Die Entwicklung des kulturellen Lebens seit der Befreiung

 
Die Zeit von 1878 bis zur Gegenwart ist mit einer machtvollen Entwicklung des kulturellen Lebens des bulgarischen Volkes ausgefüllt. Die Befreiung löste die Fesseln des schlummernden bulgarischen schöpfe­rischen Geistes mit einem Schlage und ließ ihn sich von der Grundlage der bulgarischen Volkskultur zur Höhe neuen kulturellen Schaffens entfalten. Aber die so ungewohnte politische und geistige Freiheit be­flügelte nicht nur, sondern verwirrte auch den bulgarischen Geist und ließ ihn, der innerlich noch nicht gefestigt war und im Fremden noch das Höhere und Bessere sah, ungehindert und wahllos die zahlreichen europäischen Geistesströmungen und Kunstrichtungen aufnehmen. Die Folge dieser unvermittelten Berüh­rung und ungestümen Auseinandersetzung der östlichen mit der westlichen Welt in der Seele des Bulgaren war zunächst eine unausgeglichene Entwicklung des bulgarischen kulturellen und geistigen Lebens, die, weil das wesensfremde schädliche Geistesgut nicht Immer rechtzeitig abgestoßen wurde, sich in vielen Fällen von dem, was bulgarisch ist und echter Ausdruck des bulgarischen Wesens sein sollte, abwandte und manche Krise und Entartung hervorrief. Auch heute sind die Auswirkungen dieser Übergangsepoche noch nicht überall überwunden. Aber hier war es gerade die — manchmal unsichtbare Verbindung mit der alten bulgarischen Volkskultur und Volkskunst, die die völlige Zersetzung der eigenen Werte letzten Endes ver­hinderte. Die Volkskultur spendete immer wieder gleich starken Mutterwurzeln neue und belebende Kräfte. So konnte jene innere Verbundenheit zwischen Volk, Künstler und Werk, die in der bulgarischen Volks­kunst so wundervoll zum Ausdruck kommt, auch in den maßgeblichen bulgarischen kulturellen Schöpfun­gen der letzten 60 Jahre erhalten bleiben. Die jüngste bulgarische Kunst, sei es Schrifttum, Musik, Thea­ter oder bildende Kunst, ist wieder Ausdruck des bulgarischen Lebens, sie atmet Verbundenheit mit der bulgarischen Erde, sie wird geformt durch die ewige bulgarische Landschaft.

Am deutlichsten wird die Entwicklung der letzten 60 Jahre im Schrifttum, besonders in der Lyrik. Die Vertreter der bulgarischen Wiedergeburt wurzeln mit ihren Dichtungen noch im bulgarischen Volkslied und in der Volksdichtung. Die nächste Epoche der bulgarischen Schriftsteller steht bereits mit dem Westen in regen geistigen Beziehungen und setzt sich mit der europäischen Welt auseinander. Einigen gelingt die Synthese zwischen den eigenen und fremden völkischen Werten. Feinere Naturen zerbrechen aber in diesem steten zwiespältigen Kampf, der das geistige Leben Bulgariens um die Jahrhundertwende beherrschte.

Die nun folgende Generation zum größten Teil heute noch lebender bulgarischer Dichter verfiel noch tiefer in den Bann dieses zerstörenden westeuropäischen Individualismus, in ihr lagen aber schon die Keime zu einer neuen gesunden und im Volke verwurzelten Kunst. Erst die heute schaffende Generation bulgari­scher Lyriker vermochte aber durch ein noch tieferes Eindringen in die Volksdichtung, durch eine noch engere Verbundenheit mit der Heimaterde und unter dem Eindruck der neuen und schweren Schicksalsprü­fungen, die das bulgarische Volk in den letzten Jährzehnten zu bestehen hatte, dem bulgarischen Schrift­tum, vor allem der Lyrik, ein neues, durch seine Originalität und nationale Färbung besonders wertvolles Gepräge zu verleihen. Bei vielen bulgarischen Prosa-Dichtungen ist ein leiser Gleichklang in Sprache und Ausdruck mit den russischen Meistern nicht zu verkennen. Die Novellen und Erzählungen vermitteln ein ungemein plastisches Bild der bulgarischen Welt und ihrer Menschen.

Das Stiefkind der bulgarischen Dichtung ist das Drama, obgleich es an dramatischen Stoffen nicht fehlt, wenn man nur die bulgarische Geschichte berücksichtigen würde. Doch man muß sich vergegenwärtigen, daß von den dichtenden (und schauspielenden) Schullehrern der Türkenzeit bis zum modernen bulgarischen Drama ein zeitlich noch zu kurzer, aber um so bedeutungsvollerer Weg führt. Die bulgarische Komödie be­schränkt sich mit zielsicheren Anspielungen und herztiefem Humor im wesentlichen auf die Wiedergabe der Schattenseiten der neuen bulgarischen städtischen Gesellschaftschichten. Das bulgarische Nationaltheater in Sofia, der praktische Vermittler der bulgarischen Dramatik, hat heute schon eine besondere künstlerische Höhe erreicht und zur kulturellen Entwicklung des Landes viel beigetragen.

