Das Grossmährische Reich: Realität oder Fiktion? ; eine Neuinterpretation der Quellen zur Geschichte des mittleren Donauraumes im 9. Jahrhundert

Martin Eggers

 

4. Die ungarische Landnahme und ihre Konsequenzen für die ethnischen und politischen Verhältnisse im mittleren Donauraum

 

 

4.1. Die letzten Jahre Moravias  301

4.1.1. Der Zerfall des Großreiches Sventopulks  301

4.1.2. Das Verhältnis Moravias zum Ostfrankenreich nach 894  305

 

4.2. Die ungarische Eroberung des Karpatenbeckens  312

4.2.1. Ungarnzüge vor der Landnahme  313

4.2.2. Die Landnahme im Spiegel zeitgenössischer fränkischer Quellen  317

4.2.3. Der Bericht byzantinischer und slawischer Quellen des 10. bis frühen 12. Jahrhunderts  321

4.2.4. Die Überlieferung der hochmittelalterlichen ungarischen Chroniken  324

4.2.5. Siedlungsund Machtbereich der Ungarn nach Abschluß der Landnahme  337

 

4.3. Die südslawischen «Erben» Moravias  340

4.3.1. Ein südslawischer «Nachfolgestaat» Moravias im 10. Jahrhundert?  341

4.3.2. Die Verbindung des ehemaligen «Regnums» Sventopulks mit Kroatien unter Tomislav  343

4.3.3. Die Vereinigung Bosniens mit Serbien unter Česlav  347

 

4.4. Böhmen und Mähren als vereinigte Länder im 10. Jahrhundert  352

4.4.1. Die Stellung Böhmens zwischen Moravia, Ostfranken und Ungarn zu Ende des 9. und Anfang des 10. Jahrhunderts  352

4.4.2. Der Anschluß Mährens an Böhmen  356

4.4.3. Die Übertragung der Bezeichnung «Moravia» auf das heutige Mähren  362

4.4.4. Die Lokalisierung Moravias in hochund spätmittelalterlichen Quellen Böhmens und Mährens  365

4.4.5. Die Theorie einer «Translatio regni» von Moravia nach Böhmen  370

4.4.6. Der «Velehrad»-Mythos und der Berg «Zobor»: fiktive <großmährische> Ortsnamen  372

 

4.5. Zusammenfassung  376

 

 

Die letzte Phase der Geschichte Moravias wird beendet durch die ungarische Landnahme, einen Prozeß, der die ethnischen Verhältnisse des Untersuchungsgebietes letztendlich bis zum heutigen Tage geprägt hat.

 

Die Landnahme soll anhand mehrerer Quellengruppen möglichst in verschiedene, auch chronologisch erfaßbare Etappen aufgespalten werden. Es gilt sodann, die einzelnen Etappen dieses Vorganges daraufhin zu untersuchen, ob sich das in den vorangegangenen drei Kapiteln erarbeitete neue Bild politischer Gegebenheiten im Karpatenraum mit ihnen vereinbaren läßt.

 

Die Frage nach den politischen «Erben» Moravias, sei es bei den Südoder Westslawen, verbindet sich schließlich mit der nach dem weiteren Geschick jener Länder, die in das Großreich Sventopulks einbezogen waren. Schließlich soll der doch zwangsläufig aus einer Neulokalisierung resultierenden Fragestellung nachgegangen werden, wie und wann es zu einer Übertragung des Begriffes «Moravia» von der Ungarischen Tiefebene nach Mähren und einer Umdeutung zur «großmährischen» Geschichte kommen konnte.

 

 

4.1. Die letzten Jahre Moravias

 

Die letzten Jahre Moravias vor seiner Eroberung durch die Ungarn zu Beginn des 10. Jahrhunderts gestalteten sich noch einmal besonders turbulent. Die ungarische Landnahme war in gewissem Sinne nur der Abschluß eines Prozesses, der bereits vor 894 begonnen hatte und auf den einzugehen ist, bevor die Einwanderung der Ungarn betrachtet wird.

 

 

4.1.1. Der Zerfall des Großreiches Sventopulks

 

Noch unter der Regierung Sventopulks hatte, wie mehrfach erwähnt, infolge des 892 ausgebrochenen Krieges gegen Arnulf von Kärnten und die mit diesem verbündeten Ungarn ein Dekompositionsprozeß seiner Reichsbildung eingesetzt;

 

 

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die für 892 wahrscheinlich gemachte Machtergreifung eines seiner Dynastie feindlich gesonnenen Prätendenten in Kroatien und die bulgarische Einmischung in Serbien wurden als erste Indizien dieses Prozesses gedeutet.

 

Auf Kriegszüge Arnulfs 892 und 893 sowie der Ungarn 893 und 894 wurde erst im Herbst 894, also nach dem Tode Sventopulks (wohl im März 894) der Frieden «inter Baioarios et Maravos» geschlossen [1].

 

Dem Bericht des Konstantinos Porphyrogennetos zufolge soll der sterbende Fürst das Reich unter seine Söhne - deren Zahl hier mit drei angegeben wird -aufgeteilt haben, wobei er jedem ein eigenes Gebiet zuwies, den Ältesten aber als «Großfürsten» («ἄρχων μέγας») einsetzte [2]. Während der byzantinische Kaiser die Namen der Sventopulk-Söhne nicht nennt, erscheinen in den fränkischen Quellen deren zwei als «Moymirus» und «Zentobolchus» (Moimir II. und Sventopulk II.).

 

Zwischen diesen beiden Brüdern brach 898 ein Bürgerkrieg aus, offenbar auf Anstiftung Isanrichs, des Sohnes des Ostmarkgrafen Aribo, der auf Seiten Moimirs II. stand. Dagegen favorisierte Kaiser Arnulf Sventopulk II. und schickte ihm zweimal, im Sommer 898 und im Winter 898/99, bairische Heere unter den Markgrafen Liutpold (von Karantanien) und Aribo (von der «Ostmark») zu Hilfe. Schließlich mußte aber Sventopulk II. im Sommer 899 unter bairischem Geleit aus dem Kampfgebiet evakuiert werden, wobei die Baiern ihn und sein Gefolge «de ergastulo civitatis, in quo inclusi morabantur», befreiten [3]. Wahrend «Zentobolchus» hinfort nicht mehr mit Moravia in Verbindung gebracht wird, erscheint sein Bruder noch 901 als «Moymarius dux Marahensis» [4], konnte sich also in der Herrschaft über Moravia behaupten. (Vgl. Karte 19)

 

Da der «Presbyter Diocleas» im 5. bis 12. Kapitel seines «Regnum Sclavorum» nur eine Liste der bosnischen Fürsten bringt und unter ihnen «Svetolicus» erwähnt [5], hingegen keinerlei Hinweis auf Moravia gibt, so ist es wahrscheinlich, daß 894 Sventopulk II. («Svetolicus») den südlicheren Teil des väterlichen Großreiches erhielt, Moimir II. dagegen, der wohl als der ältere Bruder anzusehen ist, von Anfang an das prestigeträchtigere Moravia und damit die Vorrangstellung innehatte. Die Existenz eines dritten Bruders ist - wie gesagt - zweifelhaft.

 

 

1. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 894, Ed. Kurze 1895, S. 125.

 

2. Konst. Porph. DAI41, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 180/81; zum verwendeten Sagen motiv Tille 1899 und Poucha 1977.

 

3. Zum Bürgerkrieg s. Ann. Fuld. Cont. Altah. ad a. 898, 899, Ed. Kurze 1891, S. 131-133, Zitat nach S. 133; s. a. Herim. Aug. Chron. ad a. 898, 899, Ed. Pertz 1844, S. 111.

 

4. Ann. Fuld. Cont. Altah. ad a. 901, Ed. Kurze 1891, S. 135; Herim. Aug. Chron. ad a. 901, Ed. Pertz 1844, S. 111; s.a. Brief der bair. Bischöfe von 900, Ed. MMFH 3 (1969), S.239.

 

5. Presb. Diocl. 10, Ed. Šišić 1928, S.309 (Lucius, Orbini), 401 (Kaletić, Marulić).

 

 

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Doch auch um die beiden verbleibenden, geschichtlich verbürgten Sventopulk-Söhne ranken sich Theorien, die im Rahmen dieser Thematik abgeklärt werden müssen.

 

Den 899 im Bruderkrieg unterlegenen Sventopulk II. hat nämlich I. Boba mit drei Urkunden bzw. Urkundengruppen bairischer Herkunft in Verbindung gebracht, welche, zwischen 898 und 934 entstanden, seinen Namen in verschiedenen althochdeutschen Umlautungen enthalten. Dabei geht Boba offensichtlich davon aus, daß die Worte der Quelle, die Baiern hätten den jungen Fürsten samt Gefolge «in fines patriac suae» verbracht, sich auf Baiern (und nicht die Heimat Sventopulks II.) beziehen [6]. In der ersten dieser Urkunden, datiert vom 31. Aug. 898, gibt Kaiser Arnulf einem gewissen «viro progenie bonae nobilitatis exorto Zuentibolch» mehrere Güter im Gurktal und bei Zeltschach (beides nahe Friesach/Kärnten) zu Eigen [7]. Bobas Argumentation für die Gleichsetzung dieses «Zuentibolch» mit dem Sventopulk II. des Fürstenhauses von Moravia wirkt logisch. Zum einen spricht die Betonung der edlen Herkunft für sich. Sodann würde sich aber auch das Datum der Schenkung gerade in die Pause zwischen den beiden erwähnten Feldzügen der Baiern gegen Moimir II. einfügen, denen möglicherweise - trotz der vom Fuldaer Annalisten berichteten Verwüstungen - kein durchschlagender Erfolg beschieden war.

 

Deswegen hätte sich der bairische Alliierte Sventopulk II. genötigt sehen können, das Zeitintervall bis zum nächsten Zug bei seinen Verbündeten zu verbringen, wobei er die genannten Güter als Versorgungsbasis erhielt. Der Text der Urkunde bezeichnet «Zuentibolch» als «Vasallen» des Markgrafen Liutpold; Boba interpretiert diese Vasallität als Gegenleistung für das erste Eingreifen des Markgrafen zugunsten Sventopulks II. im Sommer 898. Im übrigen liegen alle geschenkten Höfe günstig als Ausgangsbasis für einen das Drautal hinab zielenden Feldzug - dagegen völlig abwegig, wenn ein Zug nach Mähren geplant gewesen wäre. Daß schließlich Moimir II. um die Jahreswende 899/900 immer noch über das an sich seinem Bruder zugefallene Bosnien/Slawonien verfügte, könnte man daraus erschließen, daß die damals an ihn gerichtete päpstliche Gesandtschaft keine Schwierigkeiten hatte, seine Residenz zu erreichen: Offensichtlich war der Weg von der Adriaküste über Bosnien nach Moravia damals frei, während über Pannonien um diese Zeit kaum ein Durchkommen war [8].

 

Ein weiteres Mal erscheint ein «Zuentipolch» in einer am 26. Sept. 903 von König Ludwig IV. «dem Kind» ausgestellten Urkunde, welche ihm fünf Hüben im oberösterreichischen Kremstal zuspricht [9].

 

 

6. Boba 1971, S. 69 ff.

 

7. MG DD Arnolfi, Ed. Kehr 1940, Nr. 162, S. 245/246.

 

8. Vgl. den Brief der bair. Bischöfe, Ed. MMFH 3 (1969), S. 232-244.

 

9. MG DD Ludowici Inf., Ed. Schleifer 1960, Nr.27, S. 135-137; dazu ausführlich Hoher 1970.

 

 

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Hier verliehene Güter waren allerdings kaum strategisch günstig plaziert für Unternehmungen in Richtung gegen Südosten; dennoch möchte Boba auch in diesem «Zuentipolch» Sventopulk II. sehen.

 

Ebenso setzt M. Mitterauer die «Zuentibolche» von 898 und 903 als personengleich an und denkt an «Verwandtschaftsbeziehungen zum großmährischen Fürstenhaus», ja an geflohene «Angehörige der herzoglichen Familie», während der sonst ähnlich argumentierende K. Hoher wegen des von ihm besonders hervorgehobenen Vasallitätsverhältnisses zu Markgraf Liutpold die Identität des «Zuentipolch» mit einem ehemals regierenden Fürsten Moravias auszuschließen scheint [10].

 

Ohne die Frage endgültig entscheiden zu wollen, sei hier nur am Rande darauf hingewiesen, daß sowohl die Urkunde von 898 wie auch jene von 903 in die aus dem «Presbyter Diocleas» erschlossene Regierungszeit Sventopulks II. (894-906) fallen. Allerdings muß zugegeben werden, daß eine Verleihung von Gütern im Reichsgebiet an einen «ausländischen» Regenten ungewöhnlich erscheint - es sei denn, man nimmt eine Verwandtschaftsbeziehung Sventopulks II. zu einem bairischen Adelsgeschlecht an, die ihn gewissermaßen in den Kreis der Erbund Schenkungsberechtigten eingeführt hätte. Bei einer tatsächlich bestehenden Vasallität gegenüber Liutpold wäre zu bedenken, ob Sventopulk II. nicht später auch die Herrschaft des nach 896/98 verstorbenen Brazlav um Siscia/Sisak als Lehen erhielt; denn einerseits ist dort nach Brazlav kein weiterer ostfränkischer «dux» mehr belegt, andererseits befand sich Siscia um 925 in den Händen von Sventopulks II. Sohn und Nachfolger Tomislav. Auf diese Weise wäre zum einen die Vasallitätsbeziehung gegenüber Liutpold [11] weiter fundiert, zum anderen könnte man ein Motiv für die Schenkungen wie auch für die eventuelle Belehnung mit Siscia darin sehen, daß man von Seiten der Ostfranken Sventopulk II. eine größere Machtbasis gegenüber seinem Bruder verschaffen wollte.

 

Während eine Identität des Fürstensohnes mit den bisher genannten Personen namens «Zuentibolch» o. ä. diskutabel scheint, ist eine letzte von Boba vorgenommene Gleichung völlig abzulehnen, nämlich die mit jenem «Zuentipolch», welcher im sog. «Codex Odalberti» erscheint, einer Sammlung von etwa 100 Traditionsurkunden aus der Zeit des Salzburger Erzbischofs Odalbert (923-935). In zweien dieser Urkunden wird nämlich als Vater dieses «Zuentipolch» ausdrücklich ein «Dietmar» genannt [12]. Besagter Zuentipolch selbst erscheint in einer weiteren Urkunde als «vassus» des Erzbischofs [13]. E. Klebel hält ihn sogar für einen Enkel desselben, was M. Mitterauer hingegen ablehnt; er möchte ihn seiner «salzburgisch-karantanischen Adelsgruppe» zuordnen;

 

 

10. Mitterauer 1960, S. 706; Hoher 1970, S. 197, 201, 202.

 

11. Dazu Reindel 1953, S. 10 ff.; Mitterauer 1960, S. 227 ff.; Hauptmann 1936 (Schema S. 243) macht ihn sogar zu einem Verwandten Liutpolds!

 

12. ÜB Salzburg, 1, Ed. Hauthaler 1910, Nr.88, 94, S. 152/153 bzw. 157/158.

 

13. ÜB Salzburg, 1, Ed. Hauthaler 1910, Nr.98, S. 160/161.

 

 

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als «jüngeren Zuentipolch» unterscheidet er ihn von dem «älteren» der Urkunden von 898 und 903 [14]. Dieser «jüngere Zuentipolch» gehört also keinesfalls zu den Söhnen Sventopulks I. Sein Name ist aber ein Zeugnis für Beziehungen der erwähnten bairisch-karantani-schen Grafenfamilie zu einem der Träger des Namens «Sventopulk» aus der slawischen Fürstenfamilie [15]; sei es, daß einer von beiden - wie der ältere Sventopulk im belegbaren Fall Zwentibolds, des Sohnes Arnulfs von Kärnten - hier Taufpate gestanden hatte, sei es, daß Sventopulk II. tatsächlich 898/99 verwandtschaftliche Beziehungen in Baiern knüpfte. Schließlich ist auch an die Vorbildwirkung eines «großen Namens» zu denken, wie ihn Sventopulk I. gegen Ende des 9. Jahrhunderts zweifellos besaß.

 

Eine dieser Möglichkeiten mag auch gelten im Falle jenes «Moimir», der ebenfalls in den Urkundungen des «Codex Odalberti» begegnet, und zwar zwischen 925 und 927 dreizehnmal als «comes», davon elfmal an erster Stelle der Zeugenreihe, seit 928 noch fünfmal, immer ohne Titel und in weniger privilegierter Position unter den Zeugen [16]. M. Mitterauer bringt auch diesen Moimir in Verbindung mit der Familie von Diotmar und Zuentipolch; doch seien «die Nennungen zu spärlich, um aus ihnen weitere Folgerungen über die Art der Verwandtschaftsbeziehungen erschließen zu können [17].»

 

 

4.1.2. Das Verhältnis Moravias zum Ostfrankenreich nach 894

 

Der Friedensschluß zwischen den Söhnen Sventopulks und Kaiser Arnulf im Herbst 894 wird die Rückerstattung des früheren pannonischen «Dukates» an die Ostfranken ebenso beinhaltet haben wie die Aufgabe der Oberhoheit Moravias über Böhmen. Zwar erschienen die böhmischen Fürsten erst im nächsten Jahr, im Juli 895, zur erneuten Huldigung in Regensburg; auch wurde dem «dux» Brazlav erst 896 die «Mosaburg» am Plattensee übertragen. Doch müssen, da zunächst bis 898/99 keine weiteren Kriegshandlungen zwischen Moravia und den Ostfranken überliefert sind, die entsprechenden Bestimmungen schon 894 getroffen worden sein.

 

Die Grenze zwischen Moravia (bzw. seit 894 dessen beiden Teilreichen) und dem Ostfränkischen Reich wurde damals wohl wieder ebenso gezogen, wie sie vor den Friedensschlüssen von 884/885 bestanden hatte. Allerdings war das sog.

 

 

14. Klebel 1960, S. 685; dagegen Mitterauer 1960, S. 702/703, 719.

 

15. So Mitterauer 1960, S.704, 706/707; s.a. Hauptmann 1936, S.229ff.

 

16. ÜB Salzburg, 1, Ed. Hauthaler 1910, Nr.5,24,28, 38,45-48,59, 63, 90,101 mit «comes»Titel, Nr. 12, 76, 77, 79, 80 ohne diesen.

 

17. Mitterauer 1960, S. 705.

 

 

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«Unter-pannonien» nach den wiederholten Verwüstungen der Kriege von 882-884 und 892-894 wohl nur noch ein menschenleeres «Niemandsland» [1], auch wenn dieser Zustand erst in dem Juli/Aug. d.J. 900 verfaßten Brief der bairischen Bischöfe an den Papst belegt ist; denn dort wird diese Verwüstung nicht den Ungarn, sondern den Moravljanen angelastet [2].

 

Das Erscheinen von Gesandten aus Moravia im Jahre 897 mit der Bitte, keine Landflüchtigen aufzunehmen und den Frieden zu bewahren [3], ist ein erstes Anzeichen für die Auseinandersetzungen zwischen den Söhnen Sventopulks, die im nächsten Jahr zum Bürgerkrieg führten. Die Tatsache, daß der Sohn des «Ostmark»-Grafen Aribo, Isanrich, für den Ausbruch dieses Krieges mitverantwortlich gemacht wurde [4], ist kaum als Zeugnis für die Lokalisierung Moravias in Mähren, also in nächster Nähe der «Ostmark», verwendbar; sie ist vielmehr ein weiterer Beleg für die traditionell engen Beziehungen zwischen den Aribonen und dem Herrscherhaus Moravias, die schon während der Wilhelminerfehde 882-884 deutlich wurden.

 

Dagegen ist es für die Lage der «regna» Moimirs II. und seines Bruders von Belang, daß beide Markgrafen des Südostens in den Bürgerkrieg eingriffen: sowohl der an der Donau zuständige Aribo wie auch der mit Karantanien betraute Liutpold (nicht aber der seit 896 für Pannonien zuständige Brazlav!) [5]. Diese Kommandoverteilung, die ja bei einem «mährischen Moravia» etwas erstaunen müßte, hat man mit der Hilfskonstruktion einer auf 893 angesetzten Amtsnachfolge des Markgrafen Liutpold in der sog. «oberpannonischen Grafschaft» zwischen Wienerwald und Raab erklären wollen; doch steht diese Konstruktion, wie schon gesagt, auf keiner soliden Quellenbasis.

 

Vielmehr weist die gemeinsame Intervention der beiden Markgrafen auf einen Vorstoß in (generell) östlicher, statt, wie bisher angenommen, in nördlicher Richtung hin. (Vgl. Karte 19)

 

Der als Kriegsanstifter beschuldigte Isanrich verlor 899 ebenso wie auch sein Vater seine Ämter und wurde inhaftiert, konnte aber entfliehen-und mit Hilfe der Moravljanen erneut einen Teil der «Ostmark» in seine Gewalt bringen. Erst 901 schloß er (wie auch Moimir II.) mit dem neuen König Ludwig IV. Frieden [6].

 

Diese Episode erfordert nun nicht zwangsläufig ein Aneinandergrenzen der «Ostmark» und Moravias.

 

 

1. Verwüstungen Pannoniens zu Ende des 9. Jahrhunderts sind archäologisch nachgewiesen (Sos 1973); der fast siedlungsleere Zustand der Region (mit Ausnahme einiger befestigter Punkte wie der «Mosaburg») erklärt auch den problemlosen Durchzug der Ungarn, selbst nach der Verfeindung mit den Ostfranken.

 

2. Ed. MMFH 3 (1969), S.241/242.

 

3. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 897, Ed. Kurze 1891, S. 130.

 

4. Ann. Fuld. Cont. Altah. ad a. 898, Ed. Kurze 1891, S. 132.

 

5. Ann. Fuld. Cont. Altah. ad a. 898, Ed. Kurze 1891, S. 131/132.

 

6. Herim. Aug. Chron. ad a. 901, Ed. Pertz 1844, S. 111.

 

 

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Doch zeigt sich, daß die Moravljanen damals, um 899/900, noch problemlos Hilfstruppen an Isanrich überstellen konnten, ohne ein Eingreifen der Ungarn befürchten zu müssen, denn deren Hauptheer stand zu diesem Zeitpunkt (vom Frühjahr 898 bis zum Sommer 900) in Oberitalien.

 

Wenig später ergab sich nach dem Tode Kaiser Arnulfs im Dez. 899 für kurze Zeit die verwirrende Situation eines Krieges dreier Parteien gegeneinander. Während ein bairisches Heer im Jahr 900 über Böhmen, wo es durch einheimische Aufgebote verstärkt wurde, nach Moravia zog und dort drei Wochen lang plünderte, kehrte das ungarische Hauptheer aus Italien zurück, «Pannoniam ex maxima parte devastans» [7], was nach Gegenüberstellung dieser Aussage der Fuldaer Anna-len (in der Altaicher Fortsetzung) mit jener der Annales Gradicenses [8] wohl auch auf Moravia zu beziehen ist.

 

Der oben erwähnte Friedensschluß von 901 veränderte die frühere Frontstellung von Ostfranken und Ungarn gegen Moravljanen in eine solche der Ostfranken und Moravljanen gegen die Ungarn, wobei der Übergang schon aus dem Brief der bairischen Bischöfe vom Jahre 900 herauszuhören ist [9]. Die Nachricht von einer Schlacht, welche die Ungarn und Moravljanen 902 ausfochten, ist die letzte annalistische Erwähnung Moravias als eines bestehenden Staatsgebildes in ostfränkischen Quellen [10].

 

Daraus könnte man schließen, daß von diesem Moment an keine Nachrichten aus Moravia mehr nach Baiern dringen konnten, weil die Ungarn mittlerweile das verwüstete, sozusagen «neutrale» Transdanubien okkupiert und so jeden Kontakt unterbrochen hätten. Denn rätselhaft bleibt es sonst, wieso keiner der fränkischen Chronisten unter einem aktuellen Jahreseintrag (also nicht etwa wie Regino von Prüm im Rückblick) das definitive Ende Moravias verzeichnet. Immerhin kämpften die Ungarn mit den Baiern im Herbst des Jahres 900 im Raum von Linz, im Jahre 901 in Kärnten sowie an der Fischa östlich von Wien [11], also bereits südlich der Donau.

 

Der Annahme einer bereits um 902 oder wenig später erfolgten Besetzung ganz «Pannoniens» könnten allerdings zwei Quellenzeugnisse entgegengestellt werden.

 

 

7. Ann. Fuld. Cont. Altah. ad a. 900, Ed. Kurze 1891, S. 134.

 

8. Ann. Gradic. ad a. 900, Ed. Wattenbach 1861, S. 645: «Arnolfus imperátor obiit, moxque eodem anno Ungari morte illius audita collecte permagno exercitu Moravianorum gentem... invadunt sibique vendicant.».

 

9. Man vgl. die darin enthaltenen abfälligen Äußerungen über die Ungarn, Ed. MMFH 3 (1969), S.240ff.

 

10. Herim. Aug. Chron. ad a. 902, Ed. Pertz 1844, S. 111 und Chron. Suevicum univers, ad a. 902, Ed. Bresslau 1881, S. 66 mit angeblichem Sieg der Moravljanen; ein Sieg der Un garn in Ann. Alamann. ad a. 902, Ed. Pertz 1826, S. 54!

 

11. Ann. Fuld. Cont. Altah. ad a. 900, 901, Ed. Kurze 1891, S. 134/135; Excerpta Aventini ex Ann. Iuvav. ad a. 899, 901, Ed. Bresslau 1934, S. 744 mit Anm.8.

 

 

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Da ist zunächst die «Complacitatio» vom 8. Sept. 903, welche einen Tauschvertrag zwischen Bischof Burchard von Passau und dem Chorbischof Madalwin bekundet [12]. Madalwin erhielt von Burchard seine bisherigen Lehen, die in Baiern und Niederösterreich lagen, zu Eigen; dafür vermachte er dem Bistum neben 56 Büchern seine Güter bei «Wolfeswanc» (südöstlich von Enns) sowie «in Pannonia in loco, qui dicitur Silvinprunno (auch als Liliuprunno gelesen)» [13]. Diese Tradierung könnte darauf hinweisen, daß die Besitzungen fränkischer Grundherren zumindest im äußersten Nordwesten der «Pannonia» noch intakt waren, trotz der ungarischen Streifzüge entlang der österreichischen Donau seit Herbst 900. Andererseits könnte auch gerade die Gefährdung durch ungarische Streifscharen den Chorbischof veranlaßt haben, exponiertes Besitztum in Pannonien einzutauschen gegen sicherer gelegene Güter im Westen. Schließlich ist zu bedenken, daß man die von den Ungarn ausgehende Gefahr in Baiern vor 907 anscheinend noch unterschätzte und die ungarische Besetzung Pannoniens als eine nur temporäre betrachtet haben könnte.

 

Doch erweckt auch die andere Urkunde, die hier angesprochen werden soll, den Eindruck ruhiger Verhältnisse im Raum der mittleren Donau; sie regelt den Handelsverkehr in diesen Gebieten, als herrschte tiefster Frieden.

 

Gemeint ist die «Raffelstettener Zollurkunde», die Verfügungen einer zwischen 903 und 906 in Raffelstetten bei Enns abgehaltenen Beratung über Zölle in der Markgrafschaft des Aribo (der sog. «Ostmark») enthält [14].

 

Diese Markgrafschaft war damals zollrechtlich und, wie Mitterauer nachgewiesen hat, auch verwaltungstechnisch in drei Untereinheiten aufgeteilt, welche sich, von «Vikaren» geleitet, um Linz, «Eparaesburch» und Mautern als Marktbzw. zentrale Orte gruppierten [15].

 

Die ersten fünf Abschnitte und somit der größere Teil der Urkunde handeln davon, was für die bairischen wie slawischen Bewohner «Bàierns» (das hier einschließlich der «Ostmark» des Aribo gedacht wurde) an Zollvorschriften gelten sollte; dieser Teil schließt mit den Worten: «Hoc de Bawaris observandum est.»

 

Der folgende 6. Abschnitt betrifft hingegen eine außerhalb der Grenzen Baierns stehende Personengruppe, welche andere zollrechtliche Probleme aufwirft:

 

 

12. ÜB Oberösterreich, 2 (1856), Nr.36, S.49-51.

 

13. Vgl. Erkens 1983.

 

14. MG Capit.II, Ed. Boretius/Krause 1897, Nr. 253, S. 249-252; die Abfassungszeit wird erschlossen aus den Lebensdaten der Unterfertiger. Zum diplomat. Charakter der Ur kunde P. Johanek, Die Raffelstetter Zollurkunde und das Urkundenwesen der Karolin gerzeit; in: Festschrift B. Schwineköper (Sigmaringen 1982), S. 87-103.

 

15. Mitterauer 1964, S.349ff., 1969, S. 133ff.; s.a. Pfeffer 1954, S.53ff.; Reindel 1960, S. 143/144; Hassinger 1965, S. 158ff.; Mühlberger 1980, S. 164ff.

 

 

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Sclavi vero qui de Rugis vel de Boemanis mer candi causa, exeunt, ubicunque iuxta ripam Danubii vel ubicunque in Rotulariis vel Reodariis loca mercandi optinuerint: de sagma unam, de cera duas massiolas quarum uterque scoti unum valeat; de onere unius hominis massiola una eiusdem precii; si vero mancipia vel cavallos vendere voluerit: de una ancilla tremisam I, de cavallo masculino similiter, de servo saigam I, similis de equa. Bawari vero vel Sclavi istius patrie ibi ementes vel vendentes nichil solvere cogantur.

 

Während die hier genannten «Boemani» keine Interpretationsschwierigkeiten bereiten, ist die Ortsangabe «de Rugis» auf verschiedenste Weise gedeutet worden; wegen des großen Interesses für das Thema dieser Arbeit soll auch hier darauf eingegangen werden. Von den bisherigen Lösungsversuchen scheidet jener auf die Insel Rügen von vornherein wegen innerer Unwahrscheinlichkeit aus; ebenso die Deutung auf Böhmen, da dort nie Rugier gesessen hatten, auch die Konjunktion «vel» eine Doppelbezeichnung Böhmens ausschließt [16].

 

Ernsthaft zu erwägen ist hingegen die Interpretation der «Rugi» als «Russen», da sich eine solche Namensform in dieser Bedeutung auch in anderen mitteleuropäischen Quellen des 10. und 11. Jahrhunderts findet, unter anderem beim Fortsetzer Reginos von Prüm und in einer Urkunde Ottos I. von 968 [17]. Ein Handel zwischen Rußland und Baiern, wie ihn die Raffelstettener Zollordnung in dieser Deutung nahelegen würde, ist aber erst seit dem frühen 12. Jahrhundert belegt. Zudem spricht gegen diese Auffassung eine Reihe von Gründen, welche schon E. Zöllner zusammengefaßt hat [18].

 

Ein entscheidendes Argument für die Verfechter der Rußland-Hypothese war wohl die Nennung eines «mercatus Marahorum» im 8. Abschnitt der Urkunde. Diese «Marahi» wurden als <Großmährer> a priori in Mähren und im angrenzenden nördlichen Niederösterreich lokalisiert, womit für ein «Rugiland» an der Donau kein Raum mehr verblieb.

 

Doch gerade hier sind die «Sclavi, qui de Rugis... exeunt» zu suchen. Geht man nämlich von der Gleichsetzung der «Marahi» mit den Bewohnern <Großmährens> ab, so wird noch viel deutlicher, als es E. Zöllner zu zeigen vermochte, daß hier eine literarische Reminiszenz an das «Rugiland» der Völkerwanderungszeit vorliegt. [19]

 

 

16. Zu «Rugi» = Slawen auf Rügen s. W. H. Fritze, Slaven und Avaren im angelsächsischen Missionsprogramm; in: ZslPh 32 (1965), S.231-251; zu Böhmen s. Schiffmann 1917, S.488.

 

17. Cont. Reginon. ad a. 959, 960, 962, 966, Ed. Kurze 1890, S. 170-177; MG DD Ottonis 1, Ed. Sickel 1884, Nr. 366, S. 502.

 

18. Zöllner 1952, S. 111 ff., auf den hier verwiesen sei.

 

19. So v.a. Zöllner 1952; s.a. Dobiaš 1963, S.21/22 Anm.43.; Tatzreiter 1991, S.207/208.

 

 

310

 

Diese Landesbezeichnung erscheint nicht nur als eine der Wanderstationen der Langobarden bei Paulus Diaconus [20]; das frühere Siedlungsgebiet der Rugier (bis 488) war auch erschließbar aus der im frühen 6. Jahrhundert verfaßten «Vita Severmi» des Eugippius. Ein Exemplar dieser Vita befand sich unter den 903 eingetauschten 56 Bänden, die Bischof Burchard (ein Teilnehmer der Raffelstettener Versammlung) von seinem Chorbischof erwarb [21]; sie war auch dem Salzburger Verfasser der «Conversio Bagoariorum» sowie anderen Autoren des bairisch-karantanischen Raumes im 9. Jahrhundert mit ziemlicher Sicherheit bekannt [22].

 

Eine Kenntnis des spätantik-frühmittelalterlichen Terminus «Rugiland» und seines Bedeutungsgehaltes würde also bei den Abfassern der Raffelstettener Zollurkunde nicht überraschen: Aus der «Vita Severini» ergab sich dafür das Nordufer der Donau zwischen der Ennsmündung im Westen und dem Durchbruch am Wienerwald im Osten, bei unbestimmter Ausdehnung ins nördliche Hinterland.

