—1018) sind es im wesentlichen 3 Faktoren, die sein kul­turelles Gesicht prägen und die Grundlagen für die weitere Entwicklung formen: Die „steinerne" Kultur der Protobulgaren, die in den mächtigen Bauten der Residenzen der bulgarischen Khane und Zaren bei Pliska und Preslaw in Nordostbulgarien, von denen heute leider nur noch die Grundmauern zu sehen sind, und in dem einzigartigen Felsenrelief des „Reiters von Madara", das an die Schöpfungen der Sassaniden in Iran erinnert, zum Ausdruck kommt. Daneben lief die von den Slawen getragene Kultur, die von An­fang an zu der protobulgarischen Kultur in krassem Gegensatz stand, aus dem sich auf allen Lebensgebie­ten ein Dualismus ergab, der erst nach der von heftigen inneren Erschütterungen begleiteten Christianisie­rung und dem Aufgehen der Protobulgaren in die slawische bzw. slawisierte Bevölkerung überwunden wurde. Andererseits waren die Slawen zu Beginn der protobulgarischen Herrschaft durchaus die Nehmen­den, da Kulturdenkmäler aus dieser Zeit, die ihnen zugeschrieben werden könnten, bisher nicht aufgefun­den wurden. Als feststehend kann lediglich das Vorhandensein einer sehr primitiven Kultur der slawi­schen Massen, die später eine der Grundlagen für die bulgarische Volkskultur bildete, angenommen wer­den. Als letzter Faktor müssen noch die Träger der alten hellenistisch-römischen Kulturtraditionen, die in der Hauptsache in der alteingesessenen Bevölkerung der aus der römischen Zeit stammenden Städte zu su­chen sind, erwähnt werden. Diese antiken Überlieferungen haben ohne Zweifel einen bedeutsamen Einfluß auf die spätere Entwicklung der bulgarischen Kultur und Kunst ausgeübt. So zum Beispiel waren die offi­ziellen bulgarischen Inschriften vor der Erfindung des bulgarischen Alphabets durch Kyrillos und Methodios griechisch, und zwar nicht in der offiziellen byzantinischen Schriftsprache, sondern in der griechischen Volkssprache abgefaßt.

Den ersten entscheidenden Umbruch erfuhr die sich entwickelnde eigenständige Kultur im ersten bul­garischen Reich durch die offizielle Einführung des Christentums oströmisch-byzantinischer Prägung durch Zar Boris 865, womit die Ausschaltung des protobulgarischen Einflusses zugunsten des slawischen bzw. christ­lich-byzantinischen begann. Die Folge hiervon war, daß sich die ältere und auch höhere byzantinische Kul­tur mit aller Macht in das junge bulgarische Staatsgebilde ergoß und vor allem seine kirchliche Kunst, wo sie noch heute vorherrschend ist, beeinflußte, da die Bulgaren zugleich mit dem Christentum auch alle die­jenigen künstlerischen Formen annahmen, die mit der Ausübung der neuen Religion verbunden waren. Aber auch auf die anderen Gebiete des kulturellen und geistigen Lebens des bulgarischen Volkes nahm die by­zantinische Kultur einen schicksalhaften Einfluß.

Unter Zar Simeon dem Großen (893—927) erreichte das erste bulgarische Reich seine größte kulturelle Blüte. Er, der in Byzanz erzogen worden war, förderte mit mächtiger Hand Kunst und Wissenschaft in seinem Reich. Vor allem das Schrifttum erlebte unter seiner Regierung sein „goldenes Zeitalter", nachdem die erste kulturelle große Leistung des bulgarischen Volkes — die Schaffung der bulgarischen Schriftzeichen durch Kyrillos und Methodios aus Saloniki — erfolgt war, die die Voraussetzung für das ganze bulgarische und darüber hinaus orthodoxe slawische Geistesleben bildet. Die Heiligen Kliment und Naum wurden die Träger des ersten bulgarischen Bildungswesens und eines großen theologischen und religiösen Schrifttums, von dem auch die anderen orthodoxen slawischen Völker in späterer Zeit zehrten.

Eine der stärksten kulturellen Leistungen des Zeitalters Simeons des Großen stellen die monumentalen Palastbauten im orientalisch-protobulgarischen Stil in seiner Residenzstadt Preslaw und die zahlreichen Kir­chenbauten dar, die dreischiffige Basiliken im frühchristlich-byzantinischen Stil sind. So die Basilika von Aboba (Pliska), die zu den größten Bauten der Balkanhalbinsel gehört. Sehr zahlreich waren auch die Kir­chenbauten in Mazedonien zur Zeit des Zaren Samuel.

Die Höhe des bulgarischen kunstgewerblichen und handwerklichen Könnens im 9. Jahrhundert zeigt der Goldschatz, der in Nagy Szent Miklös in Ungarn gefunden wurde und der — heute im Wiener Kunsthisto­rischen Museum — durch die Vielfalt der Formen und die Schönheit seiner Verzierungen auffällt.

