Das Grossmährische Reich: Realität oder Fiktion? ; eine Neuinterpretation der Quellen zur Geschichte des mittleren Donauraumes im 9. Jahrhundert

Martin Eggers

 

3. Die territoriale und begriffliche Ausweitung Moravias unter Sventopulk

 

3.1. Das «Regnum» des Sventopulk vor 870  181

3.1.1. Die Chronik des «Presbyter Diocleas» als Quelle zur Geschichte der Südslawen im 9. und 10. Jahrhundert  182

3.1.2. Die Herrscher des «Regnum Sclavorum» in der Darstellung des «Presbyter Diocleas»  191

3.1.3. Der Reichstag «in planitie Dalmae» und die politische Geographie des «Presbyter Diocleas»  198

3.1.4. Bosnien-Slawonien als eigentlicher Machtbereich Sventopulks vor 870  205

 

3.2. Die Verbindung von Bosnien-Slawonien mit Moravia und die Theorie eines südslawischen «Patrimoniums»  211

3.2.1. Verbindungen Serbiens zu Moravia und zum «Regnum» Sventopulks  215

3.2.2. Die slawischen Kleinfürstentümer an der südlichen Adriaküste  220

3.2.3. Die Beziehungen Kroatiens zum «Regnum» Sventopulks  223

3.2.4. Genealogische Verbindungen zwischen Moravia und den südslawischen Dynastien?  229

3.2.5. Die Eintragungen slawischer Fürsten in liturgischen Gedenkbüchern  237

 

3.3. Das Verhältnis Moravias zu den westlich angrenzenden Territorien im ostfränkischen Reichsverband  243

3.3.1. Die ostfränkische Grafschaft bzw. slawische Herrschaft an Save und Drau  244

3.3.2. Das slawische Dukat des Pribina und Kocel in Pannonien  250

3.3.3. Karantanien und Moravia: territoriale Kontakte?  260

3.3.4. Die Beziehungen der karolingischen «Ostmark» zu Moravia  263

 

3.4. Der Test- und Sonderfall Böhmen  272

3.4.1. Die Frage der Abhängigkeit Böhmens vom ostfränkischen Reich  273

3.4.2. Das Problem der böhmischen Teilstämme bzw. Teilfürsten  276

3.4.3. Böhmens Verhältnis zu Moravia nach den zeitgenössischen fränkischen Quellen  282

3.4.4. Böhmen und Moravia nach der hochmittelalterlichen Tradition Böhmens  288

 

3.5. Die Verhältnisse im Karpatenraum  293

 

3.6. Zusammenfassung  296

 

 

Nachdem Lage, Umfang und Geschichte des karolingerzeitlichen Territoriums «Moravia» unter seinen beiden ersten bekannten Herrschern, Moimir und Rastislav, bis zum Jahre 870 im vorangehenden geschildert und zum Teil neu definiert worden sind, ist nunmehr auf den kurzzeitigen Aufstieg des Fürstentums zur Großmacht unter seinem dritten Herrscher Sventopulk einzugehen.

 

Dieser Aufstieg basierte zunächst auf der Verbindung des «eigentlichen» Moravia (in seinem Umfange vor 870) mit jener Herrschaftsbildung, über die allein Sventopulk vor 870 die Macht ausgeübt hatte und die nun - im Gegensatz zu Moravia - tatsächlich südlich der Donau-Drau-Linie lag, wie es Boba behauptet. Zugleich erscheint Sventopulk wesentlich deutlicher als sein Vorgänger Rastislav in die Politik des dalmatinisch-südslawischen Raumes involviert. Es soll daher zu Beginn die Frage gelöst werden, wo seine Wurzeln lagen, bevor er sich 871 der Herrschaft in Moravia bemächtigen konnte.

 

 

3.1. Das «Regnum» des Sventopulk vor 870

 

Schon immer ist die Forschung davon ausgegangen, daß Sventopulk bereits vor der Übernahme der Herrschaft in Moravia über ein eigenes Territorium verfügte; fränkische Quellen sprechen nämlich im Zusammenhang mit den Feldzügen der Söhne Ludwigs des Deutschen 869/70 von einem «regnum Zuentibaldi». Als Reaktion auf das Anrücken des Königssohnes Karlmann erkannte Sventopulk 870 dessen Lehnshoheit über sein Fürstentum an («cum regno suo Karlomanno se tradidit») [1].

 

Eine fürstliche und unabhängige Stellung Sventopulks läßt auch die Erzählung der Methodvita über die ca. 863 zu datierende Gesandtschaft an den byzantinischen Kaiser Michael III. erkennen,

 

 

1. Ann. Fuld. ad a. 869, 870, Ed. Kurze 1891, S. 67-70; Herimanni Augiensis Chron. ad a. 869, 870, Ed. Pertz 1844, S. 106.

 

 

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da Sventopulk hier neben Rastislav als eigenständiger, wenn auch nachgeordneter Absender auftritt [2].

 

Zwar präzisieren die betreffenden Quellen die geographische Lage von Sventopulks Fürstentum nicht näher, doch läßt die Wortwahl auf eine Region außerhalb des eigentlichen Moravia schließen; vorsichtig bemerkt E. Herrmann: «Über die Organisation, Ausdehnung und Abhängigkeit dieses Gebietes vom Großmährischen Reich kann nichts Schlüssiges gesagt werden» [3]. Meistens wird allerdings die Sachlage mit wesentlich weniger Zurückhaltung so dargestellt, daß Sventopulk ein «Teilreich» der <Großmährer> unter der Oberhoheit Rastislavs regiert habe; dieses soll sich in der Westslowakei mit Zentrum in Nitra befunden und räumlich etwa mit dem angeblichen einstigen Machtbereich des Pribina gedeckt haben, bevor dieser um 830 von Moimir vertrieben worden sei [4].

 

Dieser Auffassung soll hier entgegengetreten werden, denn für eine Ansetzung Sventopulks in Nitra vor 870 spricht kein einziger zeitgenössischer Quellenbeleg; ein deutliches Gegenargument enthält jedoch der bereits angeführte Brief der bairischen Bischöfe an Papst Johannes IX. vom Jahre 900, aus dem zu erschließen ist, daß die Region um Nitra erst von Sventopulk erobert wurde.

 

Vielmehr ist jenes «Regnum», welches Sventopulk vor 870 innehatte, südlich der Dräu zu suchen. Die entsprechenden Belege hat in kurzer Form schon I. Boba zusammengestellt [5]; seine Ausführungen sollen hier erweitert und ergänzt werden. Besonderes Gewicht ist dabei auf die Neubewertung einer mittelalterlichen Quelle südslawischer Herkunft zu legen, der Chronik des «Presbyter Diocleas» oder serbokroatisch des «Ljetopis Popa Dukljanina».

 

 

3.1.1. Die Chronik des «Presbyter Diocleas» als Quelle zur Geschichte der Südslawen im 9. und 10. Jahrhundert

 

Die genannte Chronik, die zur weiteren Klärung der Herkunft Sventopulks herangezogen werden soll, ist in ihrem Quellenwert bis in die neueste Zeit heftig umstritten. Erhalten ist sie in einer lateinischen und einer kroatischen Redaktion, die in ihren Aussagen zum Teil differieren.

 

Im Prolog der lateinischen Fassung gibt sich der Autor als ein Kleriker aus dem

 

 

2. Methodvita 5, 8, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S. 155, 157 bzw. Ed. MMFH 2 (1967), S. 143/144, 148/149.

 

3. Herrmann 1965, S. 136.

 

4. Abweichungen sonst «traditioneller» Historiker nur bei M. Vach, K etnickým a politickým vztahûm Staré Moravy a severní Pannonie; in: Sbornik historický, 10 (1962), S.5-31, der Sventopuľk in Pannonien apanagiert sieht; und bei Senga 1982, S.537, der Sventopulk vor 870 zwischen Theiß und Donau ansiedelt.