 

Es ist weiterhin zu beachten, daß die 903/06 «de Rugis» kommenden Slawen zollrechtlich denen aus Böhmen gleichgestellt wurden, was - in Weiterführung der Schlüsse Mitterauers - auf ein gleiches rechtliches Verhältnis zum Ostfrankenreich schließen lassen könnte. Die «rugischen» Slawen liefern dieselben Waren wie die Böhmen, und zwar mit diesen gemeinsam an «Rotularii» und «Reodarii», die Anwohner der Rodl und der Riedmark im Mühlviertel, sowie an die übrigen Bewohner des zur «Ostmark» gehörigen nördlichen Donauufers, d.h. «ubicunque iuxta ripam Danubii», von Raffelstetten am Südufer gesehen. Der Handel verläuft über den Landweg auf Saumpfaden zu den dortigen Siedlungskammern als eine Art «kleiner Grenzverkehr», nicht an bestimmte verpflichtende Marktorte gebunden und mit relativ geringen Zöllen belastet [23].

 

Da nun Rodl und Riedmark Endpunkte der aus Böhmen kommenden Pfade sind, so verbleibt für die «Rugi» das östlich der Ennsmündung liegende Donauufer - also genau das «Rugiland» des 5. und 6. Jahrhunderts! Aufgrund der bisherigen Überlegungen ist es also sehr wahrscheinlich, daß mit den «Rugi» die östlich an Böhmen anschließenden, gleichermaßen vom Ostfrankenreich abhängigen nördlichen Nachbarn der «Ostmark» gemeint waren. Kaum denkbar scheint es, daß mit dem Begriff nur die Herrschaft des 902/03 in einer Freisinger Urkunde genannten «vir venerabilis Joseph» am Kamp erfaßt werden sollte [24], da sein Gebiet relativ klein war und er zudem als Lehnsmann des Ostfränkischen Reiches im Verband der «Ostmark» zu gelten hat.

 

 

20. Paulus Diac., Hist. Langob. 1.20, Ed. Waitz 1878, S.65.

 

21. Eugippius, Vita Severini, Ed. Noll 1981, passim; s. dazu Zöllner 1952, S. 115; Wolfram 1985,8.124,148.

 

22. So Wolfram 1979, S. 23 mit Anm. 3.

 

23. Mitterauer 1964, S. 348 und 1969, S. 120 ff.

 

24. So Wolfram 1980b, S. 26; Wiesinger 1985, S. 364.

 

 

311

 

Nein, es ist anzunehmen, daß «de Rugis» die Bewohner des heutigen Mähren bezeichnete, für die man offenbar damals über keine «aktuelle» Terminologie verfügte; der «Bairische Geograph» hatte hier 50 Jahre früher die «Marharii» angesetzt. Offenbar war man im 9. und frühen 10. Jahrhundert in einiger Verlegenheit, wenn man Mähren näher bezeichnen wollte.

 

Anders als die «Boemani» und «Rugi» des 6. Abschnittes behandelt die Zollurkunde die «Marahi» im 8. Abschnitt:

 

Si autem voluerint ad mercatum Marahorum, iuxta estimationem mercationis tunc temporis exsolvat solidum unum de navi et licenter transeat; revertendo autem nichil cogatur exsolvere legittimum.

 

Die «Marahi» stehen also, modern gesprochen, außerhalb einer weiteren Zollschranke, und die Raffelstettener Versammlung betrachtete Moravia (denn dorthin sind die «Marahi» natürlich zu setzen) nicht wie Böhmen als eine «zugehörige, eingegliederte «provincia»», sondern als ein in geringerer Abhängigkeit stehendes «regnum», weswegen der Handel dorthin stärker belastet wurde [25].

 

Bemerkenswert ist es auch, daß sich der Salzhandel mit Moravia nur auf Schiffen abspielte, und zwar über das im 7. Abschnitt der Urkunde als letzte Zollund Marktstätte der Markgrafschaft Aribos genannte Mautern hinaus. Allerdings wird nirgends gesagt, wie weit die Fahrstrecke von Mautern bis zum «mercatus Marahorum» anzusetzen ist, und ebensowenig, ob nicht flußabwärts von Mautern auf Saumtiere umgeladen wurde [26]. Es wäre also gefährlich, hier anhand des «argumen-tum ex silentio» weitere Schlußfolgerungen ziehen zu wollen. So ist es zwar möglich, daß der «mercatus» einen bestimmten Ort, nach D. Třeštík den «Zentralmarkt Altmährens» bezeichnen soll; denkbar ist auch, daß er mit jenem Handelszentrum im Reich des Sventopulk identisch ist, den islamische Quellen erwähnen. Doch bleibt beides ebensowenig beweisbar wie Třeštíks These, daß dieser Markt in Moravias Hauptstadt (die er in Mikulčice ansetzt!) zu suchen sei [27].

 

Festzuhalten ist dagegen, daß zur Zeit der Raffelstettener Versammlung um 903/06 ein Verkehr mit Moravia überhaupt noch in Betracht gezogen wurde.

 

Auf relativ friedliche Zustände entlang der mittleren Donau deutet schließlich ebenso eine etwa gleichzeitig (ca. 902/03) abgefaßte Urkunde, welche die Verhältnisse am nördlichen Donauzufluß Kamp beleuchtet, zugleich aber auch nochmals die Frage eines Aneinandergrenzens der «Ostmark» und des eigentlichen Moravia (und nicht etwa der von Sventopulk ab 871 eroberten Gebiete!) anschneidet.

 

 

25. So Herrmann 1965, S. 189/190; s. a. Bosí 1974, S. 275.

 

26. Dazu Koller 1964c, S.80 und Ganshof 1966, S.221.

 

27. Vgl. Třeštík 1973.

 

 

312

 

Um 902/03 nämlich machte der «venerabilis vir Joseph» dem Bistum Freising eine Schenkung bei dem niederösterreichischen Ort Stiefern [28]; aufgrund seiner Intitulatio wird Joseph als herzogsgleich oder «herzogsfähig» angesehen, als seine Residenz gilt der nahegelegene Burgwall von Gars-Thunau [29].

 

Während aus seinem eigenen Namen keine Volkszugehörigkeit zu erschließen ist, erscheinen unter seinem Gefolge neben weiteren Trägern biblischer Namen auch solche eindeutig slawischen Charakters. Dennoch deutet nichts im Text der Freisinger Schenkungsurkunde daraufhin, daß Gars-Thunau deswegen als «<großmährische> Provinzburgwallstadt» (!) anzusehen wäre, wie behauptet worden ist [30]. Dagegen erwähnt die Urkunde, daß bereits Josephs Vorfahren («antecessores», also Plural!) an Freising Schenkungen gemacht hätten, woraus geschlossen wurde, daß diese Herrschaftsbildung schon mindestens zwei Generationen vor Joseph, etwa um 850, bestanden haben muß [31]. Die Stellung dieser Herren kann unmöglich die <großmährischer> Teilfürsten gewesen sein, wie denn auch in der Urkunde weder von Moravia noch von der Einverständniserklärung eines dortigen Fürsten die Rede ist.

 

Die Herren von Gars-Thunau spielten wohl eher, wenn auch in kleinerem Maßstab, eine ähnliche Rolle wie Pribina und Kocel in Pannonien. Ihre Herrschaft überstand sogar die ungarischen Einfalle des 10. Jahrhunderts und wurde erst von den Babenbergern Mitte des 11. Jahrhunderts eliminiert [32]!

 

Dies sind die letzten Schlaglichter, welche auf die «Ostmark» und «Pannonien» als ostfränkisch-moravisches Grenzgebiet fallen; die Schlacht von Preßburg 907 änderte die Verhältnisse in dieser Region grundlegend. Markgraf Aribo allerdings überlebte die Katastrophe; zuletzt ist er im Jahre 909 belegt [33].

 

 

4.2. Die ungarische Eroberung des Karpatenbeckens

 

Die Analyse des Ablaufes der ungarischen Landnahme ist nach drei zeitlich wie räumlich getrennten Quellengruppen vorzunehmen.

 

Zeitgenössische Berichte bieten nur die Quellen des fränkischen Bereiches, deren Blickwinkel allerdings recht einseitig und deren Ausdrucksweise von lapidarer Kürze ist. Jedoch erhält man nur aus ihnen ein - wenn auch lückenhaftes - chronologisches Gerüst.

 

 

28. Trad. Freising, 1, Ed. Bitterauf 1905, Nr. 1037, S.781/782.

 

29. Wolfram 1987, S.353/354; Friesinger 1977, S.109; Stana 1985, S.169.

 

30. So Stana 1985, S.167ff.

 

31. Friesinger 1977, S. 109; Wolfram 1985, S. 148 Anm.302.

 

32. Stana 1985, S. 169 mit Anm. 66.

 

33. MG DD Ludowici Inf., Ed. Schieffer 1960, Nr. 67, S. 199.

 

 

313

 

Die wichtigste byzantinische Quelle, das «De Administrando Imperio» des Konstantinos Porphyrogennetos, wurde bereits in anderem Zusammenhang herangezogen; hinzu kommen slawische Quellen des 10. bis 12. Jahrhunderts, die aber nur wenig Neues beizutragen vermögen.

 

Interessant ist hingegen die Auswertung der bisher in dieser Arbeit nur am Rande erwähnten ungarischen Chroniken des Hochmittelalters.

 

Das durch Analyse und Zusammenschau der genannten Quellengruppen gewonnene Bild des Ablaufes der ungarischen Eroberung des Karpatenbeckens ist zu vergleichen mit den bisher vorgestellten Konzeptionen über die dortige politische Lage zu Ende des 9. Jahrhunderts, insbesondere über die Lage Moravias, das ja als Hauptbetroffener der Eroberung zu gelten hat. Diesem Ziel gilt die abschließende Untersuchung des Siedlungsund Machtbereiches der Ungarn nach Abschluß der Landnahme.

 

 

4.2.1. Ungarnzüge vor der Landnahme

 

Bei der Untersuchung der Frage, wann sich die ungarische Stammesföderation bei ihren Nachbarn bemerkbar machte, erscheint der von O. Pritsak und I. Boba vorgeschlagene Beleg für ihr erstmaliges Auftreten nicht haltbar. Bereits 811 sollen nämlich «Ungarn» im Heer des Bulgarenkhans Krum gekämpft haben; dies berichten zwei Synaxarien des H.Jahrhunderts in bulgarischer und serbischer Redaktion unter Benutzung der Namensformen «Vegry» bzw. «Ugry» [1]. Die erhaltenen, noch aus dem 9. Jahrhundert stammenden byzantinischen Berichte sprechen jedoch nur von Awaren als Verbündeten Krums. Es ist also mit I. Dujčev eher ein Mißverständnis oder Schreibfehler der späteren südslawischen Autoren, welche diese byzantinischen Quellen benutzten, anzunehmen [2] als die Existenz unabhängiger, aber verlorengegangener byzantinischer Vorlagen, die hier von «Οῦγγροι» ο.ä. berichteten.

 

Problematisch ist auch die Deutung einer bulgarischen Inschrift aus der Zeit des Khans Omortag (814-831) mit der Nachricht, daß der bulgarische Župan Okorsis auf einem Kriegszug im Dnjepr ertrank [3]. Dieser Zug könnte sich zwar gegen die entstehende ungarische Föderation gerichtet haben, ebenso aber auch im Zusammenhang mit einem chazarischen Bürgerkrieg um 830 stehen - den von Okorsis bekämpften Feind nennt die Inschrift leider nicht, und Okorsis muß auch nicht im Zuge von Kampfhandlungen ertrunken sein. Auf die Möglichkeit einer Unterstützungsaktion für die Ungarn weist aber die Tatsache, daß die Ungarn ca. 836/38 von den Bulgaren gegen eine byzantinische Expedition zu Hilfe gerufen wurden;

 

 

1. Pritsak 1965, S.385; Boba 1967, S.79/80.

 

2. Dujčev 1968, S. 466.

 

3. Ed., übs. und komm, bei Beševliev 1963, S. 281 ff.

 

 

314

 

die byzantinischen Quellen nennen sie bei diesem Anlaß - neben «Τοῦρκοι» - zum ersten Mal «Οῦγγροι» oder «Οῦννοι» [4].

 

Dann wird es zunächst wieder still um die Ungarn, abgesehen von ihrer Nennung beim «Bairischen Geographen», dem die «Ungare», die er nach den Chazaren und Russen aufzählt, bereits ein Begriff sind [5]. Die erste Abfassung des «Bairischen Geographen» wird auf kurz nach 844 gesetzt, doch handelt es sich beim Abschnitt, der die Ungarn anführt, wohl um einen späteren Nachtrag.

 

Um das Jahr 860 wurde nach dem Bericht seiner Vita Konstantin/Kyrill, als er sich in byzantinischem Auftrag auf der Halbinsel Krim befand, von Ungarn bedroht [6].

 

862 machten sich die Ungarn erstmals an den Grenzen des Ostfrankenreiches bemerkbar [7]. I. Boba hat in überzeugender Weise dargelegt, daß die ab dieser Zeit zu beobachtende Unruhe der Ungarn mit dem Erscheinen der skandinavischen Rus' in Kiew zusammenhängt [8]. Andererseits hat S. de Vajay den ungarischen Angriff auf das Reich Ludwigs des Deutschen in Beziehung gebracht zu den Auseinandersetzungen, welche dieser Herrscher damals mit seinem Sohn Karlmann und dessen Bundesgenossen Rastislav hatte; Vajay sieht die Ungarn als Hilfstruppen der beiden letzteren. Während er aber eine südrussische Ausgangsbasis der Ungarn annimmt, rechnet S. Szádeczky-Kardoss bereits mit einer ersten ungarischen An-siedlung im Karpatenbecken, und zwar «an der oberen Theißgegend und im Donau-Theiß-Zwischenstromland» [9]! Leider geben die Quellen das Ziel des ungarischen Vorstoßes nicht genauer an. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß es im Bereich der karolingischen «Ostmark» lag; denn nur hier konnte wirklich auch von Ludwig noch de facto gehaltenes Gebiet getroffen werden, wie es die ausdrückliche Formulierung der Annalen von St. Bertin erforderlich macht [10]. Der übrige Südosten des Reiches, also Karantanien, Teile Baierns und Pannonien, befanden sich ja damals in der Gewalt des aufständischen Karlmann.

 

Ist die hier vorgebrachte Vermutung richtig, so wäre der näbhste Vorstoß der Ungarn gegen das Ostfränkische Reich im Jahre 881 in dieselbe Richtung gegangen; er ist genauer lokalisierbar.

 

 

4. Vgl. Lüttich 1910, S.18; Moravcsik 1930, S.88/89; Adontz 1933, S.478ff; Pritsak 1965, S.386; Boba 1967, S.78; Moravcsik 1970, S. 37,44; Varady 1989, S.24; Havlík 1991, S. 106.

 

5. Ed. Horák/Trávníček 1956, S. 3.

 

6. Konstantinsvita 8, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S. 110.

 

7. Ann. Bertin. ad a. 862, Ed. Waitz 1883, S. 61.

 

8. Boba 1967, S.32, 70ff.; Vajay 1968, S. 13.

 

9. Vajay 1968, S. 14/15; s.a. Györffy 1991, S.42; Szádeczky-Kardoss 1972, S. 120 und 1972b, S.115ff.

 

10. «Hostes... qui Ungri vocantur, regni eiusdem depopulantur», bezogen auf Ludwig den Deutschen.

 

 

315

 

Die Fortsetzung der älteren Salzburger Annalen benchtet zu diesem Jahr: «Primum bellum cum Ungaris ad Weniam. Secundum bellum cum Cowaris ad Culmite [11].» Die von E. Klebel vorgeschlagene Deutung des ersteren Schlachtortes auf Wien hat sich inzwischen durchgesetzt, während «ad Culmite» zwar an verschiedenen Orten, aber durchwegs in Niederösterreich gesucht wird [12]. Nicht ohne Bedeutung ist es vielleicht, daß bereits dieser frühe Ungarnzug, vielleicht auch schon der von 862, den gleichen Weg entlang der Donau nahm wie die späteren ungarischen Feldzüge gegen Baiern seit 900 [13].

 

Wahrend man diesen erneuten Vorstoß der Ungarn 881 meist als eine selbständig durchgeführte Aktion im Zuge der beginnenden Landnahme interpretierte, nimmt S. de Vajay auch in diesem Fall eine Bündnisleistung an, diesmal im Dienste von Sventopulk [14]. Tatsächlich konnte ein aus Südrußland kommender, gegen Wien gerichteter Heerzug der Ungarn im Jahr 881 nur über von Sventopulk beherrschtes Gebiet und somit nur mit seinem Einverständnis stattfinden. Ein Zusammenhang mit der «Wilhelminerfehde» in der karolingischen «Ostmark» liegt nahe, auch wenn die fränkischen Quellen erst im nächsten Jahr von dieser Fehde berichten.

 

Vajay verweist auch auf die Möglichkeit, daß der Erzbischof Method als Vermittler des Bündnisses zwischen Moravljanen und Ungarn fungiert haben könne. Eine seit langem heftig diskutierte Stelle der Methodvita berichtet nämlich von einem Treffen des Erzbischofs mit einem «ungarischen König» («королю оугърьскомоу » im Text), als dieser sich «in den Donaugegenden» aufgehalten habe. Obwohl die Umgebung Methods Bedenken wegen eines möglicherweise unfreundlichen Verhaltens dieses Königs hatte, endete die Unterredung zur beiderseitigen Zufriedenheit [15]. Die Interpretation Vajays wirkt zwar bestechend und könnte, wenn der «ungarische König» von Anfang an im Text gestanden hätte, akzeptiert werden. Gewichtige Gründe sprechen jedoch dafür, daß das Adjektiv «ungarisch» erst durch einen späteren russischen Abschreiber in den Text geriet anstelle eines ursprünglichen «fränkisch» und der eigentlich gemeinte König Karl III. «der Dikke» war; diesen also hätte Method im Gefolge Sventopulks 884 bei Tulln (und somit wirklich «in der Donaugegend») getroffen [16].

 

 

11. Contin. II Ann. Iuvav. max ad a. 881, Ed. Bresslau 1934, S. 742; Quellenkritik bei Koller 1991, S. 84 ff.

 

12. Klebel 1921, S.49/50.

 

13. Es muß offen bleiben, ob dies einen Rückschluß nur auf die Verkehrsbedingungen oder aber auch auf die politisch-strategischen Gegebenheiten des Donauraumes zu dieser Zeit erlaubt.

 

14. Vajay 1968, S. 15/16; s.a. Fodor 1982, S.271; Györffy 1991, S.42.

 

15. Methodvita 16, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S. 165.

 

16. So V. Vavŕínek, Ugьrьskyjь korolь dans la vie vieux-slave de Méthode; in: Byzsl 25 (1964), S.261-269; vgl. auch H. G. Lunt, Old Church Slavonic «kraljь»?; in: Orbis Scriptus. Festschrift f. D. Tschižewskij zum 70. Geb. (München 1966), S. 483-89.

 

 

316

 

Zwischen 881 und 892 müssen die Ungarn einen Frontwechsel vollzogen haben; jedenfalls traten sie seit 892 als Verbündete Arnulfs von Kärnten in den Krieg gegen Sventopulk ein. Gleichzeitig ließen sie sich vom byzantinischen Kaiser Leo VI. für eine Teilnahme an dessen Krieg gegen Bulgarien gewinnen; während Ungarn noch 894 in «Pannonien» heerend bezeugt sind [17], erscheinen sie 894/95 auch in Bulgarien. Diese Überspannung ihrer Kräfte wurde den Ungarn allerdings zum Verderben.

 

Noch während des Bulgarienfeldzuges überfiel der Turkstamm der Petschenegen - seinerseits Opfer einer Aggression anderer Turkstämme - die Wohnsitze der Ungarn, erschlug die waffenfähigen Männer, raubte Frauen, Kinder und Vieh [18]. Die diesem Überraschungsangriff entkommenen ungarischen Stammesteile wie auch das aus Bulgarien zurückkehrende Heer entschlossen sich zum Ausweichen vor den Petschenegen, denen man keinen Widerstand mehr leisten zu können glaubte. Der Zug über die Karpaten markiert den Beginn der Landnahme; er wird teils auf 894/95, teils auf den Herbst des Jahres 895, teils auch auf die erste Hälfte des Jahres 896 datiert. Aufgegeben ist jedenfalls die früher bisweilen vertretene Ansetzung ins Jahr 898; unter diesem Datum meldet die russische «Nestorchronik» den Vorbeizug der Ungarn an Kiew auf dem Weg in die neue Heimat [19]. Mittlerweile ist aber deutlich geworden, daß die Chronologie dieser Quelle im ersten Teil unzuverlässig ist [20].

 

Aufgegeben ist auch die Vorstellung, daß die Ungarn in einer Art von Zangenbewegung ins Karpatenbecken eingefallen seien, wobei der südliche Stoßtrupp - in dem man das nach Bulgarien entsandte ungarische Expeditionsheer sah - an der Donau entlang vorgestoßen sei. Vielmehr besteht heute Einigkeit darüber, daß der Zug der Ungarn allein über den Verecke-Paß zwischen Lemberg und der Karpato-Ukraine führte [21].

 

 

17. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 894, Ed. Kurze 1891, S. 125.

 

18. Vgl. P. Diaconu, Les Petchénègues au Bas-Danube (Bukarest 1972); G. Györffy, Sur la question de l'établissement des Petchénègues en Europe; in: Acta Orient., 25 (1972), S.283-292.

 

19. Nestorchronik ad a. 898, Ed. Tschižewskij 1969, S.24/25.

 

20. Dazu O. Pritsak, The «Povesť vremennyx lět» and the Question of Truth; in: History and Heroic Tale (Odense 1985), S. 133-172; H. G. Lunt, On Interpreting the Russian Primary Chronicle: The Year 1037; in: Slavic and East European Journal, 32 (1988), S.251-264.

 

21. Bogyay 1959, S. 100; Ratkoš 1965, S. 11; Györffy 1978, S. 128; 1985, S.238; 1991, S.43.

 

 

317

 

An der südlichen Talsohle dieses Passes, im Umkreis der Stadt Užgorod, findet sich eine erstaunliche Häufung «altmagyarischer» Grabfunde, die auf eine zeitweilig extrem dichte Besiedelung dieser Gegend (und auf eine gleichzeitige hohe Mortalität?) hinweisen könnte [22].

 

 

4.2.2. Die Landnahme im Spiegel zeitgenössischer fränkischer Quellen

 

Zu welchem Zeitpunkt auch immer die vollständige Übersiedelung des ungarischen Stammesverbandes aus den südrussischen Ebenen in das Karpatenbecken abgeschlossen gewesen sein mag, den Beginn der eigentlichen «Landnahme» kann man sicher mit jenem Zeitpunkt bezeichnen, an dem die Angriffe der Ungarn auf Moravia im Bündnis mit Arnulf von Kärnten begannen. Denn auf die erste Phase ungarischer Vorstöße gegen das Frankenreich, die vielleicht auf Anregung Sventopulks stattfanden, folgte ein gegen den Slawenherrscher gerichtetes Bündnis der Ostfranken mit den Ungarn, die gemeinsam 892 Moravia angriffen. Der damalige Einsatz der Ungarn erschien späteren Generationen sogar als kriegsentscheidend [1].

 

Noch im Zuge dieses Krieges meldet die Regensburger Fortsetzung der Fuldaer Annalen, daß die Ungarn 894 jenseits der Donau Verwüstungszüge durchführten: «Avari, qui dicuntur Ungari, in his temporibus ultra Danubium peragrantes, multa miserabilia perpetravere..., totam Pannoniam usque ad internicionem deleverunt [2].» Die Nennung «Pannoniens» kann sich hier nur auf das Gebiet Sventopulks bzw. seiner Söhne beziehen, da die Ungarn ja mit Arnulf verbündet waren; es liegt also eine weitere Gleichsetzung dieser antikisierenden Landesbezeichnung mit Moravia vor. (Vgl. zum Folgenden Karte 20)

 

Eine recht eindeutige Abstützung dieser Interpretation der Fuldaer Annalen gibt die Chronik des Regino von Prüm, der gleich im Anschluß an die Nachricht vom Tode Sventopulks schreibt: «...cuius regnum filii eius pauco tempore infeliciter tenuerunt, Ungaris omnia usque ad solum depopulantibus [3].» Dies ist Boba entgegenzuhalten, welcher die Angabe «ultra Danubium peragrantes» der fuldischen Annalen transitiv auffassen möchte und somit die Ungarn vom linken Donauufer auf die Südseite des Flusses übersetzen läßt, bevor sie die berichteten Verwüstungen begonnen hätten;

 

 

22. Vgl. dazu M. Schulze-Dörrlamm, Untersuchungen zur Herkunft der Ungarn und zum Beginn ihrer Landnahme im Karpatenbecken; in: Jahrbuch des Röm.-Germ. Zentralmuseums Mainz, 35/2 (1988), S.373-478.

 

1. So Liutprand v. Cremona, Anfapodosis 1.13, Ed. Becker 1915, S. 15; Widukind v. Corvey, Sachsengeschichte 1.19, Ed. Hirsch/Lohmann 1935, S.29; Sigiberti Gembl. Chron. ad a. 893, Ed. Bethmann 1844, S.343/344; Annalista Saxo ad a. 890, Ed. Waitz 1844, S. 587.

 

2. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 894, Ed. Kurze 1891, S. 125.

 

3. Reginon. Chron. ad a. 894, Ed. Kurze 1890, S. 143.

 

 

318

 

aus der Gegenüberstellung dieses Berichts mit dem des Regino vermeint er, einen neuerlichen Beweis für die Theorie eines süddanubischen Moravia gewinnen zu können [4].

 

Wenige Zeit nach dem Tode Sventopulks, im Herbst 894, wurde der Friede zwischen seinen Söhnen und den Ostfranken geschlossen, in welchem letztere Transdanubien und Böhmen zurückerhielten. Doch ist nach S. de Vajay weiterhin ein Bündnis zwischen den Ungarn und Arnulf von Kärnten anzunehmen, und zwar bis zum Tode des Kaisers am 8. Dez. 899, da es von den Ungarn als an die Person Arnulfs (und nicht an die Institution des Ostfränkischen Reiches) gebunden betrachtet wurde. Entsprechend führt Vajay auch die ungarischen Einfalle der Jahre 898 und 899 in Norditalien, die sich ja gegen Arnulfs dortige Feinde richteten, noch auf Abmachungen dieses Bündnisses zurück [5]. Es ist unter diesem Aspekt also nicht mehr zwingend notwendig, eine vorherige Inbesitznahme «Pannoniens» (im Sinne des westungarischen Transdanubiens) durch die Ungarn anzunehmen [6]. Vielleicht durchzogen sie 898 und 899 das fast menschenleere Gebiet, das ja seit 894 wieder den Ostfranken unterstand, ohne jede Probleme als «befreundetes Territorium». Neben den direkten Aussagen späterer Quellen, die Arnulf einer Anstiftung der Ungarn zum Zug gegen Italien bezichtigen, spricht für diese Annahme indirekt auch das «Dementi» der bairischen Bischöfe in ihrem wohl Juli/Äug. 900 verfaßten Brief an Papst Johannes IX.: «Quod nos prefati Sclavi criminabantur cum Ungaris... pacem egisse... ante Deum qui cuncta novit... nostra innocentia probantur [7].»

 

Die Rückkehr des ungarischen Heeres aus Norditalien fällt etwa in die Mitte des Jahres 900. Interessant ist bei diesem Anlaß die Wortwahl der Quellen; so schreibt der Altaicher Fortsetzer der Fuldaer Annalen, daß die Ungarn im Jahre 900 «... re-dierunt, unde vénérant, ad sua in Pannoniam»; die Chronik des Herrmann von Reichenau hingegen berichtet: «Ungarii... item Pannonias depopulatas occupant.» Die Annales Gradicenses schließlich lassen schon im Jahre 900 die Ungarn Moravia mehr oder weniger okkupieren: «Arnolfus imperátor obiit, moxque eodem anno Ungari morte illius audita collecte permagno exercitu Moravianorum gentem... invadunt et sibi vendicant [8].»

 

 

4. Boba 1971, S.65/66.

 

5. Vajay 1968, S.21 ff.; auch Györffy 1975, S.23; Fasoli 1988, S.32.ff.

 

6. In der Literatur taucht bisweilen die Ansicht auf, daß die Ungarn hier bereits zwischen 898 und 900 den seit 896 amtierenden Brazlav verjagt hätten; überzeugende Gegenargu mente bereits bei Schünemann 1923, S.21; Mal 1939, S. 16!

 

7. Ed. MMFH 3 (1969), Nr. 109, S.232-244, hier S.240; zum Brief selbst Koller 1991, S.78; zum Datum bereits Dümmler 1887/88, 3, S.511, 514 Anm.2.

 

8. Ann. Fuld. Cont. Altah. ad a. 900, Ed. Kurze 1891, S. 134; Herim. Aug. Chron. ad a. 900, Ed. Pertz 1844, S. 111; Ann. Gradicenses ad a. 900, Ed. Wattenbach 1861, S.645.

 

 

319

 

Der Brief der bairischen Bischöfe macht deutlich, daß zum Zeitpunkt seiner Abfassung «Pannonien» ein Niemandsland war, in dem alle Gebäude, vor allem auch die Kirchen, zerstört, die Bewohner verschleppt oder getötet waren; doch schreiben die Bischöfe diese Untaten weniger den Ungarn als vielmehr den Moravljanen zu!

 

Der Begriff bleibt bei den Eintragungen dieses Jahres 900 unscharf: Höchstwahrscheinlich schließt «Pannonien» auch links der Donau gelegene Gebiete bei den Fuldaer Annalen und bei Herrmann von Reichenau mit ein, da mit einer endgültigen Besetzung ganz Transdanubiens durch die Ungarn kaum schon im Jahre 900, sondern wohl erst um 903 zu rechnen ist [9]. Die weiteren Ereignisse deuten darauf, daß die Operationsbasis der Ungarn zu dieser Zeit im Räume der Slowakei und des nördlichen Ungarn zu suchen ist.

 

Nachdem es kurz nach der Rückkehr der Ungarn aus Norditalien zum Bruch mit den Ostfranken gekommen war (wobei die Quellenlage keine Klärung der «Schuldfrage» zuläßt), ging der erste Vorstoß gegen Baiern entlang des Südufers der Donau bis über die Enns hinaus; er endete am 20. Nov. 900 mit einer ungarischen Niederlage bei Linz [10]. Im April 901 richtete sich ein ungarischer Angriff gegen Karantanien, was ein Vordringen über das benachbarte «Pannonien» erforderlich macht, nicht aber unbedingt dessen Besitz; auch hier erlitten die Ungarn offenbar eine Niederlage. Im selben Jahr 901, und zwar direkt im Anschluß an diesen zweiten Ungarnzug gegen die Ostfranken, wird vom Friedensschluß zwischen dem neuen König Ludwig IV. und Moimir II. berichtet [11]; ein Zusammenhang beider Ereignisse drängt sich auf.

 

Im nächsten Jahr, 902, berichten die fränkischen Quellen über eine Schlacht zwischen Moravljanen und Ungarn, wobei über deren Ausgang verschiedene Ansichten herrschen: Der Fortsetzer der fuldischen Annalen schreibt von einem Sieg der Moravljanen, während die Annales Alamannici so formulieren: «Et bellum in Ma-raha et patria victa [12].» Aus der Verwendung des Wortes «patria» hat man schließen wollen, daß auch ostfränkische Truppen am Kampf teilnahmen;

 

 

9. So auch Reindel 1953, S.31/32, während Mühlberger 1980, S. 157 bereits 900 «Unterpannonien» an die Ungarn verloren sieht.

 

10. Ann. Fuld. Cont. Altah. ad a. 900, Ed. Kurze 1891, S. 134/35; Ann. Sangall, maiores ad a. 900, Ed. Pertz 1826, S.77; dazu Lüttich 1910, S.46/47; Bresslau 1924, S.52; Reindel 1953, S. 25 ff.; Büttner 1956, S. 440; Vajay 1968, S. 33; Wolfram 1980b, S. 26,.

 

11. Ann. Fuld. Cont. Altah. ad a. 901, Ed. Kurze 1891, S. 135; Herim. Aug. Chron. ad a. 901, Ed. Pertz 1844, S.111; Chron. Suev. Univ. ad a. 902, Ed. Bresslau 1881, S.66.

 

12. Ann. Fuld. Cont. Altah. ad a. 902, Ed. Kurze 1891, S. 135; Ann. Alamannici ad a. 902, Ed. Pertz 1826, S. 54.

 

 

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doch ist die intendierte Bezugnahme hier wohl doch die auf Moravia und «patria» ganz allgemein als «Land, Gebiet, Region» zu übersetzen [13]. In jedem Fall verliert damit jedoch die Behauptung der Annales Gradicenses von einer bereits 900 durchgeführten ungarischen Eroberung Moravias [14] ihre Glaubwürdigkeit, und es ist 902 als «terminus post quem» für den Untergang Moravias zu setzen [15]. Gleich im Anschluß an den Krieg von 902 berichten nun zwei Codices der Annales Alamannici, daß noch im selben Jahre «Ungares a Baioariis ad prandium vocati plures occiduntur»; zwei andere Handschriften derselben Annalen verlegen andererseits in das Jahr 903 einen Krieg zwischen Ungarn und Baiern und melden den Meuchelmord an den Ungarn erst zum Jahr 904, wobei sie präzisieren, daß dabei der ungarische Großfürst Kurszán («Chussal dux eorum») umgekommen sei [16]. S. de Vajay hat versucht, diese divergierenden Aussagen so zu kombinieren, daß der Großfürst schon 902 ermordet wurde, worauf eine innerungarische «Verfassungskrise» zu relativer militärischer Inaktivität nach außen (mit Ausnahme eines Gefechtes gegen die Baiern) geführt habe. Aus dieser Krise sei der neue Großfürst Arpád - bisher hinter Kurszán nur der rangmäßig niedrigere Heerführer - als absoluter Alleinherrscher hervorgegangen, unter dem 904 die weitausgreifenden Feldzüge der Ungarn wieder aufgenommen worden seien [17]. Zwar wird von anderer Seite die Datierung des Mordes an Kurszán auf 904 vertreten, doch ist die erste neuerliche «Auslandsunternehmung» von den Quellen zum Jahr 904 bezeugt, und zwar ein Feldzug gegen Norditalien [18].