In den 150 Jahren byzantinischer Herrschaft (1018—1186) erfolgte eine weitere tiefgreifende Byzantinisierung der bulgarischen Kultur, vor allem der bulgarischen Kunst. Die Fresken des Klosters Batschkowo bei Plowdiw, die ungefähr aus der Mitte des 12. Jahrhunderts stammen, sind hierfür ein Zeugnis. Freilich war der byzantinische Einfluß nicht überall gleich stark. Besonders von der nordbulgarischen Kunst im 11. und 12. Jahrhundert ist noch zuwenig aufgefunden, als daß Bestimmtes und Endgültiges gesagt werden könnte.

Tatsache ist es jedoch, daß sich die Kultur des ersten bulgarischen Reiches von der des zweiten bul­garischen Reiches auffallend unterscheidet. Der Bruch mit den alten, protobulgarisch-orientalischen Traditionen ist jetzt endgültig erfolgt. Dies kommt vor allem in der Baukunst zum Ausdruck. Der Zug zur Groß­artigkeit, der in den weltlichen und kirchlichen Bauten des ersten bulgarischen Reiches einen so bezeich­nenden Ausdruck findet, fehlt in den Schöpfungen des 13. und 14. Jahrhunderts. An seine Stelle tritt das Stre­ben nach feinerer Durchbildung der Formen und nach sorgfältiger Ausführung. Das Ornamentale herrscht vor und wird fast zur Hauptsache. Die basilikalen Grundformen der Kirchen werden meistens durch die auf einem quadratischen Grundriß sich aufbauenden Kreuz-Kuppelkirchen byzantinischer Prägung ersetzt.

Die Baufreudigkeit zu jener Zeit ist auf allen Gebieten groß, wenn auch die Ausmaße im allgemeinen sehr klein gehalten sind. So sind zum Beispiel auf dem Hügel Trapesitza der alten Zarenstadt Tirnowo in dieser Epoche allein 17 Kirchen gebaut worden. Ähnlich sind die Verhältnisse auch in Messemwria (Neseber) am Schwarzen Meer, bei Prilep und Ochrid in Mazedonien. Die wesentlichsten kirchlichen Bauten in der Hauptstadt Tirnowo sind die Kirche der „Vierzig Märtyrer" und die „Peter- und Paul-Kirche", die heute noch stehen. Überreste von weltlichen Bauten sind aus dieser Epoche nicht erhalten geblieben, außer der Burg „Baba Wida" bei Widin an der Donau.

Der Bau zahlreicher Kirchen hat eine starke Entwicklung der bulgarischen Wandmalerei zur Folge ge­habt. Der wichtigste Mittelpunkt dieser Kunst befand sich in Tirnowo. Diese „Schule von Tirnowo" stand unmittelbar unter byzantinischem Einfluß. Ihre Hauptwerke sind heute noch in der Kirche der „Vierzig Märtyrer" in Tirnowo und in den Kirchen von Trapesitza erhalten. Das wichtigste Denkmal der bulga­rischen Wandmalerei des 13. Jahrhunderts sind jedoch die noch sehr gut erhaltenen Fresken in der Kirche von Bojana bei Sofia. Der Ausdruck der Heiligenbilder und der anderen Motive, vor allem die Porträts des Stifter-Zaren Kalojan und seiner Gemahlin zeichnen sich durch einen besonderen Realismus aus, der sich schon von der Starrheit der konventionellen Ikonenmalerei der byzantinischen Meister abhebt. Dieser Rea­lismus tritt hier erstaunlich früh auf, früher als im Abendland, wo er erst später — in der Renaissance — zum Durchbruch kommt.

Neben diesen Kunstschöpfungen blühten im 13. Jahrhundert auch die Handschriftenornamentik und die Miniaturmalerei. Sie standen wie die anderen Künste und das Kunstgewerbe in der Hauptsache im Dienste der Kirche, wie es im Mittelalter üblich war, vor allem die an Ornamentik und Motiven so reiche altbul­garische Holzschnitzerei, die die kunstvollen Ikonostase1 geschaffen hat.

Das literarische Leben Bulgariens stand im 13. und 14. Jahrhundert gleichfalls in hoher Blüte, wenn auch nur wenige Denkmäler erhalten geblieben sind. Die hauptsächlichsten Wirkungsstätten dieses offiziellen hö­fischen und kirchlichen Schrifttums waren Tirnowo und die großen Klöster in seiner Umgebung. Aber auch hier herrschte der byzantinische Stil vor, so daß auch auf diesem Weg der byzantinische Geist ungehindert in das gesamte bulgarische geistige Leben eindringen und es schließlich durchsetzen konnte.

Einer der letzten großen Bulgaren vor der türkischen Herrschaft, der letzte Patriarch der bulgarischen Nationalkirche von Tirnowo, Eftimi (Euthymios), erkannte mit seherischem Blick den drohenden Verfall des Bulgarentums. Es gelang ihm aber nicht, die Entwicklung aufzuhalten, die mit dem Fall von Tirnowo im Jahr 1393 durch die Türken äußerlich beendet wurde.


1 Ikonostas: die große Bilderwand, die in -den Kirchen des östlichen Christentums den Aitarraum von dem Ge­meinderaum trennt


[Back]  [Index]  [Next]