Kulturgeschichte im Prisma: Bulgarien vom Altertum bis 1878

Assen Tschilingirov

 

(2) Die Thraker

 

16 Beschlag eines Schwertes. 6.-5. Jh. v. u. Z., Nationalmuseum Sofia
17 Grabmal in Maltepe bei Mesek. 6. Jh. v. u. Z.
18 Silberner Dekadrachmon der Derrhonen mit Darstellung des Sonnensymbols und des Hermes auf einem Ochsenwagen, 520-480 v. u. Z.
19 Thrakischer Heros. Zierbeschlag, Silber mit Vergoldung, Letniza, Anfang des 4. Jh. v. u. Z., Bezirksmuseum Lowetsch
20 Detail des Freskos im Hügelgrab bei Kazanlyk. Anfang 5. Jh. v. u. Z.
21 Detail des Freskos im Hügelgrab bei Kazanlyk. Anfang 3. Jh. v. u. Z.
22 Festmahl. Fresko in der Kuppel des thrakischen Hügelgrabs bei Kasanlyk, Anfang 3. Jh. v. u. Z.
23 Marmorrelief mit Karyatiden. Sweschtare, 4. Jh. v. u. Z.
24 Zierbeschlag von einem Panzer. Silber, getrieben und vergoldet, aus dem Arabadshiski-Hügelgrab bei Duwanli, 5. Jh. v. u. Z., Archäologisches Museum Plowdiw
25 Matrize aus Gartschinowo. Bronze, 5. Jh. v. u. Z.
26 Votivrelief mit der Darstellung des Thrakischen Heros. Heiligtum an der Glawa Panega, 2.-3. Jh. u. Z., Archäologisches Museum Sofia

 

Über den Ursprung der Thraker ist in der Vergangenheit sehr viel und lange gerätselt worden. Obgleich mehrere Probleme bezüglich ihrer ethnischen Zugehörigkeit und Sprache immer noch offen geblieben sind, setzt sich heute in der Wissenschaft allgemein die Überzeugung durch, sic seien die autochthone Bevölkerung der nordöstlichen Balkanhalbinsel im Gebiet zwischen dem Unterlauf der Donau, dem Vardar, dem Schwarzen und dem Ägäischen Meer. Ihre Nachbarn waren die der gleichen Gruppe indoeuropäischer Völker angehörenden Illyrer im Westen, Daker und Skythen im Norden und Nordosten sowie die Völkerschaften Kleinasiens, die ihnen am nächsten verwandt waren. Die großen Bevölkerungsverschiebungen im letzten Drittel des 2. Jahrtausends v. u. Z. innerhalb des gesamten östlichen Mittelmeerraums führten zu einer neuen und wesentlich veränderten Anordnung der Bevölkerung sowie zu einer weitreichenden Vermischung. Viele ältere befestigte Siedlungen wurden verlassen, während neue unbefestigte entstanden - was allerdings für eine relative Beruhigung und für ziemlich lange Friedenszeit spricht. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten Hinweise in den griechischen historischen Quellen, die den Namen der Thraker als Sammelbegriff erwähnen. Neben den legendären und oft zitierten Angaben über die Thraker bei Homer (Ilias X, 434-441), vorwiegend im Zusammenhang mit dem am Trojanischen Krieg beteiligten thrakischen König Rhesos, gibt es auch mehrere Beschreibungen in den Werken altgriechischer Schriftsteller, bei Herodot, Xenophon, Thukydides, Polybios und Strabon, die, obgleich einer wesentlich späteren Zeit entstammend, auch die Geschichte und Vergangenheit dieses Volkes neben seinen Sitten, Bräuchen und seiner Religion behandeln.

 

Ende des 2. und in den ersten Jahrhunderten des 1. Jahrtausends v. u. Z. befanden sich die Thraker immer noch im Entwicklungsstadium des Übergangs von einer Militärdemokratie zur Sklavenhaltergesellschaft, waren in zahlreiche Völkerstämme zersplittert, deren Namen uns zum größten Teil bekannt sind - so unter anderen die Triballen, Mösier und Syginnen im Nordwesten, die Treren, Tilataien und Serden an dem Fluß Oescus (Iskar) in Westbulgarien, südlich davon die Danthaletaien, Meder, Agrianen und Satren, im Oberlauf des Hebros (Mariza) die Dessen, weiter nach Südosten die Odrysen und im Nordosten die Krobysen, Terizen und Geten.