 

Unter Berücksichtigung des seit 900 feindlichen Verhältnisses zwischen Baiern und Ungarn spricht dieser Zug dafür, daß sich Transdanubien nunmehr unter un garischer Kontrolle befand. Zugleich könnte man (bei Annahme einer Lage Mora vias in der Theißebene) argumentieren, daß Moravia 904 schon unter ungarische Herrschaft gefallen sein müßte, da die Ungarn sonst einen gefährlichen Feind im Rücken behalten hätten; so käme man zu einem «terminus ante quem» für den Fall Moravias.

 

 

13. So übersetzen auch Fasoli 1945, S. 114; Györffy 1975, S.26. Zum Begriff «patria» s. Du Gange 6 (1886), S.213; Souter 1949, S.289; Habel 1959, Sp.277; Biaise 1975, S.662; Nier mayer 1976, S.773; Graus 1980, S.224/225.

 

14. Ann. Gradicenses ad a. 900, Ed. Wattenbach 1861, S.645.

 

15. Györffy 1975, S.27 und 1991, S. 44 nimmt bereits 902 als das Jahr der ungarischen Erobe rung Moravias an.

 

16. Ann. Alamannici, Cod. Turicensis et Sirmondianus ad a. 902, Ed. Pertz 1826, S. 54; (eben so datieren den Mord auf 902 die Ann. Sangall, maiores, Ed. Pertz 1826, S. 77); dagegen Ann. Alamannici, Cod. Modoetiensis et Veronensis ad a. 903, 904, Ed. Pertz 1826, S. 54.

 

17. Vajay 1968, S.34ff. bzw. 1970, S. 12/13; s.a. Györffy 1991, S.46; etwas anders Preidel 1968, S. 106.

 

18. Zur Unterstützung König Berengars gegen Ludwig von der Provence, s. Fasoli 1945 und 1988 und Vajay 1968, S.38/39.

 

 

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Ein entsprechender Rückschluß wird jedoch in der Literatur zumeist erst aus dem 906 belegten Zug der Ungarn zur Unterstützung der Daleminzier gegen die Sachsen gezogen, und zwar deswegen, weil er angeblich über das Territorium des <Großmährischen Reiches> (genauer über Mähren selbst) hätte führen müssen [19].

 

Dieser Argumentation kann nur insoweit zugestimmt werden, als auch diese Unternehmung kaum mit einem unbezwungenen Moravia im Rücken durchgeführt worden wäre.

 

Einen absolut sicheren «terminus ante quem» gewährt jedoch nur die Chronik des Regino von Prüm [20]; als er sie 907/08 abschloß, war ihm der Untergang Moravias eine bekannte, vollzogene Tatsache, die er allerdings unter der Jahresrubrik «894» nachträglich einfügte.

 

Schließlich verliert die gesamte Berichterstattung über die berühmte Schlacht bei Preßburg am 4. Juli 907 kein Wort mehr hinsichtlich Moravias und seiner B ewohner [21], was auch schon deswegen bemerkenswert scheint, weil das angebliche <großmährische> Reichszentrum Mikulčice nur etwa 80km vom Ort der Schlacht entfernt liegt.

 

Erst der in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts im Kloster Lobbes schreibende Mönch Folcuin gedenkt in seiner Chronik wieder des Unterganges Moravias und seiner völligen Eroberung durch die Ungarn, und zwar im Zusammenhang mit einem Bericht über die Regierung König Heinrichs I. (919-936); es heißt bei ihm: «Quorum [sc. der Ungarn] insatiata crudelitas sub Heinrico rege transgressa termines Marahensium, quos sibi non longe ante impia usurpavit licentia, plerasque provincias regni eius... vastavit [22].»

 

 

4.2.3. Der Bericht byzantinischer und slawischer Quellen des 10. bis frühen 12. Jahrhunderts

 

Als einzige Quelle des byzantinischen Bereichs referiert das «De Administrando Imperio» die Eroberung des Karpatenbeckens durch die Ungarn; ebenso wie die Belegstellen über Moravia sind auch diejenigen über die Landnahme auf mehrere Kapitel des Werkes verteilt.

 

 

19. So z.B. Dümmler 1887/88,3, S.546; Lüttich 1910, S.52; Fasoli 1945, S. 117; Reindel 1953, S.56/57; Odložilík 1954, S.75/76; Büttner 1956, S.440/441; Ratkoš 1965, S. 14; Vajay 1968, S.41, 47. Eine Kooperation von Ungarn und «Großmährern» i.J. 906 hält hingegen Havlík 1964, S.277ff. für denkbar, Boba 1971, S.74 sogar schon beim Ungarneinfall in Italien 899/900!

 

20. Reginon. Chron. ad a. 894, Ed. Kurze 1890, S. 143.

 

21. Ann. Iuvav. max. ad a. 907, Ed. Bresslau 1934, S. 742; Ann. Alamannici ad a. 907, Ed. Pertz 1826, S.54; Ann. Sangall, maiores ad a. 908, Ed. Pertz 1826, S. 77; Ann. s. Rudberti Salisb. ad a. 907, Ed. Wattenbach 1851, S. 771; Auctarium Garstense ad a. 908, Ed. Wattenbach 1851, S.565; Chron. Suev. Univ. ad a. 907, Ed. Bresslau 1881, S.66.

 

22. Folcuini Gesta abb. Lob.25, Ed. Pertz 1841, S.65.

 

 

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Da es sich im wesentlichen in beiden Fällen um dieselben Passagen handelt und diese bereits vorgestellt wurden, genügt hier eine kurze Zusammenfassung1.

 

Die Ungarn, welche ursprünglich «nördlich (tatsächlich nordöstlich) von Moravia» [2], im Lande «Atelkuzu» [3] gesessen hatten, wurden von den Petschenegen aus ihren alten Wohnsitzen verjagt [4]. Unter der Führung von Arpád vertrieben die flüchtigen Ungarn ihrerseits die Bewohner Moravias [5], wobei sie den kurz nach dem Tode Sventopulks unter seinen Söhnen ausgebrochenen Bürgerkrieg nutzten [6]. Nach dem völligen Sieg über die Moravljanen und der Verwüstung ihres Landes siedelten sich nunmehr die Ungarn selbst dort an, also in jenem Gebiet, das von den Flüssen Temes, «Toutis» (Bega?), Maroš, Körös und Theiß durchflossen und auch nach ihnen benannt wurde [7]; aber auch jenseits der Donau (und damit außerhalb des ehemaligen Moravia), zwischen diesem Fluß und der Save [8]. Dort wohnten sie auch noch zur Zeit des kaiserlichen Autoren des Werks, Konstantinos Porphyrogennetos, also um 950 [9]. Durch die ungarische Eroberung wurde Moravia ein heidnisches, «ungetauftes» Land. Nunmehr grenzte das Land der Ungarn im «Osten», entlang der Donau, an die Bulgaren; im «Norden», dort, wo die einstigen ungarischen Sitze gelegen hatten, an die Petschenegen; im «Westen» an die Franken und im «Süden» an die Kroaten [10]. Die besiegten Moravljanen, soweit sie sich nicht den Ungarn ergaben, flohen zu den Bulgaren, den Kroaten und zu «anderen Völkern» [11].

 

Wie auch sonst meistens gibt Konstantinos Porphyrogennetos keine absoluten Daten, sondern setzt als einzige relative Zeitangabe den Beginn des Bürgerkrieges in Moravia schon ein Jahr nach dem Tod Sventopulks (894) [12], worauf zeitlich die Ankunft der Ungarn schon bald gefolgt sei (tatsächlich 895/96).

 

Auf die Landnahme der Ungarn kommt auch die im frühen 10. Jahrhundert in Bulgarien entstandene 1. Vita des Naum zu sprechen.

 

 

1. Für die jeweiligen Quellenzitate s. Kap.2.1.1.!

 

2. Konst. Porph. DAI13, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S.64/65.

 

3. Konst. Porph. DAI 38, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 172/173.

 

4. Konst. Porph. DAI 40, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 176/177.

 

5. Konst. Porph. DAI 13, 38, 40, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S.64/65,172/173,176/177.

 

6. Konst. Porph. DAI 41, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 180/181.

 

7. Konst. Porph. DAI 40, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 176/177.

 

8. Konst. Porph. DAI 42, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 182/183.

 

9. Konst. Porph. DAI 38, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 172/173.

 

10. Konst. Porph. DAI 40, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 178/179; die jeweiligen Rich tungsangaben müssen um 45° im Uhrzeigersinn verschoben werden, s. Kap. 2.1.1.!

 

11. Konst. Porph. DAI 41, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 180/181.

 

12. Dazu Tille 1899 und Bury 1906, S. 566.

 

 

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Sie sieht die Eroberung Moravias als eine von Gott verhängte Strafe für die Gottlosigkeit jenes Landes, für die sich dort breitmachenden Häresien und die Vertreibung der Schüler des Erzbischofs Method im Jahre 885. «Nach wenigen Jahren» (gerechnet vom Tode Methods 885) seien die Ungarn gekommen, ein «päonisches Volk»13. Sie hätten das Land erobert und verwüstet. Diejenigen Einwohner, die nicht den Ungarn in die Hände gefallen seien, wären nach Bulgarien geflohen. Über das entvölkerte Gebiet hätten sodann die Ungarn die Herrschaft angetreten [14]. Die 1. Naumsvita bestätigt also - wenn auch in wesentlich kürzerer Form - inhaltlich den Bericht des «De Administrando Imperio» über die völlige Besetzung Moravias durch die Ungarn sowie die Flucht eines Teils der Einwohner nach Bulgarien. Bezüglich dieses letzteren Punktes steht eine andere, die sog. 2. Naumsvita, in noch größerer Nähe zu den Aussagen des byzantinischen Kaisers, wenn sie als Zufluchtsorte der Bewohner Moravias «Dalmatien», «Moesien» und «Dacien» nennt [15], also Kroatien, Serbien und Bulgarien, ausschließlich südslawische Länder!

 

Eine abweichende, wiewohl teilweise auf balkanischen (byzantinisch-bulgarischen) Vorlagen beruhende Überlieferung zur ungarischen Landnahme bietet die um 1116 endgültig redigierte russische «Nestorchronik». Zum Jahr 898 berichtet sie, daß die Ungarn bei Kiew den Dnjepr überquerten, die Karpaten überstiegen und sodann die «Volochen und Slowenen» bekriegten. Die «Volochen» seien vertrieben worden, mit den unterworfenen «Slowenen» (Slawen) hätten die Ungarn fortan zusammen gelebt. Auch habe das Land von da an «Ungarn» geheißen. Später hätten die Ungarn gegen die Griechen in Thracien und Macedonien gekämpft, aber auch «на Мораву и на чехи », also in Moravia und in Böhmen [16].

 

Unter den «Volochen» der Nestorchronik sind sicher keine Romanen oder «Proto-Rumänen» zu verstehen, wie von rumänischer Seite behauptet wurde [17], sondern die karolingerzeitlichen (Ost-)Franken, welche ja wirklich von den Ungarn aus dem rechtsdanubischen «Pannonien» vertrieben wurden [18]. Die vorangegangene Unterwerfung der an der Donau lebenden Slawen durch die «Volochen» (welche die Nestorchronik an anderer Stelle mit einer Auswanderung dieser Slawen nach Norden verbindet) [19] ist wohl eine Erinnerung an die Awarenund Slawenkriege Karls des Großen.

 

 

13. Ursprünglich war wohl «pannonisch» gemeint; zur Identifizierung von Pannonien und Ungarn Király 1976.

 

14. Žitije Nauma, Ed. Lavrov 1930, S. 182; dazu Kusseff 1950/51, S. 147/148; Jakobson 1954, S. 59; Grivec 1960, S. 155; Boba 1988c, S. 70.

 

15. II. Žitije Nauma, Ed. Lavrov 1930, S. 184; s.a. Eldarov 1964, S. 136; Király 1976.

 

16. Nestorchronik ad a. 898, Ed. Tschižewskij 1969, S.24/25; dt. Übs. Trautmann 1931, S. 14.

 

17. Zur Problematik der «Proto-Rumänen» im gegebenen Kontext Gyóni 1949.

 

18. Gyóni 1949; Györffy 1965b, S.33.

 

19. Nestorchronik, Ed. Tschižewskij 1969, S.5; dt. Übs. bei Trautmann 1931, S.3.

 

 

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Somit ergibt sich dieselbe Reihenfolge ungarischer Eroberungen, wie sie aus fränkischen Quellen zu erschließen war: zunächst das fränkische Pannonien samt den dort lebenden Slawen, dann erst Moravia, gleichzeitig mit Zügen gegen Böhmen.

 

Dabei ist davon auszugehen, daß die Nestorchronik in ihrer Erzählung einheimische russische Traditionen (erkennbar etwa bei der Nennung des Hügels «Ugorskoje» bei Kiew) vermischt mit byzantinisch-bulgarischer, nach A. Avenari-us auch mit «pannonischer» Überlieferung [20].

 

Mißverstehen einer byzantinischen Quelle bedingte denn auch die von der Nestorchronik vor der eigentlichen ungarischen Landnahme berichtete Einwanderung der «Weißen Ugrier», chronologisch zwischen jener der Bulgaren (680!) und der Awaren (567!) eingereiht; sie sollen ebenfalls die «Volochen» vertrieben haben, und zwar zur Zeit des Kaisers Heraklios (610-641) [21]. Diese Doublette zu den «Schwarzen Ugriern», wie die Ungarn in der Nestorchronik genannt werden, bezieht sich wohl auf die Teilnahme ogurischer Stämme an den Perserkriegen des Heraklios, welche der russische Autor in der byzantinischen Vorlage mißverstand; sie gehört nicht in diesen Kontext.

 

 

4.2.4. Die Überlieferung der hochmittelalterlichen ungarischen Chroniken

 

Berichte über die Eroberung des Karpatenbeckens, die zumindest teilweise auf eine einheimische Tradition zurückgehen, haben sich in Ungarn selbst erst in hochmittelalterlichen Chroniken niedergeschlagen, und zwar in zwei voneinander abweichenden Varianten.

 

Die zeitlich früher anzusetzende Fixierung dieser beiden Überlieferungen befindet sich in den «Gesta Hungarorum» des sog. «anonymen Notars», die nur in einer Handschrift erhalten ist und über deren «Abfassungszeit, Autorschaft und Glaubwürdigkeit... in der ungarischen und südosteuropäischen geschichtlichen Literatur so viel diskutiert wurde wie vielleicht über keine andere erzählende Quelle [1].»

 

Als Ergebnis dieser Diskussion kristallisierte sich heraus, daß als Autor der zwischen 1186 und 1211 als Notar am königlichen Hofe Ungarns wirkende Propst Peter von Altofen anzusehen ist, der sich selbst im «Prolog» der «Gesta» nur als «P. dictus magister ac quondam bene memorie gloriosissimi Bele regis Hungariae notarius» zu erkennen gab.

 

 

20. Avenarius 1974, S.208/209.

 

21. Nestorchronik, Ed. Tschižewskij 1969, S. 10/11; dt. Übs. Trautmann 1931, S.6.

 

1. Györffy 1972, S. 209.

 

 

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Unter dem genannten König ist Bela III. (1172-1196) zu verstehen, die Abfassung der «Gesta» selbst konnte G. Györffy auf die Regierungszeit von dessen Sohn Emmerich (ungarisch Imre, 1196-1205) festlegen [2].

 

Nach dem Bericht des «anonymen Notars» (diese Bezeichnung soll als fest eingebürgert hier beibehalten werden) war das Karpatenbecken bei der Ankunft der Ungarn auf sechs verschiedene Machthaber verteilt.

 

Als der wichtigste unter ihnen erscheint der «dux Salanus», angeblich ein Enkel des Bulgarenherrschers «Keanus magnus» und von den «Gesta» selbst als ein Bulgare apostrophiert. Ihm untersteht das Land zwischen Donau und Theiß sowie die heutige Karpato-Ukraine und Ostslowakei, wo ihn als Lehnsmann der «comes Loborcy» vertritt. Die Residenz des» Salanus» liegt im Ort Titel an der unteren Theiß; seine Untertanen sind «Slawen und Bulgaren» [3].

 

Östlich des von «Salanus» regierten Zentralraumes liegen drei weitere Herrschaften. In Bihar (beim heutigen Arad/Oradea) regiert «Menomorut», Neffe seines Vorgängers, des «dux Morout», als Vasall des byzantinischen Kaisers. Sein Gebiet wird umschrieben durch die Flüsse Maros, Theiß und Samos sowie im Osten durch die «silva Igfon», einen Teil des Siebenbürgener Gebirgslandes. Die «Menomorut» unterstehenden Völkerschaften bezeichnen die «Gesta» als «gentes qui dicuntur Cozar [4].»

 

Südnachbar des «Menomorut» im neuzeitlichen Banat ist ein Fürst «Glad», wie «Salanus» den Bulgaren eng verbunden. In seinem Heer vermelden die «Gesta» außer Bulgaren aber auch «Cumani» und «Blaci», Kumanen und Vlachen (Romanen) [5].

 

In Siebenbürgen («Ultrasilvana») schließlich, dessen Bevölkerung ebenfalls aus Wlachen sowie aus Slawen bestehen soll, treffen die Ungarn auf einen vlachischen Fürsten («quidam Blacus») namens «Gelou»,

 

 

2. So Györffy 1972; dieselbe zeitl. Ansetzung bei Horváth 1969-71; Moravcsik 1969; Ratkos 1983; zur Frage der Identität des «Anonymus» vgl. auch folgende Beiträge in Hor-váth/Szekely 1974: P. Váczy, Anonymus es kora, S. 13-37; G. Karsai, Ki volt Anonymus?, S.39-59; S. Jakab, G. Városi, Až Anonymus-kódex la lapjának optikai és fotográfiai fel-tárása, S.61-79; J. Horváth, Anonymus és a Karsai Kódex, S.81-110; dazu auch G. Silagi, Zum Text der Gesta Hungarorum des anonymen Notars; in: DA 45 (1989), S. 173-180; O. Süpek, L'oeuvre et la personne de ľ Anonymus hongrois; in: EFOu 22 (1989/90), S. 191-214; K. Szovák, Wer war der anonyme Notar? in: Ungarn-Jahrbuch, 19 (1991), S. 1-16.

 

3. Alle Verfasser (bis auf Karsai und Süpek, die später datieren) sind sich über eine Abfassung im frühen 13. Jahrhundert einig.

 

4. Anon. Gesta Hung. 11,12,13,14,16, 30, 33, 38, 39, Ed. Jakubovich/Pais 1937, S.48, 51, 54, 56/57, 71, 75, 80-83.

 

5. Anon. Gesta Hung. 11, 19-22, 28, 50, 51, 52, Ed. Jakubovich/Pais 1937, S.49, 59-64, 70, 101-105. Anon. Gesta Hung. 11, 44, Ed. Jakubovich/Pais 1937, S.49/50, 88-91.

 

 

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dem im Gegensatz zu den bisher aufgeführten Fürsten keine Allianz mit Bulgarien oder Byzanz zugeschrieben wird [6].

 

Den Westteil des Karpatenbeckens haben Vertreter mitteleuropäischer Mächte inné. Nördlich der Donau, zwischen March und Gran, erscheint als Vasall der Böhmen ein «dux Zubur» mit Residenz in Nitra; sein Heer besteht aus «Sclavi et Boemi» [7]. Südlich der Donau, in Transdanubien, herrschen die «Romani»; ihre Region heiße auch «pascua Romanorum», weil die Römer dort nach Attilas Tod ihre Herden geweidet hätten [8].

 

Von Interesse ist weiterhin die chronologische Abfolge der schrittweisen Eroberung des Karpatenbeckens, wie sie der «anonyme Notar» darstellt.

 

In einer ersten Phase nehmen die Ungarn, die zunächst eine Basis bei «Hung» (Užgorod) errichtet haben, sodann den «comes Loborcy» besiegt und getötet haben, den nördlich der Theiß und östlich des Sajö liegenden Teil der Herrschaft des «Salanus» ein.

 

Als zweite Phase folgt die Eroberung des nordöstlichen Teiles von «Menomo-ruts» Besitzungen (in nicht näher definierbarem Unifang) sowie daran anschließend die Eliminierung «Gelous» und die Unterwerfung Siebenbürgens.

 

Dieses Ausgreifen nach Südosten wird in einer dritten Phase gefolgt von einem Vordringen nach Westen: Erst muß «Salanus» weitere Ländereien bis zur Zagyva und zum Matra-Gebirge abtreten, dann werden die Böhmen unter «Zubur» besiegt und die Slowakei bis zur March eingenommen.

 

In einer vierten Phase attackieren die Ungarn die mit Byzantinern und Bulgaren verbündeten Fürsten «Salanus» und «Glad» und besiegen deren vereinigte Heere bei Alpár an der Theiß bzw. bei Gilád an der Temes. Im Anschluß hieran ziehen Expeditionen nach Süden, nach Bulgarien, Serbien, Kroatien wie auch nach «Macedonia» und «Grecia».

 

In der fünften Phase überschreiten die Ungarn die Donau beim «portus Moger» (Pócsmegyer nördlich von Budapest), schlagen die «Romani» bei Veszprém und vertreiben sie aus Pannonien zu den «Theotonici»; sie setzen dabei sogar nach bis zu den «Carinthinorum Moroanensium fines».

 

Mit der sechsten Phase, der endgültigen Bezwingung der Reste von «Menomoruts» Herrschaft um Bihar, findet die Landnahme in der Schilderung des «anonymen Notars» ihren Abschluß.

 

Diese Darstellung differiert zwar nicht unbedingt in der chronologischen Abfolge (wie noch zu zeigen sein wird), wohl aber in der «politischen Geographie» wie auch in der Benennung der den Ungarn entgegentretenden Fürsten von den Darstellungen anderer Quellen —

 

 

6. Anon. Gesta Hung. 24-27, Ed. Jakubovich/Pais 1937, S. 65-69.

 

7. Anon. Gesta Hung. 35-37, Ed. Jakubovich/Pais 1937, S. 76-80.

 

8. Anon. Gesta Hung. 9, 11, 46-48, Ed. Jakubovich/Pais 1937, S.45/46, 48, 94, 97/98.

 

 

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und zwar nicht nur von denjenigen fränkischer oder byzantinischer, sondern auch anderer ungarischer Quellen.

 

Bereits frühzeitig ist nicht nur aus diesem Grunde, sondern auch wegen der zahlreichen deutlich erkennbaren Anachronismen die Brauchbarkeit der «Gesta» als einer Quelle für die ungarische Landnahme in Bausch und Bogen bestritten worden. Andererseits wurde aber der «anonyme Notar» auch noch in neuester Zeit als «Kronzeuge» für bestimmte Teilaspekte der frühmittelalterlichen Geschichte des Karpatenbeckens herangezogen, so etwa für die bereits angeschnittene Frage einer angeblichen Bulgarenherrschaft im östlichen Ungarn [9], zur Bestimmung der Südostgrenze <Großmährens> [10] wie auch zur Abstützung der sehr umstrittenen «dako-rumänischen Kontinuitätslehre».

 

Diese positive Wertung wenigstens von Teilaussagen der «Gesta» wurde häufig damit begründet, daß die komplizierte Struktur dieser Quelle eine differenzierte Betrachtungsweise verlange. Diese Struktur aber erklärt sich aus der Verfahrensweise des «anonymen Notars». Zwar verarbeitete er eine größere Zahl von Vorlagen, jedoch nicht im Stil eines Historikers, sondern in dem eines Dichters; so schuf er ein Exemplar jener «in der westeuropäischen lateinischen Literatur im 12. Jahrhundert in Mode gekommenen romanhaften Gesta, in welchen der Verfasser die ferne Vergangenheit nach seiner eigenen Vorstellung wiederbelebt [11].» Es ist daher wichtig, die verschiedenen älteren Überlieferungsstränge voneinander zu trennen, aber auch von den eigenständigen Zusätzen des «anonymen Notars» zu scheiden, eine Aufgabe, der sich vor allem C. A. Macartney und G. Györffy unterzogen haben.

 

Als.eine der wichtigsten Vorlagen erscheinen die nicht erhaltenen, sondern nur rekonstruierten ungarischen «Ur-Gesta» aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, ein Lieblingskind der ungarischen Quellenkundler. Sie sollen die ungarische Landnahme, angeblich noch auf mündlicher Überlieferung fußend, in knapper, volkssagenhafter Form geschildert haben. (Diese Form erhielt sich übrigens beim «anonymen Notar» wesentlich weniger deutlich als in jener zweiten Gruppe ungarischer Chroniken, die eine andere Tradition beinhalten [12].)

 

 

9. Vgl. Feher 1921, S. 132ff.; Melich 1925; Horedt 1958, S. 123ff.; Moravcsik 1969; T. Halasi-Kun, The Realm of Glad/Gilad, Precursor of Ajtony; in: Turkic-Bulgarian-Hungarian Relations VI-XI cent. (Budapest 1981), S. 113-118.

 

10. So Bulin 1962; Ratkoš 1968h, S.198ff.; Marsina 1984, S.46ff. (mit gewissen Reserven); Havlík 1991, S.112.

 

11. Györffy 1972, S.215; s.a. Ratkoš 1983, S.830ff.; Havlík 1991, S.111.

 

12. Macartney 1951, S.75ff.; Györffy 1965, S.42, 1965b, S.32ff, 1972, S.217; Marsina 1984, S.34, 43.

 

 

328

 

Weiterhin verwendete der «anonyme Notar» die verschiedensten anderen Schriftquellen aus Antike und Frühmittelalter, dazu auch Familientraditionen ungarischer Adelsgeschlechter. Das so erarbeitete Material reicherte er dann mit eigenen Erfindungen, Deutungen und Etymologien an, wobei er für verschiedene Aspekte des historischen Geschehens jeweils eigene Verfahren entwickelte.

 

So haben etwa in Hinsicht auf die Fürsten, welche die Ungarn bei der Landnahme angetroffen haben sollen, E. Moor und G. Györffy nachgewiesen, daß deren Namen zum großen Teil aus ungarischen Ortsnamen der Zeit des «anonymen Notars» abgeleitet worden sind. Sicher konnte dies für «Loborcy», «Glad», «Gelou» und «Zubur» erwiesen werden, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch für «Sala-nus» und «Menumorut». Jedem dieser Personennamen entsprach ein gleich oder ähnlich lautender Ortsname im jeweils zugeordneten Gebiet [13].

 

Dabei ist zu berücksichtigen, daß die mittelalterlichen Ungarn nach nomadischer Sitte die Bildung von Ortsaus Personennamen praktizierten; somit vollzog der «anonyme Notar», der nachweislich große Freude am Etymologisieren hatte, hier nur eine Art von Umkehrschluß.

 

Mit Leben erfüllt wurden diese «abstrakten» Personen, indem ihnen der «Notar» Handlungsschemata aus der frühesten Phase schriftlich fixierter ungarischer Überlieferung unterschob, nämlich aus der Zeit der inneren Kämpfe des ersten christlichen Ungarnkönigs Stephan I. (997-1038) gegen seine rebellierenden heidnischen Widersacher. Dadurch ist es bedingt, daß die Grenzen der angeblich von den Ungarn unter Arpád eroberten Fürstentümer der «Gesta» weitgehend mit den territorialen Gegebenheiten des frühen 11. Jahrhunderts übereinstimmen, wobei zum Teil sogar genealogische Anbindungen versucht werden, wie G. Györffy dargelegt hat [14].

 

In dieses Handlungsmuster wurden jedoch auch Elemente der erwähnten «Ur-Gesta» hineinverwoben; Eigenschaften und Handlungen des dort als einzigen Gegner der Ungarn erscheinenden Fürsten übertrug der «anonyme Notar» vor allem auf seinen «Salanus», aber auch auf «Menomorut», so daß bei ihm die zentrale Handlung der «Ur-Gesta» in zwei Varianten erscheint [15].

 

Von wieder anderen Faktoren bestimmt ist das ethnische Panorama, das der «anonyme Notar» für die Zeit der Landnahme entwickelt, nämlich von den Verhältnissen seiner eigenen Zeit, der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert.

 

 

13. Moor 1929, S. 63ff.; Györffy 1965b, S.30ff. und 1972, S.218ff.; Widersprach bei Macartney 1953, S.77Anm.5.

 

14. Györffy 1965b, S.37ff.; in Ansätzen auch bei Macartney 1940, S.200 und 1953, passim.

 

15. So Macartney 1940, S. 154/155, 160, 165, 199ff., 1953, S.65, 77ff.; Györffy 1965, S.42ff. bzw. 1965b, S.39ff.

 

 

329

 

Am deutlichsten wird dies mit dem angeblichen Eingreifen eines «griechischen Kaisers» an der Seite der Gegner der Ungarn [16]; um 900 war das Byzantinische Reich, auf einen schmalen Küstenstreifen an Ägäis und Adria beschränkt, zu derartigen Aktionen selbstverständlich nicht in der Lage. Ganz anders aber war die Situation nach der byzantinischen Eroberung Bulgariens (1018): Bis 1186 grenzte Byzanz nun entlang der Donau an Ungarn, und es sind während dieser Zeit diplomatische wie missionarische Aktivitäten der Byzantiner, aber auch Kriege mit den Ungarn belegt [17]. Das übrigens auf Besitz eines griechisch-orthodoxen Klosters in Sirmium zurückgehende Toponym «Griechenfurt» («portus Grecorum») an der Theiß bei Alpár bewog offensichtlich den «anonymen Notar» - wie immer etymologisierend -, die Schlacht der Ungarn gegen die Griechen und ihren Verbündeten «Salanus» dort stattfinden zu lassen.

 

Ein tatsächliches Auftreten der Bulgaren gegen die Ungarn im südlichen Karpatenbecken ist zwar angesichts der ungarisch-bulgarischen Kämpfe an der unteren Donau 894/95 theoretisch möglich, mangels paralleler Überlieferung aber nicht beweisbar. In der Zusammenstellung mit Kumanen und Viachen (unter Fürst «Glad») verweist ihre Nennung jedoch eher auf die Entstehungszeit der «Gesta»: Das 1186 vom Geschlecht der Aseniden begründete 2. Bulgarische Reich umfaßte eben diese drei Völkerschaften als Hauptkomponenten, und Ungarn führte zu Beginn des 13. Jahrhunderts gegen dieses 2. Bulgarenreich mehrere Kriege [18].

 

Die Kumanen erschienen zudem erst um die Mitte des 11. Jahrhunderts im Gesichtskreis der Ungarn. Zwar hat man die Kumanen des «anonymen Notars» als historisch zu retten versucht, indem man den Namen in der Form «Cuni» als einen «generic term» der Ungarn für Turkvölker im allgemeinen erklärte [19]. Doch ist hier ein Zurückgreifen des «anonymen Notars» auf den «Völkerfundus» seiner eigenen Zeit ebenso die wahrscheinlichere Lösung wie im Falle der «Wlachen/Walachen» [20], welche die rumänische Forschung häufig als «Proto-Rumänen» ausgeben und als «Beweis» für die Priorität rumänischer Siedlung in Siebenbürgen und im Banat verwenden möchte.

 

 

16. Anon. Gesta Hung. 38, 39, Ed. Jakubovich/Pais 1937, S. 80-83.

 

17. Dazu z.B. A. B. Urbansky, Byzantium and the Danube Frontier (New York 1968); F. Makk, Relations hungaro-byzantines à l'époque de Béla III.; in: Acta Hist., 31 (1985), S.3-32; Makk 1989.

 

18. Vgl. J. Schmitt, Die Balkanpolitik der Arpaden in den Jahren 1180-1241; in: UJb 17 (1989), S. 25-52.

 

19. So Macartney 1940, S.140 mit Anm.88. Zu ungar. «Kun» s.a. Göckenjahn 1972, S.37; Kristóetal. 1973, S. 22.

 

20. Györffy 1965 b, S. 45 ff.

 

 

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Die «Römer» hingegen, die laut «Anonymus» in Pannonien geherrscht haben sollen, sind nicht aus der Völkerkonstellation des 12./13. Jahrhunderts entliehen, sondern den antiken Quellen der «Gesta», die auch zur Schilderung von Attilas Herrschaft beim «anonymen Notar» Verwendung fanden. Sie sind also ein Anachronismus selbst innerhalb des sonst vom Notar konsequent angewendeten ethnographischen Systems und haben nichts mit «Proto-Rumänen» (oder Franken) zu tun [21].

 

Die «Gesta» scheiden sie nämlich eindeutig von den «Theotonici», welchen sie an der Lafnitz («Loponsu») benachbart sind; doch auch diese sind die Repräsentanten des hochmittelalterlichen Deutschen Reiches, keine im ungarischen Volk erhaltene «Erinnerung» an die Ostfranken.

 

Die Chazaren («Cozar») schließlich, welche die Ungarn nach Angaben des «anonymen Notars» im Gebiet des «Menomorut» angetroffen haben sollen, sind erst mit den Ungarn selbst ins Land gekommen [22].

 

Besonders überraschen muß aber das Schweigen der «Gesta» über die Moravlja-nen, welche doch in den Quellen des 9. und 10. Jahrhunderts als wichtige, wenn nicht als Hauptgegner der Ungarn aufscheinen. Beim «anonymen Notar» begegnen sie nur in einer bei Regino von Prüm entlehnten, noch dazu mißverstandenen Passage: Aus den «Carantanorum, Marahensium et Vulgarum fines» seiner Vorlage machte der Notar «Kärntner der Meergegend» («Carinthinorum Moroanensium fines») [23].