 

5. Boba 1971, S. 17/18, 47/48, 105ff.; s.a. Boba 1985.

 

 

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südslawischen Fürstentum Dioclea (serbokroatisch Duklja) zu erkennen, dessen gleichnamige Hauptstadt bereits in Ruinen lag [1].

 

D. S. Radojičić vermutet eine Autorschaft des Bischofs Gregor von Bar/Antivari, des Nachfolgebistums von Dioclea; S. Hafner und N. Banašević sehen hingegen in dem Verfasser einen gelehrten Benediktinermönch. Die Abfassungszeit der lateinischen Redaktion in ihrer Urfassung wird anhand historischer Erwägungen zumeist in die Jahre zwischen 1149 (letzte datierbare Eintragung in der Chronik) und 1180 (Ende der Selbständigkeit Diocleas) gelegt [2].

 

Von dieser lateinischen Redaktion, die im Original den Titel «Libellus Gothorum» oder «Regnum Sclavorum» trägt, fertigte M. Orbini 1601 für sein Werk «II regno degli Slavi» eine italienische Übersetzung an. Den lateinischen Text selbst gab erstmals J. Lucius 1666 im Rahmen seines Werkes «De regno Dalmatiae et Croatiae» heraus; er weicht in einigen Einzelheiten von Orbinis Übersetzung ab, was möglicherweise auf die Benutzung einer anderen Handschrift zurückzuführen ist, vielleicht aber auch auf eigenmächtige Abänderungen eines oder beider Autoren. Eine von R. Levaković stammende Handschrift dieser lateinischen Redaktion, entstanden um die Mitte des 17. Jahrhunderts, befindet sich heute im Vatikan und stimmt ebenfalls nicht völlig mit Lucius' Text überein [3].

 

Wie jedoch der Chronist aus Dioclea (hinfort dem allgemeinen Gebrauch folgend als «Presbyter Diocleas» bezeichnet) in der Vorrede zu verstehen gibt, lag ihm bereits eine Chronik in slawischer Sprache vor, die er «ex sclavonica littera... in latinam» übersetzt habe [4]. Dieses somit ältere «Original» der Chronik glaubte ein Teil der Forschung in der kroatischen Redaktion sehen zu dürfen, die sich 1510 im Besitz des Fürsten Juraj Marković aus der kroatischen Adelsfamilie Kačić befand; diese Kačić waren in der Region von Omis, zwischen Split und Makarska ansässig. Die erwähnte Fassung dürfte dem Spalatiner Humanisten M. Marulus als Grundlage für eine weitere Übersetzung ins Lateinische gedient haben. 1546 will H. Kaletić aus Omis ebendiese kroatische Fassung kopiert haben; sein Manuskript - das einzig erhaltene der kroatischen Redaktion - weicht aber vom Text des Marulus in wesentlichen Passagen ab,

 

 

1. Presb. Diocl., Einl., Ed. Šišić 1928, S. 292 (Lucius, Orbini; nicht in der kroat. Redaktion). Zu Dioclea im Mittelalter vgl. Barada 1949; Kovačević 1965, S. 67; Kollautz/Miyakawa 1970, 1, S.271/272.

 

2. Radojičić 1965, S.529 Anm. 1 und 1966, S.189/190, 200/201; Hafner 1964, S.40; Banašević 1971, S. 35, 47, 268.

 

3. Cod. Vat. Lat.6958; fotogr. Reproduktion bei Mijušković 1976, S. 123-169; zu einer wei teren neuaufgefundenen Handschrift der lat. Red. aus der Mitte des 17. Jahrhunderts (in der Nationalbibliothek Belgrad) s. Kurelac 1970.

 

4. Siehe Ed. Šišić 1928, S. 292; «sclavonica littera» wird bisweilen auch als «glagolitische Schrift» gedeutet, vgl. Mandić 1963, S. 448 ff. oder Havlík 1976, S. 56 ff.; «kyrillische Schrift» nach Radojičić 1966, S. 200/201.

 

 

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weil dieser aus Gründen der Lesbarkeit (wie er selbst erwähnt) größere Kürzungen vornahm.

 

Wie sich gezeigt hat, müssen im 16. und 17. Jahrhundert mehrere, zum Teil inhaltlich stärker divergierende Kopien der Chronik im Umlauf gewesen sein, sowohl in lateinischer wie in kroatischer Sprache, von denen aber die meisten verlorengegangen sind. Eine Kenntnis des Textes (bzw. seiner Vorstufen) ist bereits nachzuweisen bei dem Spalatiner Chronisten Thomas Archidiaconus (Mitte des 13. Jahrhunderts), bei dem Venezianer Andrea Dandolo (Mitte des 14. Jahrhunderts) sowie mehreren frühneuzeitlichen Annalisten aus Ragusa (Dubrovnik) [5].

 

Da nun zwischen der lateinischen und der kroatischen Version inhaltlich noch größere Differenzen bestehen als zwischen ihren jeweiligen Vertretern untereinander (und zwar gerade auch in den hier besonders interessierenden Abschnitten), so stellt sich die Frage der Priorität.

 

M. Medini und - ihm folgend - M. Hadžijahić sowie L. Havlík sahen eine größere Ursprünglichkeit der kroatischen Redaktion als gegeben an [6]. Überzeugender sind jedoch die von dem Herausgeber der Chronik, F. Šišić, gesammelten und von L. Steindorff noch erweiterten Argumente für den Primatsanspruch der lateinischen Chronikversion, wie sie bei Lucius und Orbini vertreten ist, so daß hier Steindorffs Fazit übernommen werden soll: «Die kroatische Redaktion beruht auf der Übersetzung einer der erhaltenen lateinischen Redaktion nahen Vorlage, und auch die erhaltene kroatische Rezension weicht kaum vom Original der Übersetzung ab. Die Entstellung und Ersetzung von Namen, Verkürzungen und Ergänzungen gehen weitgehend zulasten des Übersetzers, der über eine nur geringe historische Bildung verfügte [7].» Es wird also hinfort die Version Lucius/Orbini als die Primärquelle betrachtet, die kroatische Redaktion - von V. Mošin zur Basis seiner Edition gewählt - nur substituierend herangezogen [8].

 

Unterschiede zwischen den beiden Redaktionen zeigen sich schon im Umfang.

 

 

5. Diese Angaben erschließbar aus der Vorrede des Marulić (Ed. Šišić 1928, S.382); s.a. Manojlović 1925, S. XL ff.; Šišić 1928, S.28, 47ff., Medini 1935; Mošin 1950, S. 13 ff.; Puhiera 1959, S.3ff.; Radojković 1962, S.426; Kurelac 1970; Havlík 1976, S.5ff.; Hadžijahić 1986, S. 16 ff.

 

6. Medini 1935, S.29ff. und 1942, passim; Hadžijahić 1983, S. 18ff. (bevorzugt die Fassung Marulić); Havlík 1976, Stemmata auf S. 9 und 55.

 

7. Steindorff 1985, S. 287/288.

 

8. Die Edition von Šišić 192 8 setzt die Texte von Lucius und Orbini wie auch die von Kaletić und Marulić jeweils parallel; die Edition Mošin 1950 bringt die Fassungen von Kaletić und Lucius mit einer modernen kroatischen Übersetzung; in beiden Editionen ist die Orthographie der kroat. Version von Kaletić modernisiert. Vgl. auch die Bemerkungen in der Rez. Lascaris 1951 zu Mošin 1950!

 

 

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Während die lateinische Version 47 Kapitel umfaßt, zählt die kroatische deren nur 27; davon sind wiederum nur die ersten 23 Kapitel beiden Fassungen gemeinsam [9].

 

Versuche zur Untergliederung des Textes sind zahlreich, weisen aber kaum Gemeinsamkeiten auf; dennoch sind sie von größter Wichtigkeit für das richtige Verständnis der Quelle.