 

Die für Ackerbau und Viehzucht sehr günstigen Klimabedingungen in den von großen Flüssen bewässerten Ebenen nördlich und südlich des Balkans sowie

 

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das fruchtbare Land am Ägäischen und am Schwarzen Meer wie auch die tiefen wildreichen Wälder in den Bergen sind allen Reisenden bereits in der Zeit aufgefallen, als diese Gebiete für die griechischen Kaufleute erschlossen wurden und Eingang in die griechischen Epen fanden. Die Berge waren reich an Metallvorkommen, deren Verarbeitung - seit dem letzten Viertel des 2. Jahrtausends v. u. Z. auch des Eisens - einen beträchtlichen Anteil des Lebensunterhalts der Thraker einbrachte. Weizen, Roggen und Gerste, auch Leinen und Hanf, aber vor allem der bereits in der Antike berühmte thrakische Wein wurden in großen Mengen nach Griechenland verkauft; schon Homer erwähnt die Schafzucht und vor allem die Pferdezucht der Thraker, die keine Konkurrenz in den Nachbarländern während der Antike kannte. Im Handwerk gab es neben der Metallverarbeitung die Töpferei und die primitive Weberei, die jedoch jahrtausendelang die gleichen technischen Mittel, aber auch die gleichen Formen und Muster verwendeten. Weniger entwickelt waren Handel und Seefischerei, doch besaßen die Thraker auch eine eigene Flotte, so daß zu Beginn des i. Jahrtausends v. u. Z. in den griechischen historischen Quellen von einer Seeübermacht der Thraker berichtet wird.

 

Schon im 2. Jahrtausend v. u. Z. gewannen einige wichtige Straßen an Bedeutung, die durch Gebiete der Thraker führten - so vor allem die später von den Römern ausgebaute und als Via diagonalis bekannte Straße, die auch heute die wichtigste Landverbindung zwischen Mitteleuropa und Kleinasien ist, sowie die parallel zur Ägäis verlaufende Südstraße - die spätere Via egnatia - wie auch mehrere den Balkan als Pässe überquerende Nord-Süd-Straßen.

 

Der größte Teil der Bevölkerung war während der späteren Bronzezeit und der früheren Eisenzeit (um die Wende des 2. zum 1. Jahrtausend v. u. Z.) in weit ausgedehnten, unbefestigten Siedlungen ansässig. Erst mit der Erhöhung der Gefahr von Überfällen seit der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. u. Z. entstanden zahlreiche befestigte Siedlungen und Festungen. Umfassende Forschungen sind bisher jedoch nur an wenigen kleinen Festungen, aber vor allem bei der späteren, schon teilweise hellenisierten Stadt Seuthopolis am linken Ufer der Tundscha - unterhalb der heutigen Talsperre »Georgi Dimitroff« - durchgeführt worden. Das am meisten befestigte Zentrum der Siedlung bildete in der Regel der mit einem massiven Festungsturm (Tyrsis) ausgestattete Sitz des Stammesfürsten. Dem Fürstensitz waren häufig kultische Bauten angeschlossen. Die meist aus ungebrannten, seltener aus gebrannten Ziegeln über Grundmauern aus Haustein errichteten Häuser der Bevölkerung entstanden ringsherum ohne strenge Ordnung. Den Markt (Agora) bildete ein rechteckiger Platz, wie die Hauptstraßen mit Kopfsteinpflaster belegt. Viele Siedlungen weisen schon in ihrer frühen Entwicklung Bewässerungs- und Kanalisationsanlagen auf. Bereits im 6. Jahrhundert v. u. Z. bestanden einige der großen Siedlungen, aus denen dann die antiken und mittelalterlichen Städte Bulgariens hervorgegangen sind.