 

Somit verbleibt als einzig wirklich brauchbare Information neben Einzelheiten zur Genealogie des ungarischen Adels, die hier nicht weiter zu interessieren brauchen, die vom «anonymen Notar» geschilderte Phasenabfolge der ungarischen Eroberung, die möglicherweise auf Lokaltraditionen und Überlieferungen der Adelsgeschlechter beruhte und sich weitgehend mit den aus anderen Quellen gewonnenen Erkenntnissen deckt: Auf die Etablierung im Räume der oberen Theiß (Phase 1) folgt zunächst ein Ausgreifen nach Südosten und die Eroberung Siebenbürgens (Phase 2), sodann ein Vorstoß nach Westen bis an die Grenze zwischen den heutigen Ländern Mähren und Slowakei (Phase 3); bei der Beschreibung dieser ersten Ungarnzüge fällt auf, daß das vom bereits besprochenen Wallsystem umschlossene Gebiet der Großen Ungarischen Tiefebene weitgehend ausgespart bleibt und nur die im Norden und Osten dieser Walllinie liegenden Regionen von den Ungarn okkupiert werden.

 

 

21. Dazu Hóman 1925, S. 48; Schünemann 1926; Deér 1931, S. 11 ff.; Macartney 1940, S. 156, 160ff.; Zimmermann 1954, S.26; Györffy 1965b, S.31 ff.; Horváth 1969, S.39ff.; Ratkoš 1983, S. 856/857.

 

22. Vgl. Györffy 1965 b, S.40, 43.

 

23. Anon. Gesta Hung. 50, Ed. Jakubovich/Pais 1937, S. 100 mit Anm.5; vgl. dazu Reginon. Chron. ad a. 889, Ed. Kurze 1890, S.132; s.a. Hóman 1925b und Györffy 1965b, S.27, 1972, S.212; nach Boba 1982 belege die Passage engste Kontakte zwischen Karantanien und Moravia!

 

 

331

 

Erst die 4. Phase bringt den Angriff auf das historische Kerngebiet der Moravljanen, die 5. Phase hingegen die auch in den zeitgenössischen fränkischen Quellen belegte (und inhaltlich teilweise von dort übernommene) Wendung gegen das Ostfrankenreich. Mit der zeitlich erst an diese Besetzung von «Pannonien» (die aus fränkischen Quellen auf ca. 903 datiert werden kann) anschließende Niederwerfung des «Menumorut», der aus den «Ur-Gesta» übernommenen und modifizierten Symbolfigur der Moravljanen [24], endet diese erste Variante ungarischer chronistischer Überlieferung zur Landnahme.

 

 

Wichtigster und ältester Vertreter der zweiten Variante ist der Magister Simon von Kéza, welcher zwischen 1282 und 1285 eine ebenfalls «Gesta Hungarorum» betitelte Chronik abfaßte, die nur in zwei Abschriften des 18. Jahrhunderts erhalten ist, während die Originalhandschrift mittlerweile spurlos verschwand. Einige der von Kéza benutzten Vorlagen ähneln oder sind sogar identisch mit dem vom «anonymen Notar» verwendeten Material. Hierbei ist in erster Linie an die «Ur-Gesta» zu erinnern, und zwar mit Fortsetzungen bis zum letzten Viertel des 13. Jahrhunderts, die einem gewissen Magister Akos, Propst von Buda, zuzuschreiben sind. Während also der zweite und größere Teil, die eigentliche «Ungarn-Chronik», im wesentlichen aus zeitgenössischen Chroniken übernommen wurde, ist das erste Buch der «Gesta», die sog. «Hunnen-Chronik», wohl Kézas eigenes Werk (bzw. seine eigene Kompilation) [25].

 

Kéza sah nämlich in den Ungarn direkte Nachfahren der Hunnen und in der ungarischen Landnahme nur eine Rückkehr der eigentlich eigentumsberechtigten hunnischen Herren «Pannoniens». Die dazwischenliegende Periode awarischer Herrschaft entfällt bei ihm ganz, die gepidisch-gotische Herrschaftsbildung im 5./6. Jahrhundert und die der Moravljanen im 9. Jahrhundert verschmelzen zu einem Vorgang.

 

 

24. Den z.B. auch bei Simon de Kéza - siehe unten - überlieferten «Morot» erweiterte der «anonyme Notar» in «Menumorut» und interpretierte dies selbst als «Hengst der Marót» (ung. «mén» = «Hengst») mit der Erklärung «quod plures habebat arnicas» (Ed. Jakubo vich/Pais 1937, S.49 mit Anm.4); vgl. auch Boba 1987b, S.714.

 

25. Zu Kéza vgl. A. Domanovszky, Kézai Simon mester krónikája (Budapest 1906); J. Gerics, Adalékok a Kézai Kronika problémáinak megoldásához; in: Ann. Univ. Scient, de L. Eötvös nom., sectio historica, 1 (1957), S. 106-134; J. Horváth, A hun torténet es szerzöje; in: Irodalomtorténeti kozlemények, 67 (1963), S. 446-476; J. Szucs, Kézai-problémák; in: Horváth/Székely 1974, S.187-211; s.a. Macartney 1951, S.73ff.; Györffy 1965b, S.32; Dercsényi 1968, 2, S.71/72; Szücs 1981, S.285/286, 293; Marsina 1984, S.36/37.

 

 

332

 

So fällt denn der Bericht über die ungarische Landnahme bei Kéza zum Teil noch unter das erste Buch, die «Hunnengeschichte» («Hunorum Gesta»), zum Teil unter das zweite Buch über die «Rückkehr» («Liber de reditu»), was Wiederholungen und chronologische Ungereimtheiten bedingt.

 

Nach Simon de Kéza [26] stießen die Ungarn im Karpatenbecken nur auf einen Herrscher namens «Zwataplug», in welchem unschwer der historische Sventopulk zu erkennen ist; nach Kéza ist er Sohn des «Morot», des «Heros eponymos» der Moravljanen [27]. Er hatte in Pannonien die Herrschaft übernommen, nachdem dieses im Anschluß an die große Hunnenschlacht, dem «praelium Crunhelt» in Kézas «Gesta», zehn Jahre lang ohne König war. Slawen, Griechen, Deutsche, «Moesier» und Walachen, die nach Pannonien eingeströmt waren und unter Attila Dienst geleistet hatten, waren dort verblieben und standen nun unter dem Befehl «Zwata-plugs». Doch war dieser selbst nicht aus Pannonien gebürtig; Kéza charakterisiert ihn folgendermaßen:

 

«...princeps quidam in Polonia, qui Bracta subiugando Bulgaris Messianisque imperabat, incipit similiter post Hunnorum exterminium dominari [28].»

 

Setzte man hier statt «Polonia» ein (graphisch sehr naheliegendes!) «Bosonia» und dächte an eine Verschreibung [29], so erhielte man eine korrekte Herkunftsangabe Sventopulks; die Bedeutung von «Bracta», das vielleicht für eine Person, vielleicht aber auch für ein Land steht [30], ist nicht mehr auszumachen.

 

Wichtig erscheint es, daß «Zwataplug» nicht nur über «Pannonien», also das Kernland des Ungarischen Reiches im Hochmittelalter, gebietet, sondern auch mit Bulgaren und den «Moesiern» in Verbindung gebracht wird; unter letzteren wird man wohl Serben und Bosnier zu verstehen haben [31].

 

Daß in der ungarischen Überlieferung des 13. Jahrhunderts über den Namen des gegnerischen Fürsten zwei Versionen in Umlauf waren, macht Kéza mit folgender Bemerkung deutlich:

 

 

26. Simon de Kéza, Gesta 23, Ed. Domanovszky 1937, S. 163/164.

 

27. Diese Namensform soll nach Györffy 1965, S.44 eine «literarische Übernahme des 13. Jahrhunderts» anstelle echter Überlieferung beweisen; vgl. Marsina 1984, S.49; Váczy 1990/91,8.252.

 

28. Simon de Kéza, Gesta 23, Ed. Domanovszky 1937, S. 163/164.

 

29. Havlík 1961, S. 40 ff. denkt hier an eine «Erinnerung» an die Herrschaft Sventopulks über die südpolnischen Wislanen, Macartney 1951, S. 128 an eine Verschreibung aus «Pannonia».

 

30. So Györffy 1965, S. 44 («Baktrien», hereingenommen aus den Alexander-Romanen); Ma cartney 1951, S. 146 Anm.3 vermutet eine Verschreibung, z.B. aus «tractando» oder «practicando».

 

31. Zum Problem Macartney 1953, S.77 Anm. 1; Havlík 1961, S.38; Györffy 1965, S.44; Dercsényi 1968, 2, S. 171 Anm.136; Marsina 1984, S.50; Boba 1987b und 1988; vgl. auch Exkurs 1.

 

 

333

 

Tradunt quidam, quod Hungari Morot, non Zvataplug in secundo eorum reditu in Pannonia reperissent prindpantem. Hoc idcirco esse habetur, quia Morot eins nomine maior erat, sed confectus senio repausabat in Castro, quod Bezprem nominatur. Audito infortunio, quodfilio acciderat, morte subita ob dolorem finivit vitam suam. Filius vero in dominando novus erar [32].

 

Die zitierte Passage zeigt, daß die Identität des Fürsten Moravias, vielleicht schon zur Zeit der Landnahme, wegen der Gleichnamigkit Sventopulks mit seinem jüngeren Sohn, aber wohl auch wegen der recht ähnlichen Lautgestalt von «Morot» mit dem Namen des anderen Sohnes, Moimir (II.), Anlaß zur Verwirrung gab [33].

 

Die Schilderung der entscheidenden Konfrontation der Ungarn mit «Zwataplug» fällt bei Kéza viel kürzer aus als in der romanhaften Darstellung des «anonymen Notars». Gerade sie hält C. A. Macartney für eine der beiden Stellen des ersten Buches von Kézas «Gesta», die «genuine Magyar tradition» wiedergeben [34]. Laut Kéza lassen sich die Ungarn nach Überschreitung der Karpaten im Jahre 872 (!) am Flusse «Hung» nieder, nach welchem sie angeblich von den «westlichen» Völkern ihren Namen erhalten haben [35]. Dort errichten sie sieben Burgen (möglicherweise eine Anspielung auf den Namen Siebenbürgens), verweilen einige Zeit und schik-ken Kundschafter aus.

 

Diese kommen zu dem Schluß, daß man dem Heere «Zwataplugs» überlegen sei, woraufhin die Ungarn ihre Gegner «prope fluvium Racus iuxta Banhida, in quo-dam oppido, cuius interrupta adhuc eminent», vernichten; «Zwataplug» kommt dabei um [36]. (Vgl. Karte 21)

 

Der angegebene Schlachtort Banhida liegt südlich der Donau; da die Ungarn vom Fluß «Hung», also von Nordosten kamen, müßte eine vorherige Überschreitung der Donau angenommen werden. Tatsächlich trägt Kéza später eine entsprechende Information nach: Die Ungarn hätten den Fluß bei Budapest und weiter nordwestlich bei Szob überschritten und dort ein «castrum» erobert, in dem sich Teile von «Zwataplugs» Heer verschanzt hatten; bei dieser Gelegenheit soll auch «Zwataplugs» Vater «Morot» umgekommen sein [37]. Hier wird offenbar eine Etymologie für den Ortsnamen Pilismarót versucht, der ja die ungarische Form des Namens der Moravljanen, «Marót», enthält;

 

 

32. Simon de Kéza, Gesta 23, Ed. Domanovszky 1937, S. 164.

 

33. Zu diesem Problem s. Macartney 1951, S. 177/178; Györffy 1965, S. 44; MMFH 4 (1971), S. 399; Marsina 1984, S.48; Boba 1987b, S. 711 ff.; Váczy 1990/91, S.252.

 

34. Macartney 1951, S. 171, 173.

 

35. Diese Episode sowohl in Kap.23 wie 25 der «Gesta» Kézas (Ed. Domanovszky 1937, S. 163, 165), die Jahresangabe nur in 25 (S. 164).

 

36. Diese Schlacht nur bei Simon de Kéza, Gesta 23, Ed. Domanovszky 1937, S. 163/164.

 

37. Simon de Kéza, Gesta 26, Ed. Domanovszky 1937, S. 165.

 

 

334

 

bei Pilismarót liegt übrigens das römische «Castrum ad Herculem», das das bei Kéza genannte «castrum» sein könnte [38].

 

Allerdings läßt Kéza die Donauüberschreitung der Ungarn erst zeitlich nach dem Tode «Zwataplugs» erfolgen, so daß man, um innere Konsequenz zu erreichen, als Ort der ersten Schlacht nicht Bánhida, sondern den «fluvius Racus» als korrekte Angabe zu betrachten hat [39]. Der Bach Rákospatak mündet nördlich von Pest und knapp südlich des großen Wallsystems als linker Zufluß in die Donau; die anschließende Donauüberschreitung bei Pest und Szob wäre also die logische Fortsetzung eines von Nordosten kommenden Feldzuges der Ungarn. Außerdem findet sich am Rákos in Form des Römerkastells «Contra Aquincum» die von Kéza angesprochene Ruine eines «oppidum», nicht jedoch bei Bánhida. So möchte man vermuten, daß die Traditionen über zwei Gefechte mit den Moravljanen, eines am Rákos, ein anderes bei Bánhida, von Kéza (oder bereits von einer seiner Vorlagen) vermengt wurden [40].

 

Auf den Untergang «Zwataplugs» und «Morots» läßt Simon de Kéza eine Beschreibung der ersten Ansiedlung der Ungarn folgen; diese hatten sich, wie er berichtet, in sieben «exercitus» oder Heerhaufen geteilt, was vielleicht der Gliederung der Ungarn in sieben Stämme entspricht. Arpád, der Führer, residierte zuerst am Fluß «Hung» (in der Karpato-Ukraine), nach Überschreitung der Donau in «Alba» (Székesfehervar/Stuhlweißenburg). Die sechs übrigen «Heere» schlugen ihre Lager in Csákvár, in Siebenbürgen, am Fluß Sajö, im Gebiet von Nyir, bei Galgoc/Hlohovec und in Zalavár am Plattensee auf [41]. Im Zuge dieser Quartierverteilung wurden die «Messiani» und «Boemi» aus Nitra verjagt, «Moravia» und «Boemia» im Anschluß daran geplündert und der dortige Herzog «Waratizlaus» im Kampf erschlagen [42].

 

An diesem Teil der Chronik Kézas ist bemerkenswert, daß die sieben Heerlager der Ungarn zwar in Pannonien = Westungarn (drei), in der Slowakei (zwei), in Nordostungarn und in Siebenbürgen (je eines) liegen, jedoch das vom Wallsystem umgrenzte Gebiet Moravias aussparen. Sollte es sich hier um den Zustand kurz vor der Eroberung Moravias, aber nach der Besetzung Pannoniens handeln?

 

Weiterhin verdient es Aufmerksamkeit, daß Kéza nicht nur Mähren (= «Moravia» im Sprachgebrauch seiner Zeit!) [43], sondern auch Nitra zu Böhmen und zum Machtbereich des dortigen Herzogs Vratislav rechnet, sie also in keiner Weise mit «Zwataplug» und den durch «Morot» verkörperten Moravljanen verbindet [44].

 

 

38. Vgl. Mócsy 1974, Fig. 59; Soproni 1978, Karte Tafel 92.

 

39. Gekennzeichnet durch die Worte «Tandemque Zvatapolug interfecto» zu Beginn des 26. Kapitels.

 

40. Macartney 1951, S.177.

 

41. Simon de Kéza, Gesta 27-33, Ed. Domanovszky 1937, S. 165-167.

 

42. Simon de Kéza, Gesta 32, 34, Ed. Domanovszky 1937, S. 166/167.

 

43. Die notwendige Unterscheidung zwischen «Moravia» = Mähren und «Messiani» = süd slawische Gefolgsleute Sventopulks wird z.B. von Marsina 1984, S.49 nicht getroffen; vgl. zu dieser Frage auch Boba 1987b, S.717ff. und 1988!

 

 

335

 

Auch wird Kézas «Moravia» = Mähren, im Gegensatz zum Reich des «Zwata-plug»/Sventopulk, nicht von den Ungarn erobert (sondern nur geplündert).

 

An diesen Teil der Darstellung schließt Simon de Kéza aus fränkischen Annalen, überwiegend aus Reginos Chronik, kompilierte Nachrichten über die Feldzüge der Ungarn gegen Italien und das Ostfrankenreich, aber auch die aus unbekannter Quelle stammende Erwähnung eines Zuges gegen Bulgarien, womit die Geschichte der Landnahme übergeht in die der ungarischen Beutezüge bis 955.

 

 

In teils gleicher, teils nur ähnlicher Form wie die «Gesta» des Simon de Kéza berichten über die Landnahme zwei Gruppen von Quellen, deren bekannteste Vertreter das «Chronicon Pictum Vindobonense» («Wiener Bilderchronik») von 1358 und das 1473 im Druck erschienene «Chronicon Budense» sind; es gibt eine Vielzahl weiterer Handschriften und Drucke.

 

Diese Quellen verwenden für die ungarische Geschichte bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts fast dasselbe Material wie Kézas «Gesta» und sind gleichartig aufgebaut; im hier interessierenden Teil griffen sie ebenfalls auf die sog. «Ur-Gesta» zurück, benutzten aber auch eine Reihe von Fortsetzungen, die bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden [45].

 

In diesen Quellen, die gemeinsam unter dem Titel «Chronici Hungarici compo-sitio saeculi XIV» veröffentlicht wurden, tritt gleichfalls ein «Zuatapolug», Sohn des «Morot» auf, beide in verschiedenen Schreibvarianten. Wahrend die Gruppe um die Wiener Bilderchronik ihn mit denselben Völkern assoziiert wie Kéza, weiß die andere Quellengruppe nur von seiner Herrschaft über «Pannonien». Der Ort der Niederlage «Zuatapolugs» gegen die Ungarn ist bei allen Vertretern beider Gruppen derselbe, «circa pontem Bani iuxta Tatam», wie es hier heißt [46]. Die alternative Tradition einer Herrschaft des «Morot» statt des «Zuatapolug» erscheint wiederum nur in der Gruppe um die Wiener Bilderchronik, auch hier in Veszprém angesiedelt [47]. Den «reditus», die «Wiederkehr» der Ungarn datiert die Gruppe um das «Chronicon Budense» nach Regino von Prüm (889) auf 888, die Gruppe um die Wiener Bilderchronik auf 677 (!) [48].

 

 

44. Eine damals bereits vollzogene Vereinigung Mährens mit Böhmen folgert daraus Herr mann 1965, S. 192; s.a. Boba 1987b, S.720ff.

 

45. Dazu Macartney 1953, S. 89/90; die Aufsätze von D. Dercsényi, K. Csapodi-Gárdonyi und F. Hervay in Dercsényi 1968, 2; Marsina 1984, S.37ff.; zur Bilderchronik s. E. Mályusz, A Képes Kronika kiadásai; in: Horváth/Székely 1974, S. 167-186; zum Gesamt komplex G. Kristó, Anjoukori krónikáink; in: Századok, 101 (1967), S. 457-504.

 

46. Chron. hung. comp. saec. XIV 23, Ed. Domanovszky 1937, S.280/281.

 

47. Chron. hung. comp. saec. XIV 23 (nur Version V), Ed. Domanovszky 1937, S.282.

 

 

336

 

Schließlich änderten beide Chronikgruppen den Ort der ersten Ansiedlung der Ungarn im Karpatenbecken aus Kézas Fluß «Hung» in «Erdeelu» u. ä. (Siebenbürgen, ung. Erdélyi) [49]. Diese Abweichung von Kéza ist nach C. A. Macartney auf ein Mißverstehen der dort genannten «sieben Burgen» als eben dieser Landschaftsbezeichnung zurückzuführen [50].

 

Ein auf Sagentradition hinweisender Zusatz ist auch der in die zweite «Zuatapolug»-Episode eingebaute Zusatz, welcher von der Fahrt des «Kusid», Sohn des «Kund», als Botschafter Arpáds zu «Zuatapolug» berichtet: «Kusid» habe aus «Zuatapolugs» Reich eine Flasche Donauwasser, etwas Gras und etwas schwarze Erde als Probe mitgenommen. Als Gegenleistung für diese Gaben (wobei deren Menge nun absichtlich offen gelassen wird) hätten die Ungarn «Zuatapolug» ein prächtig gesatteltes und aufgezäumtes weißes Pferd geschenkt. Unter Berufung nicht nur auf das von den Hunnen ererbte Recht (wie bei Kéza), sondern auch auf diese symbolische Gabe fordern sie sodann die Herrschaft über ganz «Pannonien», worüber der Krieg gegen «Zuatapolug» entbrennt [51]. (Auch beim «anonymen Notar» findet sich das Motiv dieser Sage, dort allerdings auf «Salanus» bezogen [52].)

 

Häufig wird dieses Sagenmotiv als der Versuch einer Rechtfertigung des ungarischen Landanspruches im Karpatenbecken gedeutet, teilweise auch als (historischer) Anspruch auf eine Kompensation für tatsächlich geleistete militärische Hilfe an Sventopulk in Form eines Reiterheeres - daher das Motiv des weißen Pferdes [53]. Anders als bei Kéza wird in dieser zweiten «Zuatapolug»-Episode keine weitere konkrete Aussage zur Lage des Schlachtortes gemacht, sondern dieser nur ganz allgemein «prope Danubium... in campo pulcherrimo» angesetzt und hinzugefügt, daß «Zuatapolug» auf der Flucht in der Donau ertrunken sei [54].

 

Von Bedeutung für die Frage, wo diese ungarische (Volks-?)Überlieferung Residenz und Reich des «Zuatapolug» annahm, ist die Wortwahl der Chroniken: «Cum ergo Kusid venisset in medium Ungariae et circa partes Danubii descendisse!... venit ad ducem provinciae... vocatum Zuatapolug» [55] Sie versetzen also Sventopulk in den zentralen Teil des mittelalterlichen Ungarischen Reiches, in die Große Tiefebene.

 

 

48. Chron. hung. comp. saec. XIV 26, Ed. Domanovszky 1937, S.285/286.

 

49. Chron. hung. comp. saec. XIV 23, 26, 28, Ed. Domanovszky 1937, S.281, 286, 287.

 

50. Macartney 1940, S.38ff., 1953, S. 120/121.

 

51. Chron. hung. comp. saec. XIV 28, Ed. Domanovszky 1937, S.288.

 

52. Anon. Gesta Hung. 16, 38, Ed. Jakubovich/Pais 1937, S.56/57, 80/81; s.a. Macartney 1940, S. 55.

 

53. Macartney 1953, S.5; Vajay 1968, S.20 mit Anm.36; Györffy 1975, S. 16; Marsina 1984, S.49; Boba 1987b, S.711.

 

54. Chron. hung. comp. saec. XIV, Ed. Domanovszky 1937, S.289.

 

55. Chron. hung. comp. saec. XIV, Ed. Domanovszky 1937, S.288.

 

 

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Keine Rede ist von Mähren, gegen das die Ungarn nach Aussage dieser Chroniken erst sieben Jahre nach dem Sieg über «Zuatapolug» ziehen, das aber, wie bei Kéza, nur geplündert und nicht erobert wird. Zudem steht es, wie das gleichfalls Kéza berichtet, auch hier unter der Herrschaft des böhmischen Herzogs namens «Vratizlaus» [56].

 

 

4.2.5. Siedlungsund Machtbereich der Ungarn nach Abschluß der Landnahme

 

Es ist von der Forschung immer wieder betont worden, daß es nahezu unmöglich sei, das älteste von den Ungarn eingenommene Gebiet sicher zu bestimmen. In dieser Frage ist deutlich zu scheiden zwischen den eigentlich «ungarisch» zu nennenden Ländern, ihrem Siedlungsgebiet, und den von ihnen im 10. Jahrhundert direkt beherrschten Gebieten, also dem Ungarischen Reich. Während ersteres auch mit den Mitteln der Archäologie und Ortsnamenkunde zu bestimmen ist, lassen sich politische Grenzen in den allermeisten Fällen nur aus schriftlichen Quellen deduzieren. Im Falle des frühen Ungarischen Reiches steht nur eine einzige derartige zeitgenössische Quelle zur Verfügung - da die hochmittelalterlichen ungarischen «Gesta» aus den bereits genannten Gründen ausscheiden -, nämlich das «De Administrando Imperio». In diesem Werk gilt als Südgrenze Ungarns um 950 zunächst die Donau [1], dann die Save; die Westgrenze wird implizit mit jener der antiken Provinz Pannonien gleichgesetzt [2]. Da als Nordund Ostnachbarn die «Weißkroaten» und Petschenegen genannt sind [3], wird in diesem Abschnitt der Gebirgskamm der Karpaten als Grenze des Ungarischen Reiches angenommen.

 

Doch herrscht über den so skizzierten Grenzverlauf durchaus kein Konsens. So hat etwa P. Ratkoš die Ansicht vertreten, das später slowakische Gebirgsland sei nur im Süden ungarisch geworden, teilweise aber unabhängig geblieben; von 955 bis 996 sei es in seiner Gesamtheit unter die Herrschaft der Přemysliden geraten, dann 997 (nördlicher Teil) bzw. 1004 (südlicher Teil) polnisch geworden und erst im 11. Jahrhundert, diesmal zur Gänze, wieder in ungarische Hände gekommen [4]. Für eine böhmische Okkupation der Slowakei liegen jedoch keinerlei Quellenbelege vor, im Falle der Polen sind sie zumindest nicht eindeutig.

 

 

56. Chron. hung. comp. saec. XIV, Ed. Domanovszky 1937, S. 304.

 

1. Konst. Porph. DAI 40, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 176/177.

 

2. Konst. Porph. DAI 42, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 182/183.

 

3. Konst. Porph. DAI 13, 40, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S.64/65, 178/179; s.a. zu den «Weißkroaten» Evans 1989, S. 69 ff.

 

4. Ratkoš 1965, S.7ff. und Karte 5.18; Ruttkay 1990, 1991.

 

 

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Ebenso ist der Zeitpunkt der ungarischen Inbesitznahme Siebenbürgens zwischen ungarischen und rumänischen Forschern heftig umstritten, da die schriftlichen Quellen hier völlig versagen. Während man rumänischerseits eine «autochthone», «dakoromanische» bzw. eine petschenegische Herrschaft bis ins späte 10. oder frühe 11. Jahrhundert annimmt, gehen ungarische Historiker von einer Eroberung noch in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts aus. Mittlerweile zeichnet sich ein nur mit archäologischen Mitteln erzielter Kompromiß ab: Eine eindeutig datierbare, den frühen Ungarn zuzuweisende Reihe von Befestigungen, die sog. «gebrannten Schanzen», trennt das bereits frühzeitig ungarisch gewordene obere Ma-rostal von dem erst später okkupierten südlichen Siebenbürgen, das wohl als dünn besiedelte «Pufferzone» diente [5].

 

Im Südwesten erschloß G. Györffy aus den Angaben des «De Administrando Imperio», daß die Region von Zagreb und Siscia um die Mitte des 10. Jahrhunderts schon fest in ungarischer Hand gewesen sei [6]. Während aber die ungarische Forschung den Zeitpunkt der Eroberung «Slawoniens» möglichst früh (etwa gleich im Zuge der Landnahme) ansetzt, plädieren kroatische Historiker für einen relativ späten Zeitpunkt, F. Dvornik sogar für die Weiterexistenz eines imaginären «Pannonisch-Kroatien» im 10. Jahrhundert [7].

 

Wahrend die bislang genannten Fälle nur für eine Auswertung des archäologischen Materials von Interesse sein können, ist die Situation im Nordwesten auch für sich genommen wichtig für die Thesen vorliegender Arbeit. Es wurde nämlich wiederholt die Behauptung aufgestellt, Mähren sei im 10. Jahrhundert erobertes Gebiet, «Protektorat» oder «Einflußgebiet» der Ungarn gewesen; wegen ihrer Bedeutung für die Lokalisierung Moravias wie auch für die Geschichte böhmisch-mährischer Beziehungen wird diese Frage eigens betrachtet werden.

 

Ungarische Herrschaft nach 907 wird aber auch für den südlich anschließenden niederösterreichischen Donauabschnitt vermutet. Die «Ungarngrenze» soll zunächst an der Enns (wo bereits 900 die Ennsburg errichtet wurde) gelegen haben, nach der Schlacht auf dem Lechfeld 955 allmählich westlich bis zum Wienerwald vorgeschoben worden sein; schließlich sei nach dem Sieg des bairischen Herzogs Heinrich II. über die Ungarn 991 auch das Wiener Becken zurückgewonnen worden [8].

 

Anhand von Ortsnamen (etwa «Ungerndorf») hat H. Mitscha-Märheim eine ungarische Grenzschutzorganisation in Niederösterreich erweisen wollen, während G. Györffy auf den im mährisch-österreichischen Grenzgebiet erscheinenden Ortsnamen «Lauentenburch» aufmerksam machte, der auf Arpáds ältesten Sohn Levente zurückgehen soll [9].

 

 

5. László 1975b, S.205/206; Horedt 1986, S.158ff.

 

6. Györffy 1971, S.297ff.

 

7. So F. Dvornik in DAI Comm. (1962), S. 128 ff.

 

8. Vgl. Büttner 1956, S.442; Mitscha-Märheim 1958, S.34ff.; Ratz 1966, S.447/448; Vajay 1970, S.13; Huber 1972, S.99; Vékony 1979, S.307; Wolfram 1980b, S.27; Györffy 1991, S. 46 ff.

 

 

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Andererseits stellte H. Göckenjahn fest, daß «weder Ortsnamen noch Quellenzeugnisse» für eine ungarische Herrschaft auch nur im Marchfeld oder Wiener Becken sprächen [10]. Gegen ein dauerndes ungarisches Vordringen bis zur Enns ab 907 spricht jedenfalls der Umstand, daß der Freisinger Bischof Drakulf 928 im Donaustrudel von Grein, ca. 30km flußabwärts der Mündung der Enns, ertrank, also in angeblich ungarischem Gebiet [11]. Für den Raum zwischen Enns und Wienerwald ist eher mit einer «Zwischenstellung» zu rechnen. Dabei ist weniger von dem Modell auszugehen, daß bairische Gaugrafen unter ungarischer Hoheit weiter amtierten, eine Vorstellung, die von der Stellung des Markgrafen Rüdiger von Bechelaren gegenüber König Etzel im Nibelungenlied inspiriert wurde [12].

 

Vielmehr wiederholte sich wohl die Situation, welche vor den Awarenkriegen Karls des Großen bestanden hatte. Im Westen stellte die Enns den bairischen «limes certus» dar, im Osten der Wienerwald das ungarische Pendant, wobei ungarische Grenzwachen offenbar bis zum Traisen vorgeschoben waren. Dazwischen lag ein herrschaftsfreier, aber keineswegs siedlungsleerer, sondern weiterhin von Baiern und Slawen dünn besiedelter Raum, wie die Fortdauer karolingerzeitlicher Topo-nyme erweist [13]. (Vgl. Karte 22)

 

Niederösterreich war also ein Teil jenes Grenzschutzsystems der Ungarn (ungarisch «gyepü»), das H. Göckenjahn folgendermaßen beschreibt: «Da sie die mitunter bereits vorhandene Grenzwildnis ihren Befestigungswerken anpaßten, erhielten sie eine zweifache Grenze, eine innere, die aus Verhauen und Verschanzungen, dem eigentlichen «gyepü» bestand, und eine äußere, die sich als spärlich besiedeltes und absichtlich öde gehaltenes Niemandsland jenseits der «gyepü»-Anlagen ausbreitete. Dieser Grenzsaum... umfaßte ursprünglich im Westen große Teile der Komitate Zala, Vas/Eisenburg, Sopron/Ödenburg, im Norden und Osten den gesamten Karpatensaum einschließlich Siebenbürgens und im Süden Teile Slawoniens und Sirmiens [14].» Dieses «gyepü»-System ist also zu berücksichtigen, wenn das archäologisch und ortsnamenkundlich erschlossene Siedlungsgebiet der Ungarn im 10. und 11. Jahrhundert erheblich kleiner ausfällt als das für den gleichen Zeitraum angenommene ungarische Reichsgebiet.

 

 

9. Mitscha-Märheim 1958, S.34/35; Györffy 1978, S. 134/135.

 

10. Göckenjahn 1972, S. 44.

 

11. Vgl. J. A. Fischer, Bischof Dracholf von Freising (907-926); in: Ztschr. für bayer. Kirchen-gesch,30(1962), S.1-32.

 

12. So Zibermayr 1956, S.369ff.; ähnlich Vajay 1968, S.45; Csendes 1991, S. 100.

 

13. Vgl. Wiesinger 1985.

 

14. Göckenjahn 1972, S.9/10; s.a. Vékony 1979, S.307/308 (mit z.T. abweichenden Ansichten) sowie Csendes 1991, S. 100.

 

 

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I. Kniezsa hat erstmals den Versuch unternommen, die ältesten Siedlungsgebiete der Ungarn anhand einer fachübergreifenden Methode festzustellen [15]; bei ihm überwog allerdings noch die toponomastische Komponente, während die Archäologie eher am Rande berücksichtigt wurde - angesichts der damaligen Fundlage ein verständliches Vorgehen. Das in Form einer Karte festgehaltene Ergebnis ist allerdings frühestens für das 11., eher aber für das 12./13. Jahrhundert von Geltung; auch wurde die Arbeitsweise Kniezsas in jüngster Zeit starker Kritik ausgesetzt [16].

 

Mehr Erfolg verspricht der neuerdings von A. Kiss vorgenommene Vergleich der Verbreitung bestimmter charakteristischer «altungarischer» Fundstücke mit derjenigen bestimmter archaischer Ortsnamentypen, wobei nunmehr der Schwerpunkt ganz eindeutig auf der Archäologie liegt. Die von Kiss umschriebene altungarische «Fundprovinz», welche das 10. Jahrhundert repräsentiert, umfaßt innerhalb ihrer Grenzen mit 331 Fundorten immerhin 96,2 % der Funde, während sich der Rest auf 17 außerhalb liegende Fundorte verteilt. Allerdings betont Kiss, daß sichere Aussagen über Siebenbürgen wegen der dortigen besonderen Forschungssituation nicht getroffen werden könnten [17].