 

Mit Sicherheit kann nämlich davon ausgegangen werden, daß der «Presbyter Diocleas», also der Verfasser der 47 Kapitel zählenden lateinischen Redaktion, nicht, wie noch F. Šišić annahm, ein in sich geschlossenes und einheitliches Werk, eben das «Regnum Sclavorum», übersetzte, sondern daß er vielmehr eine Kompilation verschiedener Quellen vornahm.

 

Nach rein literarischen Kriterien etwa versuchte N. Banašević eine Gliederung, wobei er nach der von ihm vorausgesetzten mündlichen Überlieferungsgrundlage ordnete.

 

Ebenfalls nach sprachlich-stilistischen Gesichtspunkten unternahm M. Medini eine Dreigliederung in die Kapitel 1-35 und 37 (älteste Chronik), 36 («Travunische Chronik», entstanden in Trebinje um 1020) sowie 38-47 («Diocleatische Chronik», entstanden nach 1149).

 

S. Mijušković hingegen sieht in der Chronik ein «belletristisches» Werk aus einem Guß.

 

Dagegen stehen Gliederungsversuche nach inhaltlichen Zusammenhängen. B. Radojković vertritt z.B. eine Zweiteilung in ein zu Anfang des 13. Jahrhunderts angefügtes «Gotenbuch» (nach dem Ausdruck «Libellus Gothorum» in der Vorrede der Chronik) von Kapitel 1 bis 9 und eine darauf folgende, aber ältere Geschichte Diocleas bis zum Schlußkapitel 47.

 

Wesentlich differenzierter ist die von J. Kovačević in der «Geschichte Montenegros» aufgestellte Gliederung: Einleitung; Kapitel 1-7 «Gotenbuch»; Kapitel 8-9 «Konstantins-Legende»; Kapitel 9, Teil 2 «Slawenbuch»; Kapitel 10-21 sog. «unbestimmter Teil»; Kapitel 22-35 «Chronik von Trebinje»; Kapitel 36 «Vita des hl. Vladimir von Dioclea»; Kapitel 37-47 «eigentliche Chronik von Dioclea».

 

Eine noch kompliziertere Zusammensetzung vertritt M. Hadžijahić: Kapitel 1-5 «Gotenbuch»; Kapitel 6-10 «Regnum Sclavorum»; Kapitel 11-21, 28-30, 32-35 «Chronik von Trebinje»; Kapitel 22-23 «Legende des Tihomil»; Kapitel 24-27, 31,

 

 

9. Die letzten vier Kapitel (24-27) der kroatischen Redaktion wurden, wohl in Ragusa/Dubrovnik, hinzugefügt und handeln von der Zeit der letzten «nationalen» Kroatenkönige bis 1089; der zeitliche Ansatz ist umstritten zwischen dem 12. Jahrhundert (Hadžijahić 1983, S.28 ff.), dem 14. Jahrhundert (Murko 1908, S. 107; Šišić 1928, S. 163; Steindorff 1985, S.288) und sogar dem 15. Jahrhundert (Ferluga 1980, S.431 Anm.3)!

 

 

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37 «Dubrovniker Legende»; Kapitel 36 «Legende des hl. Vladimir»; Kapitel 38-47 «eigentliche Chronik des Presbyter Diocleas» [10].

 

 

Zu diesen aus dem Inhalt erschließbaren möglichen Segmentierungen stellt sich die Beobachtung, daß im Verlauf der Darstellung zeitliche Rücksprünge auftreten. L. Steindorff hat gezeigt, daß zwischen Kapitel 13, welches einen auf den Anfang des 10. Jahrhunderts zu datierenden Ungarnkrieg erwähnt, und Kapitel 30, das den 969 bezeugten Tod des bulgarischen Zaren Peter berichtet, mehrere chronologische Unstimmigkeiten auffallen. So erscheint in Kapitel 20 der um die Mitte des 9. Jahrhunderts regierende Kroatenfürst Trpimir, in Kapitel 23 hingegen der ins 10. Jahrhundert zu setzende Serbenfürst Česlav (oder Časlav), worauf in Kapitel 26 wiederum Ereignisse referiert werden, die in die Jahre 867 bis 879 fallen [11].

 

Dieses chronologische Chaos - der «Presbyter Diocleas» gibt ja vor, eine ununterbrochene Genealogie südslawischer Herrscher zu liefern! - wie auch die komplizierte Überlieferungsgeschichte haben bewirkt, daß die Geschichtsschreibung seit F. Rački und E. Dümmler der historischen Glaubwürdigkeit des «Presbyter Diocleas» wenig Vertrauen entgegenbrachte [12]. Noch in neuerer Zeit sahen F. Šišić und N. Radojičić die Chronik als eine Sammlung mündlicher Überlieferungen und epischer Volkslieder an, S. Mijušković bezeichnete sie gar als eine literarische Fiktion des Spätmittelalters [13].

 

Dagegen setzte sich bei anderen Forschern die Ansicht durch, daß zumindest Teile der Chronik historischen Gehalt besitzen. So urteilt etwa S. Hafner: «Der Text... gewinnt als historische Quelle, je besser man ihn zu interpretieren weiß, in der Wissenschaft zusehends an Wert [14].» Entsprechend hat J. Ferluga den mit Kapitel 30 beginnenden Abschnitt auf seinen Aussagewert für die Fragen byzantinischer Lokalgeschichte im westlichen Balkan hin überprüft; er kam zu dem Ergebnis: «Die Einzelheiten bleiben zum Teil fraglich, sind nicht immer durch Belege aus anderen Quellen bestätigt oder bekräftigt, aber der geschichtliche Kern ist glaubwürdig.»

 

 

10. Banašević 1971, S. 13 ff.; Medini 1935, S. 29 ff. und 1942, S. 115 ff.; Mijušković 1967, S. 119; Radojković 1962, S.404; Istorija Crne Gore, 1 (1967), S.422ff.; Hadžijahić 1983, S. 11/12.

 

11. Steindorff 1985, S. 294/295.

 

12. Vgl. Dümmler 1856, S.355 und F. Rački, Ocjena starijih izvora za hrvatsku i srbskú poviest srednjega vieka; in: Književnik, 1 (1864), S. 199-227; s.a. Klaić 1885, S.57/58; Thallóczy 1898, S. 206 ff.; Stanojevič 1927; Runciman 1930, S. 209.

 

13. Šišić 1028, S. 182ff.; Radojčić 1936, S.25; gegen diese Ansicht polemisiert Banašević 1971, S. 224 ff.; auf Parallelen zu zeitgenössischen Chronisten Westeuropas verweisen er und Kovačević 1956, dagegen wiederum Mijušković 1967, S. 107/108,114/115; s.a. Birnbaum 1972, S. 61.

 

14. Hafner 1964, S.41.

 

 

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Ebenso sah er aber auch in den auf byzantinische Verhältnisse bezüglichen Informationen, die vor Kapitel 30 erscheinen, einen historischen Kern, der mittels anderer Quellen zu verifizieren sei [15]. Positive Resultate brachten ebenso Einzeluntersuchungen zur sog. «Vita» (bei Radojičić «Gesta») des Fürsten Vladimir von Dioclea [16] und der darauffolgenden Geschichte Diocleas in Kapitel 37-47, wo die Abfolge der Ereignisse in chronologisch richtiger Darstellung gebracht wird [17].

 

Noch weiter zum Anfang der Chronik zurückgreifend wurde die Brauchbarkeit des auf Kapitel 22 folgenden Teiles für die ins späte 9. und frühe 10. Jahrhundert fallende Geschichte der serbischen Herrschaftsbildungen Travunien, Zachlumien und «Srpsko Zagorje» erwiesen [18].

 

Auch die vom «Presbyter Diocleas» gebrachten Bezüge zur Geschichte Ungarns scheinen nicht so unglaubwürdig, wie es noch L. Thallóczy 1898 annahm [19].

 

Selbst in dem von J. Kovačević als «unbestimmbar» klassifizierten Teil der Chronik hat man Daten der Geschichte Rasziens (des Vorgängerstaates Serbiens) wiedererkennen können [20]; doch bleibt die Skepsis gerade gegenüber den ersten 35 Kapiteln der Chronik besonders deutlich [21].

