II.
Die
Geschichte des bulgarischen Volkes
Ein Blättern im Buche der
Geschichte
des bulgarischen Volkes läßt erkennen, daß es kaum ein
anderes europäisches
Volk gibt, dessen historisches Schicksal so großen ruckartigen
Wandlungen
unterworfen war. Das Schicksal führte das bulgarische Volk auf die
Höhen
staatlicher Macht, kultureller Entfaltung und wirtschaftlicher
Blüte, aber
auch zu tiefster Erniedrigung und völkischer Unfreiheit,
die es ein
halbes Jahrtausend als Volk und Staat aus der europäischen
Geschichte so gut
wie auslöschten. Bulgariens Geschichte zeigt deutlich die Gesetze
des
Balkanraumes, dessen zentraler Teil Bulgarien ist, seine Beziehungen
und Abhängigkeiten
zu den großen gestaltenden Nachbarräumen in Europa und Asien.
Das
Erste Bulgarische Reich (679—1018)
Die Anfänge der bulgarischen
Geschichte lassen sich eindeutig bis in die Zeit der großen
Völkerwanderung
zurückführen, eine Zeit also, in der sich auch im
übrigen Europa die ersten
Grundlagen für die moderne geschichtliche Entwicklung
bildeten.
Zu jener Zeit (5.—6. Jahrhundert n. d. Zr.) war das große Reich des Hunnenkönigs Attila (des Etzel der deutschen Nibelungensage) untergegangen, die Ostgoten hatten den Balkanraum — die römische Provinz Mösien — verlassen und waren über das pannonische Becken (die heutige ungarische Tiefebene) weiter nach Italien gezogen, als slawische Volksteile, die die Awaren als Hilfsvölker begleiteten, die untere Donau überschritten und sich in einem breiten Strom in diesen leeren Raum ergossen, der politisch zum oströmischen Reich gehörte. Gegen die erste Hälfte des 7. Jahrhunderts hatten sich diese südlichen Slawen schon über die ganze Balkanhalbinsel ausgebreitet, die eingesessene balkanische Urbevölkerung — vor allem Thraker und Illyrier — bis auf die Albaner mehr oder minder slawisiert und aufgesogen. Sie lebten nun als fleißige Ackerbauern und geschickte Handwerker in diesem nordwestlichen Grenzraum des oströmischen Reiches, dessen politischer Oberhoheit sie sich nicht entziehen konnten. Der Grund für ihre politische Unfreiheit lag wohl in der Hauptsache in ihrer inneren Zerrissenheit in zwei Hauptgruppen, die sich schon damals bemerkbar machte und die schon vor der Landnahme im alten Siedlungsgebiet der südrussischen Ebene begonnen hatte. Die westliche Gruppe dieser Südslawen — die heutigen serbischen, kroatischen und slowenischen Völkerschaften — besiedelten den nordwestlichen Teil der Balkanhalbinsel bis zur heutigen Untersteiermark, Dalmatien, Bosnien, Herzegowina, Montenegro und die Landschaften westlich der Morawa, während die östliche Gruppe alle übrigen Teile der Balkanhalbinsel zwischen den Karpaten im Norden, dem Ägäischen Meer und dem Peloponnes (Morea) im Süden, dem Schwarzen Meer und dem Maritzaunterlauf im Osten sowie dem Morawagebiet und dem Adriatischen Meer im Westen durch mehr oder minder starke Besiedlung in Besitz genommen hatte.
So war die Lage, als im Jahr 679 ein Heerführer, den die Geschichte lsperich oder Asparuch nennt, mit 30—40 000 Gefolgsleuten, den Urbulgaren, die untere Donau überschritt, sich im nördlichen Teil der Dobrudscha niederließ und bereits zwei Jahre später (681) in Pliska im südlichen Teil der Dobrudscha das erste bulgarische Staatswesen begründete, nachdem er die eingesessene Bevölkerung unterworfen hatte oder in vertragliche Beziehungen zu ihr getreten war. Die Urbulgaren gehörten zur großen staatenbildenden turkotatarischen Völkerfamilie, die im turanischen Innerasien ihre Heimat hatte. Sie waren wohl als ein Teil des großen Zuges der turanischen Völker an der Wolga zurückgeblieben, wo sie um 480 zum erstenmal geschichtlich in Erscheinung traten, als Byzanz um ihre Unterstützung zum Kampf gegen die Ostgoten und die Gepiden warb.