 

 

4.3. Die südslawischen «Erben» Moravias

 

Der folgende Abschnitt, dessen Titel zum Teil wörtlich zu nehmen ist, befaßt sich primär mit den Auswirkungen der ungarischen Landnahme auf jene südslawischen Reichsbildungen, deren Beziehungen zu Moravia herausgearbeitet wurden. Dabei stellt sich zunächst die Frage, ob es so etwas wie einen «Nachfolgestaat» Moravias gab und wo man ihn anzusetzen hätte.

 

Damit in Verbindung steht das Problem, wo die in Moravia entwickelten Traditionen weiterleben konnten, seien sie nun staatlicher oder kirchlicher Natur [1].

 

Gleichzeitig erhebt sich nochmals die Frage nach der Glaubwürdigkeit des «Presbyter Diocleas», nunmehr bezogen auf die Reihe jener Herrscher des «Reg-num Sclavorum», welche diese Quelle nach Sventopulk verzeichnet.

 

 

15. Vgl. Kniezsa 1938.

 

16. Rona-Tas 1980.

 

17. Kiss 1985, S. 226 ff.

 

1. Die Frage nach den mit Moravia zu verbindenden kirchlichen Traditionen bei den Südslawen wird aufgegriffen in der bereits angekündigten Arbeit des Verf. über den kyrillo-methodianischen Problemkreis!

 

 

341

 

 

4.3.1. Ein südslawischer «Nachfolgestaat» Moravias im 10. Jahrhundert?

 

Wie die Quellenanalyse in Kapitel 4.2. gezeigt hat, ging Moravia im Ungarnsturm zwischen 902 und 908 unter. Jedoch vermeint I. Boba, noch um die Mitte des 10. Jahrhunderts einen südlich der Drau-Donau-Linie liegenden «Nachfolgestaat» Moravias annehmen zu dürfen, der weiterhin diesen Namen führte [1].

 

Diese seine Ansicht stützt er auf die von ihren Herausgebern «De Ceremoniis Aulae Byzantinae» betitelte Kompilation, welche in großen Teilen auf den bereits als Abfasser des «De Administrando Imperio» hervorgetretenen Kaiser Konstantinos Porphyrogennetos zurückzuführen ist. In einer darin enthaltenen Liste von Adreßformeln gegenüber auswärtigen Regenten findet sich an 38. Stelle auch eine solche «an den Herrscher von Moravia» («εἰς τὸν ἄρχοντα Μοραβίας») [2].

 

Belegt werde das Bestehen eines solchen späteren Moravia nach Boba ferner dadurch, daß derselbe Porphyrogennetos im «De Administrando Imperio» für das untergegangene Moravia den Zusatz «μεγάλη» im Sinne von «älter, früher» verwende [3], wohingegen dieser Ausdruck im «Zeremonienbuch» nicht erscheine. Also sei hier ein anderes, noch um 950 existierendes Moravia gemeint.

 

Eine ähnliche Auffassung vertritt R. Dostalova, während L. Havlík bei dem «Mooaßia» des «Zeremonienbuches» an einen Reststaat in Mähren denkt [4].

 

Doch stehen beiden Theorien gewichtige Argumente entgegen. Im «De Administrando Imperio» nennt Konstantinos Porphyrogennetos selbst als die zeitgenössischen Nachbarn der Ungarn im Süden und Südosten die Kroaten und Bulgaren -von einem Moravia ist keine Rede [5]!

 

Weiterhin kennt keine andere Quelle in den nächsten zwei Generationen nach der ungarischen Landnahme ein weiter existierendes Staatswesen namens Moravia. Der erste neuerliche Beleg für den Namen stammt aus dem Jahre 976 und bezieht sich keinesfalls auf Gebiete südlich der Donau [6].

 

Schließlich aber, und das ist der wichtigste Punkt, irren Boba, Dostalova und Havlík, wenn sie das «De Ceremoniis» für eine zum Zeitpunkt der Abfassung durchweg aktuelle Originalarbeit des Porphyrogennetos halten.

 

 

1. Boba 1971, S.5, 81 ff. 1985b, S. 11,18 1991.

 

2. Konst. Porph., De cerimoniis 11.48, Ed. Reiske 1829, S.691; die neuere Ed. von A. Vogt (2 Bde., Paris 1935-40) reicht nur bis zum 92. Kapitel des 1. Buches. Zu einer neuentdeck ten Handschrift, die auch das 2. Buch umfaßt, s. C. Mango, I. Ševčenko, A new manuscript of the «De Cerimoniis»; in: DOP 14 (1960), S.247-249.

 

3. Konst. Porph. DAI 13, 38, 40, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S.64/65, 172/173, 176/177.

 

4. Dostalova 1966, S. 349; Havlík 1978, S. 100; 1991, S. 119.

 

5. Konst. Porph. DAI 40, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 178/179.

 

6. In einer Urkunde des Erzbischofs Willigis von Mainz (976) wird ein «episcopus Moraviensis» als sein Suffragan erwähnt: vgl. dazu Kap.4.4.3.

 

 

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Es stammen nur Teile von ihm selbst, anderes wurde von ihm aus älteren Vorlagen übernommen, wieder anderes auch erst nach seinem Tode hinzugefügt [7]. Gerade das zweite Buch, das die Anrede an den Herrscher Moravias enthält, ist eine Zusammenstellung sowohl komplett übernommener älterer Arbeiten wie auch von Werkauszügen der verschiedensten Zeitstufen zwischen dem 6. und 10. Jahrhundert. Somit erklärt sich die um die Mitte des 10. Jahrhunderts bereits anachronistische Anrede an einen Herrscher Moravias mit der unkritischen Übernahme einer vor dessen Untergang entstandenen Adreßliste durch den kaiserlichen Kompilátor oder einen späteren Bearbeiter.

 

 

Vielsagend ist jedoch für das Anliegen dieser Arbeit der Zusammenhang, in dem die bewußte Anrede erscheint, nämlich in Gemeinschaft mit einer Gruppe südslawischer Fürsten, an die sich der byzantinische Kaiser mit einer «Κέλευσις» wandte, also mit einer «schriftlichen Anordnung oder einem Befehl, daran ein Siegel von zwei Solidi hing [8].» Es handelt sich, und zwar in dieser Reihenfolge, um die Herrscher von Kroatien, Serbien, Zachlumien, Kanali, Travunien und Dioclea, an welche sich als letzter der Herrscher von Moravia schließt. Da nach J. Ferluga in den Adreßlisten des «Zeremonienbuches» ein System der Gruppierung nach geographischen Gesichtspunkten, innerhalb der geographisch zusammengehörigen Blökke aber wiederum ein solches nach Rangstufen erkennbar wird, so ist mit der Nennung Moravias gerade an dieser Stelle der Liste ein neuerlicher Beweis für die Zugehörigkeit Moravias zum südslawischen Staatenverband gegeben.

 

J. Ferluga weist nämlich zudem darauf hin, daß im Text auf die Adresse an den Herrscher Moravias ein «ἐπιγραφὴ εἰς αὐτους» folgt, d.h., die entsprechenden Schreiben waren an alle sieben südslawischen Herrscher, von Kroatien bis einschließlich Moravia, gemeinsam gerichtet; dann erst folgt in der Liste die etikettegemäße Anrede an den «Herrscher der Franken».

 

Zugleich würde die Anführung Moravias in der « Κέλευσις»-Gruppe allerdings eine gewisse Abhängigkeit von Byzanz, in Analogie zu vergleichbaren Fällen eventuell sogar einen Vasallenstatus implizieren. Die Interpretation dieses Sachverhaltes ist problematisch, und es verwundert daher nicht, daß J. Ferluga eine Emendierung von «Μοραςίας in «Παγανίας» erwogen hat; denn «Pagania», das Land der Narentaner, erscheint zwar im «De Administrando Imperio» zusammen mit den anderen südslawischen Gebieten, nicht aber in der Adreßliste [9].

 

 

7. Moravcsik 1958, 1, S. 381.

 

8. Das Folgende nach Ferluga 1976.

 

9. Ferluga 1976, S.276 Anm.19, 307, 320/321; die Narentaner im DAI 36, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 164/165.

 

 

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Allerdings ist zu berücksichtigen, daß die Narentaner oligarchisch organisiert waren, also nicht wie die anderen südslawischen Länder über einen «ἄρχων» als Ansprechpartner der byzantinischen Diplomatie verfügten.

 

Für den byzantinischen Anspruch auf eine gewisse Souveränität über Moravia, wie er aus dem «Zeremonienbuch» hervorgeht, könnte man jedoch vielleicht auch die auf Bitten Rastislavs erfolgte byzantinische Missionierung nach 863 als «völkerrechtliche» Grundlage namhaft machen, oder aber die Teilnahme byzantinischer Gesandter bei der Krönung Sventopulks 885 [10].

 

 

4.3.2. Die Verbindung des ehemaligen «Regnums» Sventopulks in Bosnien mit Kroatien unter Tomislav

 

«Svetolicus» alias Sventopulk II. soll nach den Angaben des «Presbyter Diocleas», auf seinen Vater folgend, 12 Jahre lang regiert haben, was mit dem Jahr 894 als gesichertem Todesdatum Sventopulks I. eine Regierungszeit von 894 bis 906 ergäbe. Auf ihn folgten seine Söhne, zuerst Vladislav (über den der «Presbyter Diocleas» keine chronologischen Anhaltspunkte gibt), sodann «Thomislavus» [1]; in ihm hat man den aus der kroatischen Geschichte wohlbekannten König Tomislav zu sehen.

 

In der Geschichtsschreibung wird Tomislav im allgemeinen als Sohn bzw. Enkel der kroatischen Fürsten Mutimir und Trpimir angesehen, seine Regierungszeit etwa auf 910 bis 928 datiert. Die Krönung zum «rex Crouatorum» (so adressiert ihn Papst Johannes X. in einem Brief vom Jahre 925) verlegt man in die Zeit um 924, ohne daß die rechtliche Grundlage dieser plötzlichen Annahme des Königstitels deutlich würde; als rein faktische Grundlage dieses Aktes vermutet man jedoch die von Tomislav durchgeführte Vereinigung des angeblich von ihm ererbten «dalmatinischen» Kroatien mit dem «pannonischen» Teil [2]. Wie steht es dabei um die Quellenbasis?

 

 

10. Eine ähnliche Betrachtungsweise des byzantinischen Hofes liegt offenbar vor im Falle Serbiens, das nach einer Gesandtschaft (867) als Vasall angesehen wurde; vgl. Radojičić 1952 und Božie 1968, S. 138.

 

1. Presb. Diocl. 12, Ed. Šišić 1928, S.309/10 (Lucius, Orbini) bzw. 402 (Kaletić, Marulić, diese als «Polislav».

 

2. Vgl. Cod. dipl. Croatiae, Ed. Kostrenčić et al. 1967, Nr. 24, S. 34. Zweifel an einer Krönung Tomislavs 925 bei Goldstein 1983; zu dieser Frage auch R. Elze, Königtum und Kirche in Kroatien im 10. und 1 I.Jahrhundert; in: Concili di Split (1982), S. 81-97. Havlík 1979, S. 101 sieht als Basis für den Königstitel Tomislavs die unter Branimir ausgesprochene Schutzherrschaft S. Petri über Kroatien.

 

 

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Gegen die durch nichts gestützte Vermutung, Tomislav stamme aus dem Geschlecht der Trpimiriden, steht die klare Aussage des «Presbyter Diocleas» über seine Abkunft von «Svetolicus»/Sventopulk II. Für die Dauer seiner Regierung gibt die Version Lucius des «Presbyter Diocleas» 13 Jahre an, die übrigen drei Varianten übereinstimmend 17 Jahre [3].

 

Da Tomislav von anderen Quellen m den Jahren 914 und 925 als Herrscher Kroatiens bezeugt ist [4], so wäre sein frühestmöglicher Regierungsantritt (bei Annahme der 17 Jahre als der korrekten Überlieferung) nach der Chronologie des «Presbyter Diocleas» im Jahre 908, das spätestmögliche Ende seiner Herrschaft im Jahre 931 gewesen; innerhalb dieser «Extremdaten» hat, wie noch zu zeigen sein wird, eine Ansetzung auf ca. 909 bis 926 die größte Wahrscheinlichkeit für sich.

 

Damit verblieben für seinen ihm vorangehenden Bruder Vladislav, dem der «Presbyter Diocleas» keine konkrete Regierungszeit zuordnet, sondern den er nur als Typus des schlechten Herrschers charakterisiert5, die Jahre 906 bis ca. 909.

 

Unter der Annahme, daß Tomislav als Enkel Sventopulks I. und damit als legitimer Erbe in dessen bosnisch-slawonischem «Regnum» anzusehen ist, gewinnt auch die ihm zugeschriebene Einigung der «kroatischen» Länder - oder vielleicht besser gesagt: mehrerer den Kroatennamen führender «gentes» - einen neuen Aspekt. Sie ging nämlich offensichtlich nicht, wie bisher angenommen, vom eigentlichen, «dalmatinischen» Kroatien aus, sondern vom bosnisch-slawonischen Hinterland, dem sog. «pannonischen Kroatien» der Literatur, über das Tomislav zunächst kraft Erbrecht gebot.

 

Die Frage, auf welche Weise Tomislav die Übernahme des «dalmatinischen» Kroatien möglich gewesen sein könnte, leitet über zu einem der umstrittensten Probleme der frühen Geschichte Kroatiens.

 

Im «De Administrando Imperio» berichtet Konstantinos Porphyrogennetos über eine Reihe von kroatischen Fürsten, deren chronologische Einordnung Schwierigkeiten bereitet: Es sind dies ein gewisser Trpimir («Τερπημέρης»), sein Sohn Kresimir («Κρασημέρης») sowie wiederum dessen Sohn Miroslav («Μιρόσθλαβος»). Unter Trpimir soll laut Konstantinos Porphyrogennetos ein wunderwirkender heiliger Mann aus dem Lande der Franken zu den Kroaten gekommen sein6; in ihm ist wohl ein Repräsentant der Erzdiözese Aquileia zu sehen, welcher nicht nur die Kroaten im Glauben stärken, sondern sicher auch organisatorische Belange Aquileias vertreten sollte, faßt man die um 850 erfolgte Gründung des kroatischen Bistums Nin ins Auge [7].

 

 

3. Presb. Diocl. 12, Ed. Šišić 1928, S.310 (Lucius, Orbini), 402 (Kaletić, Marulić).

 

4. Thomas Arch., Hist. Salon. 13, Ed. Rački 1894, S. 36 (hier wird er gemeinsam mit dem Ebf. Johannes von Split genannt); s.a. den in Anm.2 erwähnten Brief.

 

5. Presb. Diocl. 11, Ed. Šišić 1928, S.309 (Lucius, Orbini), 401/402 (Kaletić, Marulić).

 

6. Konst. Porph. DAI 31, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 148-151.

 

7. Dazu Dvornik in DAI Comm. (1962), S. 127.

 

 

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Somit entspräche der «Τερπημέρης» des «De Administrando Imperio» dem 852 urkundlich bezeugten «Tirpimir dux Chroatorum» [8]. Bis zur Zeit seines Sohnes Kresimir, so fährt die Quelle fort, habe Kroatien über eine beachtliche Landund Seestreitmacht verfügt. Diese sei aber verfallen, als Kresimirs Sohn Miroslav nach nur vierjähriger Regierung von dem Ban Pribina («Πριβουνίας βοεάνος») beseitigt wurde und ein Bürgerkrieg ausbrach. Damit endet der Bericht des «De Administrando Imperio» über die Kroaten. Er ist seit F. Šišić von einer bestimmten Forschungsrichtung so interpretiert worden, daß die im 31. Kapitel des «De Administrando Imperio» beschriebenen Vorgänge zur Abfassungszeit der Quelle, um die Mitte des 10. Jahrhunderts, hochaktuell gewesen seien. Der Bürgerkrieg und der anschließende Machtverfall Kroatiens seien erst nach Tomislav zu datieren und zu verbinden mit territorialen Einbußen Kroatiens: Bosnien sei damals an Serbien, die Inseln Brač und Hvar an die Narentaner abgetreten worden.

 

Zwangsläufig muß diese Schule einen sonst nirgendwo belegten «Trpimir II.» mit einer Regierungszeit von «c. 928-935» aus der Taufe heben. Auf ihn läßt sie in den Jahren 935 bis 949 Kresimir I. und Miroslav (also die bei Konstantinos Porphyrogennetos erscheinenden «Trpimiriden») folgen, schließlich von 949 bis 969 einen Michael Kresimir II. [9].

 

Tatsächlich findet sich in einer auf das Jahr 950 datierten Schenkung ein «Cresimirus die gratia Croathorum atque Dalmatinorum rex». Die Bemerkung, daß er «residens in paterno Christi munere solio» geurkundet habe, verweist auf ein oder mehrere Familienmitglieder, die ihm in der Herrschaft über Kroatien vorangegangen waren, und der Name «Kresimir» deutet auf die Sippe der Trpimiriden [10].

 

Allerdings gerät die Chronologie der Šišić-Schule in größte Schwierigkeiten durch die Angabe, daß sich Kresimir zum Zeitpunkt der Ausstellung der Urkunde «in vicesimo quarto regni mei anno» befunden habe. Das würde seine Thronbesteigung auf 926 datieren, ihn also unmittelbar an den zuletzt 925 bezeugten Tomislav anschließen und Trpimir II., Kresimir I. und Miroslav aus der Herrscherliste Kroatiens eliminieren [11]! Es soll hier daher eine andere Quelleninterpretation vorgeschlagen werden: Der im 31. Kapitel des «De Administrando Imperio» berichtete Abschnitt kroatischer Geschichte fällt in die Zeit nach dem Ende Mutimirs (um 895) und vor der Machtübernahme Tomislavs in Kroatien, deren Zeitpunkt ja keinesfalls identisch sein muß mit Tomislavs Regierungsantritt in Bosnien-Slawonien.

 

 

8. Cod. dipl. Croatiae, Ed. Kostrenčić et al. 1967, Nr.3, S.5.

 

9. Šišić 1917, S. 151 ff.

 

10. Cod. dipl. Croatiae, Ed. Kostrenčić et al. 1967, Nr.28, S.39-43.

 

11. Offenbar bezweifeln die Herausgeber des Cod. dipl. Croatiae (vgl. ebd. S. 40) diese Angaben der Urkunde, und zwar nicht nur, weil das Jahr 950 nicht in die 12. Indiktion fällt (die in der Urkunde genannt wird), sondern auch, weil das Datum mit der Chronologie Šišićs kollidieren würde; sie wollen in 969 emendieren.

 

 

346

 

Kresimir (I.) wäre demnach seinem vom Porphyrogennetos nicht erwähnten Bruder Mutimir, der im allgemeinen als ein Sohn Trpimirs betrachtet wird und zuletzt 895 belegt ist [12], gefolgt; auch für die seinem Sohn Miroslav zugeschriebenen vier Regierungsjähre verbliebe noch genügend Spielraum, bis spätestens im Jahre 914, in dem er zum ersten Mal als «dux» Kroatiens genannt wird [13], Tomislav die Schwäche seiner dalmatinischen Nachbarn, verursacht durch die Revolte des Ban Pribina, für eine Usurpation genutzt hätte.

 

Eine grundsätzlich ähnliche Auslegung der Angaben des «De Administrando Imperio» wurde bereits von D. Farlati vorgebracht, wenn auch ohne die Anbindung Tomislavs an die bosnisch-slawonische Dynastie Sventopulks [14].

 

Mit der zeitlichen Einordnung Kresimirs und Miroslavs vor Tomislav wäre zugleich überzeugend geklärt, warum letzterer, als bedeutendster kroatischer Fürst des 10. Jahrhunderts eingestuft, von Konstantinos Porphyrogennetos weder im 31. Kapitel «Über die Kroaten und ihr Land», noch sonst irgendwo erwähnt wird. Ebensowenig gedenkt der Kaiser übrigens im 31. Kapitel des «De Administrando Imperio» des (erst an anderer Stelle von ihm berichteten) Krieges zwischen Kroaten und Bulgaren im Jahre 926. Vielmehr betont er hier, im «Kroatenkapitel», daß beide Nationen seit dem Feldzug des bulgarischen Boris gegen Kroatien (ca. 863/64) in Frieden miteinander gelebt hätten [15]!

 

Die logische Schlußfolgerung ist daher, daß die Vorlage(n) für dieses 31. Kapitel noch vor der Regierung Tomislavs in Kroatien (spätestens ab 914) entstand(en). Anlaß dazu war wohl, wie aus der Hervorhebung der kroatisch-bulgarischen Beziehungen zu erschließen ist, einer jener zahlreichen Kriege, welche Byzanz gegen Bulgarien zu führen hatte, seit dort Zar Simeon der Große (893-927) an die Macht gekommen war. Da Moravia seit dem Ungarnsturm als Bündnispartner ausgefallen war, in Serbien aber seit 894 Bürgerkrieg herrschte, betrachtete man in Byzanz die Kroaten als potentielle Bundesgenossen gegen Bulgarien un,d stellte ein entsprechendes Dossier her. Dieses wurde, wie ähnlich auch in anderen, belegbaren Fällen, trotz mittlerweile veralteten Informationsstandes unergänzt in die um 950 erstellte Endredaktion des «De Administrando Imperio» übernommen [16].

 

 

12. Vgl. Mihaljčić/Steindorff 1982, Nr.62, S.41.

 

13. Thomas Arch., Hist. Salon. 13, Ed. Rački 1894, S.36.

 

14. Farlati, Illyricum Sacrum, 3 (1765), S. 84.

 

15. Konst. Porph. DAI 32, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 158/159.

 

16. So Hauptmann 1925, S.21 ff. und Runciman 1929, S.208ff.; zum DAI Kap.31 s.a. Skok 1928 und DAI Comm. (1962), S. 124ff.

 

 

347

 

Aus den bisherigen Erörterungen ließe sich nun eventuell auch eine einleuchtendere Erklärung für den Königstitel ableiten, mit dem Tomislav 925 von Papst Johannes X. angesprochen wurde, ohne daß eine vorherige, vom Papst sanktionierte Königserhebung bekannt wäre. Er geht möglicherweise zurück auf die 885 gewährte Verleihung dieses Titels an Tomislavs Großvater Sventopulk durch Papst Stephan V. Allerdings wäre aus dem «rex Sclavorum» von 885 im Jahre 925 ein «rex Crouatorum» geworden, was dem veränderten politischen Schwerpunkt entsprach [17].

 

Außer dem bosnisch-slawonischen «Regnum» Sventopulks und dem dalmatinischen Kroatien umfaßte Tomislavs Königreich 925 auch das frühere Fürstentum des Brazlav mit Zentrum in Siscia. Dies geht hervor aus der Nennung Siscias unter den Bistümern (oder bistumsfähigen Städten) der Erzdiözese Salona in den (in ihrer Datierung umstrittenen) Akten der Synode von Spalato/Split; Salona aber wurde damals als für das ganze «regnum Croathorum» zuständiges Erzbistum betrachtet [18]. Zudem unterstellte Kaiser Leo VI. (886-912) die byzantinischen Küstenstädte Dalmatiens Tomislav als byzantinischem Prokonsul [19]. Aus der erwähnten Urkunde Kresimirs (II.) von 950 wäre für 926 schließlich ein neuerlicher Dynastiewechsel in Kroatien zu deduzieren, indem hier nach Tomislavs Tod erneut die Trpimiriden das Ruder übernahmen. Die mit einem solchen Wechsel der herrschenden Familie verbundene Instabilität wiederum könnte die Motivation des auf 926/27 datierten Feldzuges der Bulgaren aus dem bereits 920/21 von ihnen eroberten Serbien nach Kroatien gewesen sein. (Dieser Angriff scheiterte allerdings völlig und führte letztlich zur Befreiung Serbiens von der bulgarischen Fremdherrschaft [20].)

 

Während sich die Trpimiriden im dalmatinischen Kroatien halten konnten - 970 ist ein Sohn Kresimirs II., Stephan Držislav, als kroatischer Herrscher belegt [21] -, ging Slawonien um Siscia wohl zu dieser Zeit (nach 925/26) an die Ungarn verloren.

 

 

4.3.3. Die Vereinigung Bosniens mit Serbien unter Česlav

 

Aber auch das bosnisch-slawonische Fürstentum, das traditionell von den Vorfahren Tomislavs regiert worden war, fiel 926 nicht an die kroatischen Trpimiriden.

 

 

17. Vgl. die Nennung Sventopulks als «rex» in MG Epp. VII, Ed. Kehr 1928, Epp. Stephani V papae, Nr. 1, S. 355!

 

18. Die einschlägige (dort auf ca. 928 datierte) Urkunde: Cod. dipl. Croatiae, Ed. Kostrenčić étal. 1967, Nr.26, S.37.

 

19. Šišić 1917, S.129; Dabinovič 1940; Guldescu 1964, S.115.

 

20. Dazu Jireček 1876, S. 169, 1911, S.199ff.; Šišić 1917, S. 140/141; Zlatarski 1918, S.55ff.; Runciman 1929, S.210/211; Ostrogorsky 1952, S.214/215; Fine 1983, S. 157,264; Dujčev 1987, S. 30 ff. Daß Kroatien zur Zeit des bulgarischen Angriffes noch unter der Herrschaft Tomislavs gestanden hätte, wie meist angenommen wird, ist aus keiner Quelle zu bele gen!

 

21. Bei Thomas Arch., Hist. Salon. 13, Ed. Rački 1894, S.36/37.

 

 

348

 

Der «Presbyter Diocleas» nennt als Nachfolger Tomislavs nämlich einen «Sebeslav(us)», dem er eine Regierungszeit von 24 Jahren zuschreibt [1]. Über dessen Machtbereich, über irgendwelche territorialen Veränderungen sagt die Quelle, wie auch sonst, nichts aus, sondern sie scheint einen unveränderten Umfang des «Regnum Sclavorum» in der von Sventopulk konstituierten Form vorauszusetzen.

 

Nach den im vorigen Kapitel aufgezeigten Zusammenhängen, vor allem wegen der klaren Aussage der Urkunde Kresimirs II. von 950, ist jedoch eine Zugehörigkeit Kroatiens zur Herrschaft des Sebeslav auf keinen Fall anzunehmen.

 

In Serbien hingegen soll zur fraglichen Zeit ein gewisser Česlav (oder Časlav) regiert haben; Konstantinos Porphyrogennetos berichtet, wie ein Angehöriger des serbischen Fürstenhauses namens «Τζεέσθλαβος» nach siebenjähriger bulgarischer Fremdherrschaft die Unabhängigkeit Serbiens wiederherstellte [2]. Die Untersuchungen G. Ostrogorskys zur Chronologie des «De Administrando Imperio», Kapitel 32, ergaben, daß der Zeitpunkt dieses Freiheitskampfes auf 927/28 zu legen ist, was ziemlich genau mit dem für Sebeslav erschlossenen Regierungsantritt um 926, also nach dem Tode Tomislavs, korrespondieren würde [3]. Nach der textimmanenten Chronologie des «Presbyter Diocleas» hätte Sebeslav demnach bis 950 regiert; der Serbenfürst «Τζεέσθλαβος» wird vom Porphyrogennetos ausdrücklich als ein noch Lebender erwähnt, muß also 949/50 noch auf dem serbischen Thron gesessen haben.

 

Ist es nun wegen der großen Ähnlichkeit der Namen «Sebeslav» und «Τζεέσθλαβος» gerechtfertigt, die Personen des «Presbyter Diocleas» und des Konstantinos Porphyrogennetos als eine einzige zu betrachten? Vom rein chronologischen Gesichtspunkt scheint dies durchaus möglich. Allerdings unterscheiden sich die in den beiden Quellen zum jeweiligen Namensträger berichteten Fakten erheblich: Während Konstantinos Porphyrogennetos naturgemäß eher an den serbisch-bulgarischen Beziehungen interessiert ist und seinen «Česlav» als byzantinischen Bundesgenossen charakterisiert, berichtet der «Presbyter Diocleas» gerade umgekehrt von Kämpfen Sebeslavs gegen die Byzantiner («Graeci») bei Skutari sowie von einem Einfall der Ungarn, von dem wiederum die byzantinische Quelle nichts weiß.

 

Identisch ist hingegen das Aktionsgebiet beider Personen: Konstantinos Porphyrogennetos rechnet zu Česlavs Serbien auch Bosnien4, während Sebeslavs Herrschaft nach den Aussagen des «Presbyter Diocleas» an Ungarn im Norden und byzantinische Besitzungen im Süden stoßen muß.

 

 

1. Presb. Diocl. 13, Ed. Šišić 1928, S.310 (Lucius, Orbini), 402/403 (Kaletić, Marulić); erstere bezeichnen Sebeslav als Sohn Tomislavs, Kaletić als ältesten Sohn, Marulić als Neffen.

 

2. Konst. Porph. DAI 32, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 158-161.

 

3. Ostrogorsky 1948; ebenso Božie 1968, S. 143; Ferluga 1976, S. 251,297; Fine 1983, S. 159.

 

4. Konst. Porph. DAI 32, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 160/161.

 

 

349

 

Als eine größere Schwierigkeit bleibt aber die völlig verschiedene genealogische Einbindung beider Personen: Sebeslav wird vom «Presbyter Diocleas» abstammungsmäßig über Tomislav auf Sventopulk zurückgeführt. Česlav erscheint hingegen im «De Administrando Imperio» als Sproß der serbischen Fürstenfamilie; er stammt über seinen Vater Klonimir und Großvater Stroimir von Fürst Vlastimir (um 860) ab; seine Mutter soll nach dieser Quelle eine Bulgarin gewesen sein [5].

 

Eine Identität beider Personen wirkt also wahrscheinlich; zudem erscheint im 22. Kapitel des «Presbyter Diocleas» ein weiterer möglicher Doppelgänger des Česlav in der byzantinischen Quelle, und zwar als «Ciaslav(us)», Sohn des Königs «Radoslav(us)» [6]. Oder sollte es sich hier um eine Parallelüberlieferung zur selben Person, um eine «Verdoppelung» handeln, die vom «Presbyter Diocleas» nicht als solche erkannt wurde? Dafür könnte sprechen, daß dem «Ciaslav» des 22. Kapitels ähnliche Taten zugeordnet werden wie dem «Sebeslav» des 13. Kapitels [7].

 

Es scheint aber doch eher, daß die im 13. und den direkt darauffolgenden Kapiteln des «Presbyter Diocleas» berichteten Ereignisse noch zum «bosnischen Block» der Chronik zu rechnen sind, der dann irgendwo vor dem 22. Kapitel endet. Denn die Historizität der wenigen über die reine Herrscherabfolge referierten Fakten, die zu Sebeslav und seinen Nachfolgern im «Regnum Sclavorum» berichtet werden, lassen sich anhand bekannter Daten der Geschichte des Balkanraumes verifizieren. So sind die nur vom «Presbyter Diocleas» berichteten Kämpfe Sebeslavs und seines Vaters Tomislav mit den Ungarn zu vergleichen mit den aus byzantinischen Quellen belegten Ungarnzügen gegen Bulgarien und Byzanz in den Jahren 934, 943, 958 und 962 [8]. Das Ende dieser gegen Südosten gerichteten Züge und die beginnende Missionierung der Ungarn von Byzanz aus korrespondiert mit der Nachricht des «Presbyter Diocleas», Sebeslavs Sohn und Nachfolger Vladimir (der ab 950 regiert haben müßte) hätte mit dem Ungarnkönig Frieden geschlossen und sei dessen Schwiegersohn geworden. Diesem Vladimir werden 20 Regierungsjähre zugeschrieben, was nach der hier erstellten Chronologie eine Herrschaft Vladimirs bis 970 bedeuten würde [9].

 

 

5. Dazu stellt sich die Erwähnung eines «Τζασθλάβος» am bulgarischen Hofe um 885 in der Klemensvita XVI.47 (Ed. Milev 1966, S. 120). Es könnte sich um dieselbe Person, einen Verwandten oder Paten handeln.

 

6. Presb. Diocl. 23, Ed. Šišić 1928, S.313-317 (Lucius, Orbini), 407/408 (Kaletić, Marulić) ; dazu Thallóczy 1898, S.221/222; Medini 1935, S.Slff.; Čorović 1940, S.145/146; Mošin 1950, S.62 Anm. 105; Radojičić 1957, S.264/265; Rodič 1980, S.303; Turk Santiago 1984, S. 124 ff.

 

7. Nämlich Kämpfe gegen die Ungarn (bei Sirmium), zusätzlich Bekämpfung einer «Rebellion» in Kroatien.

 

8. Vgl. Lüttich 1910, S. 143ff.; Zlatarski 1918, S.66; Runciman 1930, S. 185/186.

 

9. Presb. Diocl. 14, Ed. Šišić 1928, S.311 (Lucius, Orbini), 403/404 (Kaletić, Marulić).

 

 

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Synchronoptische Tabelle der Herrscher Kroatiens, Bosniens und Serbiens c. 885 bis 1000

- sichere Daten; -- unsichere und Näherungsdaten

 

 

Eine verblüffende Bestätigung findet die so erschlossene Abfolge und Datierung bosnischer Herrscher durch den Vergleich des 15. Kapitels beim «Presbyter Diocleas» mit zwei weiteren Quellen, beide aus Ragusa/Dubrovnik.

 

Der «Presbyter Diocleas» berichtet, daß Vladimirs Sohn Chranimir (in den Versionen Kaletić und Marulić «Kanimir»), dessen Regentschaft also ab 970 zu setzen wäre, mit einer «Rebellion» der «Croatia Alba» konfrontiert worden wäre;

 

 

351

 

nach der geographischen Diktion der Quelle wäre dies das dalmatinische Kroatien. Dieser «Rebellion» (der Ausdruck geht fehl, da Kroatien zu dieser Zeit kein Teil Bosniens war) sei Chranimir mit einem Heer aus Bosnien und «Rassa» (Serbien) entgegengetreten; er fiel aber in der Schlacht «in piano Chelmo» [10].