 

 

Wenn also möglicherweise Blöcke faktisch wie chronologisch in sich stimmiger historischer Informationen zu einzelnen südslawischen Fürstentümern vom «Presbyter Diocleas» mittels einer fiktiven genealogischen Verkettung aneinandergereiht werden und in der Geschichte Diocleas gewissermaßen ihre Apotheose finden, so ist hier nach den Motiven zu fragen.

 

Der «Presbyter Diocleas» war in seiner Sicht der südslawischen Geschichte von drei Grundtendenzen bestimmt.

 

Die erste ist kirchenpolitischer Natur [22]: Unter König Konstantin Bodin von Dioclea war das Bistum Bar vom Gegenpapst Clemens III. 1089 in den Rang eines Erzbistums erhoben worden;

 

 

15. Ferluga 1980, S.460 sowie S.434ff.; s.a. Radojičić 1957, S.268 und Banašević 1971, S. 143 ff. mit Parallelen zu byzantin. Chronisten.

 

16. Dazu v.a. der Aufsatz von Radojičić 1965; s.a. Jireček 1911, S.206ff.; Medini 1935, S.271/272; Radojčić 1936, S. 13; Mošin 1950, S.34; Hafner 1964, S.40/41; Banašević 1971, S. 133 ff.; Turk-Santiago 1984, S. 155 ff.

 

17. Jireček 1911, S.227; Istorija Crne Gore, 1 (1967), S.390ff.; Ferluga 1980, S.446ff.

 

18. Turk-Santiago 1984, S. 124ff.; s.a. Radojičić 1957, S.264ff. und Wasilewski 1971.

 

19. Vgl. Thallóczy 1898, S.213ff. und dazu Steindorff 1985, S.294 Anm.67 über dessen «übertriebene» Kritik!

 

20. Jireček 1911, S.201/202; Čorović 1940, S. 145; Radojičić 1957, S.264ff.

 

21. Vgl. etwa Banašević 1971, S.24ff. oder Klaić 1971, S. 17.

 

22. Zum Folgenden s. Šišić 1917, S.326/327; Medini 1935, S.185ff.; Barada 1949; Radojičić 1957, S.269/270, 281/282; Radojković 1962, S.425ff.; Dvornik 1970, S.254ff.; Istorija Crne Gore, 2 (1970), S. 15ff.; Banašević 1971, S.263; Hadžijahić 1983, S.36ff.; Fine 1983, S.215/216, 223/224; Turk-Santiago 1984, S.204ff.; Steindorff 1985, S.305/306, 312ff.

 

 

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es wurden ihm die Bistümer (in heutiger Benennung) Kotor, Ulcinj, Svač, Shkodër, Drishtë und Pult sowie die nicht ortsgebundenen Bischöfe von Serbien, Bosnien und Travunien unterstellt. Gegen diese Maßnahme erhob das Erzbistum Ragusa/Dubrovnik Einspruch, da es seit 1022 die Jurisdiktion über eben diese Kirchen für sich reklamierte. Der sich daraus entspinnende Konflikt endete zunächst 1142 mit einer Entscheidung des Papstes Innozenz II. zugunsten Dubrovniks. Daraufhin versuchte die Diözese Bar, wenigstens dem Erzbistum Spalato/Split statt dem «Erzfeind» Dubrovník unterstellt zu werden.

 

Die aus diesen Vorgängen resultierende kirchenpolitische Stoßrichtung des «Presbyter Diocleas» findet im weltlichen Bereich eine Parallele in der Glorifizierung des Fürstentumes von Dioclea, das unter dem Fürsten Michael (ca. 1050-1081) und seinem Sohn und Nachfolger Konstantin Bodin (1082-1108) eine beachtliche Ausdehnung erreicht hatte.

 

Es umfaßte damals fast alle zwischen dem Ungarischen Reich und dem unter byzantinischer Herrschaft stehenden Bulgarien liegenden südslawischen Länder, also die benachbarten, Anfang des 11. Jahrhunderts eroberten Fürstentümer an der Küste, seit 1083 auch Raszien («Raška», das spätere Serbien) und Bosnien im Binnenland [23]. Einzig das Land der Narentaner und die Republik Ragusa/Dubrovnik blieben selbständig.

 

Angesichts des Anschlusses von Kroatien an Ungarn (1089/91) verstand man sich in Dioclea gegen Ende des 1 L und zu Anfang des 12. Jahrhunderts offenbar als alleiniger Wahrer der südslawischen Traditionen, als Erbe des «Regnum Sclavorum».

 

Wie für Travunien und Raszien deutlich gemacht wurde, versuchte der «Presbyter Diocleas» die Überlieferungen der anderen, angeschlossenen Reichsteile sozusagen für Dioclea zu monopolisieren, sicherlich auch im Sinne einer politischen Propaganda. Besonders wichtig wurde eine derartige Propaganda, nachdem sich während eines innerdiocleatischen Bürgerkrieges das serbische Raška unter der Dynastie der Nemanjiden losriß und als eigenes, konkurrierendes Fürstentum konstituierte. Der Kampf um die Vorherrschaft endete schließlich mit dem Sieg Stephan Nemanjas von Raška (1168-1195), der um 1180 Dioclea annektierte [24].

 

Aus dieser Situation um die Mitte des 12. Jahrhunderts erklärt sich die Bemühung der Chronik,

 

 

23. Vgl. die Karten im Großen Hist. Weltatlas, 2 (1970), S. 74/75 a), und bei Novakovic 1981, S.272; s.a. Guldescu 1964, S. 195; Čirkovič 1964, S.42/43; Božie 1968, S. 144; Fine 1983, S.211ff.; Turk-Santiago 1984, S.192ff.; Hösch 1988, S.74.

 

24. Dazu J. Kovačević, Tradicija o dukljanskom kraljevstvu kód Nemanjiča; in: Istorijski časopis, 5 (1955), S.291-294.

 

 

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die Dynastie Rasziens herabzusetzen [25], aber auch der Versuch, durch die Kombination an sich nicht zusammengehöriger, aus verschiedenen zeitlichen wie örtlichen Ebenen stammender, eine kontinuierliche dynastische Erbfolge heraushebender «Informationsblöcke» das Alter und die Legitimität des Fürstenhauses von Dioclea, vor allem gegenüber Raszien, zu betonen.

 

Eine dritte Tendenz, deren Herausarbeitung wir E. Turk-Santiago verdanken, nämlich die Sichtweise des romanischen Patriziertums der süddalmatinischen Küstenstädte, führt zu einem besonderen Interesse des Chronisten am Schicksal der lateinisch orientierten, romanischsprachigen Christen dieser Städte und einer dezi-dierten Wertung des jeweiligen Verhaltens der slawischen Herrscher des Binnenlandes ihnen gegenüber [26].

 

Von Interesse für die zu Beginn gestellte Frage nach der Herkunft Sventopulks ist nun einer jener vom Faktographischen wie Chronologischen her geschlossenen «Blöcke», der im folgenden in den Kapiteln 5 bis 12 nachgewiesen werden soll. Bereits M. Hadžijahić hat einen Teil dieses «Blocks», nämlich die Kapitel 6 bis 10, als eine Einheit ausgemacht, die er als die eigentliche, vom «Presbyter Diocleas» laut eigener Angabe übersetzte Schrift «Regnum Sclavorum» ansieht und die seiner Meinung nach den «Hauptteil der Chronik» darstellt [27].

 

In diesem Teil erscheint der aus der Geschichte Moravias bekannte Fürst Sventopulk im 9. Kapitel, und zwar nur in der lateinischen Redaktion - als «Sfetopelek» bei Lucius, als «Suetopelek» bei Orbini.