Mit der Gründung des ersten bulgarischen Reiches auf oströmischem Reichsboden, das bis zum Jahre 1018 dauerte, wurde auch der Grundstein zu der heroischen und zugleich tragischen Geschichte des bulgarischen Volkes, zu seinem Kampf gegen das christliche Byzanz, gegen das osmanische Istanbul und gegen die griechische geistige Überfremdung gelegt. Dieser Kampf wurde geradezu das Grundthema der bulgarischen Geschichte. Er ist nur noch mit den dauernden Abwehrkämpfen des deutschen Volkes gegen seine westlichen Nachbarn zu vergleichen, die seine eigene Entwicklung und Machtentfaltung immer zu behindern versuchten.
Der Kampf des bulgarischen Volkes um seine Selbsterhaltung und Sicherheit gegen die äußeren Gefahren begann mit Byzanz, dem mächtigen oströmischen Reich, dem Nachfolger des alten römischen Imperiums. Dieses sah mit Schrecken die neue Macht vor seinen Toren entstehen, die sich bald bis zum Balkangebirge ausdehnte und durch andauernde Kriegs- und Beutezüge jede normale Handelsverbindung nach Westen gefährdete sowie darüber hinaus das nach Süden und Südwesten liegende Land beunruhigte. Unter dem mächtigen Khan Krum (802—814) erstreckte sich das bulgarische Staatsgebiet nach den letzten Schlägen gegen das sich nach der entscheidenden Niederlage durch Karl den Großen (796) auflösende Awarenreich von der Theiß bis zum Dnjestr, auf das Morawagebiet bis zur Quelle und auf das Becken von Sofia. Byzanz konnte vorerst gegen diese Entwicklung nichts unternehmen, da es in einem entscheidungsschweren Kampf mit einem anderen mächtigen Gegner — den Arabern — stand. Erst nach der Überwindung dieser Bedrohung des oströmischen Reiches vom Süden her versuchte Byzanz gegen Mitte des 8. Jahrhunderts unter Kaiser Konstantin V. Kopronymos (741—775) die Wiedergewinnung der von den Bulgaren eroberten oströmischen Reichsgebiete. Seine Unternehmungen blieben aber alle erfolglos und wurden von dem jungen bulgarischen Staat siegreich abgewiesen, der aus seiner ersten Bewährung nur stärker und mächtiger hervorgegangen war. Auch der Versuch des Kaisers Nikephoros I. (802—811) schlug fehl: er und sein Heer wurden 811 entscheidend geschlagen, so daß die Bulgaren zum erstenmal bis vor die Tore von Byzanz und nach Thrazien vordringen konnten. So ging der bulgarische Staat aus diesen ersten Kämpfen als Sieger hervor und konnte als dritte Großmacht des damaligen Europa neben dem fränkischen Karolingerreich im Westen und dem byzantinischen Reich im Osten gelten.
Dieser äußeren Machtfülle des von Khan Krum geschaffenen Großbulgarien entsprach jedoch noch nicht seine innere Geschlossenheit. Die völkischen, kulturellen und religiösen Unterschiede zwischen den urbulgarischen Eroberern und den unterworfenen Slawen und slawisierten Volksmassen bestanden noch. Sie schieden die Bevölkerung in zwei ungleiche Teile, obwohl sicherlich schon in vielen Fällen im Laufe der Jahrzehnte eine enge Berührung und Vermischung eingetreten war. Aber jene Verschmelzung zu einem neuen Volke konnte erst eine allumfassende Idee, die in jener Zeit zugleich kulturell und religiös sein mußte, erreichen. Auch im Falle Bulgariens war es das Christentum — hier in seiner orthodoxen Ausprägung —, das diese einigende Rolle übernahm, genau so wie das römische Christentum die alles verbindende Grundlage für das Reich Karls des Großen bildete oder bilden mußte und wie die byzantinische Reichskirche im oströmischen Reich in gleicher Weise ihre vom Staat ihr zugedachte Funktion ausübte. Als Knais Boris im Jahre 865 das oströmische Christentum zur Staatsreligion erklärte und sich feierlich auf den Namen des regierenden Kaisers Michael III. taufen ließ, der hierdurch sein kaiserlicher Vater wurde mit all den Folgerungen, die das irdische Vater-Sohn-Verhältnis ergibt, und als zugleich seine Familie und sein Bojarenadel sich taufen ließen, da waren nicht nur die staatliche Voraussetzung für den schon begonnenen Slawisierungsprozeß der turkotatarischen Erobererschicht, sondern auch die Grundlagen zur künftigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des bulgarischen Staatswesens geschaffen.