 

Dem entgegenzustellen sind die Eintragungen der anonymen «Annales Ragusi-ni» wie auch der gleichnamigen Jahrbücher des Nicolaus de Ragnina, daß im Jahre 972 (!) ein ungenannter Fürst aus «Albania» (= «Croatia Alba») Bosnien erobert und dort fünf Jahre lang geherrscht habe. Nach seinem Tode aber, also 977, «si facevo altro re délia linea de Moravia (!) de Harvati» (bzw. «di Carvazia» bei Ragnina) in Bosnien [11].

 

Offensichtlich handelt es sich in beiden Fällen um dasselbe Ereignis. In dem anonymen Kroatenfürsten der Ragusaner Quellen dürfte vielleicht jener «Kresimir» zu sehen sein, dem beim «Presbyter Diocleas» (irrtümlich?) die Eroberung Bosniens zugeschrieben wird, also Kresimir II. (926-950), oder aber sein Sohn Stephan Držislav (970 belegt als kroatischer König), beide aus der Trpimiriden-Dynastie [12].

 

Die von Lucius und Orbini wiedergegebenen Versionen des «Presbyter Diocleas» berichten interessanterweise, daß Chranimirs Sohn Tvardoslav - ohne daß etwas über die mittlerweile vergangene Zeitspanne gesagt würde - das Reich seines Vaters «wiedergewonnen» habe («recuperavit regnum patris», «ricuperato il regno paterno») [13].

 

Da nun die Bemerkung der Ragusaner Annalen über die «linea de Moravia» nur auf eine Abkunft des neuen bosnischen Herrschers von Sventopulk hindeuten kann, so gewinnt man eine neuerliche, unerwartete Verbindung zwischen dem (mittlerweile untergegangenen) Moravia, dem «Regnum» Sventopulks in Bosnien und Kroatien.

 

Zugleich werden die Konturen einer fortgesetzten Familienfehde zwischen Trpimiriden, Moimiriden und der serbischen Dynastie um die Vorherrschaft im dalmatinischen Raum deutlich gemacht.

 

Eine Abstammung Tvardoslavs von der «moravischen» Dynastie Sventopulks würde erneut die vom «Presbyter Diocleas» wiedergegebene Genealogie bestätigen. Betonung verdient es, daß die Datierungen der beiden Ragusaner Annalen, die ja nur minimal von der hier vor allem nach dem «Presbyter Diocleas» erarbeiteten Chronologie abweichen, auf Informationen einheimischer Ragusaner, d.h. vom «Presbyter Diocleas» unabhängiger Tradition beruhen; bei ihm erscheinen ja überhaupt keine Jahreszahlen [14]!

 

 

10. Presb. Diocl. 15, Ed. Šišić 1928, S.311 (Lucius, Orbini), 404 (Kaletić, Marulić).

 

11. Ann. Ragusini Anon. ad a 972, Ed. Nodilo 1883, S. 22; Ann. Ragusini Nie. de Ragnina ad a. 972, Ed. Nodilo 1883, S.202.

 

12. Presb. Diocl. 29, Ed. Šišić 1928, S.324 (nur bei Lucius und Orbini!); dazu Babić 1972, S.67ff.

 

13. Presb. Diocl. 16, Ed. Šišić 1928, S.311 (Lucius, Orbini).

 

 

352

 

Es wäre also mit obiger Gegenüberstellung die Richtigkeit und Geschlossenheit des bisher entworfenen Bildes südslawischer Geschichte im 9. und 10. Jahrhundert bestätigt. Der «bosnische Block» des «Presbyter Diocleas» wäre damit bis zum 16., vielleicht sogar bis zum 19. Kapitel zu verlängern; denn im 20. Kapitel werden dann unter der Herrschaft des Fürsten «Trepimir» eindeutig kroatische Gegebenheiten geschildert, und ab dem 22. Kapitel erscheinen mit «Radoslav» und «Ciaslav» aus der Geschichte Serbiens bekannte Namen [15].

 

 

4.4. Böhmen und Mähren als vereinigte Länder im 10. Jahrhundert

 

Dieser Abschnitt des 4. Kapitels soll die Auswirkungen des Zusammenbruches von Moravia wie auch der ungarischen Reichsbildung auf Böhmen darstellen. Zugleich ist beabsichtigt, die weitgehend im dunkeln liegende Geschichte Mährens im 10. Jahrhundert aufzuhellen, wobei auf dieses Problem natürlich ein ganz anderes Licht fällt, wenn man das Moravia des 9. Jahrhunderts nicht mit der tschechischen Landschaft identifiziert.

 

Schließlich ist der von den Kritikern Bobas zu Recht erhobenen Frage nachzugehen, wie und seit wann es zu der Verwendung des Namens «Moravia», der im 9. Jahrhundert noch für ein südslawisches Reich gegolten hatte, nunmehr für einen zu Böhmen gehörigen, westslawischen Bereich kam.

 

 

4.4.1. Die Stellung Böhmens zwischen Moravia, Ostfranken und Ungarn zu Ende des 9. und Anfang des 10. Jahrhunderts

 

Etwa ein halbes Jahr nach dem Abschluß des Friedens zwischen Arnulf von Kärnten und den Söhnen Sventopulks hatten sich die Böhmen im Juli 895 neuerlich der ostfränkischen Hoheit unterstellt [1]; es ist anzunehmen, daß die Überlassung des «ducatus» über Böhmen eine der Bestimmungen des Friedens mit den neuen Her ren Moravias gewesen war.

 

Trotz dieses Abkommens - jedoch ohne daß die Ostfranken zunächst direkt involviert wurden - scheinen sich weitere Auseinandersetzungen zwischen Böhmen und Moravia ergeben zu haben. Im Sommer 897 baten nämlich die Herzöge der Böhmen Arnulf um Hilfe gegen die Moravljanen, «a quibus saepe, ut ipsi testificati sunt, durissime comprimebantur» [2].

 

 

14. Dazu die Ed. Nodilo 1883, Einl.; Medini 1935, S.7ff.; Hadžijahić 1983, S.53.

 

15. Presb. Diocl. 20, Ed. Šišić 1928, S.312ff. (Lucius, Orbini), 405ff. (Kaletić, Marulić).

 

1. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 895, Ed. Kurze 1891, S. 126.

 

2. Ann. Fuld. Cont. Altah. ad a. 897, Ed. Kurze 1891, S. 131.

 

 

353

 

Der hier gebrauchte Ausdruck «oft» muß sich nicht unbedingt auf eine längere Zeitspanne beziehen, sondern kann ebensogut häufige Vexationen in einigen wenigen Jahren (z.B. seit 890!) bedeuten.

 

Um den Böhmen eine eventuell benötigte Heereshilfe, die offensichtlich nur defensiven Charakter haben sollte, rasch leisten zu können, hielt sich Arnulf, wie die Quelle hinzufügt, mit seinem Gefolge während des Herbstes 897 nördlich der Donau, im Bereich des Flusses Regen, auf.

 

Für Vertreter der traditionellen <Großmähren>-Lokalisation beinhaltet diese Sachlage selbstverständlich keine geographischen Schwierigkeiten. Problematisch wurde die Situation dagegen für Boba: Da ja spätestens seit 896 «Pannonien», die Herrschaftsbildung am Plattensee, wieder in ostfränkischer Hand war, so fehlte ihm der «Korridor», über den Angriffe der Moravljanen gegen Böhmen hätten vorgetragen werden können, ohne das dortige ostfränkische Gebiet zu verletzen.

 

Boba behalf sich mit der Notlösung, daß 897 eben eine «splinter group of the Moravian army» die Böhmen bedrohte [3]. Hätte eine solche «versprengte Heeresgruppe» aber wirklich ostfränkische Waffenhilfe nötig gemacht?

 

Bei einer Ansetzung Moravias in der Ungarischen Tiefebene, wie sie hier vertreten wird, ist die wahrscheinlichste Lösung die, daß jeweils von Böhmen und Moravia kontrollierte Territorien um 897 noch aneinandergrenzten (oder durch eine «Pufferzone» geringer Ausdehnung voneinander getrennt waren). Diese Grenzzone ist nördlich der Donau, wahrscheinlich in der heutigen Slowakei zu suchen.

 

Unter diesem Aspekt ist auch die Beteiligung der Böhmen am Feldzug des bairischen Heeres gegen Moravia im Jahre 900 zu sehen; dorthin zogen die Baiern «per Boemiam transeuntes, ipsis secum assumptis» [4]. Die Wahl dieses Anmarschweges (in umgekehrter Richtung schon 846 benutzt) wäre daraus erklärlich, daß man den problematischen Donauübergang weiter flußabwärts, im Angesicht des moravlja-nischen Heeres, vermeiden wollte, der ja 872 zu einem Desaster geführt hatte. Andererseits mußte aber Böhmen eine sinnvolle Etappe auf dem Zug nach Moravia darstellen; dies ist bei Bobas Lokalisierung Moravias durchaus nicht gegeben [5], wohl aber bei der hier vertretenen Auffassung.

 

Nach dem Jahr 900 vermelden die Quellen keinen weiteren Kontakt der Böhmen mit Moravia; daß damals alle Verbindungen abbrachen, hat seine Ursache - wie im ähnlich gelagerten Fall der «Ostmark» - darin, daß die Ungarn, noch bevor sie Moravia eroberten, um 900/01 das Gebiet von Nitra, um 902/03 auch «Pannonien» (Transdanubien) endgültig besetzt hatten.

 

Bevor aber die Herausbildung der Grenze zwischen der böhmischen und der ungarischen Machtsphäre, zwischen Mähren und der Slowakei untersucht wird, ist noch die weitere Entwicklung der politischen Situation Böhmens während dieser Zeit zu betrachten.

 

 

3. Boba 1971, S.67/68; s.a. ausführlich Boba 1988!

 

4. Ann. Fuld. Cont. Altah. ad a. 900, Ed. Kurze 1891, S. 134.

 

5. Vgl. Rez. Graus 1972 zu Boba 1971, S.281.

 

 

354

 

Weiterhin stehen dafür, wie schon für die Zeit Bořivojs, Heiligenlegenden mit ihren oft zweifelhaften Aussagen neben den allzu knappen Berichten fränkischer Annalen. Letztere sprechen wiederholt von einer Vielzahl tschechischer «duces», etwa 895 und 897; namentlich genannt werden von ihnen jedoch nur Spytihnev, der ältere Sohn Bořivojs, sowie ein gewisser «Witizla», dessen Identität umstritten ist. Der Name «Vitislav» erscheint bei den Slavnikiden, die möglicherweise eine Nebenlinie des Přemyslidenhauses waren, so daß sich eine deutliche Vorrangstellung der «Großfamilie» um 895 abzeichnen würde.

 

So muß die weitere Abfolge der böhmischen Fürsten aus den Legenden um den hl. Wenzel und dessen Großmutter Ludmilla erschlossen werden; aus ihnen gewinnt man den (beabsichtigten?) Eindruck, daß die Přemysliden spätestens seit Ende des 9. Jahrhunderts unumstrittene Herren Böhmens waren [6].

 

Bořivoj, der nach Aussage zweier Ludmilla-Legenden 36 Jahre alt wurde [7], war, wie erwähnt, 895 offenbar schon verstorben; J. Pekaf setzte sein Ableben auf 893/94, seine Geburt entsprechend auf 857/58. Seine Gattin Ludmilla, die der Tradition nach am 15. Sept. 921 ermordet wurde, erreichte ein Alter von 61 Jahren, was ihr Geburtsjahr (passend zu den Daten Bořivojs) auf 859 fixieren würde [8].

 

Der älteste Sohn aus dieser Ehe, Spytihnev, dem die Legende «Fuit in provincia Boemorum» wie auch der sog. «Christian» 40 Lebensjahre zuschreiben [9], wäre nach Pekař 875/76 geboren und hätte von 895 bis 915 regiert. Sein jüngerer Bruder Vratislav, der nach der Legende «Fuit in provincia Boemorum» 33 Jahre gelebt, nach der Legende «Beata Ludmila» jedoch die selbe Zeit regiert haben soll [10], wäre nach Angabe der ersteren (welche im allgemeinen für glaubwürdiger gilt) um 887 geboren und hätte von 915 bis 921 regiert [11]. Eine von diesen Kombinationen Pekařs divergierende Chronologie erstellte V. Chaloupecký: Er ließ in Übereinstimmung mit den «Annales Bohemiae» Bořivoj schon 891 sterben, Spytihněv von 891 bis 905, sodann Vratislav von 905 bis 916 regieren; etwas abweichende Daten vertraten auch andere Forscher.

 

 

6. Vgl. Graus 1983, S. 175.

 

7. «Fuit in provincia Boemorum», Ed. Emler 1873, S. 144; « Beata Ludmila», Ed. Kolar 1873, S. 123.

 

8. Pekař 1906, S. 221 ff. Třeštík 1981, S. 81 ff. datiert Bořivoj hingegen auf 852/53-888/90; s.a. Třeštík 1986, S.328.

 

9. «Fuit in provincia Boemorum», Ed. Emler 1873, S. 144; Christian 3, Ed. Ludvíkovský 1978, S. 26.

 

10. «Fuit in provincia Boemorum», Ed. Emler 1873, S. 144; «Beata Ludmila», Ed. Kolár 1873, S. 123; dazu Pekař 1906, S.205; Treštík 1981, S.68/69.

 

11. Vratislavs Lebenszeit setzen auf 33 Jahre Pekař 1906, S.222/223; Novotný 1912, S.451; Seibt 1981, S. 14; Treštík 1981, S.67. Das Todesdatum (13. Feb. 921) ist überliefert.

 

 

355

 

Das Problem erschwert sich dadurch, daß selbst die wichtigste von einigen Quellen gebotene Jahreszahl zur Datierung der Přemysliden nicht einheitlich überliefert ist: Die Ermordung von Vratislavs ältestem Sohn und Nachfolger, Vaclav/Wenzel, auf Veranlassung seines Bruders Boleslav wird teils auf 929, teils auf 935 gesetzt, ohne daß eine völlig eindeutige Entscheidung für eines dieser Daten möglich wäre. Anläßlich des Brudermordes erscheinen übrigens erstmals wieder seit 895 die Namen přemyslidischer Fürsten in Quellen «westlicher», also nunmehr deutscher Herkunft [12].

 

Die außenpolitische Situation Böhmens war nach dem Wegfall Moravias und vor dem Aufstieg Polens bestimmt durch das Verhältnis zum Ostfränkischen (bzw. seit 911 Deutschen) Reich und zu den Ungarn.

 

Seit 895 bestand zum Ostfrankenreich wieder eine Vasallitätsbeziehung. Im Jahre 903 wird der nach K. Bosl in Baiern beinahe als souveräner Herrscher auftretende Markgraf Liutpold in einer Urkunde Ludwigs IV. als «dux Boemanorum» betitelt, was von Bosl als eine statthalterähnliche Stellung interpretiert wurde [13]. Sehr fraglich ist hingegen, ob man die 908 bezeugte Selbstbezeichnung seines Sohnes Arnulf als «dux Baioariorum et etiam adiacentium nationum» in gleicher Weise deuten darf. Denn seltsamerweise scheinen die Böhmen ja schon in der Schlacht von Preßburg (907) nicht auf Seiten der Baiern mitgekämpft zu haben [14]. Zwar berichten hochmittelalterliche ungarische Quellen über Kämpfe gegen die Böhmen und nennen in diesem Zusammenhang deren Fürsten Vratislav. Andererseits wäre eine Lok-kerung der Bindungen an das Ostfrankenreich, besonders als Folge der Thronfolgekämpfe nach dem Aussterben der ostfränkischen Karolinger 911, denkbar.

 

So spricht Adam von Bremen von einer Beteiligung der Böhmen an den ungarischen Zügen gegen Sachsen um 915 [15], was von verschiedener Seite bezweifelt wurde.

 

 

12. Zu Wenzel vgl. die Beiträge im Svatováclavský Sborník, 2 Bde. (Prag 1934-39); Herr mann 1965, S.193ff.; F. V. Mareš, Das Todesjahr des hl. Wenzel; in: WSlJb 17 (1966), S. 192-204; Staber 1970; Bosl 1974, S.276ff.; Turek 1974, S. 174ff.; F. Graus, Der Herr schaftsantritt St. Wenzels in den Legenden; in: Osteuropa in Geschichte und Gegenwart, Festschrift f. G. Stökl (1977), S.287-300; Treštík 1981, S.19ff.; Seibt 1981; Prinz 1981 b, S. 4 ff. und 1984, S. 71. Zur Datierung der älteren Přemysliden allg. D. Treštík, O novém výkladu chronologie nejstarších Přemyslovcu; in: ČSČH 32 (1984), S.416-421.

 

13 MGDD Ludowici Infantis, Ed.Schieffer 1960, Nr.20, S. 126; Bosl 1958, S.56; s.a. Reindel 1953, S.42ff.; Prinz 1981, S.370; zu Luitpold s.a. W. Stornier, Ostfränkische Herrschafts krise und Herausforderung durch die Ungarn; in: Baiern, Ungarn und Slawen (Linz 1991), S. 55-75.

 

14. Daß sie in den Quellen nicht genannt werden, ist meistens weniger betont worden als die Nichtbeteiligung der <Großmährer>; nach Boba 1989 fehlten die Böhmen deshalb, weil die Schlacht nicht bei Preßburg, sondern bei Zalavár am Plattensee stattfand!

 

15. Adam von Bremen 1.52, Ed. Schmeidler 1917, S.53.

 

 

356

 

Falls die Böhmen schon vor 906 zu einem Übereinkommen mit den Ungarn gefunden hätten (es soll dies hier nur als reine Hypothese geäußert werden), so fiele ein weiteres «Beweisstück» für die Ansetzung Moravias in Mähren: Die Ungarn hätten dann 906 über ein böhmisch beherrschtes Mähren ihre Verbündeten, die Daleminzier, erreichen und mit ihnen gemeinsam die Sachsen angreifen können, ohne daß die Haltung Moravias hierbei eine Rolle gespielt hätte. Damit stellt sich nunmehr die Frage, zu welchem Zeitpunkt Mähren unter böhmische Herrschaft geriet.

 

 

4.4.2. Der Anschluß Mährens an Böhmen

 

Es wurde bereits daraufhingewiesen, daß die in fränkischen Quellen zum Jahre 871 überlieferten Ereignisse eine herrschaftliche (und auch begriffliche) Ausdehnung Böhmens auf das Marchtal naheliegend erscheinen lassen; es würde sich so das Verschwinden der noch beim «Bairischen Geographen» als eigenständige Größe erscheinenden «Marharii» erklären. Andererseits zählte das Gebiet von Nitra zu den zwischen 871 und 880 von Sventopulk gemachten Eroberungen, gehörte also vor 894 ganz sicher nicht zum böhmischen Machtbereich. Doch könnten die Böhmen nach Sventopulks Tod auch dorthin vorgestoßen sein, was Anlaß zu den 897 am Hofe Kaiser Arnulfs bekanntgewordenen Streitigkeiten gegeben hätte - auch wenn dies böhmischerseits in Regensburg anders dargestellt wurde!

 

Für diese Annahme gibt es einige Indizien. Wie bereits ausgeführt, sprechen die zeitlich allerdings sehr späten ungarischen Quellen, soweit sie den mährisch-slowakischen Raum behandeln, nur von Böhmen, nicht etwa Moravljanen als dort angetroffenen Kontrahenten.

 

So ließ der «anonyme Notar» einen Vasallen der Böhmen namens «Zubur» in Nitra residieren und hier über «Böhmen und Slawen» (also auch ein nichtböhmi sches Ethnikum!) gebieten [1]; wie K. Bosl bemerkt hat, hatten die Ungarn vor den dort angetroffenen Böhmen (im Gegensatz zu anderen beim «Notar» erwähnten Gegnern) einen «gewaltigen Respekt» [2]. Mähren wird vom «anonymen Notar» in diesem Kontext gar nicht angesprochen.

 

Anders bei Simon de Kéza und den ihm verwandten Quellen: Ihnen gilt als Herrscher Böhmens und Mährens «Waratizlaus», unschwer als der Přemyslide Vratislav zu erkennen. Auch diese Quellengruppe spricht von einer Vertreibung der Böhmen sowie der schwer identifizierbaren «Messiani» aus Nitra und Hlohovec/Galgócz, also aus der westlichen Slowakei [3].

 

 

1. Anon. Gesta Hung. 35-37, Ed. Jakubovich/Pais 1937, S. 166/167.

 

2. Bosl 1966, S.31.

 

3. Simon de Kéza, Gesta 32, 34, Ed. Domanovszky 1937, S. 166/167; die «Messiani» deutet Boba 1987b und 1988, S.22ff. als «Garnison» der Moravljanen in der Slowakei.

 

 

357

 

Nun wären diese Quellenzeugnisse für sich allein wegen ihrer späten Abfassungszeit noch anzuzweifeln; dennoch wurden sie zum Teil als historisch fundiert angesehen, wenn auch nur für eine böhmische Annexion Mährens nach dem Untergang <Großmährens> 906/07 in Anspruch genommen.

 

Für einen früheren Zeitpunkt, wie er indirekt bereits aus den zeitgenössischen fränkischen Quellen erschlossen wurde, sprechen aber noch zwei weitere Argumente.

 

Die Legende der hll. Zcerad/Svorad und Benedikt bezeugt für das Jahr 1083 ein Emmeramspatrozinium der späteren Bischofskirche auf dem Burgberg von Nitra [4]. Es kann zwar nicht ausgeschlossen werden, daß dieses Patrozinium auf Aktivitäten des Klosters St. Emmeram während der Christianisierung der Ungarn um die Jahrtausendwende zurückgeht; ansonsten wäre es sicher vor die ungarische Landnahme zu datieren. Da Moravia erklärtermaßen in den Zuständigkeitsbereich des Bistums Passau, Böhmen dagegen in den Regensburgs fiel (so wenigstens aus dem Blickwinkel der bairischen Bischöfe selbst), müßte die Patrozinienvergabe in Nitra eine böhmische Herrschaft an diesem Orte implizieren - nach der Zugehörigkeit Nitras zum Reich Sventopulks und dem Aufenthalt des eng mit Passau verbundenen Bischofs Wiching ebendort [5], vor der Eroberung Nitras durch die heidnischen Ungarn.

 

In die gleiche Richtung deutet der Name des Schlachtortes zwischen Baiern und Ungarn im Jahre 907, den die älteste erhaltene Quelle mit «Brezalauspurc» überliefert [6].

 

Als Bauherr und Namensgeber dieser Burg kommen um diese Zeit nur der südslawische Brazlav [7] und der Přemyslide Vratislav in Frage. Gegen Brazlav spricht prinzipiell die Lage von «Brezalauspurc»/Bratislava nördlich der Donau, da ihm ja nur «Pannonien» südlich der Donau mit dem Zentrum Mosaburg zugewiesen wurde.

 

Mehr Aufschluß verschafft vielleicht die lautliche Herleitung des Ortsnamens. J. Melich erwog als Grundform einen zu «Preslaw» eingedeutschten slawischen Namen «Bracislav». E. Schwarz erklärte diese Ableitung als aus lautgeschichtlichen Gründen für unmöglich und setzte eine Grundform «Prěslav», J. Stanislav hingegen ein «Predeslav» [8].

 

 

4. Legenda SS. Zoerardi et Benedicti, Ed. Madzsar 1938, S.359; zu dieser Legende Pražák 1981 und 1984, S. 97ff.

 

5. Ähnlich argumentiert Boba 1988, S. 25.

 

6. Ann. Iuvav. max. ad a. 907 Ed. Bresslau 1934, S. 742.

 

7. So etwa Zatschek 1935; Klebel 1940, S.55; Schwanz 1942, S.24/25; Reindel 1953, S.69; Preidel 1968, S.105.

 

8. J. Melich, Die Namen von Preßburg; in: ZslPh 1 (1924), S. 79-101; E. Schwarz, Nochmals der Name Preßburg; in: ZslPh 2 (1925), S. 58-61; J. Stanislav, Bratislava-Presporok-Preßburg-Poszony; in: Slovanská Bratislava 1 (1948), S. 22-46.

 

 

358

 

Wahrend alle bisher genannten Forscher einen nichtfürstlichen Namens geber voraussetzten, verwies R. Holtzmann (der an sich von einer <großmährischen> Gründung ausging) auf die zu «Brezalauspurc» analoge deutsche Bildung «Breslau» für den von Vratislav I. gegründeten Ort in Schlesien (poln. Wroclaw) [9]. Die Umformung eines slawischen «Vratislav» zu einem deutschen «Brezalaus» würde also nicht allein stehen!

 

Nach der Datierung der pfemyslidischen Herrscher könnte Vratislav diese Gründung frühestens mit Erreichen des damaligen Mündigkeitsalters von 12 Jahren, also ca. 901 als Mitoder Teilherrscher, ab 905 sogar als Alleinherrscher vorgenommen haben. Wenn also die beim Schlachtfeld liegende Burg 907 tatsächlich den Namen eines böhmischen Herrschers trug, so müßte sie schon vor diesem Zeitpunkt unter böhmischer Regie erbaut worden sein. Befand sich aber die Westslowakei mit Preßburg/Bratislava, Nitra und Hlohovec/Galgócz um die Wende des 9. zum 10. Jahrhundert in böhmischer Hand, so galt dies erst recht auch für Mähren. Daß diese Erweiterung Böhmens in den fränkischen Quellen keine ausdrückliche Erwähnung findet, ließe sich entweder daraus erklären, daß die Einverleibung Mährens mit Zustimmung des ostfränkischen Hofes erfolgte und nicht als ein sensationelles Ereignis aufgefaßt wurde, oder aber damit, daß eine allmähliche Einbeziehung der «Marharii» in den böhmischen Herrschaftsverband (Schutzvertrag, Eheschließung) stattfand.

 

Es wird hier also die These vertreten, daß die Böhmen wohl im dritten Viertel des 9. Jahrhunderts das Marchtal, das Gebiet der «Marharii», ihrem Machtbereich angliederten. In den letzten Jahren des 9. Jahrhunderts, beim Zusammenbruch des Großreiches Sventopulks, griffen sie auch in die westliche Slowakei über, verloren dieses Gebiet jedoch wieder an die landnehmenden Ungarn, während sie Mähren halten konnten. Die damit entstandene Grenze hatte nach dem polnischen Zwischenspiel zu Anfang des 11. Jahrhunderts, abgesehen von geringfügigen Veränderungen, nicht nur im Mittelalter, sondern bis 1918 Bestand [10].

 

Demgegenüber steht die «communis opinio», daß Mähren während der Landnahme von den Ungarn erobert und relativ lange Zeit behauptet werden konnte. Die extremen Verfechter dieser Ansicht gehen davon aus, daß die Ungarn erst durch die polnische Besetzung Mährens (ca. 1003-1017/29) abgelöst wurden; im Anschluß daran hätte Herzog Udalrich (1012-1034) Mähren erstmals für Böhmen gewonnen und seinem Sohn Bretislav als Teilfürstentum überlassen.

 

 

9. R. Holtzmann, Die älteste Namensform für Preßburg; in: ZslPh 2 (1925), S. 372-379; dazu Schwarz 1927. Eine <großmährische> Gründung vermutet auch Ratkoš 1986, S. 148.

 

10. Dazu M. Zemek, Moravsko-uherská hranice v. 10. až do 13. století (Brno 1972).

 

 

359

 

Diese Theorie stützt sich auf eine angebliche, bei Cosmas von Prag überlieferte Äußerung des Herzogs Vratislav 1, daß nämlich zuerst sein Großvater Bretislav die «terra Moravia» böhmischer Herrschaft unterworfen habe [11].

 

Häufiger findet sich jedoch die Ansicht, daß Mähren als Folge der ungarischen Niederlagen an der Riade (933) und vor allem auf dem Lechfeld (955) in böhmischen Besitz gekommen sei. Auch hierfür findet sich ein Beleg bei Cosmas von Prag, der an einer anderen Stelle seiner Chronik Herzog Boleslav II. (967/73-999) die Ausdehnung seiner Herrschaft mit «terminos, quos ego dilatavi usque ad montes, qui sunt ultra Krakou nomine Triti» angeben läßt [12]. Allerdings wurde gerade diese Stelle als Kombination einer Lobrede Reginos von Prüm auf Ludwig den Frommen einerseits, von Grenzangaben der Prager Bistumsurkunde Heinrichs IV. andererseits erwiesen.

 

Diese Bistumsurkunde, welche angeblich die Grenzen des Prager Bistums zur Zeit seiner Gründung (972) umschreibt, nennt indessen als dessen östlichen Abschluß, nachdem bereits die Westund die Nordgrenze bezeichnet wurden:

 

Inde ad orientem hos fluvios habet terminos: Bug scilicet et Ztir cum Gracouua civitate provintiaque, cui Uuag nomen est, cum omnibus regionibus ad predictam urbempertinentibus, quae Gracouua est. Inde Ungrorum limitibus additis usque ad montes, quibus nomen est Triti, dilatata procedit.

 

Deinde in ea parte, quae meridiem respicit, addita regione Morowia usque ad flu-men, cui nomen est Wag, et ad médiám silvam, cui nomen est More, et eiusdem montis eadem parrochia tendit, qua Bauuaria limitatur". [13]

 

Wörtlich genommen würde dies bedeuten, daß die Prager Diözese (und somit eventuell auch der Machtbereich des Přemysliden, für welchen die Diözese errichtet wurde) um 973 nach Osten hin einen gewaltigen Umfang gehabt und Mähren auf jeden Fall mit eingeschlossen hätte.

 

Doch ist diese Interpretation nicht unbestritten geblieben. Zwar ist die frühere Auffassung, die Urkunde von 1086 sei eine frei erfundene Fälschung des Prager Bischofs Gebhard/Jaromir, inzwischen dahin modifiziert, daß es sich um ein nicht vollzogenes Originaldiplom handelt [14]. Dennoch kann die Prager Diözese zur Zeit ihrer Gründung nicht das in der Urkunde beschriebene Gebiet umfaßt haben, denn 976 wird neben dem Prager auch ein mährischer Bischof erwähnt.

 

Entsprechend faßte L. Hauptmann die Grenzangaben als Widerspiegelung der politischen Verhältnisse nach der Expansion der Přemysliden in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts auf;

 

 

11. Cosmas III.34, Ed. Bretholz 1955, S.205.

 

12. Cosmas I.33, Ed. Bretholz 1955, S. 59/60.

 

13. MG DD Henrici IV, Bd.2, Ed. v. Gladiss 1959, Nr.390, S.515-517, hier 517.

 

14. Dies erwiesen 1955 Beumann (mit den Mitteln der Diplomatik) und Schlesinger (historische Kontextforschung); zum Urkundencharakter auch Holtzmann 1918; zur weiteren Diskussion Turek 1975 und Graus 1980, S. 192/193.

 

 

360

 

K. Bosl sah hingegen eine «engere» und eine «weitere» Grenzziehung gegeben, H. Büttner dachte an eine nicht näher definierte, aber nicht in die eigentliche Gründungsurkunde des Prager Bistums von 973 aufgenommene «Aufzeichnung» als Vorlage für die Grenzbeschreibung von 1086 [15]. Skepsis gegenüber dieser Quelle scheint also angebracht, für die Frage der Zugehörigkeit Mährens zum přemyslidischen Machtbereich im 9./10. Jahrhundert ist sie kaum verwendbar.

 

Doch existieren für diese Zeit einige andere Quellenzeugnisse. So ist in der bereits erwähnten Urkunde des Mainzer Erzbischofs Willigis von 976 ein «episcopus Moraviensis» gemeinsam mit dem von Prag als Mainzer Suffragan belegt, was auf eine politische Zusammengehörigkeit Böhmens und Mährens zu dieser Zeit deuten könnte [16].

 

Des weiteren impliziert der Reisebericht des Ibrahim Ibn Jaq'ūb eine Herrschaft des Boleslav II. über Mähren, wenn er sich so ausdrückt, daß dessen Reich die Städte Prag und Krakau umfasse, gleichzeitig aber «der Länge nach» an das Reich der Ungarn («Türken») grenze [17]. Nicht überzeugend wirkt hier aus rein geographischen Gründen das Gegenargument, daß eine Verbindung beider Städte auch über das damals böhmische Schlesien hergestellt wäre; das von Ibrahim nicht erwähnte Mähren hätte damals (ca. 965/73) noch zu Ungarn gehört und wäre von Ibrahim stillschweigend zu diesem gerechnet worden. Eine Nichtzugehörigkeit Mährens zu Böhmen soll auch der Hinweis auf die Fälschungen des Bischofs Pilgrim von Passau (971-991) belegen, welcher unter Anführung eines angeblichen Traditionszusammenhanges mit dem Bistum Lorch (Lauriacum) sowie unter Verwendung der antiken Termini «Moesien» und «Pannonien» ein große Teile Ungarns umfassendes Erzbistum errichten wollte [18]. Wie eine genauere Analyse dieser Fälschungen zeigt, beabsichtigte Pilgrim, der dabei auch Rechte auf «Moravia» geltend machte, nicht, Ansprüche gegen Mainz oder Prag in Mähren durchzusetzen, sondern er wollte vielmehr gegen konkurrierende Bestrebungen des Salzburger Erzbischofs im östlichen Ungarn eine urkundlich fundierte Basis schaffen [19]. (Auf den Widerspruch, der zwischen der Verwendung des Begriffes «Moravia» durch Willigis und Pilgrim besteht, wird noch zurückzukommen sein.)

 

Letztlich ist also kein positiver Beweis für eine ungarische Hoheit über Mähren im 10. Jahrhundert zu erbringen; überhaupt beruht die ganze Konzeption auf der

 

 

15. Hauptmann 1954; Bosl 1958, S.63; Büttner 1965, S.9 mit Anm.33.

 

16. ÜB Mainz 1, Ed. Stimming 1932, Nr.219, S. 134-136.

 

17. Ibrahim Ibn Jaq'ūb, Ed. Kowalski 1946, S. 146.

 

18. Die Fälschungen Pilgrims ediert bei Lehr 1909, S. 30-51.

 

19. Auf die Pilgrimschen Fälschungen wird noch näher in der angekündigten Arbeit über die kyrillomethodianische Problematik eingegangen.