 

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16 Beschlag eines Schwertes. 6.-5. Jh. v. u. Z., Nationalmuseum Sofia

»Dieses Königes Rosse sind die schönsten und größten; / Weißer sind sic als Schnee und schnell im Laufen wie Winde, / Zierlich ist aus Silber und Gold sein Wagen geschmiedet, / Golden seine Waffen und mächtig, ein Wunder zu schauen! / Nicht wie Sterblicher Waffen, wie Rüstung unsterblicher Götter!« So beschreibt Homer die Waffen der Thraker, die mit ihrem Prunk alle Zeitgenossen in Staunen gebracht haben sollen und Meisterwerke der Goldschmiedekunst gewesen sein dürften.

 

 

Die Produktionsmittel waren Eigentum der Stammesaristokratie - der thraki- schen Dynasten deren Reichtum beträchtlich gewesen sein soll, wie die Reiseberichte und die griechischen Sagen und Epen hervorheben. Diese herrschende Klasse bildete sich während des Zerfalls der Sippengesellschaft am Ende der Bronzezeit heraus. Die zweite Klasse bildeten die Bauern der Dorfgemeinde, die in unterschiedlichem Grade abhängig waren - von den relativ selbständigen Handwerkern bis zu den am stärksten ausgebeuteten Bergarbeitern. Während der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte steigerte sich auch die Klassendifferenzierung, bis im späten 7. Jahrhundert v. u. Z. die völlig rechtlose und abhängige Klasse der Sklaven entstand. Die Sklaven galten als privates Eigentum der thrakischen Aristokratie, womit nach und nach sämtliche Unterschiede im Gesellschaftssystem der Thraker zu dem ihrer Nachbarn, vor allem zu den griechischen Poleis und den Staaten des Vorderen Orients, verwischt wurden, ohne daß jedoch Thrakien vor seiner Eingliederung in das Römische Reich die Stufe des völlig ausgebildeten Sklavenhalterstaates erreicht hatte.

 

Alle Schwierigkeiten, das weltanschaulich-religiöse Denken der Thraker zu begreifen, resultieren allein aus der falschen Voraussetzung, daß man es als einfache Übernahme aus der altgriechischen Ideenwelt verstehen will, obgleich es mit dieser wenig gemein hat.

 

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Der Grundgedanke des thrakischen Weltbildes war die Vorstellung einer Unsterblichkeit der Seele sowie eines festen Zusammenhanges zwischen Mensch und Natur - man sah eine zyklische Abfolge in den Ereignissen der lebendigen Natur. Sinnbild all dessen ist der Mythos von der Göttin-Mutter (Bendis) und ihrem Sohn-Liebhaber (Heros) sowie von ihrer kultischen Ehe (Hierogamie).

 

Die Idee der Unsterblichkeit spiegelte sich in erster Linie in dem komplizierten Begräbnisritus der Thraker wider, der sich bei ihren Fürsten und Königen zu einer Zeremonie steigerte, für die wir keine Parallele aus der europäischen Vergangenheit kennen. So wurden bereits zu Beginn des i. Jahrtausends v. u. Z. die auch in Nordeuropa, Nordafrika, Indien und im Kaukasusgebiet bekannten Megalithgräber (Dolmen) - aus riesengroßen Steinblöcken errichtete Grabkammern - durch Tumulusgräber abgelöst. Diese Anlagen bestanden aus einem zentralen, meistens runden, aus Backstein, aber auch gelegentlich aus Haustein oder sogar aus Holz und Stein errichteten Raum, mit Kraggewölbe oder falscher Kuppel (Bienenkorbkuppel) überdacht; darin wurde der König oder der Fürst begraben samt seiner während der Zeremonie umgebrachten Lieblingsfrau - die Thraker waren polygam -, seinen Sklaven und Pferden sowie überaus reichen Beigaben an Schmuck und Geräten. Gelegentlich benötigte man zur Aufnahme all dessen noch einen Vorraum, dem ein langer, wiederum durch ein Kraggewölbe bedeckter Gang (Dromos) angeschlossen war. Über die Gesamtanlage, die manchmal eine Länge von fast 30 Metern erreichte, wurde Erde aufgeschüttet, bis das Ganze ein Hügel war. Tausende von Hügelgräbern gibt es in Bulgarien.