In damaliger Zeit bedeutete die Annahme eines der beiden großen christlichen Bekenntnisse zugleich eine außerordentliche politische und kulturelle Entscheidung nicht nur für die lebende Generation. In allen Urkunden und Berichten der zeitgenössischen Chronisten wird von den Bemühungen der oströmischen klerikalen Diplomatie um die Gewinnung Boris' und seines Volkes für den „rechten Glauben" erzählt. Boris hat lange Zeit gezögert, ehe er seine Entscheidung zwischen den beiden mächtigen Gegnern, wie sie die Oströmische und die Weströmische Kirche darstellen, traf. Er wog lange und bedächtig die verschiedenen Vorteile und Nachteile ab, ehe er sein heidnisches Haupt zur Taufe entblößte, die von dem großen Patriarchen Photios von Byzans selbst vorgenommen wurde. Der Grund seiner zögernden Haltung lag wohl vor allem in der Überlegung der Folgen, die sich für die geistig-kulturelle Entwicklung seines Volkes und die politische Entwicklung seines Staates bei der Übernahme eines der beiden christlichen Glaubensbekenntnisse ohne weiteres ergeben würden. Die christlichen Völker und Staaten hatten eine andere Kulturhöhe und eine anders geartete geistige Entwicklung erlebt. Zum großen Teil bildete noch das christianisierte geistige Erbe der Antike die Grundlagen der beiden anderen Großmächte im damaligen Europa: des byzantinischen und des karolingischen Reiches. Aber Boris konnte wohl keine rechte Vorstellung von den unausbleiblichen Folgen der Übertragung der reifen christlichen Kultur des Ostens für das noch junge und unentwickelte bulgarische Volk haben. Mit seiner Entscheidung verhalf er nur der neuen Religion zum Sieg, die seit langem auf verschiedenen Wegen in das Gebiet der Bulgaren eingedrungen war.
Hand in Hand mit dieser
Christianisierung von unten her verbreitete sich
das altslawische Alphabet, auch kyrillische Buchstaben genannt, das zur
Grundlage des gesamten slawischen Schrifttums wurde und noch heute im
sogenannten Kirchenslawisch bei der orthodoxen Liturgie in Gebrauch
ist. Durch
die Schaffung des altbulgarischen Alphabets und der altbulgarischen
Schriftsprache haben die Bulgaren mit einem Schlage die kulturelle
Führung der
slawischen Völker Osteuropas übernommen. Sämtliche
orthodox-gläubigen Völker
des Ostens haben diesen Fortschritt übernommen und hierauf ihre
eigenen Kulturleistungen
aufgebaut. Das bulgarische Patriarchat von Ochrid, dem sich 989 der
Großfürst Wladimir
von Kiew (Alt-Reußen) unterstellte - und nicht Byzanz —
führte die
Christianisierung des russisch-warägischen Reiches durch. Von Kiew
aus nahm
dann später die Christianisierung des ganzen riesigen russischen
Raumes ihren
Anfang. Aber auch als Abwehr der späteren geistigen
Überfremdungsbemühungen
des griechischen Klerus hat die Schaffung der eigenen Schrift und ihre
Verwendung beim Gottesdienst dem bulgarischen Volke unschätzbare
Dienste
geleistet und es vor der Auflösung als eigenschöpferische
Volks- und
Kulturgemeinschaft bewahrt.
Bulgarien unter Zar Simeon um 927
Die verbindende und verschmelzende
Kraft des neuen Glaubens war so stark, daß bereits nach einigen
Jahrzehnten der
völkische Zusammenschluß vollzogen war. Die slawische Masse
des Volkes hatte
die urbulgarische Oberschicht aufgesogen, die aber als ewiges
Denkmal ihrer
geschichtlichen Mission diesem neuen Volke seinen Namen gab: „Bulgaren".
Bulgarien unter Zar Johann Assen II. um 1230
Aber vor allem sind die politischen Taten Simeons von besonderer Bedeutung für die bulgarische Geschichte geworden, denn seinen Kampf gegen Byzanz führte er nicht nur um die Anerkennung seines sich selbstverliehenen Zarentitels und um die Sicherung und Anerkennung Bulgariens als gleichberechtigte Großmacht, sondern vor allem um den Antritt der politischen und geistigen Weltherrschaft, um die Erringung des Szepters des byzantinischen Weltkaisertums, was der Besitz des Thrones der Erben des Kaisers Konstantins des Großen zu jener Zeit bedeutete. Der „Kaiser der Romäer" in Konstantinopel war nach der das Mittelalter beherrschenden Idee vom Weltenreiche unter einem Weltenkaiser, die es vom Römerreich des Altertums übernommen hatte, der Herr der bekannten und unbekannten Welt und zugleich der irdische Stellvertreter des himmlischen Herrn. In diesem Kampfe Simeons um den Titel eines „Kaiser der Romäer", der schließlich zum Verderben und Untergang seines Reiches führte, liegt dieselbe Tragik und scheinbare Unabwendbarkeit wie bei den Rom-Zügen der deutschen Kaiser des Mittelalters.