 

 

361

 

A-priori-Identifizierung Mährens mit dem Moravia des 9. Jahrhunderts: Verschiedene Quellen berichteten im 10. Jahrhundert, daß «Moravia» noch immer unter der Herrschaft der Ungarn schmachte [20] - also mußte, so der Schluß, Mähren irgendwann von ihnen erobert worden sein. Außerdem wird häufiger auf eine angebliche Eroberung der karolingischen «Ostmark» durch die Ungarn als einer parallelen Erscheinung verwiesen; doch war das Gebiet zwischen Enns und Wienerwald nach 907 wohl weniger eindeutig ungarischer Herrschaftsbereich denn eine dünnbesiedelte «Pufferzone».

 

Auch stellt sich der genannten Auffassung entgegen, daß zu keiner Zeit ein Verlust Mährens durch die Ungarn an einen ihrer slawischen Nachbarstaaten berichtet wird; zur Jahrtausendwende treten im Konflikt um Mähren nur Böhmen und Polen, jedoch keine Ungarn in Erscheinung [21]!

 

Dazu gesellen sich zwei bezeichnende Erkenntnisse, welche die Archäologie in neuerer Zeit gewonnen hat und auf welche hier hingewiesen sei: In den mährischen Burgwällen und Siedlungen finden sich aus der Zeit der ungarischen Landnahme so gut wie keine Destruktionsspuren, die ja bei einer gewaltsamen Eroberung zu erwarten wären; und ebenso ist in Mähren - ganz anders als in der südlichen Slowakei! - keinerlei aus dem 10. Jahrhundert stammendes Fundgut der «Altmagyaren» bekanntgeworden [22].

 

Wohl unter dem Eindruck dieses archäologischen Befundes haben tschechische Historiker in letzter Zeit die These aufgestellt, daß die - quellenmäßig ja bezeugte! -Eroberung Moravias (in ihrer Sicht <Großmährens>) durch die Ungarn nur dessen slowakischen Teil betroffen habe. Das Gebiet westlich der Kleinen Karpaten habe sich unter «lokalen Gewalten» unabhängig gehalten und erst relativ spät freiwillig an Polen angeschlossen [23]. Doch auch hier erhebt sich die gravierende Frage, warum jenes Rest-<Großmähren> zwischen 902/08 und 976 von keiner Quelle erwähnt wird.

 

 

20. Konst. Porph. DAI 41, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 180/81; I. Naumsvita, Ed. Lavrov 1930, S. 182; Christian 1, Ed. Ludvíkovský 1978, S. 16.

 

21. Vgl. L. Havlík, K otácze hranice jižní Moravy v dobe vlády Boleslava Chrabrého; in: Štúdia z dziejow polskich i czechoslowackych, 1 (1960), S. 73-91; G. Labuda, Utrata Moraw przez pánstwo Polskie vil. w., ebd. S. 93-124.

 

22. Dazu Poulík 1975, S. 71 ; Novotný 1979; Krzemieńska 1980, S. 198 Anm. 8; Michna 1982; Zemek 1983. In Olmütz sind z.B. Destruktionen nicht Ende des 9. Jahrhunderts (Un garnkriege), sondern an der Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert (böhm.-poln. Kriege) erkennbar, s. Bláha 1985! Zu altmagyarischen Funden siehe Kiss 1985, bes. Karte 23. Die polnische Besetzung Mährens hinterließ deutliche archäologische Spuren, vgl. Novotný 1979 und Michna 1982 - dies gegen Einwände, daß eine nur vorübergehende Anwesen heit der Ungarn nicht archäologisch faßbar werden müsse!

 

23. Odložilík 1954, S.80ff.; Hurt 1963, S.5ff.; Novotný 1979, S.578/579; Ratkoš 1985, S.216ff.; Havlík 1989, S. 19; 1991, S.110ff.; Nekuda 1991.

 

 

362

 

 

4.4.3. Die Übertragung der Bezeichnung «Moravia» auf das heutige Mähren

 

Wie bereits dargelegt, fallen in die Jahre von 902 bis 908 die letzten Erwähnungen Moravias als eines noch existenten Staatswesens; diese Nennungen sind eindeutig mit der Reichsbildung Moimirs, Rastislavs und Sventopulks zu verbinden. Es folgt eine lange Periode des Schweigens über das Schicksal des Landes «Moravia». Während dieses bis in die siebziger Jahre des 10. Jahrhunderts währenden Zeitabschnittes gedenken verschiedene damals entstandene Quellen Moravias nur als eines untergegangenen Reiches, so etwa Liutprand von Cremona in der «Antapodosis» [1], Widukind von Corvey in der «Sachsengeschichte» [2] oder der anonyme Verfasser der «Miracula S. Apri» [3]. Bisweilen wird der Bericht vom Untergang Moravias in den Quellen dieser Zeit auch verbunden mit der Information, daß Moravia seitdem Siedlungsgebiet der Ungarn sei [4], ja daß das frühere Moravia inzwischen anders benannt werde, nämlich nach den dortigen Flußläufen [5], woraus zu ersehen ist, daß die Landesbezeichnung «Moravia» für die Ungarische Tiefebene allmählich außer Gebrauch kam.

 

Dieses zeitweilige «Verschwinden» Moravias hat die Vertreter der «Großmäh-ren»-Theorie selbstverständlich überrascht; im allgemeinen wurde angenommen, daß «Mähren» (nun nicht mehr «groß») unter ungarischer Herrschaft nicht nur seinen Namen, sondern ebenso seine slawische Ethnizität wie auch ein gewisses Maß an staatlicher Eigenständigkeit wahren konnte. Beleg für diese Annahme soll die Erwähnung eines «regnum Moraviae» bei Cosmas von Prag, und zwar anläßlich der Beschreibung des Besitzes der böhmischen Slavnikiden zum Jahr 981 sein [6].

 

Kaum scheint jedoch bisher aufgefallen zu sein, daß die Wiederverwendung des Begriffes «Moravia» für eine tatsächlich bestehende politische Größe zwar erst im letzten Viertel des 10. Jahrhunderts, dafür aber schlagartig, gewissermaßen auf breiter Front einsetzt. Alle diese Nennungen sind nunmehr eindeutig auf das heutige Mähren zu deuten; keine der Quellen bringt aber das von ihnen genannte «Moravia» in irgendeine Verbindung mit jenem des 9. Jahrhunderts oder seinen Repräsentanten!

 

 

1. Liutprand, Antapodosis I.5,13, II.2, Ed. Becker 1915, S.7,15/16, 36/37.

 

2. Widukind, Sachsengeschichte I.19, Ed. Hirsch/Lohmann 1935, S.29.

 

3. Miracula S. Apri, Ed. Waitz 1841, S. 517.

 

4. I. Naumsvita, Ed. Lavrov 1930, S. 182; Konst. Porph. DAI 41, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 180/181.

 

5. Konst. Porph. DAI 40, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 176/177.

 

6. Cosmas I.27, Ed. Bretholz 1955, S. 50.

 

 

363

 

Außer der Erwähnung des «regnum Moraviae» bei Cosmas (möglicherweise eine Rückprojizierung der politisch-geographischen Nomenklatur seiner Zeit auf das 10. Jahrhundert) und der Nennung einer «regio Morowia» in der Wiedergabe der Prager Bistumsurkunde von 1086, die angeblich auf 973 zu beziehen wäre [7], sind durchaus weitere Zeugnisse anzuführen. Die erwähnte, 976 ausgestellte Urkunde des Mainzer Erzbischofs Willigis kennt beispielsweise einen «episcopus Moraviensis», der nur für Mähren zuständig gewesen sein kann [8]. Eine gefälschte Urkunde des bairischen Herzogs Heinrich II. für Passau von ca. 985/91, die als Bestätigung einer entsprechenden Urkunde Ludwigs des Frommen dienen sollte, bringt für Passauer Güter im heutigen Niederösterreich die Grenzfestlegung «usque ad Marevinos terminos» - eine Angabe, welche in der 823 entstandenen Vorlage des Falsums noch nicht zu finden war [9]! 1012 erscheint bei Thietmar von Merseburg eine «Grenze der Baiern und Mährer» («confinium Bawariorum et Mararensium») in der Nähe des niederösterreichischen Ortes Stockerau [10].

 

In den Fälschungen des Bischofs Pilgrim von Passau hingegen, die ebenfalls im letzten Viertel des 10. Jahrhunderts erstellt wurden, bezeichnet «Maravia» noch die alte, untergegangene Reichsbildung in der Ungarischen Tiefebene - ein Beispiel dafür, daß der Vorgang der topographischen Begriffsverschiebung damals noch nicht abgeschlossen war [11].

 

Wieder anders liegt der Fall bei dem um 965 entstandenen Reisebericht des Ibrahim Ibn Jaq'ūb, welcher nur «Böhmen» mit Prag und Krakau auf der einen, «Ungarn» auf der anderen Seite als benachbarte Territorien kennt. Ein «Moravia» erscheint bei ihm nicht (auch nicht als historische Reminiszenz), es ist offensichtlich unter «Böhmen» einbegriffen [12].

 

I. Boba führt weitere Dokumente an, welche zeigen, daß die Anwendung der Bezeichnung «Böhmen» und «böhmisch» für Mähren noch im 11. Jahrhundert üblich war. So trug etwa der Grenzwald zwischen Böhmen und Mähren auf der einen Seite, Baiern und den Donaugrafschaften auf der anderen außer dem Namen «Nordwald» auch den einer «Silva Boemica».

 

 

7. MG DD Henrici IV, Bd.2, Ed. v. Gladiss 1959, Nr.390, S.517.

 

8. ÜB Mainz, Ed. Stimming 1932, Nr. 219, S. 135; ein Mainzer Suffragan in Ungarn (oder gar in Sirmien) ist völlig undenkbar, s.a. Graus 1980, S. 160/161!

 

9. Trad. Passau, Ed. Heuwieser 1930, Nr. 92, S. 80; dazu die Vorlage in ÜB Oberösterreich, 2 (1856), Nr.6, S.9-11.

 

10. Thietmari Chron. VII.76, Ed. Holtzmann 1935, S.492.

 

11. Vgl. zu Pilgrim v. a. Dümmler 1854 und 1898; Lehr 1909; Wagner 1953; Fichtenau 1964 und 1971; Koller 1986; Dopsch 1986b, S.Sff.; Löwe 1986; Boba 1986.

 

12. Ibrahim Ibn Jaq'ūb, Ed. Kowalski 1946, S. 145/146.

 

 

364

 

Im 11. Jahrhundert entstand im Norden der Ostmark, in Teilen dieses Grenzwaldes, die Mähren gegenüberlagen, eine «böhmische Mark» («marchia Boemia») mit Ostausdehnung bis zur Thaya [13]. In einer 1056 erfolgten Schenkung Kaiser Heinrichs III. an das Hochstift Passau, das darin die im heutigen Niederösterreich, ca. 60km nördlich von Wien gelegene Ortschaft Herrenbaumgarten erhielt, findet sich schließlich die Bestimmung, daß alles, was «contra Boemos» liege, unter das Erwerbsrecht falle [14].

 

Es scheint also, daß bis hinein ins 11. Jahrhundert neben dem neu gebräuchlich gewordenen, ein Teilgebiet der přemyslidischen Herrschaft bezeichnenden Namen «Moravia» ebenso der übergreifende Landesname «Böhmen» als für das heutige Mähren anwendbar galt. Eine verfassungsmäßig selbständige Stellung erhielt Mähren, das im 11. und 12. Jahrhundert von Böhmen aus häufig noch als ein erobertes Land betrachtet wurde, erst mit seiner Erhebung zu einer Markgrafschaft durch Kaiser Friedrich I. Barbarossa.

 

Wie aber hat man sich den Vorgang der Namensübertragung vorzustellen? Es sei daran erinnert, daß bereits vor dem Untergang des «älteren» Moravia, um die Mitte des 9. Jahrhunderts, der sog. «Bairische Geograph» außer den «Merehani» oder Moravljanen eine zweite Völkerschaft kannte, die einen ähnlichen Namen trug. Es waren dies die den Böhmen benachbarten «Marharii», deren Name ganz offensichtlich eine (latinisierte) althochdeutsche Ableitung von der ebenfalls deutschen Form des Hydronyms «March» ist, während die «Merehani» die (verunglückte) althochdeutsche Ableitung des slawischen «Moravljane» sind. Der Ähnlichkeit beider Volksnamen entsprach die bereits erwähnte Ähnlichkeit der zugrundeliegenden Hydronyme: Im Norden der antike «Marus», germanisch «Maraha/Moraha», deutsch «March» und tschechisch «Morava»; im Süden antikes «Margus», serbisch «Morava», bzw. eventuell auch die Maros mit ihren Vorformen. Es ist nun wenig überraschend, daß sich, als mit dem Untergang der südslawischen Moravljanen (und ihres Landes Moravia) deren Name sozusagen «frei» wurde, nach einiger Zeit korrespondierende Bildungen im Norden entwickelten, die mit dem «Moravljane» der altkirchenslawischen Quellen konkurrierenden, aber nicht identischen tschechischen Formen «Moravënin» bzw. «Moravci» (latinisiert «Moravienses» oder «Moravi») [15].

 

 

13. Dazu H. Mitscha-Märheim, Die Grenzen zwischen Ostmark, Ungarnmark und Böhmi scher Mark im Spiegel der Flurnamen; in: Mitt. d. Geogr. Ges. in Wien, 80 (1937), S. 233240; K. Bosl, Die Markengründungen Kaiser Heinrichs III. auf bayerisch-österreichi schem Boden; in: ZbLg 14 (1943/44), S. 177-247, v. a. 226 f f.; K. Gutkas, Zur Frage der «Böhmischen Mark» des Adalbero; in: Unsere Heimat, 23 (1952), S. 133-134; K. Lechner, Die territoriale Entwicklung von Mark und Hztm. Österreich; ebd. 24 (1953), S.33-55.

 

14. MG DD Henrici III, Ed. Bresslau/Kehr 1931, Nr.376, S.517/18.

 

15. Graus 1980, S. 158 (die lateinischen Formen sind bereits im späten 10. Jahrhundert, die tschechischen erst im 14./15. Jahrhundert belegt).

 

 

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Daneben entwickelte sich aus dem althochdeutschen, dem Namen «Marharii» wohl zugrundeliegenden «Mar(c)hier» lautgesetzlich das heutige deutsche «Mährer» wie auch die gängige Landesbezeichnung «Mähren».

 

Jedoch zeigt die einzige auf Mähren zu beziehende «antikisierende» Bezeichnung für die Bewohner des Landes, nämlich «Rugier» (in der Raffelstettener Zollurkunde) [16], daß man um diese Zeit (um 900) im benachbarten bairischen Raum noch eine gewisse Unsicherheit bezüglich der «korrekten» Nomenklatur empfand. Diese Unsicherheit wich denn auch solange nicht, wie sich die Erinnerung an das «ältere», untergegangene Moravia noch im lebendigen Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit hielt. Erst mit dem Überschreiten der von G. Györffy als «geschichtlicher Gedächtnisgrenze» apostrophierten Frist von 70 Jahren [17] waren die Voraussetzungen für eine endgültige und eindeutige Neuverwendung des Begriffes «Moravia» bzw. seiner Ableitungen gegeben, die dann auch prompt einsetzte. Der so beschriebene Mechanismus erklärt letztendlich die bislang noch rätselhafte «Lücke» zwischen dem Untergang des «alten» Moravia und dem erstmaligen Wiederauftauchen der Bezeichnung in neuer Bedeutung etwa 70 Jahre später!

 

 

4.4.4. Die Lokalisierung Moravias in hochund spätmittelalterlichen Quellen Böhmens und Mährens

 

Über dieses Thema hat bereits I. Boba ausführlich gehandelt [1]; daher sollen seine Ausführungen hier nur ergänzt sowie im Anschluß um zwei wichtige Aspekte erweitert werden.

 

Es ist bemerkenswert, daß die Erwähnungen des «alten» Moravia in den Quellen böhmischer Provenienz erst dann einsetzten, als über das Kloster Sázava Kenntnisse über diesen Themenkomplex (wie auch den der kyrillomethodianischen Mission) nach Böhmen gedrungen waren, also erst nach dem 11. Jahrhundert [2].

 

Ebenso ist es auffällig, daß von den Herrschern Moravias nur Sventopulk in die böhmische Überlieferung einging. Sollte dies auf einer (mündlich weitergegebenen) einheimischen Tradition beruhen, so wäre es ein Anzeichen für eine relativ spät, d.h. erst nach 871 erfolgte Kontaktaufnahme Böhmens zu Moravia; eventuell beruht diese «Selektion» aber auch auf den nach Böhmen gelangten hagiographischen Vorlagen.

 

Sicher ist, daß schon die älteste annalistische Quelle Böhmens (Cosmas von Prag) das Mähren ihrer Zeit und das Moravia des 9. Jahrhunderts nicht voneinander trennte;

 

 

16. MG LL 11/2, Ed. Boretius/Krause 1897, Nr. 253, S. 249-252.

 

17. Györffy 1971, S. 307.

 

1. Vgl. Boba 1971, S.116ff.

 

2. Siehe dazu zukünftig die vorbereitete Untersuchung des Verf. zu den Problemen um den «Slawenapostel» Method.

 

 

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hierin ist Boba zu widersprechen, der eine angeblich von Cosmas eingehaltene Unterscheidung konstruiert. So zeigt sich etwa, daß Cosmas alle auf das Moravia des 9. Jahrhunderts deutenden Ausdrücke seiner wichtigsten Vorlage, der Chronik des Regino von Prüm, konsequent abänderte in «modernisierte», auf das Mähren des 11./12. Jahrhunderts zutreffende Bezeichnungen, z.B. das aus den «Sclavi Marahenses» des Regino [3] erschließbare «Maraha» in «Moravia».

 

Es ist gleichfalls zu beachten, daß Cosmas den Bericht über das Ende Moravias, den er bei Regino von Prüm vorfand, auf interessante Weise veränderte bzw. ergänzte; hatte jener noch die Ungarn allein Moravia verwüsten lassen [4], so heißt es bei Cosmas: «Cuius regnum filii eius pauco tempore, sed minus feliciter tenuerunt, partim Ungaris illud diripientibus, partira Teutonicis orientalibus, partim Poloniensibus solo tenus hostiliter depopulantibus. [5]» Cosmas stellte sich offensichtlich ein zwischen den entsprechenden Territorien seiner Zeit liegendes Gebiet vor, das nur Mähren sein konnte, über dessen Einnahme durch die Polen (die bei Regino nicht erscheinen) er ja selbst zuvor, wenn auch für das 10. Jahrhundert, berichtet hatte [6]. Wenig wahrscheinlich ist in diesem Falle Bobas Annahme einer Verschreibung für «Pannonia». Daß Cosmas die Böhmen nicht an der Aufteilung Moravias teilhaben ließ, wie Boba für seine These reklamiert, braucht nicht zu überraschen, ist doch nach Aussage seiner «Böhmenchronik» die Eroberung Mährens durch die Böhmen erst später erfolgt [7]!

 

Daß der Prager Chronist schließlich die von Sventopulk unterworfenen Gebiete mit «non solum Boemiam, verum etiam alias regiones hinc usque ad flumen Odram et inde versus Ungariam usque ad flumen Gron» umschreibt [8], muß nicht bedeuten, daß er damit Mähren als ursprüngliches Ausgangsgebiet Sventopulks ausschließt. Die Grenzangabe stammt offenkundig aus der Prager Bistumsurkunde von 1086, die Cosmas an anderer Stelle in seine Chronik übernahm [9], und wurde von ihm hier eingefügt, weil a) Bofivoj und seinen Nachfolgern laut Cosmas die Herrschaft «über seine Herren» (also über Moravia/Mähren) prophezeit worden war und b) nach Aussage der Prager Bistumsurkunde ganz Böhmen und Mähren zur Prager Diözese gehörten. Cosmas vollzog hier möglicherweise einen Rückschluß, der in sich logisch war. Vielleicht wurde er sich aber auch eventueller Brüche in seiner Darstellung, die ja auf verschiedenen Informationsquellen beruhte, gar nicht bewußt.

 

 

3. Reginon. Chron. ad a. 890, Ed. Kurze 1890, S. 134.

 

4. Reginon. Chron. ad a. 894, Ed. Kurze 1890, S. 143.

 

5. Cosmas I.14, Ed. Bretholz 1955, S.34.

 

6. Cosmas I.40, Ed. Bretholz 1955, S. 75.

 

7. Cosmas I.33 bzw. 111.34, Ed. Bretholz 1955, S. 59/60 bzw. 205.

 

8. Cosmas I.14, Ed. Bretholz 1955, S.32/33.

 

9. Cosmas II.37, Ed. Bretholz 1955, S. 136-139.

 

 

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Die auf Cosmas beruhenden Annales Gradicenses lassen keine eindeutige Aussage über die von ihnen gehegte Vorstellung der Lage Moravias zu; völlig verderbt ist ihre Nachricht, Arnulf habe seinem Sohn «Zuatopluk» die Herzogsgewalt über Böhmen und Mähren übertragen [10].

 

Auch die Legende des sog. «Christian», die im vorangehenden auf das 12. Jahrhundert angesetzt wurde, läßt nicht erkennen, daß sie zwischen Moravia und Mähren unterscheiden würde. Die von «Christian» behauptete und von Boba hervorgehobene Missionierung Moravias durch den hl. Augustin besagt für diese Frage überhaupt nichts. Die dort gleichermaßen wiedergegebene Tradition einer Mission Kyrills in Bulgarien zeigt nur, von welchem Traditionsstrang «Christian» hier beeinflußt wurde, nämlich von einer aus Bulgarien kommenden, wohl über Rußland und das Kloster Sázava vermittelten Überlieferung. Bulgaren und Russen galten im hochmittelalterlichen Böhmen als die Vertreter der slawischen Liturgie schlechthin, während die kroatischen Glagoliten erst später «entdeckt» wurden. Wenig überzeugend ist schließlich der von Boba konstruierte Gegensatz, der zwischen «Moravia, regio Sclavorum» und den «Sclavi Boemi, ipso sub Arcturo positi» bestehen soll [11]. Der Versuch Bobas, die «regio Sclavorum» bzw. «Sclavonia» auf ein ganz bestimmtes südslawisches Gebiet einzugrenzen, wurde bereits zurückgewiesen. Bezeichnenderweise ersetzt ja auch eine der Handschriften des «Christian» die «regio Sclavorum» durch eine «regio Bohemorum» [12], was deutlich genug ins westslawische Milieu verweist. Die Nennung des «Arkturus» hingegen, von der Legende «Diffundente sole» wieder aufgenommen [13], ist eher als rhetorische Figur denn als Kontrastbildung zu Moravia aufzufassen. Bemerkenswert ist also ausschließlich Bobas Hinweis auf die graphische Variante «Morawa» in der Handschrift von Böddecke, welche als die zuverlässigste gilt; hieraus möchte er folgern, daß eine in bulgarisch-kirchenslawischen Vorlagen zu findende Form, die eine Stadt bezeichnen sollte, von tschechischen Kopisten abgeändert und als Landesbezeichnung aufgefaßt wurde [14].

 

Für die weitgehend aus der Legende «Christians» zusammengestellte Legende «Diffundente sole» wie auch ihre alttschechische Version gelten im wesentlichen dieselben Bemerkungen [15]; an eine eventuelle frühere, auf ein südliches Moravia reflektierende Überlieferungsschicht erinnern auch hier nur Ausdrücke, die auf eine Stadt «Morava» hinweisen, nicht aber explizite Zuweisungen Moravias an das Gebiet der Südslawen, wie Boba sie annimmt.

 

 

10. Ann. Gradicenses ad a. 894, Ed. Wattenbach 1861, S.644.

 

11. Christian 1,2, Ed. Ludvíkovský 1978, S. 12,16; dazu Boba 1971, S. 123.

 

12. Vgl. Ed. Ludvíkovský 1978, S. 107.

 

13. «Diffundente sole» 2, Ed. Truhlár 1873, S. 192; die Betonung des rauheren Klimas in Böhmen entspricht tatsächlichen klimatischen Unterschieden gegenüber Mähren!

 

14. Christian, Ed. Ludvíkovský 1978, S. 107; dazu Boba 1971, S. 123.

 

15. «Diffundente sole», Ed. Truhlár 1873, S. 191 ff.

 

 

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Die etwa zur gleichen Zeit wie «Diffundente sole», nämlich zu Anfang des 14. Jahrhunderts (wohl kurz nach 1310) abgefaßte Reimchronik in tschechischer Sprache, welcher später der fiktive Autorenname «Dalimil» unterlegt wurde [16], repräsentiert einen weiteren Entwicklungsschritt in der böhmischen Konzeption <großmährischer> Geschichte. «Dalimil» stützte sich zwar auf ältere Vorlagen, in erster Linie auf die Legende «Christians» und auf Cosmas von Prag, doch ging er kombinierend und erweiternd vor. Am folgenreichsten waren die Einführung der «Translatio-regni-Theorie» wie auch des Ortes «Velehrad», worauf noch zurückzukommen sein wird. «Dalimil» betrachtete «Morava» eindeutig als Land, nicht als Stadt; auch eine aus älteren Quellen vielleicht noch herauszulesende Zweideutigkeit der Lokalisierung besteht bei ihm nicht mehr, er bezieht sich völlig klar auf Mähren.

 

Das geht zwar nicht aus irgendwelchen geographischen Ortsangaben hervor, ist aber deutlich genug aus der (wenngleich sagenhaften) Erzählung über das Ende Sventopulks und seines Reiches erkennbar: «Král Svatopluk» mißlingt der im Auftrag des Kaisers unternommene Feldzug gegen die Ungarn; der Sieg über dieselben glückt jedoch dem (ungenannten!) böhmischen Fürsten, welchem «Svatopluk» daraufhin im Beisein des Kaisers sein Reich übergibt [17]. Die territorialen Implikationen dieses «Chanson de geste» sind eindeutig - «Dalimil» hat den entscheidenden Schritt zur Einbeziehung der <großmährischen> in die tschechische Landesgeschichte getan, der sich bei Cosmas und «Christian» erst andeutete.

 

Dieser Gedanke wird ausgebaut in den weiteren Quellen des 14. Jahrhunderts, vor allem unter dem Einfluß der von Karl IV. inspirierten Kyrillund Method-Verehrung. Hier vor allem muß I. Boba widersprochen werden: Zwar hat er sicher darin recht, daß die Quellen der Zeit Karls IV. keine ungebrochene lokale Tradition über die Lage Moravias in Mähren beweisen; ebenso sicher ist aber davon auszugehen, daß die Schreiber dieser Legenden Moravia dort (und nicht im Süden) ansetzten. Es erweist sich dies etwa daraus, daß drei Handschriften der Legende «Tempore Michaelis Imperatoris» überschrieben sind mit «Legenda sanctorum Cyrilli et Methudii patronorum Moravie [18]» - seit 1349 wurden die beiden «Slawenapostel» in Mähren verehrt, seit 1400 waren sie Landespatrone.

 

 

16. Zu «Dalimil» (der fiktive Name stammt von Václav Hájek z Libočan) vgl. den hist. Komm, von Z. Kristen in der Ed. Havránek et al. 1957, S.237ff.; Kopecký 1965, S.570/571; Graus 1966, S. 137/138; Kalista 1968, S. 141/142; Fiala 1971; N. Kvítková, K problematice pomeru mezi rukopisy t. r. Dalimila; in: Listy filologickej 95 (1972), S. 141149; Graus 1973, S.3; Turek 1974, S.61 ff.; Baumann 1978, S.40ff.; Graus 1980, S.219/220.

 

17. Dalimil 24, Ed. Havránek et al. 1957, S.51/52.

 

18. «Tempore Michaelis Imperatoris», Ed. Emler/Perwolf 1873, S.100 mit Anm.1; s.a. MMFH 2 (1967), S.257 mit Anm.

 

 

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Mit keinem Wort läßt dagegen diese Legende, welche sich auf die 1301/02 in Böhmen bekanntgewordene «Vita Constantini cum translatione sancti Clementis» stützt, erkennen, daß sie etwa Moravia im südslawischen Bereich vermute.

 

Auch die Legende «Quemadmodum» kennt eine «terra Moraviae», die sie mit «Velehrad» in Verbindung bringt und gemeinsam mit Polen und Ungarn als die ehemalige Erzdiözese des hl. Method ansieht [19].

 

Von Karl IV. persönlich ist bekannt, daß er von der Identität Moravias mit Mähren überzeugt war, wie sich auch aus seinen Bemühungen um die «Wiederbelebung kyrillomethodianischer Traditionen in seinen böhmischen Ländern schließen läßt; wenig erstaunlich ist es daher, wenn er in seiner Wenzelslegende auf erläuternde geographische Angaben verzichtet, ebenso die unter seinem Einfluß entstandene Legende «Beatus Cyrillus». Dagegen nennt das 1349 entstandene Offizium «Adest dies gloriosa» Kyrill und Method die Apostel «gentis Boemice et Moraviec», also der böhmischen Länder [20], wie es überhaupt die Bedeutung Böhmens gegenüber Mähren hervorhebt.

 

Die um 1373/78 entstandene lateinische Chronik des Pribik genannt Pulkava von Rademin [21] ist die erste, welcher Boba eine «definite association between Sven-topolk, Methodius, and the margraviate of Moravia» zubilligt. Dem ist nur hinzuzufügen, daß die Anführung von «Polonia et Rusia» als Teilen des Sventopulk-Reiches durch Pulkava keineswegs so rätselhaft ist, wie es Boba scheint; sie ergab sich wohl aus Pulkavas nachweislicher Kenntnis der Prager Bistumsurkunde von 1086. Darin manchen modernen Forschern ähnlich, schloß Pulkava offenbar aus deren Grenzumschreibung, die auch Teile Polens und Südrußlands mit einbezog, auf den einstigen Besitzstand Sventopulks. Dem entspricht die an späterer Stelle gebrachte Nachricht, 1086 habe Kaiser Heinrich III. (richtiger IV!) das «regnum Moraviae» wiederhergestellt, auf Böhmen übertragen und dabei auch «Polonia» und «Russia» nebst anderen Territorien dem neuen böhmischen König zugestanden [22].

 

Bei Pulkavas Lokalisierung Moravias in Mähren kann es nicht erstaunen, daß er zuvor - gleich Cosmas - Ungarn, Deutsche und Polen den Untergang Moravias herbeiführen läßt.

 

 

19. «Quemadmodum» 1, Ed. Dudík 1879, S.343.

 

20. «Adest dies gloriosa», Ed. MMFH 2 (1967), S.340.

 

21. Zu Pulkava s. Kopecký 1965, S.571/572; Graus 1966, S. 138; Salajka 1969, S.53/54; Turek 1974, S. 68 ff.; Baumann 1978, S. 45.

 

22. Pulkava, Ed. Emler/Gebauer 1893, S. 16.

 

 

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Die über Cosmas hinausgehende Mitteilung, daß das «regnum Moravie totaliter exterminatum, depopulatum, dilaniatum et dismembratum» worden sei, zeigt, daß er doch einen gewissen Kontinuitätsbruch zur Markgrafschaft Mähren seiner Zeit empfand [23].

 

Pulkava, der mit seiner Kombination chronikalischer und legendarischer Elemente in vielem von der bei «Dalimil» fixierten, nach E Graus «feudal-ritterlichen» Stufen <großmährischer> Tradition in Böhmen abwich, wurde für lange Zeit Grundlage der einschlägigen böhmischen Überlieferungskette [24].

 

 

4.4.5. Die Theorie einer «Translatio regni» von Moravia nach Böhmen

 

Die Idee, daß das «regnum» des untergegangenen Moravia auf Böhmen übertragen worden sei, konnte selbstverständlich erst zu einem Zeitpunkt entstehen, zu dem nicht nur die tatsächlichen Vorgänge bei der Vernichtung Moravias durch die Ungarn weitgehend in Vergessenheit geraten waren, sondern auch Böhmen selbst zu einem Königreich erhoben worden war, was 1086 bzw. 1158/98 geschehen war [1].

 

Wirkliche Bedeutung erlangte der Gedanke, der Přemyslidenstaat sei der Rechtsnachfolger Moravias, allerdings erst mit dem 1212 von Kaiser Friedrich II. ausgestellten Privileg, welches den Pfemysliden ausdrücklich den Rechtsanspruch auf alle jemals entfremdeten Länder zusprach. Vor diesem Zeitpunkt konnte die «Translatio»-Theorie allenfalls die Vorrangstellung Böhmens gegenüber Mähren rechtfertigen, das ja von böhmischer Seite spätestens seit dem 12. Jahrhundert mit Moravia identifiziert wurde. Für den «Translatio»-Gedanken als solchen hat F. Graus den Einfluß entsprechender Ideen aus dem Reich, hier allerdings im Rahmen des «Imperiums», verantwortlich gemacht [2].

 

Einen ersten Anknüpfungspunkt für die Entstehung der Theorie von der «Translatio regni» auf Böhmen bieten die Legende des sog. «Christian» wie auch die Legende «Diffundente sole», welche Method zum Böhmenfürsten Bořivoj sagen lassen: «Dominus dominorum tuorum efficieris. [3]» Diese «vaticinatio ex eventu» kann sich eigentlich nur auf Moravia und nicht auf das Ostfränkische oder Deutsche Reich beziehen, zumal «Christian» ausdrücklich Sventopulk als Herrn Bořivojs bezeichnet [4]. Zugleich zeigt diese Passage, wenn die darin enthaltene Prophezeiung einen Sinn ergeben soll, daß «Christian» Moravia mit Mähren identifizierte.

 

 

23. Pulkava, Ed. Emler/Gebauer 1893, S. 17.

 

24. Graus 1966, S. 138.

 

1. Die Königserhebung Vratislavs II. 1086 galt nur für ihn persönlich; 1158 wurde die Königswürde de iure, 1198 de facto erblich, s. Wegener 1959, S. 94 ff.; Prinz 1984, S. 98, 116, 120.