 

17 Grabmal in Maltepe bei Mesek. 6. Jh. v. u. Z.

 

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Fast das gesamte erhaltene Kunstgut der Thraker - prächtige Juwelen, Beschläge und Gefäße aus Gold und Silber - entstammt den Bestattungen in den riesigen Hügelgräbern der Fürsten und Könige. Die Beigaben waren Spenden für die Verstorbenen oder dienten als Opfergaben für die Götter. Ihr Bildinhalt entsprang der religiösen Vorstellungswelt, die tief im Bewußtsein der Thraker verwurzelt war. Neben zahlreichen Stoffen aus der thrakischen Mythologie, vor allem aus dem Mythos von der Hierogamie der Großen Göttin mit ihrem Sohn und Liebhaber, boten sich der thrakischen Kunst viele Sujets aus der Umwelt an mit sämtlichen Lebewesen der Erde, des Wassers und des Himmels. Sie sind als Symbole der Naturkräfte oder als Sinnbilder für das chthonische und das solare Prinzip zu verstehen.

 

18 Silberner Dekadrachmon der Derrhonen mit Darstellung des Sonnensymbols und des Hermes auf einem Ochsenwagen, 520-480 v. u. Z.

 

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Erhalten geblieben sind mehrere stark stilisierte Tierdarstellungen auf den Metallbeschlägen von Pferdegeschirren und auf dem Schmuck der thrakischen Fürsten und Könige. Jedes Tier besaß dabei eine bestimmte symbolische Bedeutung, die für die Thraker eine Selbstverständlichkeit war.

 

Die derben, doch stark expressiven Darstellungen der Tiere gehören aber auch zu den Attributen der Bendis. Diese Göttin erscheint in Thrakien jedoch nicht nur als Herrin der Tiere, Symbol der Naturgewalt und der Fruchtbarkeit, so wie wir sie - mit anderen Namen - aus dem Vorderen Orient kennen. Sie repräsentierte in der thrakischen Geisteswelt zugleich das moralische Prinzip, das Prinzip der Freude- und lebenspendenden, unvergänglichen Liebe - später Grundgedanke der Orphischen und Eleusinischen Mysterien.

 

Die thrakischen Bildwerke zeigen niemals Genreszenen oder Sujets aus dem Alltag, wie es bei den benachbarten Völkern bereits üblich war. Alle Jagd- und Kampfdarstellungen, wo sie auch erscheinen, sind nur auf den ersten oberflächlichen Blick Genreszenen; nach aufmerksamer Beobachtung stellen sie sich als bildliche Wiedergabe der thrakischen Weltanschauung heraus, die vom Pantheismus und Determinismus geprägt ist, Ideen, die 2 Jahrtausende nach dem Untergang der thrakischen Kultur noch in Folklore und Volksbräuchen der Bulgaren erhalten geblieben sind und auf den Charakter des ganzen Kunstschaffens der zentralen Balkanhalbinsel bis in die Neuzeit hinein einwirkten.

 

Ihre Blüte erlebte die thrakische Kunst um die Mitte des 1. vorchristlichen Jahrtausends. Aus dieser Zeit - dem 6. bis 4. Jahrhundert v. u. Z. - stammen auch die beachtlichen Goldschätze aus den Hügelgräbern der Thrakerkönige bei Duwanli, Mesek, Bresowo, Wraza, Sweschtare und vielen anderen, die erst während der letzten Jahrzehnte der Welt wieder zugänglich wurden.

