Das Zweite Bulgarische Reich (11861396)

 
       170 Jahre dauerte die byzantinische Herrschaft über bulgarisches Land, das nunmehr zu einer auto­nomen Provinz des oströmischen Reiches wurde, deren geistige Einheit aber durch das zum Erzbistum de­gradierte Patriarchat von Ochrid bewahrt bleiben konnte. Zwei Aufstände zur Befreiung (1040 und 1073) und weitere Versuche gegen Ende des 11. Jahrhunderts wurden vom bulgarischen Volk gegen die Fremd­herrschaft unternommen, aber das Joch konnte nicht abgeschüttelt werden. Erst der Aufstand im Früh­ling des Jahres 1186, der im Norden des Balkangebietes unter Führung der Bojaren-Brüder Peter und Assen entbrannte, als in Byzanz der Schwächling Isaak //. Angelos (1185—1195) herrschte, führte nach zweijäh­rigem blutigen Ringen zu einem siegreichen Ende. Zwar erstreckte sich das neue Bulgarenreich Zunächst nur auf das Gebiet zwischen Balkan und Donau, aber es bestand wenigstens wieder ein freier, unabhängi­ger bulgarischer Staat. Tirnowo am Nordabhang des Balkangebirges, geschützt gelegen auf den von der Jantra umschlungenen Felsen, wurde die neue Hauptstadt. Hier richtete auch das Haupt der bulgarischen Nationalkirche, die ihre Unabhängigkeit von Byzanz wieder zurückgewann, seinen Sitz ein.

Die Zertrümmerung des byzantinischen Reiches durch den von der venezianischen Diplomatie gegen sei­nen Rivalen im östlichen Mittelmeer, Byxanz, abgelenkten vierten Kreuzzug (1204), schuf die günstige Ge­legenheit, die Rückgliederung auch der anderen zum bulgarischen Reich gehörenden Gebiete auf der Bal­kanhalbinsel erfolgreich in Angriff zu nehmen. Zar Peter und sein ihm auf den Thron folgender Bruder Assen wurden jedoch Opfer innerer Verschwörungen. Erst ihrem jüngeren Bruder Johann, auch „Kalojan, der Griechentöter" genannt, gelang es dank seiner besonderen militärischen und politischen Fähigkeiten, das neue Reich durch schnelle Eroberungen und kluge politische Abmachungen zu festigen und zu vergrößern. Er entriß den Byzantinern Nord- und Mittelmazedonien und konnte die Madjaren aus dem Morawa-Gebiet vertreiben. Bedeutung hat vor allem sein Vertrag mit Papst Innozenz III., der ihm gegen die Verpflichtung, die bulgarische Kirche unter die Oberhoheit des Papstes zu stellen, 1203 den Zarentitel zuerkannte. Papst Innozenz wollte hierdurch die Macht Roms nach dem Osten ausdehnen und die orthodoxe Kirche schwä­chen. Kalojan seinerseits erhoffte hierdurch bessere Beziehungen zu dem auf den Trümmern von Byzanz errichteten lateinischen Kaiserreiche der Kreuzfahrer in Konstantinopel. In dieser Hoffnung wurde er jedoch enttäuscht. Die Kreuzfahrer sahen sich als die rechtmäßigen Erben des oströmischen Imperiums an und machten ihm daher seine Gebietseroberungen im Süden des Balkangebirges streitig. Zwar konnte Kalojan in der Schlacht bei Adrianopel im Jahre 1205 den Kreuzrittern eine entscheidende Niederlage zufügen und ihren Kaiser Balduin nach Tirnowo gefangen fortführen, jedoch setzte Verrat seinem Leben und Schaf­fen kurz darauf bei einer Belagerung von Saloniki ein Ende. Seinem Tode folgten jahrelange innere Un­ruhen, die den Verlust eines großen Teiles der von Kalojan eroberten Gebiete nach sich zogen. Ein unheil­volles Zwischenspiel der Herrschaft des Usurpators Boril konnte endlich 1218 ein legitimer Erbe Kalojans, Johann Assen II. (1218—1241), beenden. Er war es, der bewußt die große Tradition des ersten bulgari­schen Reiches unter Simeon dem Großen wieder aufnahm. Nach dem Sieg über den Beherrscher des westbyzantinischen Teilreiches von Epirus und Saloniki, des Theodoros Komnenos bei Klokotnitza im Jahre 1230 gelang es ihm, innerhalb eines kurzen Zeitraumes wieder ein achtunggebietendes Staatswesen herzu­stellen, das von der Adria bis zum Schwarzen Meer, von der Donau bis zum Ägäischen Meer reichte und auch Epirus, Thessalien und Thrazien umfaßte. Bei solcher Machtfülle war es kein Wunder, daß Johann Assen II. sich „Kaiser der Bulgaren und Griechen" nannte und hiermit — wie Simeon — seinen Anspruch auf das byzantinische Weltenkaisertum bekundete. Nicht die Schaffung eines mächtigen nationalen Reiches, sondern der Antritt des Erbes des byzantinischen Ostrom war auch das Ziel dieses bulgarischen Zaren, das ihn wie Simeon betörte und ihn von den nationalen Gegebenheiten ablenkte. Aber auch sein Zug vor die mächtigen Mauern von Byzanz, den er nach dem endgültigen Bruch mit der lateinischen Kirche auf dem Höhepunkt der Macht des zweiten bulgarischen Reiches antrat, blieb erfolglos.