 

Die von Kaletić und Marulus vertretene kroatische Redaktion setzt hingegen an Stelle dieses Namens einen völlig anderen, nämlich «Budimir». Allerdings bezeichnet Kaletićs Version diesen Budimir als «kralj svetoga-puka», als «König des heiligen/christlichen Volkes» [28]. Diese Ausdrucksweise der kroatischen Redaktion, die ja, wie erwähnt, als sekundär anzusehen ist, deutet nach M. Lascaris auf den Versuch einer «Weginterpretierung» des im Texte der Vorlage angetroffenen Namens «Svetopelek»; dieser Name bedeutet übersetzt ja nichts anderes als «heiliges (ursprünglich «starkes») Volk/Heer».

 

 

25. Indem sie den Begründer dieser Dynastie, Tihomil, als ehemaligen Schafhirten hinstellte (Presb. Diocl. 24,25, Ed. Šišić 1928, S.315ff.). Wegen ihrer anti-nemanjidischenTendenz wurde die Chronik auch nicht im Räume Serbiens und Montenegros tradiert, sondern in Dalmatien und Kroatien; die kirchliche Ausrichtung des «Presbyter Diocleas» auf Rom mag dabei ebenfalls eine Rolle gespielt haben, v. a. nach dem endgültigen Anschluß Serbiens an die orthodoxe Kirche i.J. 1219!

 

26. Turk-Santiago 1984, S. 100 ff.

 

27. Hadžijahić 1983, S. 15.

 

28. Ed. Šišić 1928, S.392ff.; vgl. bes. Anm. 17 auf S.392. Mögliche Zusammenhänge mit dem in einer kroatischen Urkunde von 892 erscheinenden «Budimir» sieht Havlík 1976, S. 17/18.

 

 

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Daß offenbar zwei verschiedene Traditionen bezüglich dieses Namens nebeneinander bestanden, erweist sich nach Lascaris daraus, daß auch Orbini, wie eine von ihm stammende Randnotiz seiner Übersetzung zeigt, beide Namen kannte, dabei «Budimir» für den heidnischen, «Svetopelek» aber für den Taufnamen desselben Fürsten hielt. Lascaris wie auch L. Havlík und Steindorff sehen «Svetopelek» für die ursprüngliche Namensform an, die in der Vorlage des «Presbyter Diocleas» verwendet wurde [29].

 

Dem muß man sich bei einer Bejahung der These vom Primat der lateinischen Redaktion eigentlich anschließen, auch wenn Šišić (der ja ein Vertreter dieser These ist) in seiner Edition konsequent «Budimir» für «Svetopelek» eingesetzt hat. (Selbstverständlich ist es dagegen, daß die Befürworter eines höheren Alters der kroatischen Redaktion die dort verwendete Form «Budimir» als verbindlich setzen [30]!)

 

Das Erscheinen eines «Svetopelek» in einer südslawischen Chronik und seine Bezeichnung als südslawisch-dalmatinischer König ist bisher auf die verschiedenste Weise gedeutet worden. Eine Forschungsrichtung erblickt darin die völlige Übernahme des bekannten <großmährischen> Fürsten mitsamt einiger aus seiner Regierungszeit bekannter Fakten in eine aus teils legendären, teils historischen Elementen bestehenden Kompilation; sie sieht also im 9. Kapitel des «Presbyter Diocleas» nicht Ereignisse südslawischer, sondern <großmährischer> Geschichte geschildert.

 

Eine andere Richtung nimmt an, daß nur der Name Sventopulks (etwa wegen seines ruhmreichen Klanges im späten 9. Jahrhundert) aus <Großmähren> entliehen worden sei. Unter den ihm zugeschriebenen Taten seien aber eigentlich die eines andersnamigen, kroatischen Fürsten zu verstehen, wobei sich diese in der Chronik auch mit denen des «historischen» Sventopulk vermischt haben könnten. Zumeist wird dabei an Tomislav (belegt 914 und 925) gedacht, aber auch an Borna (vor 821) oder Branimir (879-888/92). Radojković schlug Fürst Michael Viševicjron Zachlumien (belegt ca. 913-925) als «Urbild» des betreffenden Fürsten vor, L. Steindorff den oben erwähnten König Michael von Dioclea [31].

 

Schließlich hat man aus der Namensform «Budimir» auch auf die Existenz eines sonst unbekannten Herrschers dieses Namens, sei es in Kroatien oder Bosnien, geschlossen.)

 

 

29. Rez. Lascaris 1951 zu Mošin 1950, S.241; Havlík 1976, S. 13/14; Steindorff 1985, S.287 mit Anm.39.

 

30. So etwa Hadžijahić 1970, S.232ff. und 1983, S.20/21; er sieht in «sveti puk» die Bedeu tung «getauftes Volk».

 

31. Für Tomislav Manojlović 1925, S.XXXIIff.; Klaić 1925, S.7ff.; Guldescu 1964, S. 114ff.; für Borna Thallóczy 1898, S.207/208; für Branimir Šišić 1928, S. 136, 432; Koščak 1980/81, S.326ff.; vgl. auch Radojković 1962, S.412/413; Steindorff 1985, S.303, 309ff.

 

 

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Wohl als erster hat I. Boba die völlige Historizität der vom «Presbyter Diocleas» über «Svetopelek» gegebenen Informationen behauptet und versucht, sie für seine These eines süddanubischen Moravia nutzbar zu machen [32].

 

Ein neuerliches Eingehen auf Bobas Argumentation erscheint angebracht; dabei soll aber auch die (von Boba nicht erwähnte!) Tatsache berücksichtigt werden, daß der «Presbyter Diocleas» Moravia nicht ein einziges Mal nennt. In diesem Rahmen ist eine Untersuchung auch jener Abschnitte vonnöten, die dem «Svetopelek»-Kapitel 9 vorangehen bzw. darauf folgen.

 

 

3.1.2. Die Herrscher des «Regnum Sclavorum» in der Darstellung des «Presbyter Diocleas»

 

Der Verfasser der Chronik beginnt in den beiden ersten Kapiteln mit Ereignissen, die die Geschichte des Ostgotenreiches von der Mitte des 5. bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts tangieren, wobei naturgemäß Dalmatien besonders hervorgehoben wird.

 

Anstelle des historisch bedeutenderen Theoderich tritt besonders Totila, durch die Benediktvita zum Prototyp des Gotenkönigs schlechthin geworden, in den Vordergrund. Sein fiktiver Bruder «Ostroyllus» wird vom «Presbyter Diocleas» als Begründer jener Dynastie hingestellt, die in angeblich ununterbrochener Folge das «Regnum Sclavorum» regiert habe [1].

 

Die «Ansippung» der sonst slawischen Herrschergenealogie an die Ostgoten, aber auch der von Lucius und Orbini überlieferte volle Titel des Werkes, nämlich «Libellus Gothorum id est Sclavorum», legen Zeugnis ab von einer gewissen «Gotomanie» südslawischer Chronisten des Hochmittelalters, die beispielsweise auch bei Thomas Archidiaconus durchschlägt [2].

 

Dieser ersten, heidnisch-gotischen Phase des «Regnum Sclavorum» folgt, ohne daß der Untergang des Ostgotenreiches Erwähnung fände, in den Kapiteln 3 und 4 eine goto-slawische Phase, repräsentiert durch zwei Herrscher mit den slawisch klingenden Namen «Svevladus» (bzw. «Seviolado» oder «Sviolad») und «Sehmirus» («Silimir»),

 

 

32. Boba 1971, S. 17/18,105 ff., 1985 und 1991 b.

 

1. Diese Erzählung wurde ernstgenommen von J. Rus, Kralji dinastije Svevladičev (Ljubljana 1931), der die betreffenden «gotischen» Könige in die Zeit von 454 bis 614 setzte. Ein tatsächliches Fortleben der Goten als ethnischer Einheit in Dalmatien bis c. 800 nehmen auch an Koller 1964, S.6/7; Guldescu 1964, S.44ff., 317f£; Boba 1985, S.64.