 

In der europäischen Kunstgeschichte hat es noch nie eine derartige Anhäufung von bedeutenden Kunstwerken aus Edelmetallen in so hoher künstlerischer Qualität gegeben wie diese aus den thrakischen Hügelgräbern, die selbst die sensationellen Ausgrabungen Schliemanns in Mykene vom vorigen Jahrhundert in den Schatten stellen. In allen diesen Kunstwerken setzen sich die Eigenarten ihres thrakischen Ursprungs sehr deutlich von den Besonderheiten der stilistisch oft nahestehenden Kunstwerke der benachbarten Völker, in erster Linie der Skythen, Perser und Griechen, ab, wenn auch die technische Perfektion ein fast gleich hohes Niveau hatte; denken wir dabei an die skythischen Schätze, an die Hofkunst des achämenidischen Irans oder an die Ausgrabungen von Mykene und Vergina. Keine andere Kunst war jedoch so eng mit dem religiösen Denken ihrer Schöpfer - oder besser ihrer Auftraggeber - verknüpft wie die thrakische. Hierzu wären als wohl engste und nächste Parallelen in der Kunstgeschichte die Kunstwerke des alten Ägyptens und Mittelamerikas anzusehen -

 

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mögen diese auch geographisch noch so weit von den thrakischen entfernt sein. Wie die Kunst der meisten absolutistisch regierten Reiche des Altertums ist auch die thrakische Kunst nur im Auftrag eines sehr kleinen Herrscherkreises entstanden und verkörpert dessen Denken, das sich nicht unbedingt mit dem schöpferischen Willen des gesamten thrakischen Volkes gleichsetzen läßt.

 

Ihre höchsten Leistungen hat die thrakische Kunst auf dem Gebiet der Toreutik vollbracht, zumindest entstammen diesem Gebiet die bedeutendsten überlieferten Werke. Die technische Perfektion der thrakischen Goldschmiedemeister, die sich bereits bei ihren frühesten Werken wie den Goldgefäßen aus dem Schatz von Wyltschi Tryn präsentiert und sogar bei den kleinsten und scheinbar unbedeutenden Zierbeschlägen stets feststellbar ist, war allerdings nur eine - freilich unentbehrliche - Voraussetzung für den hohen künstlerischen Wert der Werke thrakischer Toreutik. Das Bedeutendste - das Unverwechselbare und Unnachahmliche - aber besteht in der Formenwelt der thrakischen Bildwerke: die sonst nirgendwo erreichte Fähigkeit ihrer Meister zur Formgestaltung und zur Stilisierung der aus ihrer gesamten Umwelt entliehenen Motive. Von der Matrize aus Gartschinowo bis hin zu den Zierbeschlägen aus Craiova, Lukowit, Lowetsch und Mesck begegnen uns überall ein ungewöhnlicher Formenreichtum, eine unerschöpfliche Phantasie, zugleich aber auch eine so souveräne und überzeugende, urwüchsige Gestaltungskraft, wie wir sic in der ganzen Kunstgeschichte nur bei wenigen Meisterwerken finden.

 

In den zeitlich wie geographisch recht eingeschränkten Grenzen ihres Entstehungsbereichs - innerhalb des mit thrakischen Völkerstämmen besiedelten Gebiets der Balkanhalbinsel und im Laufe etwa des zweiten Drittels des 1. Jahrtausends v. u. Z. - zeichnen sich die Werke der thrakischen Toreutik durch eine erstaunliche stilistische und inhaltliche Einheitlichkeit aus. Die am Hofe verschiedener thrakischer Stammesfürsten arbeitenden Werkstätten zeigen auf den ersten Blick eine so große Übereinstimmung in der künstlerischen Auffassung wie in den handwerklichen Gepflogenheiten, als stammten alle ihre Kunstwerke aus einer einzigen Werkstatt. Sehr geringe Unterschiede in der Ausführung und im Stil deuten auf die Entstehung in mehreren Goldschmiedewerkstätten hin, die auch zu verschiedenen Zeiten ihre Blüte erlebten und mit wenigen Ausnahmen ihre Tätigkeit Mitte des 4. Jahrhunderts v. u. Z. bereits eingestellt zu haben scheinen. Kurz zuvor, etwa in der ersten Hälfte desselben Jahrhunderts, verlieren langsam die Werke der thrakischen Toreutik — wie auch die der übrigen Kunstgattungen in Thrakien - ihre Eigenständigkeit und werden zunehmend von Einwirkungen der iranischen und der klassischen griechischen Kunst erfaßt, bis sie schließlich ihre Originalität aufgeben und sich in der hellenistischen Kunst auflösen.