Der Verfall des zweiten bulgarischen Reiches begann bereits nach seinem Tode im Jahre 1241. Anteil daran hatte wieder der Einfluß der fremdartigen byzantinischen Kultur, der die geistige Einheit der Bul­garen zerstörte, die Widerstandskraft der führenden Schichten schwächte und soziale Reaktionen bei den einfachen Volksmassen auslöste. Der überlegenen byzantinischen Kultur hatten sich die Bulgaren schon im ersten Reich nicht entziehen können. In der Zeit der byzantinischen Herrschaft war dieser Einfluß noch bedeutend stärker geworden und hatte vor allem durch die Tätigkeit der griechischen Geistlichkeit, die nunmehr keine bulgarische Staatsgewalt mehr hemmen konnte, Eingang in alle Volksschichten gefunden, die im Laufe der Zeit tief von der eigentümlichen byzantinischen Weltanschauung und den römisch-by­zantinischen Rechtsanschauungen durchsetzt wurden. Die Tatsache, daß allen Balkanvölkern das Christen­tum durch den griechischen Klerus gebracht wurde, führte zu der noch heute auffälligen Gleichartigkeit ihrer kulturellen Entwicklung. Das bulgarische Patriarchat von Ochrid hatte Basileios II. mit einem grie­chischen Bischof besetzt und damit zu einem Instrument im Dienste der Byzantknsierung der Bulgaren ge­macht. Übersetzungen byzantinischer Chronisten ins Altbulgarische, die unbemerkt die byzantinische Geschichtsauffassung von der Gottgewolltheit der byzantinischen Herrschaft dem bulgarischen Leser vermit­telten, entstanden in jener Zeit. Aber die Bulgaren, setzten sich diesem universellen Angriff ihres Erbfein­des entgegen. Vor allem war es die Bewegung des Mönches Bogomil, die im 10. Jahrhundert ihren Höhe­punkt erreichte, die mit ihrer dualistischen Weltanschauung den Kampf gegen die politische und geistige Hierarchie, die für Jahrhunderte das unerbittliche Dogma der byzantinischen Staatslenker war, aufnahm. Diese auf Anregungen vorderasiatischer dualistischer Religionslehren zurückgehende religiöse Bewegung des Bogomilismus entwickelte sich im Abwehrkampf gegen die griechisch-orthodoxe Kirche zu einer wah­ren national-bulgarischen Volksreligion, die in ihren europäischen Auswirkungen wenig bekannt ist.

Die bogomilische Idee, die wegen der Predigt des Armutsideals, der Ablehnung von Staat und Kirche zugunsten eines künftigen himmlischen Reiches sowohl eine religiöse als auch ideelle Bewegung war, wurde zum zweiten bulgarischen Beitrag zur gesamteuropäischen Geistesgeschichte. Denn aus Bulgarien drang diese Lehre nach Serbien und Bosnien weiter, von dort über Oberitalien, wo ihre Anhänger als „Pataria" auftra­ten und schwere Unruhen in den Stadtrepubliken auslösten, nach Südfrankreich. Hier entstand die Bewe­gung der „Albigenser" und „Waldenser" mit ihren revolutionären Soziallehren gegen die mittelalterliche feudale Weltordnung: Nur durch erbittert geführte, blutige Kreuzzüge, die Papst Innozenz III. und König Ludwig VIII. von Frankreich unternehmen mußten, konnten sie unterdrückt werden. Auch zur Hussitenbewegung führten die Fäden dieser seltsamen mittelalterlichen Bewegung, gleichsam als Vorbote, die kom­menden europäischen religiösen Umwälzungen ankündigend.