 

2. Hafner 1964, S.40/41; Havlík 1976, S.4; Hadžijahić 1983, S. 13/14, 43ff., 56/57; TurkSantiago 1984, S.289 Anm.419; Steindorff 1985, S.290ff.; s.a. R. Wenskus, Zum Problem der Ansippung; in: H. Birkhan (Hg.), Festgabe für O. Höfler = Philologica Germanica, 3(1976), S. 645-660.

 

 

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denen Regierungszeiten von 12 und 21 (20) Jahren zugeschrieben werden [3].

 

In die Zeit «Selimirs» verlegt der Chronist die Einwanderung der Slawen, aber auch den Übergang von der Verfolgung zur Tolerierung der lateinischen Christen. Im Grunde dient die goto-slawische Phase der Überbrückung des zeitlichen Hiatus zwischen der Gotenzeit und der eigentlichen slawischen Reichsbildung.

 

Dasselbe gilt für die Erzählung von der Einwanderung der Bulgaren, die der Regierungszeit des nächsten Herrschers, «Vladinus» (auch «Vladan» oder «Bladin»), zugeordnet wird [4].

 

Diese Einwanderung der Bulgaren in ihre neuen süddanubischen Sitze, die der Chronist mit dem rätselhaften Namen «Syloduxia» (bzw. «Silodusia» oder «Senobujija») belegt, fand bekanntermaßen unter Khan Asparuch um 680 statt. Der in der Chronik stehende Name des bulgarischen Anführers, «Kris» bei Lucius, «Chris» bei Orbini, «Bare» bei Kaletić und «Barris» bei Marulus, ist auf keinen historischen Bulgarenfürsten mit Sicherheit zu deuten [5].

 

Dagegen sind die bulgarischen Angriffe und der darauf folgende Friede, den «Vladin» mit den Bulgaren geschlossen haben soll, als eine Reminiszenz an die (von fränkischen Quellen überlieferten) Einfalle der Bulgaren in das «obere Pannonien» an der Dräu um 828/29 zu sehen; vor diesem Zeitpunkt sind keine Unternehmungen der Bulgaren in die Richtung des «Regnum Sclavorum» bekannt, wie es vom «Presbyter Diocleas» definiert wird [6]. Anhand dieser Angaben der Chronik wäre also «Vladin» vorläufig dem ersten Drittel des 9. Jahrhunderts zuzuweisen.

 

Bestätigung findet diese Annahme darin, daß sich bei dem als Sohn und Nachfolger «Vladins» bezeichneten «Ratimir» [7] in fränkischen Quellen konkrete Anhaltspunkte für eine damit korrespondierende chronologische Fixierung ergeben. Bereits mehrfach ist in der Literatur darauf hingewiesen worden, daß der «Ratimir» des «Presbyter Diocleas» identisch sein könne mit jenem Slawenfürsten «Ratimar»,

 

 

3. Presb. Diocl. 3,4, Ed. Šišić 1928, S.296/297 (Lucius, Orbini), 387/388 (Kaletić, Marulić).

 

4. Presb. Diocl. 5, Ed. Šišić 1928, S.297/298 (Lucius, Orbini) bzw. 389/390 (Kaletić, Maru lič). Eine romanische Form des Namens «Bladin» betonen Šišić 1928, S. 297 Anm.9 und Mošin 1950, S. 44 Anm.25; Medini 1942, S. 152 vermutete daher die Autorschaft eines dalmatinischen Romanen bis einschließlich zu diesem Kap. 5 der Chronik. Rodič 1980, S.322 sieht hingegen eine Kurzform von «Vladimir» oder «Vladislav»!

 

5. Thallóczy 1898, S. 207 denkt an Khan Krum; Hauptmann 1925, S. 19/20, Šišić 1928, S. 426 und Lascaris 1951 an Zar Boris; Steindorff 1985, S. 293 an Khan Asparuch.

 

6. Vgl. etwa die Ann. regni Franc, ad a. 828, Ed. Kurze 1895, S. 174; Ann. Fuld. ad a. 826828, Ed. Kurze 1891, S. 24 ff.

 

7. Presb. Diocl. 6, Ed. Šišić 1928, S.298/299 (Lucius, Orbini) bzw. 390/391 (Kaletić, Marulić).

 

 

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welcher 838 vom Ostlandpräfekten Ratbod besiegt und vertrieben wurde [8]; über diesen Feldzug finden sich Eintragungen in den älteren Salzburger Annalen, im «Auctarium Garstense» wie auch in der «Conversio», deren Schilderung deutlich erkennen läßt, daß der «Ratimar» von 838 ein Südslawe war [9].

 

Beim «Presbyter Diocleas» erscheint «Ratimir» als erbitterter Feind und Verfolger der Christen; möglicherweise ist darin der Anlaß für die Strafaktion Ratbods zu suchen, der aus den fränkischen Quellen nicht ersichtlich wird. Vielfach wird der «Ratimar» dieser Quellengruppe aber auch als Verbündeter, wenn nicht sogar als Vasall der Bulgaren betrachtet und darin der Grund der Auseinandersetzung gesehen. Mit dieser Auffassung würde die vom «Presbyter Diocleas» berichtete Freundschaft zwischen Bulgaren und «Goto-Slawen» harmonieren, die nach dem Friedensschluß «Vladins» geherrscht haben soll [10]. Auf «Ratimir» folgen nach sämtlichen Fassungen der Chronik vier ungenannte, aber ebenso christenfeindliche und «ungerechte» Fürsten, die sämtlich aus «Ratimirs» Verwandtschaft («ex eius pro-genitate», «ex propinquis») stammten. Unter ihrer Regierung, die ohne genauere Angaben nur ganz pauschal als kurz gekennzeichnet wird, soll eine allgemeine Flucht der Christen in Gebirgsgegenden und befestigte Orte («in montanis et in locis fortioribus») eingesetzt haben [11].

 

Ihre Lage besserte sich erst wieder, als «Svetimirus» («Svetmir», «Satimerus», «Satimir»), aus demselben Geschlecht wie die vier «ungerechten» Fürsten, auf den Thron gelangte. In seine Regierungszeit, deren Dauer ebenfalls nicht präzisiert wird, fällt nach dem «Presbyter Diocleas» die missionarische Tätigkeit des späteren «Slawenapostels» Konstantin/Kyrill unter den Chazaren und Bulgaren [12]. Während die Tätigkeit Konstantins in Bulgarien von einem Teil der Forschung bezweifelt wird, fand die in seiner Vita überlieferte Reise zu den Chasaren um 860/61 statt, so daß hier ein weiterer chronologischer Anhaltspunkt vorliegt [13].

 

Auf «Svetimir» folgt nun dessen Sohn «Svetopelek» (bzw. «Budimir»), dem die Chronik eine Regierung von 40 Jahren und 4 (bzw. 3) Monaten zuweist [14].

 

 

8. Hauptmann 1925, S.20/21; Boba 1971, S. 105; Hadžijahić 1983, S.52.

 

9. Contin. Ann. Iuvav. Max. ad a. 838, Ed. Bresslau 1934, S. 740; Auctarium Garstense ad a. 838, Ed. Wattenbach 1851, S.564; Conversio 10, Ed. Wolfram 1979, S.52/53.

 

10. Presb. Diocl. 5, Ed. Šišić 1928, S. 298 (nur bei Lucius).

 

11. Presb. Diocl. 7, Ed. Šišić 1928, S.299 (Lucius, Orbini), 391 (Kaletić, Marulić).

 

12. Presb. Diocl. 8, Ed. Šišić 1928, S.300 (Lucius, Orbini), 391/392 (Kaletić, Marulić).

 

13. Konstantinsvita 8-11, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S. 109-124; zum Zeitpunkt Grivec 1960, S.47ff.; Bujnoch 1972, S. 197; Havlík 1976, S.30/31. Hadžijahić errechnet 860/61 als Be ginn der Herrschaft Svetimirs (1970, S.237 bzw. 1983, S.52).