 

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19 Thrakischer Heros. Zierbeschlag, Silber mit Vergoldung, Letniza, Anfang des 4. Jh. v. u. Z., Bezirksmuseum Lowetsch

 

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20 Detail des Freskos im Hügelgrab bei Kazanlyk. Anfang 5. Jh. v. u. Z.

 

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21 Detail des Freskos im Hügelgrab bei Kazanlyk. Anfang 3. Jh. v. u. Z.

 

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22 Festmahl. Fresko in der Kuppel des thrakischen Hügelgrabs bei Kasanlyk, Anfang 3. Jh. v. u. Z.

Das wohl bedeutendste überlieferte thrakische Grabmal der frühhellenistischen Zeit zeigt die Darstellung des Festmahls eines thrakischen Würdenträgers mit seiner Gemahlin, umgeben von der Dienerschaft, das sinnbildlich seinen Abschied von der Welt ausdrücken soll. Dem thrakischen Künstler ist es gelungen, eine ergreifende Szene zu schaffen. In den Vordergrund tritt die psychologische Charakterisierung aller Teilnehmer - von beiden Hauptpersonen bis zu den Dienern und Kutschern -, deren Gefühle von Trauer beherrscht sind.

 

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23 Marmorrelief mit Karyatiden. Sweschtare, 4. Jh. v. u. Z.

 

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24 Zierbeschlag von einem Panzer. Silber, getrieben und vergoldet, aus dem Arabadshiski-Hügelgrab bei Duwanli, 5. Jh. v. u. Z., Archäologisches Museum Plowdiw

Die Darstellung der geflügelten Nike in der Quadriga mit dem Silberkranz in der rechten und den Zügeln in der linken Hand wird in der thrakischen Kunst von der traditionellen Darstellung Apollons - dem Symbol der aufgehenden Sonne - abgeleitet, einem Symbol, das dem solaren Prinzip der orphischen Lehre entspringt und den Sieg der Sonnenreligion über die Mondverehrung des vorthrakischen Zeitalters versinnbildlicht. Obgleich in der klassischen Periode Thrakiens unter starken Einwirkungen der antiken griechischen Kunst entstanden, bleiben an diesem Zicrbcschlag auch mehrere archaisierende Züge unübersehbar, die der autochthonen Überlieferung folgen, jedoch zugleich von einem unmittelbaren Kontakt mit dem achämenidischen Iran und dem Mittelmeerraum zeugen.

 

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25 Matrize aus Gartschinowo. Bronze, 5. Jh. v. u. Z.

 

 

Obwohl wenig verbreitet, fehlen auch die anderen Kunstgattungen - in erster Linie Malerei und Plastik - im antiken Thrakien nicht. Die meisten überlieferten Werke entstammen jedoch einer Übergangszeit, als diese Künste bereits stark hellenisiert waren und sehr wenig von der ursprünglichen thrakischen Kunstauffassung beibehalten hatten. So stehen sowohl die Werke der Monumentalmalerei (Myglisch, Kasanlyk) wie auch der Plastik (Mesek, Sweschtare) unter dem Einfluß des hellenistischen Illusionismus und gehören somit zur nachfolgenden Epoche der Kunstgeschichte.

 

Die Thraker hinterließen kein Schrifttum. Die geheime Sakralschrift ihrer Priester und der in die Mysterien Eingeweihten ist wie die allerheiligsten Geheimnisse dieser Religion der Ausgewählten bereits in ihrer früheren Entwicklungsphase untergegangen und durch die mündliche Überlieferung ersetzt worden. Die einzigen erhaltenen Zeugnisse dieser Schrift - es sind zugleich die ältesten Schriftzeugnisse Europas überhaupt - entstammen der ganz frühen Zeit, dem 4. Jahrtausend v. u. Z. Seit dem zweiten Viertel des 1. Jahrtausends v. u. Z. wurde für amtliche Dokumente das griechische Alphabet benutzt. In diesem entliehenen Alphabet ist jedoch keine thrakische Literatur entstanden. Für die Nachkommen blieb allein die bildhafte Symbolsprache der thrakischen Toreutik als Verkörperung des schöpferischen Geistes der Thraker erhalten - die klarste und schärfste Widerspiegelung ihrer Gedankenwelt, ihrer Philosophie. Jetzt gehören die thrakischen Kunstwerke zu den wertvollsten Schätzen aus europäischer Frühzeit. Sie schließen eins der wichtigsten Kapitel der Kunstgeschichte Europas ab: das Kapitel, das der Blütezeit der klassischen griechischen Antike vorausgeht.