Die bulgarische Oper ist jünger als das Drama. Aber eine Reihe von Werken lassen schon heute erken­nen, daß die bulgarische Oper in einer hoffnungsvollen Entwicklung begriffen ist.

Die bulgarische Kunstmusik wurzelt wie die Dichtung im Volkslied. Die 60jährige Entwicklung seit der Befreiung hat bereits vielversprechende Ansätze für einen eigenen nationalen bulgarischen Musikstil ge­schaffen, der auch in den Kompositionen für das im Volke sehr verbreitete Chorwesen zum Ausdruck kommt.

Die bulgarische bildende Kunst baut vielleicht in stärkster Weise auf die alte bulgarische Volkskunst auf, indem sie ihre schöpferischen Anregungen und gestaltenden Kräfte benutzt, um eine organische Verschmel­zung zwischen den altbulgarischen Kunsttraditionen und den Verschiedenen modernen Kunstrichtungen zu erreichen und einen eigenständigen national-bulgarischen Stil zu schaffen.

Auf der anderen Seite des bulgarischen kulturellen Lebens steht das Schul- und Erziehungswesen und die geistig-wissenschaftliche Entwicklung.

Bulgarien hat sich im Laufe der 60 Jahre eigener Staatlichkeit ein sehr ausgedehntes und für den Bal­kan mustergültiges Schul- und Erziehungswesen aufgebaut, das wohl oft eine Überentwicklung erfuhr, was aber auf den unvorstellbaren Lerneifer aller Schichten und Altersklassen des bulgarischen Volkes zurück­zuführen ist. Das schöne moderne Schulgebäude ist der Stolz jeder, auch der kleinsten Gemeinde, und spielt mit seinem mächtigen roten bulgarischen Ziegeldach in der Landschaft dieselbe Rolle wie in Deutschland etwa die Kirchen mit ihren Türmen.

Die Universität „St. Kliment von Ochrid" m Sofia, die 1939 auf ihr 50jähriges Bestehen zurückblicken konnte, leitet mit ihren zahlreichen modernen Instituten das bulgarische wissenschaftliche Leben. Die staat­liche Hochschule für Finanz- und Verwaltungswissenschaften in Sofia sowie die Handelshochschulen in Warna und Swischtow haben die verdienstvolle Aufgabe, dem Staat und der Wirtschaft für ihre vielseitigen Tätigkeitsbereiche einen geschulten und ausgebildeten Nachwuchs sicherzustellen.

Die Musikakademie und die Kunstakademie sind die Träger der Ausbildung des künstlerischen Nach­wuchses. Die Akademie der Wissenschaften und der Künste versammelt die geistige Elite des Landes.

Erst im Herbst 1942 wurden weiterhin in Sofia eine Staatliche Hochschule für Körperkultur und eine Tech­nische Hochschule ins Leben gerufen, beide in enger Zusammenarbeit mit der Hochschule für Leibesübungen und der Technischen Hochschule Berlin. Durch diese Gründungen ist die Entwicklung des Hochschulwesens Bulgariens zu einem gewissen Abschluß gekommen, wenn auch noch Pläne zur Gründung einer zweiten Uni­versität in der mazedonischen Hauptstadt Skopje lebhaft erwogen werden.

Die Nationalbibliothek Sofia umfaßt die wesentlichen Werke der Weltliteratur, meist in deutscher Spra­che, die auch in der Universitäts- und den zahlreichen Stadtbibliotheken neben dem bulgarischen Schrift­tum anzutreffen sind. Die schon unter der türkischen Herrschaft bestehenden bulgarischen Lesehallen, die heute jede Stadt und größere Gemeinde, zum Teil mit Kino und Theatersaal, besitzt, stellen ein einzigartiges Element zur Bildung und kulturellen Aufschließung der breiten Schichten des bulgarischen Volkes dar.

 
Diese kurze Übersicht über das heutige bulgarische kulturelle Leben zeigt deutlich, daß es nach 60jähriger Entwicklung trotz mancher Fehlentwicklung und vieler politischer und materieller Schwierigkeiten be­reits alle Voraussetzungen enthält, um auch hier zum führenden Mittelpunkt des Balkans zu werden. Bul­gariens zukünftige Kulturentwicklung wird im wesentlichen von der Fähigkeit abhängen, das eigenständig Bulgarische in schöpferischer Form mit dem neuen europäischen Zeitgeist, wie er schon in der jetzt neuerwachsenden Kultur des deutschen Volkes zutage tritt, organisch zu verbinden.


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