Die bogomilischen Dogmen hatten aber im bulgarischen Volk selbst die alten Bindungen zwischen Füh­rung und Volk zerrissen, Haß und Feindschaft zwischen Adel, Geistlichkeit und Volk gesät. Insbesondere hatte die Durchsetzung des bulgarischen Volkskörpers mit dem bogomilischen Ideengut, gegen die auch die blutigen Verfolgungen seitens des Staates und der Kirche nichts ausrichten konnten, den alten Kriegs- und Kampfgeist der Bulgaren mit der Zeit gelähmt.

Diese inneren Zersetzungserscheinungen, die sich schon bei Lebzeiten des Zaren Johann Assen II. bemerk­bar machten, verstärkten sich zusehends nach seinem Tode und bei den bald beginnenden Kämpfen gegen die äußeren Feinde. Im Norden fielen die Tataren in bulgarisches Gebiet ein. Dann wandten sich auch die By­zantiner von Nikaia unter Kaiser Michael VIII. Palaiologos gegen die Bulgaren, obwohl sie mit deren Hilfe das lateinische Kaiserreich vernichtet hatten, und verleibten sich Teile des nördlichen Nachbarreiches ein. Unaufhörliche Thronanwärterstreitigkeiten schwächten die Kräfte des bulgarischen Reststaates, der in ein­zelne politisch bedeutungslose Fürstentümer verfiel, und ließen Byzanz und den Tatarenstaat der „Goldenen Horde“ Einfluß auf seine Geschicke nehmen. In diese Zeit bulgarischer Ohnmacht fällt der Aufstieg des serbischen Staates zur Balkanmacht, der mit der meteorartigen Reichsschöpfung des serbischen Zaren Ste­fan IV. Duschan (1331—1355) und seiner Kaiserkrönung im Jahre 1346 in Skopje aber bereits seinen Höhe­punkt findet.

Jedoch sollte Bulgarien nochmals einen Höhepunkt politischer Macht und kultureller Blüte erleben, wenn dieser auch nur von kurzer Dauer war und wie ein Schatten einstiger Größe anmutet. Nach dem Ableben der Dynastie der Terteriden ging der Thron von Tirnowo auf die Schischmaniden über, deren mächtigster Vertreter Johann Alexander (1331—1371) war. Wie seine großen Vorgänger Simeon d. Gr. und Johann As­sen II., so nannte auch er sich wieder „Kaiser der Bulgaren und Römer", zu einer Zeit, als sich alle her­gebrachte Ordnung auf dem Balkan aufzulösen schien und sich Byzanz, Bulgarien und Serbien als drei gleichmächtige oder vielmehr gleich ohnmächtige Gegner in wechselnden Verbindungen gegenüberstanden. Noch einmal entfaltete sich unter der Herrschaft Johann Alexanders das geistige und kulturelle Leben Bul­gariens. Eine neue Blütezeit der bulgarischen Kultur entstand, deren Schöpfungen vor allem durch den letzten Patriarchen der unabhängigen bulgarischen Nationalkirche, Eftimi, inspiriert wurden, einer der wirklich großen bulgarischen Führerpersönlichkeiten, die in Vorahnung des kommenden Verhängnisses noch einmal eine Zusammenfassung des gesamten bulgarischen Volkes versuchte.

1371 starb Johann Alexander. Die Türken standen bereits in Europa. Sein Reich hielt in der Folgezeit den ungestümen und stets siegreichen Angriffen dieser neuen asiatischen Eroberer, die mit religiösem Fana­tismus in die alte Welt mit ihren überreifen Formen eindrangen, nicht mehr stand.

Durch die Teilung seines Erbes in die zwei Zarenreiche von Tirnowo und Widin, die seine beiden über­lebenden Söhne vornahmen, wurde Bulgarien weiter geschwächt. 1393 fiel Tirnowo nach einer monatelangen Belagerung in die Hände des Sultans Bajazid II, drei Jahre später auch das letzte Zarenreich von Widin, nachdem auf bulgarischem Boden Bajazid II. auch das große Ritterheer Kaiser Sigismunds bei Nikopolis völlig vernichtet hatte (1396). Der Weg nach Mitteleuropa lag für die türkischen Eroberer frei, nachdem bereits 1389 die serbische Macht auf dem Amselfeld vernichtet worden war.

Es begann die Herrschaft des osmanischen Halbmondes, unter dessen „Joch" das bulgarische Volk mit seinem eigenen politischen und kulturellen Leben in einen 500jährigen Todesschlaf sank.


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