 

Der Höhepunkt der thrakischen Kunst fällt mit dem politischen und wirtschaftlichen Aufschwung der Thraker zusammen,

 

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der im 6. Jahrhundert v. u. Z. zur Bildung des ersten thrakischen Staates führte - des Odrysenreichs im südöstlichen Teil des heutigen Bulgariens, dem eine bedeutende Rolle in der Frühgeschichte Europas zufiel und das in der Antike zum Inbegriff der thrakischen Macht wurde, aber auch der prachtvollen thrakischen Kultur schlechthin. Zu dieser Zeit begann im Odrysenreich wie in anderen kleineren und größeren thrakischen Fürstentümern im westlichen Teil Bulgariens, die ebenfalls das Stadium der Staatsbildung erreicht hatten, auch die Münzprägung.

 

26 Votivrelief mit der Darstellung des Thrakischen Heros. Heiligtum an der Glawa Panega, 2.-3. Jh. u. Z., Archäologisches Museum Sofia

 

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Die sehr schön gestalteten Silbermünzen, Meisterwerke der Miniaturplastik, dienten allerdings weniger als Zahlungsmittel, sie steigerten vielmehr das Prestige der Herrscher, waren Symbole ihres Reichtums und ihrer Macht.

 

Im Odrysenreich wie auch in den übrigen kleineren thrakischen Fürstentümern kam es zu einer regen Bautätigkeit: Burgen und Residenzen entstanden, aber auch Festungen angesichts der sich nähernden persischen Gefahr, die durch die Heere des Dareios und des Xerxes jahrzehntelang im 6. und 5. Jahrhundert v. u. Z. den europäischen Südosten bedrohte. Dem Odrysenreich gelang es, die Angriffe Persiens abzuweisen und sich weit nach Norden und Westen auf die Gebiete anderer kleinerer thrakischer Stämme auszubreiten. Die darauffolgenden 5 Jahrhunderte stellen den ruhmreichsten Abschnitt der thrakischen Geschichte dar, als sich das Odrysenreich zu einer Großmacht entwickelte und das Schicksal des europäischen Südostens entscheidend mitprägte.

 

Über das Odrysenreich finden sich in den Werken griechischer Reisender und Historiker viele Angaben und Hinweise, von den Augenzeugenberichten Xenophons angefangen, der sich lange am Hofe der Odrysenkönige aufhielt und viele intime Einzelheiten von Sitten und Leben der thrakischen Aristokratie kannte, bis hin zu den phantastischen und unglaubhaften Erzählungen Herodots, der mit dem Land der Thraker alles Geheimnisvolle und Rätselhafte verknüpfte, um die Phantasie seiner Zeitgenossen immer und immer wieder anzuregen.

 

Die Ausgrabungen in der Hauptstadt des Odrysenreichs, Seuthopolis, in den Jahren 1948 bis 1954 konnten die historischen Quellen weitgehend ergänzen. Das Bild über dieses Reich rundete sich durch greifbare Zeugnisse weiter ab. Zutage kamen nicht nur Reste der Paläste von Seuthes III. und seinen Nachfolgern - die Ruinen der mit Metallbeschlägen geschmückten Hallen, in denen die prächtigen Festmahle stattgefunden haben sollen, und die Flächen der großen Gärten, in denen sich die geladenen Gäste zu erfrischen und auszuruhen pflegten. Während der weiteren Ausgrabungen fand man auch Tafelgeschirr und Gefäße mit den Namen der thrakischen Herrscher und ihrer Verbündeten. Und viele, sehr viele Münzen mit den Bildnissen und Wappen der Odrysenkönige - Seuthes, Kotys, Sparadokes, Hebrizelmos, Ketriporis, Saratokes.