 

2. Graus 1966, S. 137/138.

 

3. Christian 2, Ed. Ludvíkovský 1978, S. 18; «Diffundente sole» 3, Ed. Truhlár 1873, S. 192.

 

4. Christian 2, Ed. Ludvíkovský 1978, S. 18: Bořivoj «ducem suum velregem Zuentepulc... adiit.».

 

 

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Deutlich ausgeprägt erscheint die Translationstheorie allerdings erst in der Reimchronik des «Dalimil»: Die Königskrone sei von Moravia, repräsentiert durch «Svatopluk», übergeben worden an das von Bořivoj vertretene Böhmen [5]. Diese Formulierung, welche die tatsächliche Herkunft der böhmischen Königswürde verschleierte, hat V. Chaloupecký zurückgeführt auf die politischen Ambitionen Přemysl Otakars II., die sich auf ehemals <großmährische> Gebiete Ungarns gerichtet hätten [6].

 

Weiter ausgebaut wurde die Translationstheorie von Pulkava, der bekanntlich die Prager Bistumsurkunde von 1086 vorliegen hatte und das dort als Prager Bistum umgrenzte Gebiet mit dem <Großmährischen Reich> identifizierte. Laut Pulkava sei das «regnum Moravie» 192 Jahre nach seinem Untergang von Kaiser Heinrich III. (IV.) «reintegratum ... et in Boemiam translatum» worden. Daraus erhob sich ein Rechtsanspruch der böhmischen Krone auf die in der Urkunde von 1086 aufgezählten Länder, welche Pulkava allerdings auf ganz Polen und Rußland ausweitete, indem er schrieb:

 

Nam idem imperator ducem Boemie Wratislaum sublimavit in regem et Boemiam regnum constituit, faciens de regno Moravie marchionatum, et eundem marchionatum cum principatibus et terris, videlicet Polonia, Russia et multis aliis ducatibus et terris, que prius, temporibus Swatopluk, ultimi regis Moravie, ad regnum Moravie pertinebant, regno et corone Boemie subiecit, prout reintegracio et translacio huiusmodi in sequentibus ... plenius fideliter declarantur [7].

 

Damit war die mögliche politische Nutzanwendung dieser an sich nur gelehrten Theorie vorformuliert, zumal der Chronist betonte, daß diese Übertragung aus Moravia/Mähren nach Böhmen ewig in Kraft bleiben möge.

 

Z. Kalista bringt diese Aussagen mit angeblichen Absichten Karls IV. auf eine Vorherrschaft in ganz Ostmitteleuropa in Verbindung; auch auf Ungarn hätte das Kgr. Böhmen ja unter Berufung auf die Translationstheorie und das Privileg von 1212 Ansprüche erheben können [8].

 

Das um 1421 entstandene «Granum catalogi praesulum Moraviae» beinhaltete einen Translationsbericht, der nach J. Loserth aus «Dalimils» Chronik übernommen ist: «920 regnum Moraviae per resignationem Swatopluk regis in personam ducis Boemiae cessavit. [9]»

 

 

5. Dalimil 24, Ed. Havránek et al. 1957, S.51: «...kako jest koruna z Moravy vyšla: povčdeť, kako jest z té zeme Čechom prišla...».

 

6. V. Chaloupecký, Uherská politika Přemysla Otakara II.; in: Pekařův sborník, 1 (Praha 1930), S. 130-188, hier 136/7; s.a. Kadlec 1968, S. 125; Kalista 1968, S. 141; Zlámal 1969, S.96/97; zur polit. Situation Prinz 1984, S. 124 ff.

 

7. Pulkava, Ed. Emler/Gebauer 1893, S. 17.

 

8. Kalista 1968, S. 146/147.

 

9. Granum, Ed. Loserth 1892, S. 66 mit Anm.4.

 

 

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Mit der Aufgabe böhmischer Großmachtambitionen nach den Hussitenkriegen und der Degradierung ihrer Heimat zu einem habsburgischen Nebenland 1526 geriet auch die Translationstheorie aus dem Gesichtskreis der böhmischen Geschichtsschreiber. Während sie also keine politische Brisanz mehr entwickelte, wirkte sie (wohl unbewußt) auf manche neuzeitlichen Historiker ein, wie z.B. folgende Formulierung V. Chaloupeckýs zeigt: «Der böhmische Staat der Přemysliden des 10. Jahrhunderts ist bloß die Fortsetzung des Staates der mährischen Fürsten aus der Nachkommenschaft Mojmirs.» Diese Auffassung, die F. Graus schon vom rechtsgeschichtlichen Standpunkt her kritisiert hat, ist jedoch - wie gezeigt - auch territorial unhaltbar [10].

 

 

4.4.6. Der «Velehrad»-Mythos und der Berg «Zobor»: fiktive <großmährische> Ortsnamen

 

Die Einführung des Toponyms «Velehrad» als Bezeichnung des erzbischöflichen Sitzes Methods wie auch - zunächst implizit - der Hauptstadt des «Großmähri-schen Reiches» verdanken wir der Reimchronik des «Dalimil» [1]. Mit der Titulierung Methods als eines «Erzbischofs von Velehrad» wollte «Dalimil» allerdings wohl nur ausdrücken, daß Method in der Hauptstadt des «mährischen Königs Svatopluk» residierte, deren Name ihm nicht geläufig war [2]. Denn das Toponym «Velehrad» bedeutet in wörtlicher Übersetzung nichts anderes als «Hauptstadt, Hauptburg», könnte also prinzipiell jeden Ort mit Zentralfunktion bezeichnen. Dennoch wurde es bereits nach kurzer Zeit auf eine ganz konkrete Ortschaft in Mähren bezogen, und diese Tradition haftet noch heute an ihr, wie der im April 1990 stattgehabte Besuch des Papstes Johannes Paul II. augenfällig demonstriert hat.

 

Bereits die Chronik des Pulkava (der ja auch den «Dalimil» verarbeitete) vollzog diesen Schritt. Offensichtlich aus dem «Dalimil» stammt die Kunde von dem «caput regni Moravie civitas Welegradensis». Doch fügt Pulkava hinzu, daß die «silva, que Greczen vocatur» nahe bei dieser «civitas» liege, was beweist, daß er den Ort «Welegrad» mit dem Kloster Velehrad in Südmähren gleichsetzte; einer der Codices seiner Chronik stellt diesen Bezug sogar expressis verbis her [3].

 

Die Ortschaft «Veligrad» als solche wird erstmals erwähnt in einer Urkunde des Olmützer Bischofs Heinrich Zdik vom Jahre 1131, jedoch völlig ohne Bezugnahme auf <Großmähren> [4].

 

 

10. Chaloupecký 1939, dt. Resümee S.625.; dagegen Graus 1966.

 

1. Dalimil 23, Ed. Havránek et al. 1957, S. 50: «ot Metudčje, arcibiskupa velehradského».

 

2. So Boba 1971, S. 122. Denkbar wäre auch eine Beeinflussung durch die Klemensvita, die ihren Heiligen als «Bischof von Velitza» bezeichnet.

 

3. Pulkava, Ed. Emler/Gebauer 1893, S. 16/17 mit Anm.; Turek 1974, S. 70 bezeichnet daher Pulkava geradezu als Schöpfer der «Velehrad-Tradition».

 

 

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Ebensowenig erscheint ein solcher Bezug in den Urkunden des 13. Jahrhunderts, welche das dortige, von dem mährischen Markgrafen Vladislav Heinrich (1197-1222) um 1205 gegründete Kloster betreffen oder erwähnen [5].

 

Diese Verbindung wurde vielmehr erst unter Karl IV, dem großen Propagátor der kyrillomethodianischen Idee in Böhmen, hergestellt, und zwar nicht nur bei Pulkava, sondern auch in der Legende «Quemadmodum» und in der vom Kaiser selbst verfaßten Wenzelslegende; beide bauen den «Velehrad-Mythos», hierin noch weiter gehend als Pulkava, aus, und beide zeigen die Tendenz, die «Translatio»-Idee in den kirchlichen Bereich zu übertragen und Prag als geistlichen Erben Velehrads hinzustellen [6].

 

Der Gedanke, «Velehrad» sei der Sitz Methods gewesen, findet sich in zahlreichen spätmittelalterlichen Quellen böhmischer, zum Teil auch polnischer Herkunft wieder [7]; etwas aus dem Rahmen fällt dabei die Behauptung einer der Viten des hl. Prokop, Kyrill sei Bischof von «Wellegrad» gewesen [8]. Weniger geläufig war die Tradition dieses Ortes als des Herrschersitzes von Sventopulk. Sie erscheint nur implizit bei «Dalimil», explizit dann bei Pulkava und Aeneas Sylvius, während sich die hagiographisch orientierten Quellen für diese Frage nicht interessieren.

 

Der «Velehrad»-Mythos wirkte fort und gewann ein immer weiter ausuferndes Eigenleben. So erbat 1379 der Olmützer Bischof für den Abt von Velehrad Mitra und Ring, da «cum aliis insignis Welegradensis ecclesia in honore metropolitico velud aliarum ecclesiarum mater et princeps extiterit»; die Bitte wurde von Papst Urban VI. gewährt. 1477 wurde der Velehrader Abt gar zum ersten Prälaten nach dem Olmützer Bischof erhoben [9]. Angesichts der eindeutigen Quellenlage ist es unverständlich, daß das vermeintliche «<großmährische> Velehrad» außer bei dem südmährischen Kloster auch in Zalavár, Nitra und Devin oder in Székesfehérvar/Stuhlweißenburg gesucht wurde.

 

 

4. CDB 1 (1904/07), Nr. 115, S. 116-123.

 

5. Vgl. die Urkunden von 1220, 1228, 1247, 1257, 1258 in MMFH 3 (1969), Nr.93, 95, 97, 99, 100, S. 112-115.

 

6. «Quemadmodum» 1, 3, 4, 5 Ed. Dudík 1879, S.343ff.; Wenzelslegende Karls IV., Ed. Blaschka 1934, S. 64.

 

7. Etwa im «Granum», Ed. Loserth 1892, S. 63-65; in der Episcop. Olomuc. Séries, Ed. MMFH 4 (1971), S.434; bei Aeneas Sylvius, Historia Bohemica, Ed. MMFH 1 (1966), S. 323; bei Jan Diugos, Historiae Polonicae Libri XII, Ed. MMFH 1 (1966), S. 325; und im Offizium «Adest dies gloriosa», Ed. Dudík 1879, S.341 ff.; alle aus dem 15./16. Jahrhundert.

 

8. Ed. Chaloupecký/Ryba 1953, S. 112.

 

9. Vgl. Kadlec 1968, S.127; Zlámal 1969, S.108; Graus 1971, S.180.

 

 

374

 

Mit den spektakulären Ausgrabungen in dem nahe beim Kloster Velehrad gelegenen Staré Mesto, die zahlreiche Kirchenfundamente zu Tage brachten, scheint sich allerdings die vom Grabungsleiter V. Hrubý vertretene Lokalisierung «Velehrads» ebendort durchgesetzt zu haben, desgleichen die Auffassung, Staré Mesto sei die Residenz Methods gewesen; umstritten bleibt jedoch vorläufig auch in der tschechoslowakischen Forschung die Funktion als «Haupstadt <Großmährens>» [10].

 

Wie jedoch im vorangehenden gezeigt wurde, handelt es sich bei der Verknüpfung eines Ortes «Velehrad» mit dem <Großmährischen Reich> um eine erst sehr spät und im Zusammenhang mit den Bestrebungen Karls IV. um die Verehrung der «Slawenapostel» vorgenommene Kombination, die noch dazu auf der irrtümlichen Interpretation einer vagen Wortwahl des «Dalimil» beruht; damit kann das Topo-nym «Velehrad» getrost bei der Suche nach dem Gebiet Moravias außer acht bleiben.

 

Ähnliches gilt für den Berg «Zobor», welcher als angeblich zur <großmährischen> Geschichte gehöriges Oronym bei Nitra lokalisiert wird. Diese Auffassung gründet sich auf eine bei Cosmas von Prag überlieferte Variante der Erzählung von Sventopulks Ende: Der Fürst habe voller Reue über den Verrat an Kaiser Arnulf heimlich seine Burg verlassen und drei Eremiten aufgesucht, welche eine Kirche «in latere montis Zober» errichtet hatten; dort sei er gestorben [11].

 

Die Lage dieses «mons Zober» wird von Cosmas nicht näher gekennzeichnet; anders hingegen in den von ihm abhängigen Annales Gradicenses, welche Sventopulk «in Zober quodam cenobio Pannoniae» versetzen, oder bei «Dalimil», für den das Kloster «Zobor» in Ungarn («v Uhfiech») liegt [12].

 

Dagegen fehlt diese nähere Kennzeichnung wiederum bei Pulkava, welcher die Episode mit den drei Eremiten «in vertice cuiusdam montis Sombor» ansetzt [13]. Die Lautform in der Chronik Pulkavas (und bei Aeneas Sylvius Piccolomini, der den Berg im Genitiv «Sambri» nennt [14]) hat wegen ihres eher südslawischen Charakters I. Boba dazu veranlaßt, den Berg mit der Kirche der drei Eremiten im ehemaligen Jugoslawien zu suchen. Da diese späteren Quellen jedoch abhängig sind von Vorlagen mit der westslawischen Form «Zober/Zobor», ist ein solches Verfahren kaum zulässig [15].

 

 

10. Vgl. den programmatischen Titel von V. Hrubýs 1966 ersch. Werk «Staré Město - Velkomoravský Velehrad»!

 

11. Cosmas, 1.14, Ed. Bretholz 1955, S.33/34.

 

12. Ann. Gradicenses ad a. 894, Ed. Wattenbach 1861, S.644; Dalimil 24, Ed. Havránek et al. 1957, S."52.

 

13. Pulkava, Ed. Emler/Gebauer 1893, S. 16.

 

14. Aeneas Sylvius, Historia Bohemica, Ed. MMFH 1 (1966), S. 322.

 

15. Boba 1971, S. 119 mit Anm.43 nennt ein «Samobor» in Kroatien (westl. Zagreb) und ein weiteres im südöstlichen Bosnien.

 

 

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Eher ist von der Bedeutung des zugrundeliegenden Wortes, altslawisch «sbbort» = «Versammlung», später «Konvent, Kloster» auszugehen. Vielleicht wollte Cosmas mit seiner Bezeichnung «Zober» nur die Gemeinschaft der drei Eremiten kennzeichnen, ohne eine konkrete Lokalität im Auge zu haben; oder die Eremiten hielten sich am Hange eines Berges auf, der von einem Kloster überragt wurde.

 

Ob aber die Annales Gradicenses und «Dalimil» tatsächlich das Kloster Zobor bei Nitra im Auge hatten, läßt sich kaum sicher entscheiden; der Ortsnamentyp als solcher existiert häufiger.

 

Allerdings besteht sowohl wegen der räumlichen Nähe der jeweiligen Schreiber zu Nitra als auch wegen des hohen Bekanntheitsgrades des dortigen Klosters eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß eine solche Lokalisierung beabsichtigt war [16].

 

Doch ist hier unter Umständen weniger an eine <großmährische> als an eine ungarisch beeinflußte Tradition zu denken, verlegte doch eine Gruppe ungarischer Quellen den Endkampf der landnehmenden Ungarn gegen «Zuatapolug» an den Donaulauf südlich Nitras, während eine - allerdings anderslautende, beim «anonymen Notar» überlieferte - Lokalsage den Berg Zobor bei Nitra mit einem böhmischen «dux Zubur» verband, der dort hingerichtet worden sei [17].

 

Schließlich erinnert auch die von Cosmas berichtete alternative Variante über Sventopulks Ende an ähnlich lautende ungarische Überlieferungen: Er sei plötzlich inmitten seines Heeres verschwunden [18].

 

Daher soll hier folgende Deutung vorgeschlagen werden: Cosmas verband dreierlei Traditionsketten, eine ungarische, welche den Namen des Berges «Zubur» einbrachte, eine weitere ungarische, welche vom unerklärlichen Verschwinden des Fürsten «Zuatapolug» handelte, mit einer dritten, böhmisch-mährischen. Diese letztere Tradition, welche auch von Boba berücksichtigt wird, könnte angeknüpft haben an das spurlose Verschwinden des russischen Fürsten Svjatopolk, das sich nach Aussage der «Nestorchronik» 1019 im Grenzwald zwischen Polen und «Böhmen» (das hier auch Mähren einschließt) ereignete [19]. Vielleicht wurde in diese mündliche Überlieferung auch das Schicksal des Teilfürsten von Mähren (1090-1107) bzw. Herzogs von Böhmen (1107-1109) namens Swatopluk eingeflochten, der nach der Unterdrückung einer Adelsverschwörung ermordet wurde.

 

 

16. Zum St.-Hypolit-Kloster am Berg Zobor vgl. E. Follajtár, A zobori bencés apátság tort (Komárom 1934); Chropovský 1973 und 1974.

 

17. Vgl. Kap.4.2.4.; zum hier gegebenen Bezug auf «Zubur» s.a. Macartney 1940, S.206/207; Boba 1988.

 

18. Zu den Legenden über Sventopulks Ende V. Novotný, K tradici o smrti Svatoplukove; in: Časopis pro moderní filológii, 1 (1911), S. 10-14.

 

19. Nestorchronik ad a. 1019, Ed. Tschižewskij 1969, S. 141; dt. Übs. Trautmann 1931, S. 104.

 

 

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Jener Svatopluk stand übrigens in Auseinandersetzung mit einem anderen Přemysliden namens Bořivoj - vielleicht ist die Wiederkehr dieser Namenskonstellation bei Cosmas kein Zufall? Die Verknüpfung von Sagen über Personen gleichen Namens, aber völlig verschiedener Zeitschichten ist ja ein geläufiges Phänomen in den epischen Traditionen aller Völker!

 

 

4.5. Zusammenfassung

 

Die Phase des Verfalls und Untergangs von Moravia wurde eingeleitet mit dem Krieg, den Arnulf von Kärnten nach seinem großen Sieg über die Normannen 891 gegen seinen nunmehr gefährlichsten Gegner Sventopulk führen konnte.

 

Eine entscheidende Beschleunigung erfuhr der Zerfallsprozeß mit der Reichsteilung, die nach dem Tode Sventopulks (wohl im März 894) durchgeführt wurde, wobei Moimir II. den Nord-, Sventopulk II. den Südteil der väterlichen Besitzungen erhielt. Hier wirkte sich der Faktor, der seit dem zweiten Drittel des 9. Jahrhunderts das Frankenreich der Karolinger gefährlich geschwächt hatte, nämlich die Erbteilung unter den Söhnen des verstorbenen Herrschers, katastrophal für die Großreichsbildung Sventopulks aus.

 

Der durch ostfränkische Siege erzwungene Friedensschluß vom Herbst 894 führte zum Verlust Böhmens (mitsamt seinen mährischen Nebenländern) und Pannoniens. Damit war Moimir II. wieder auf das einstige Gebiet Moimirs I. und Rastislavs (jedoch für einige Zeit noch einschließlich des Gebietes von Nitra), sein Bruder Sventopulk II. auf das einstige «regnum» seines Vaters in Bosnien/Slawonien reduziert.

 

Der Kampf beider um die Gesamtherrschaft, der 898 ausbrach, endete zunächst siegreich für Moimir II.; sein von den Ostfranken unterstützter Bruder mußte sich offenbar zeitweilig ins Exil nach Karantanien zurückziehen, wo er 898 (und 903 ?) Schenkungen erhielt. Eine päpstliche Gesandtschaft konnte jedenfalls nicht lange vor Juli/Aug. 900 Moimir II. ungehindert (offenbar über die Adria) erreichen [1].

 

Mittlerweile griffen jedoch die Ungarn entscheidend ins Geschehen ein, wobei der Ablauf der Ereignisse die hier vertretene Lokalisierung Moravias abstützt. Seit 892 auf der Seite Arnulfs kämpfend, führten sie noch von ihrer alten Heimat in Südrußland aus bis 894 jährliche Züge gegen Sven topulk durch. Ende 894 wohl in den Frieden mit Moravia eingeschlossen, wandten sich die Ungarn um die Jahreswende 894/95 gegen Bulgarien, um in den bulgarisch-byzantinischen Krieg einzugreifen. Ein von Osten kommender Angriff der Petschenegen, die sich mit den Bulgaren verbündet hatten, auf die ungarischen Siedlungsgebiete zwischen Don und Donau zwang die Ungarn jedoch im Jahre 895 zu einem dramatischen Schritt, zur Aufgabe ihrer Heimat in Südrußland.

 

 

1. Norditalien wurde von den Ungarn verheert, Bulgarien fiel als Transitweg aus, was eine Reise über Kroatien (oder die adriatischen Kleinfürstentümer) nach Bosnien/Moravia unumgänglich erscheinen läßt.

 

 

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Über den Verecke-Paß zogen sie in das Karpatenbecken ab und ließen sich vorläufig m dessen äußerstem Nordosten nieder.

 

Zunächst müssen sie sich hier ruhig verhalten und reorganisiert haben, denn in den beiden nächsten Jahren werden sie nicht erwähnt. Dagegen fanden noch 897 in der westlichen Nachbarschaft der Ungarn, etwa im mährisch-slowakischen Bereich, Konflikte zwischen Böhmen und Moravljanen statt, in deren Verlauf erstere eventuell Nitra eroberten [2].

 

Im Frühjahr 898 zog das Hauptheer der Ungarn auf Anstiftung, zumindest aber mit Billigung Arnulfs von Kärnten nach Oberitalien und verschwand damit vorläufig vom Kriegsschauplatz zwischen Ostfranken und Moravljanen an der mittleren Donau; bis zur Mitte des Jahres 900 hielt sich die ungarische Expedition in Norditalien auf und machte dort reiche Beute.

 

Währenddessen führten die ostfränkischen Markgrafen Liutpold und Aribo zwei Feldzüge gegen Moimir II., im Sommer 899 und im Winter 899/900, die wohl quer durch das mittlerweile schwer verwüstete «Pannonien» führten. Für anfängliche Erfolge Moimirs II. in diesen Auseinandersetzungen spricht nicht nur die geglückte Vertreibung seines Bruders, sondern auch, daß er 899/900 den aufständischen Isanrich in der «Ostmark» unterstützen konnte, was wohl doch eine territoriale Verbindung, etwa entlang der Donau, voraussetzt.

 

Der Vorstoß eines ostfränkischen Heeres im Jahre 900 führte, möglicherweise unter Umgehung dieser «Donau-Achse», über Böhmen, das sich am Kriegszug beteiligte, nach Moravia, wobei der Ausgang der Unternehmung offenbleiben muß.

 

Dagegen trugen die Ungarn, im Sommer 900 nach «Pannonien» zurückgekehrt, zu dieser Zeit wohl einen Sieg über die Moravljanen davon. Vielleicht hatte Kaiser Arnulf geplant, die Ungarn im verwüsteten Pannonien anzusiedeln [3], vielleicht hatten sich auch tatsächlich bis 900 Teile der Ungarn schon hier niedergelassen - eine förmliche Inbesitznahme des Nitragebietes scheint erst um 900, eine solche Transdanubiens um 902 stattgefunden zu haben.

 

Mit dem von ihnen als Ende des Bündnisses aufgefaßten Tode Arnulfs von Kärnten (Dez. 899) begannen die Ungarn Überfälle auf die «Ostmark» (Ende 900) und auf Karantanien (Apr. 901); diese Züge gingen möglicherweise bereits von «Pannonien» aus. Andererseits war es noch 901 einer ostfränkischen Gesandtschaft möglich, nach Moravia zu gelangen - doch kann diese auch einen Weg südlich von den Ungarn, z.B. entlang der Dräu, genommen haben.

 

 

2. Da die Ungarn nach Angaben der hochmittelalterlichen Gesta bei der Landnahme hier auf Böhmen stießen.

 

3. So vermutet Mühlberger 1980, S. 159/160.

 

 

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Somit hätten sich die Ungarn wie ein Keil zwischen Moravia und das Ostfrankenreich geschoben und gleichzeitig Moravia von zwei oder sogar drei Seiten umklammert, will man der in ungarischen Chroniken überlieferten Phasenfolge der Landnahme Glauben schenken [4]. Dieses Ergebnis steht im Gegensatz zu der «traditionellen» Auffassung, nach welcher die Ungarn zuerst das Theißgebiet von den Bulgaren erobert und daraufhin erst nach Westen ausgegriffen hätten.

 

Das Ende Moravias fällt in die Jahre nach 902, in welchem ostfränkische Annalen zum letzten Mal eine Schlacht zwischen Moravljanen und Ungarn vermelden; aus dem Jahr 903 (oder später?) datieren die letzten urkundlichen Zeugnisse, die eine Existenz Moravias voraussetzen und Pannonien als noch in ostfränkischer Hand befindlich vermuten lassen. Spätestens 906/907 war die völlige ungarische Eroberung Moravias beendet, also nicht nur eine teilweise Besetzung <Großmährens>, wie die «orthodoxe» Version behauptet. Die entscheidenden Schlachten hatten, folgt man den ungarischen Chroniken, im weiteren Umkreis von Budapest und/oder an der unteren Theiß stattgefunden. Die Bewohner Moravias flohen, wie byzantinische und altslawische Quellen berichten, soweit möglich nach Süden, zu den Kroaten, Serben und Bulgaren, was einen ungarischen Angriff von Westen und Norden (sowie Osten?) nahelegt.

 

Mit der Schlacht von Preßburg 907 war die Landnahme abgeschlossen; eine ungarische Herrenschicht legte sich über die im Karpatenbecken verbliebene slawische Bevölkerung. (Vgl. Karte 22)

 

Im Süden hatte Sventopulk II. die Bedrängnisse seines Bruders offenbar genutzt; vielleicht schon durch den Frieden Moimirs mit den Ostfranken (901), vielleicht aber auch erst nach dem Untergang Moravias errang er, folgt man der Herrscherliste des «Presbyter Diocleas», neuerlich die Regierung im väterlichen bosnisch-sla-wonischen Fürstentum und hatte sie bis 906 inné. Die Nachkommen Sventopulks I. stellten hier noch für mehrere Generationen die Herrscher, so daß einzig das Bosnien des 10. Jahrhunderts - wenn schon nicht in territorialer, so doch in dynastischer Hinsicht - als «Nachfolgestaat» Moravias gelten könnte [5].

 

Die drei südlich von Dräu und Donau verbleibenden bedeutenderen südslawischen Fürstentümer Bosnien, Kroatien und Serbien hielten sich in den ersten Jahren nach der ungarischen Landnahme offenbar machtpolitisch die Waage. Unter dem seit ca. 909 regierenden Enkel Sventopulks, Tomislav, konnte hingegen zunächst Bosnien/Slawonien die Vorherrschaft gewinnen. Das von Thronkämpfen erschütterte Kroatien wurde seinem Reich angeschlossen, ebenso (vielleicht auch schon früher) das im 9. Jahrhundert noch ostfränkische Dukat um Siscia.

 

 

4. Die «Phasenfolge» scheint, wie in Kap.4.2.4. erwähnt, das Verläßlichste am «anonymen Notar» zu sein, der nur hier mit den anderen ungarischen Gesta übereinstimmt.

 

5. Territorial kann nur das mittelalterliche Ungarn als Nachfolger Moravias gelten, nicht aber der Přemyslidenstaat, wie die tschechische Forschung meist behauptet hat.

 

 

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Nachdem Serbien seit 920/21 für mehrere Jahre unter bulgarischer Herrschaft stand, vereinte Tomislav fast das gesamte südslawische Gebiet unter seiner Regierang, die er mit dem Titel eines Königs führte; einzig Fürst Michael von Zachlumien wird noch neben ihm (wohl in untergeordneter Position) genannt.

 

Die Wende kam mit dem Tode Tomislavs (926) und dem des Zaren Simeon von Bulgarien (927). In Kroatien gelangte mit Kresimir II. wieder ein Trpimiride auf den Thron, während in Serbien Česlav das Land von der bulgarischen Fremdherrschaft befreite. Sein Erfolg entwickelte eine eigene Dynamik; das durch den Verlust Kroatiens (und wohl auch Slawoniens) beim Thronwechsel von 926 geschwächte bosnische Fürstentum geriet unter serbische Vorherrschaft, Fürst Sebeslav ist wohl als ein Vasall Česlavs zu betrachten. Um 950, zur Zeit des Konstantinos Porphyrogennetos, zählte man das «Ländchen Bosnien» zum serbischen Machtbereich.

 

Der «Presbyter Diocleas» berichtet, daß «Ciaslav»/Česlav mit seiner ganzen Sippe bei einem Einfall der Ungarn getötet worden sei [6]. Während der darauffolgenden politischen Desintegration serbischer Teilverbände kurz nach der Mitte des 10. Jahrhunderts könnte auch Bosnien wieder unabhängig geworden sein, analog zu den Fürstentümern an der Adriaküste, deren Aufstieg nunmehr einsetzte [7]. Vielleicht erlangte es sogar die zeitweilige Hoheit über Serbien («Raszien»), wie gewisse For-mulierungen des «Presbyter Diocleas» nahelegen. Im anschließenden Kampf um die Suprematie erlitt jedoch Bosnien eine Niederlage gegen die Kroaten und geriet für einige Jahre unter deren Herrschaft, bis um 977 mit Tvardoslav wieder ein Vertreter der von Sventopulk abstammenden, «moravischen» Dynastie zurückkehrte.

 

Die hier aufgezeigte Entwicklung weicht zwar in verschiedenen Punkten - vor allem in der Bosnien zugeschriebenen Rolle - von den Darstellungen gängiger Handbücher ab; sie nimmt im Grunde jedoch nur jenen kaleidoskopartigen Wechsei in der südslawischen Staatenwelt vorweg, wie er auch im Hochund Spätmittelalter, nur wesentlich besser dokumentiert, gleichermaßen begegnet. Zu beobachten ist eine Kontinuität der «Kristallisationskerne» von Reichsbildungen [8] in Kroatien, Bosnien und Serbien (wozu im 10./11. Jahrhundert noch der Raum des heutigen Montenegro tritt) bereits seit dem 9./10. Jahrhundert. Wichtig für das Verständnis lang anhaltender «moravischer» wie kyrillomethodianischer Traditionen auch in Gebieten, die im 9. Jahrhundert nicht direkt mit Moravia verbünden waren (z.B. in Kroatien und Serbien), ist der Nachweis, daß diese im 10. Jahrhundert zeitweilig mit Bosnien/Slawonien in engster staatlicher Verbindung standen, welches wiederum unter Sventopulk in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts stark von eben diesen Traditionen geprägt worden war.

 

 

6. Presb. Diocl. 23, Ed. Šišić 1928, S.316/317 bzw. 410/411; Zweifel an diesem Bericht äußert Novaković 1966/67, S.286ff., für historisch hält ihn Babić 1972, S.65ff.

 

7. Dazu v. a. Turk-Santiago 1984.

 

8. Vgl. Grafenauer 1966!

 

 

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Im Nordwesten der ungarischen Reichsbildung konnte sich Böhmen behaupten, ja sogar (zum Teil nur vorübergehende) territoriale Gewinne verbuchen. Seit 895 wieder unter Oberhoheit der Ostfrankeii, nutzten die Böhmen die Schwäche Moravias für eine Expansion nach Osten, die zeitweilig offenbar bis in die Westslowakei führte. Nur diese ging zu Anfang des 10. Jahrhunderts wieder an die Ungarn verloren, während Mähren, das wohl schon im dritten Viertel des 9. Jahrhunderts böhmisch geworden war, gehalten werden konnte und allenfalls unter ungarischen Plünderungen zu leiden hatte.

 

Gegen Ende des 9. und in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts gelang es dem Haus der Přemysliden, seine Vorherrschaft in diesem vergrößerten Böhmen zu konsolidieren, wobei mit einer vorübergehenden Lockerung der ostfränkisch-deutschen Hoheit im ersten Drittel des 10. Jahrhunderts zu rechnen ist.

 

In das dritte Viertel des 10. Jahrhunderts fällt schließlich die erstmalige Benennung des heutigen Mähren mit der Bezeichnung «Moravia»; damit war der Name aus der Ungarischen Tiefebene, wo er keine Bedeutung mehr hatte, nach Nordwesten gewandert. Diese Übertragung fand statt, nachdem die sog. «historische Gedächtnisgrenze» von ca. 70 Jahren seit dem Untergang des «alten» Moravia überschritten worden war; sie beinhaltete jedoch zunächst keine Identifizierung des von den Ungarn vernichteten Reiches mit Mähren.

 

Eine solche Verknüpfung konnte sich in Böhmen erst durchsetzen, als hier durch die Tätigkeit der Mönche von Sázava im 11. Jahrhundert kyrillomethodianische Texte mit der Erwähnung eines Reiches von «Moravia» bekannt wurden [9]. Da die Kenntnis von der wirklichen Lage dieses Reiches verlorengegangen war, mußten die entsprechenden Nachrichten von tschechischen Lesern des 11./12. Jahrhunderts selbstverständlich auf Mähren bezogen werden. Der betreffende Vorgang beginnt im annalistischen Bereich mit Cosmas von Prag (der auch sonst als Stifter tschechischer Geschichtssagen in Erscheinung trat), etwas später auch im Bereich der böhmisch-mährischen Heiligenlegenden. Ebenso fanden erst im Hochmittelalter die fiktiven <großmährischen> Ortsnamen «Velehrad» und «Zobor» Eingang in die Geschichtsschreibung. Die Identifizierung Mährens mit Moravia führte im 13. Jahrhundert zu der Theorie einer «Translatio regni» von Moravia = <Großmähren> nach Böhmen. Im 15. und 16. Jahrhundert verbreitete sich die Überzeugung, daß das Moravia des 9. Jahrhunderts in Mähren gelegen habe, schließlich auch außerhalb der böhmischen Länder.

 

 

9. Vgl. dazu zukünftig die angekündigte Abhandlung des Verf. über die kyrillomethodianische Problematik.

 

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