 

14. Presb. Diocl. 9, Ed. Šišić 1928, S.308 (Lucius, Orbini), 400 (Kaletić, Marulić).

 

 

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Geht man von der Identität des «moravischen» Sventopulk mit dem des «Presbyter Diocleas» aus und setzt das aus fränkischen Quellen bekannte Todesjahr des «moravischen» Sventopulk, 894 [15], hier ein (wozu der Diokleat noch den 17. März als Todestag nennt), so wäre Sventopulk Ende des Jahres 853 im väterlichen «Regnum» (das nicht zu verwechseln ist mit Moravia!) an die Macht gekommen [16]. Für seinen Vater «Svetimir» sowie die kurzen Regentschaften der vier «namenlosen» Fürsten verbliebe damit die Frist von 15 Jahren zwischen 838 und 853, was eine durchaus plausible Zeitspanne darstellt.

 

Die unrichtige Verlegung der Chazarenmission in die Jahre vor 853 aber könnte sich daraus erklären, daß der «Presbyter Diocleas» aus der Konstantinsvita (die er offensichtlich kannte, wie noch zu zeigen sein wird) die zeitliche Abfolge der Chazarenmission vor derjenigen bei den Slawen entnahm und daraus irrtümlich den Schluß zog, daß erstere schon zu Lebzeiten von Sventopulks Vater stattgefunden haben müsse, da Sventopulk selbst Mitinitiator der letzteren war.

 

Entsprechend versetzt der «Presbyter Diocleas» die Berufung von Konstantin/Kyrill nach Rom in die Zeit Sventopulks; sie erfolgt durch einen Papst «Stephanus». Auf der Reise von seiner Heimat Thessalonike nach Rom habe Konstantin auch das Reich Sventopulks durchquert, sei von diesem aufgenommen worden und habe schließlich den Fürsten «cum omni regno suo» getauft [17].

 

Diese vom «Presbyter Diocleas» geschilderten Gegebenheiten stimmen so stark mit denen der Konstantinsvita überein, daß man an eine direkte Benutzung derselben durch den Chronisten von Dioclea gedacht hat [18]. Allerdings stehen, anders als in der Vita, nicht mehr Rastislav und Moravia im Zentrum des Geschehens, sondern Sventopulk und sein «Regnum» [19].

 

Sventopulk aber konnte sehr wohl Konstantin und seinen Bruder Method auf ihrer Reise nach Rom empfangen haben, die nach der Schilderung der Konstantinsvita von Moravia aus über den Sitz des Fürsten Kocel, die «Mosaburg» am Plattensee, zunächst nach Venedig und von dort zum Papst führte [20].

 

 

15. So etwa in den Ann. Fuld. Contin. Ratisbon. ad a. 894, Ed. Kurze 1891, S. 125; Reginon. Chron. ad a. 894, Ed. Kurze 1890, S. 143.

 

16. Boba 1985, S. 72 verweist auf die interessante Tatsache, daß am 17. März in Kroatien ein St. Budimir verehrt wurde.

 

17. Presb. Diocl. 9, Ed. Šišić 1928, S.301/302 (Lucius, Orbini).

 

18. Dazu Šišić 1928, S. 140ff.; Radojičić 1966, S. 189; Turk-Santiago 1984, S. 120; Waldmüller 1987, S. 15 ff.; Havlík 1976 vermutet hingegen Verwendung einer eigenständigen «dalma tinischen Legende» über Konstantin/Kyrill (S. 46 ff.), dagegen wiederum Boba 1985.

 

19. Sventopulk tritt mehr in der Methodvita hervor, deren Verwendung durch den «Presbyter Diocleas» ebenfalls angenommen wird (Šišić 1928, S.308; Turk-Santiago 1984, S. 120).

 

20. Konstantinsvita 15-17, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S. 131-139 bzw. Ed. MMFH 2 (1967), S. 105-110.

 

 

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Die Forschung verlegt diese Reise auf die zweite Hälfte des Jahres 867, also in eine Zeit, da Sventopulk noch nicht in Moravia, sondern vorläufig nur im väterlichen «Regnum» herrschte. Irritieren würde also allenfalls die Nennung eines Papstes «Stephanus», während die Initiative zur Slawenmission doch in das Pontifikát Nikolaus' I. (858-867) fällt. Ist diese Ungenauigkeit vielleicht darauf zurückzuführen, daß der einzige in Frage kommende Träger des beim Diokleaten erscheinenden Namens, Papst Stephan VI. (V.) (885-891), in der Problematik der slawischen Liturgie ein besonderes Engagement zeigte [21]? Da diese Liturgiefrage die südslawischen Länder gerade zur Zeit der Chronikabfassung heftig bewegte, mag Stephan auf diese Weise an die Stelle von Nikolaus geraten sein, den z.B. die Methodvita ganz richtig nennt [22].

 

Infolge der Bekehrung des «Regnum Sclavorum» sollen die vormals geflüchteten Christen, «qui latina utebantur lingua», aus ihren Verstecken im Gebirge und den Befestigungen hervorgekommen sein, die sie - wie berichtet - unter «Ratimir» und seinen vier Nachfolgern aufgesucht hatten. Sventopulk habe ihnen befohlen, ihre früheren Wohnsitze wieder einzunehmen und die «civitates et loca, quae olim a paganis destructa fuerunt», wieder aufzubauen [23].

 

Das hier zutage tretende Wohlwollen des Fürsten für die «Lateiner» (nicht zu verwechseln mit den Franken!) begegnet ebenso in den hagiographischen Quellen zur Slawenmission, allerdings unter einem anderen Blickwinkel: Hier erscheint Sventopulk als Förderer der lateinischen und Gegner der slawischen Liturgie [24]!

 

Fast selbstverständlich ist schließlich der Hinweis, daß romanischsprachige Christen auf keinen Fall in Mähren oder in der Slowakei, wohl aber im Bereich der ehemaligen Provinz Dalmatien denkbar sind. Als «Viachen» sind dort Romanen im Landesinneren bis ins Hochmittelalter, an der Küste sogar bis in die neueste Zeit nachweisbar [25]. (Vgl. Karte 13)

 

Das wichtigste Ereignis der Regierung Sventopulks, ja in gewisser Weise der Höhepunkt der gesamten Chronik aber ist der «Reichstag», mit dem Sventopulk das nunmehr christliche «Regnum Sclavorum» aus der Sicht des Chronisten in endgültiger Form konstituiert; er soll im folgenden Kapitel noch näher analysiert werden.

 

 

21. Grivec 1960, S. 144ff.; Havlík 1976, S.31/32.

 

22. Methodvita 6, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S. 156 bzw. Ed. MMFH 2 (1967), S. 146; zur Literaturfrage Waldmüller 1987, S. 55 ff.

 

23. Presb. Diocl. 9, Ed. Šišić 1928, S.302 (Lucius, Orbini), 394 (Kaletić, Marulić); eine ar chäologische Bestätigung finden diese Angaben im Aufsatz von Kovačević 1965.

 

24. Dazu Näheres in der angekündigten Arbeit des Verf. über die kyrillo-methodianische Problematik.

 

25. Zu den «Vlachen» im westl. Balkan allg. s. Gyóni 1948 und 1949; P. Skok, Slavenstvo i romanstvo na Jadranskim otocima (Zagreb 1950); Popović 1960, S. 63; du Nay 1977, S. 22 ff.; Angelov 1980, S. 71 ff.; Katičić 1982, S. 28 ff.; mit konkretem Bezug auf den «Presbyter Diocleas» Kovačević 1965 und 1973.