 

Die thrakischen Könige beteiligten sich aktiv an der Politik der griechischen Poleis und ihrer Kämpfe untereinander, vorwiegend auf der Seite des ihnen tributpflichtigen Athens gegen Sparta. Die Einnahmen des Odrysenreichs aus Tributen und Steuern erreichten eine für jene Zeit fast unglaubhafte Höhe - laut Thukydides brachten allein die Steuern in die Kasse von Seuthes I. (um 424 bis vor 405 v. u. Z.) 400 Talente, das heißt über 10000 Kilogramm Gold und Silber jährlich ein.

 

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Zugleich reichten die Handelsbeziehungen der Thraker bis zu den entferntesten Ländern des Vorderen Orients und bis Sibirien, so daß durch den Warenaustausch vielerlei Erzeugnisse fremder Völker - darunter zahlreiche Kunstwerke - in die Gebiete der Thraker gelangten.

 

Schließlich mußte jedoch das Odrysenreich dem Drang seines Nachbarn im Südwesten, des inzwischen zu einer Großmacht gewordenen Reiches der Makedonier, weichen und wurde im Jahre 541 v. u. Z. von Philipp II. unterworfen. Die Thraker verloren für 2 Jahrzehnte ihre Selbständigkeit, aber auch nach dem Zerfall des makedonischen Großreiches Alexanders konnten sie ihre ehemalige Macht und Bedeutung nicht wieder erreichen. Die makedonische Herrschaft und die kurz darauf folgende keltische Einwanderung und Eroberung der thrakischen Gebiete (279 bis 212 v. u. Z.) hatten für die Entwicklung der thrakischen Kultur und Kunst verheerende Folgen. Wenn die thrakische Kunst ihre Selbständigkeit und Originalität bereits mit den verstärkten Einwirkungen der griechischen klassischen Kunst durch die zunehmenden Beziehungen zwischen beiden Kunstkreisen seit dem 4. Jahrhundert v. u. Z. einzubüßen begonnen hatte, so war für sie der entscheidende Schlag die weitgehende Vernichtung der thrakischen Oberschicht, des Hauptauftraggebers der Kunstwerkstätten, während der Eroberungskriege. Die geistige und soziale Basis der thrakischen Kunst wurde stark eingeschränkt. Dies führte zu massenhaften Auswanderungen thrakischer Künstler in die Nachbarländer. Zeugnisse dafür besitzen wir in vielen Werken der keltischen Kunst, Arbeiten thrakischer Meister sind zum Teil sehr weit von der Balkanhalbinsel entfernt entstanden, wie beispielsweise der Kessel von Gundestrup. In den bedeutendsten Kunstwerkstätten wurde jedoch die handwerkliche Tradition unterbrochen und konnte nie wiederhergestellt werden. Die stark dezimierten übriggebliebenen Kunstwerkstätten arbeiteten jetzt für andere Auftraggeber. Der Bedarf an Kunstwerken hatte sich keinesfalls verringert, doch waren die neuen Auftraggeber nicht mehr so reich und ihre Ansprüche geringer. Dieser Wandel ist am deutlichsten bei den Grabbeigaben und den Votivopfern ersichtlich, die nicht mehr aus Edelmetall, sondern hauptsächlich als Stein- bzw. Marmorreliefs angefertigt wurden und in den ersten Jahrhunderten u. Z. in allen bulgarischen Gebieten zu finden waren. Freilich sind auch an diesen für größere Bevölkerungs- schichten bestimmten gewerbsmäßig gefertigten Erzeugnissen gewisse stilistische und technische Besonderheiten aus der Überlieferung erhalten geblieben, die bis in das Mittelalter hinein Sinn und Inhalt der Kunstwerke prägten. Mit dem alles überstrahlenden Glanz der thrakischen Kunst war es allerdings vorbei.

 

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