Gegen Byzanz führte Simeon mehrere wohlvorbereitete Kriege, die ihn zwar immer vor die mächtigen Mauern der Kaiserstadt führten und die stets die Überlegenheit des bulgarischen Heeres, das von kumanischen Hilfsvölkern ergänzt war, gegenüber seinen südlichen Gegnern zeigten, die jedoch trotz aller Anstrengungen zu keinem praktischen Ergebnis und zu der Verwirklichung seiner hohen Pläne führten. Die Waffen, mit denen Byzanz siegte, waren nicht immer die Entscheidungen der Schlacht, sondern die unsichtbaren Mittel seiner überlegenen Diplomatie: List, Bestechung, Verrat, Einkreisung oder Zeitgewinnung.
Als Zar Simeon 927 die Augen
schloß,
hinterließ er seinen Erben trotzdem ein mächtiges Reich, das
im Norden von der
Donaumündung bis nordwestlich Belgrad reichte, im Westen Albanien
und
Mazedonien umfaßte und darüber hinaus bis nach Montenegro
und Bosnien reichte;
im Süden bildeten die Rhodopen und im Osten das Schwarze Meer die
Grenzen. Aber
dieser Zustand dauerte nicht lange an. Verschiedene Umstände
führten einen
Verfall des mächtigen Reiches Simeons des Großen herbei:
Zunächst die Schwäche
seiner Nachfolger, die Ermüdung des Volkes und die
Erschöpfung des Staates
infolge der langen Kriege unter Simeon, ferner die ständige
Zunahme der äußeren
Gefahren, die Bedrohung des Reiches durch die Byzantiner und die von
ihnen
aufgewiegelten Russen (Kiew) und Madjaren, vor allem aber die
Auswirkungen des
zersetzenden Einflusses der für die Bulgaren fremden
byzantinischen Kultur, die
durch den griechischen Klerus nach Bulgarien als Folge der
Christianisierung
eingeströmt war, führten dazu, daß schon 45 Jahre nach
Simeons Tode (972) die
ganze Östliche Hälfte des bulgarischen Staates unter die
Herrschaft von Byzanz
geriet. Wenn auch derartige Schicksalsschläge die
Abwehrkräfte von Führung und
Volk noch einmal erweckten, die inneren Gegensätze in den
Hintergrund treten
ließen und zur Bildung eines neuen westbalkanischen Reststaates
durch eine der
angesehensten der Bojarenfamilien zuerst in Prespa, später in
Prilep und in
Ochrld am Ochrider See in Mazedonien führten, so konnte doch das
kommende
Verhängnis nicht mehr abgewendet werden. Der nationale
Unabhängigkeitskampf der
Bulgaren unter dem Zaren Samuel gegen Byzanz unter Kaiser
Basileios II.
endete mit der endgültigen Vernichtung des ersten
bulgarischen Reiches.
Mit wie starkem nationalen Haß und gegenseitiger Erbitterung die
beiden
Erbfeinde Bulgarien und Byzanz gegeneinander kämpften, zeigt
die grausige Tat
des Siegers, die ihm den Namen „Bulgarenschlächter" eintrug:
er ließ die
bei der Entscheidungsschlacht bei Kljutsch im Jahre 1014 gefangenen 15
000
Bulgaren blenden. Nur jedem Hundertsten wurde das Licht eines Auges
gelassen,
um die blinde Schar der anderen zur Heimat zurückführen zu
können. Bei ihrem
jammervollen Anblick traf den Zaren Samuel der Schlag, so daß er
kurz darauf
(1014) starb. Vier Jahre später brach der bulgarische Widerstand
völlig
zusammen. Kaiser Basileios II. zog feierlich als Sieger in der
bulgarischen
Zarenstadt Ochrid ein. Das ruhmvolle erste Reich der Bulgaren hatte
aufgehört
zu bestehen. Es begann die Zeit der byzantinischen Fremdherrschaft.