 

 

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Die Herrscherreihe führt der «Presbyter Diocleas» nach dem Tode Sventopulks weiter mit dessen Sohn «Svetolicus», dessen Namen die Version des Marulus mit der Erklärung «quod in latinum versum, «Sanctulum» sonat» ergänzt [26]. In dieser Person ist unschwer der aus fränkischen Quellen bekannte und dort als mit seinem Vater gleichnamig empfundene Sohn Sventopulk zu erkennen (»...Zentobolchum puerum, filium antiqui ducis Zuentobolchi») [27], der nach 894 zunächst zusammen mit seinem Bruder Moimir II. das Erbe des Vaters übernahm. 898/99 wurde er allerdings aus Moravia vertrieben; es ist aber durchaus denkbar - und soll noch erhärtet werden -, daß sich Sventopulk II. im weiter südlich gelegenen «Patrimo-nium» seiner Vorfahren halten konnte.

 

Der «Presbyter Diocleas» weiß über «Svetolicus» nichts Besonderes zu berichten, abgesehen davon, daß er ihn unter die guten Herrscher rechnet und ihm 12 Jahre «in suo regno» zuschreibt; mit dem Todesjahr Sventopulks I, 894, als Basis ergäbe sich das Jahr 906 als Endpunkt von «Svetoliks» Regentschaft. Gerade auf die Zeit um 906 aber setzt die Forschung das Ende Moravias im Kampf gegen die Ungarn; ein Zusammenhang, etwa nach vorausgegangener Versöhnung mit Moimir II., wäre denkbar, doch berichtet die Chronik zu «Svetoliks» Zeiten noch von keinen Kämpfen gegen die Ungarn.

 

Diese Kriege folgen erst - nach einem kurzen Zwischenspiel unter «Svetoliks» negativ charakterisiertem Sohn «Vladislavus» («Vladislav»), dessen christenfeindliche Herrschaft ohne Angabe ihrer Zeitdauer nur kurz gestreift wird [28] - unter «Svetoliks» anderem Sohn, «Thomislavus»/«Tomislav» (bei Kaletić und Marulus verderbt zu «Polislav»/«Polislavus»), dem 17 (bei Lucius 13) Regierungsjahre zugeschrieben werden [29].

 

Dieser «rex Thomislavus», welcher erfolgreich die Ungarn aus/seinem Reich vertreibt, läßt sofort an den wohlbekannten Tomislav denken, der in den Jahren 914 und 925 als kroatischer Herrscher belegt ist [30]. Auf ihn führt man im allgemeinen die Zusammenfassung des «dalmatinischen» mit dem «pannonischen» Kroatien zu einem geeinten Königreich zurück.

 

Ohne schon hier näher auf dieses Problem einzugehen, sei doch darauf hingewiesen, daß sich nicht nur die beiden belegbaren Jahreszahlen aus Tomislavs Regierungszeit in das bisher erstellte zeitliche Schema einfügen.

 

 

26. Presb. Diocl. 10, Ed. Šišić 1928, S. 309 (Lucius, Orbini), 401 (Kaletić, Marulić).

 

27. So die Ann. Fuld. Contin. Altah. ad a. 899, Ed. Kurze 1891, S. 132.

 

28. Presb. Diocl. 11, Ed. Šišić 1928, S.309 (Lucius, Orbini), 401/402 (Kaletić, Marulić).

 

29. Presb. Diocl. 11, Ed. Šišić 1928, S.309/310 (Lucius, Orbini), 402 (Kaletić, Marulić).

 

30. Zu 914 belegt bei Thomas Archidiaconus, Hist. Salon. 13, Ed. Rački 1894, S.36; zu 925 belegt in einem Brief Papst Johannes X., Cod. dipl. Croatiae, Ed. Kostrenčić et al. 1967, Nr. 24, S. 34.

 

 

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Dasselbe gilt auch für die ihm zugeschriebenen Ungarnkriege, sind doch Züge der Ungarn nach Italien seit 914 in Dandolos «Chronicon Venetum» bezeugt [31], die höchstwahrscheinlich durch Tomislavs Reich führten. Parallel dazu erfolgten weitere Aktionen der Ungarn gegen Bulgarien und Byzanz [32].

 

Nach Tomislav, der im 12. Kapitel erscheint, differieren die Aussagen der verschiedenen Redaktionen des «Presbyter Diocleas» über die Verwandtschaftsbeziehungen der aufeinander folgenden Herrscher; Überlegungen zu diesem Abschnitt sollen daher vorläufig zurückgestellt und eine Zwischenbilanz versucht werden.

 

Es hat sich bei der Untersuchung der Kapitel 5 bis 12 des «Presbyter Diocleas» gezeigt, daß die dort geschilderten Ereignisse in einem von ca. 828/29 bis 914/25 reichenden chronologischen Rahmen einzuordnen sind; innerhalb dieses Rahmens folgen sie in historisch richtiger Reihung aufeinander, wie der Vergleich mit anderen Quellen erwiesen hat.

 

Geringfügige chronologische oder faktische Ungereimtheiten erklären sich wohl aus fehlerhaften Schlußfolgerungen des Chronisten bei der Benutzung älterer Vorlagen.

 

Die Fürsten der Kapitel 5 bis 12 der Chronik lassen sich also folgendermaßen reihen: Vladin (um 828/29); Ratimir (ca. 830-838); vier Verwandte Ratimirs, sodann Svetimir (bis 853); Sventopulk I. (853-894); Svetolik/Sventopulk II. (894-906); Vladislav (ab 906) und Tomislav (um 914/25).

 

Allerdings stellt sich das Problem, daß von diesen Fürsten bislang zwei dem <großmährischen> Kontext zugeordnet wurden (Sventopulk I. und II.), einer dem Raum zwischen Dräu und Save (Ratimir) und einer dem dalmatischen Kroatien (Tomislav), während die übrigen in keiner anderen Quelle erscheinen. Sicher hat gerade auch diese Tatsache zur weitgehenden Ablehnung des «Presbyter Diocleas» geführt.

 

Es sollen daher, nachdem die prosopographische Seite ihrer Erzählung betrachtet wurde, nunmehr die territorialen Vorstellungen der Chronik beleuchtet werden; eine besondere Rolle spielt in diesem Kontext der «Reichstag» (in der lateinischen Redaktion «congregatio» bzw. «synodus», in der kroatischen «shod»), den Sventopulk abgehalten haben soll.

 

 

31. Dandolo, Chron. Venet. VIII.10, Ed. Pastorello 1938, S. 169/170; vgl. dazu Vajay 1968; Fasoli 1988. S.32ff.

 

32. Solche Züge sind für die Jahre 934, 943, 958 und 962 bezeugt bei Theophanes Contin., Ed. Becker 1838, S. 422, 430, 462/63, 480.

 

 

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3.1.3. Der Reichstag «in planitie Dalmae» und die politische Geographie des «Presbyter Diocleas»

 

Anlaß dieses Reichstages sei, wie die Chronik berichtet, der Wunsch Sventopulks gewesen, die Provinzen seines Reiches gegeneinander abzugrenzen [1]. Da aber die Weisen des Landes ihm keine Auskunft geben konnten, erbat er sich von Papst «Stephan» und dem byzantinischen Kaiser «Michael» die alten Privilegien («antiqua privilegia», «brveleže staré»), welche die einstigen Grenzbeschreibungen enthielten.

 

Die unter einem gewissen Kardinal «Honorius» stehende, weitere zwei Kardinale sowie mehrere Bischöfe umfassende Gesandtschaft des Papstes traf Sventopulk mit seinen Großen an einem Orte, der nach der lateinischen Redaktion «in planitie Dalmae» (bei Orbini «nella pianura di Dalma») lag, während die kroatische Redaktion ihn «na planini, ka se dise Hlivaj» (Marulus: «in campo, qui Clivna appellatur») setzt.

 

Dorthin beruft Sventopulk nunmehr «omnes populos terrae et regni sui», sowohl die Latein wie die Slawisch Sprechenden, zu einer allgemeinen Reichsversammlung, auf der auch die Edlen «Leo» und «Johannes» als Gesandte des byzantinischen Kaisers erscheinen. Acht Tage lang wird auf diesem Reichstag über die kirchlichen Fragen verhandelt, vier Tage über weltliche Angelegenheiten, wobei die alten, lateinisch und griechisch abgefaßten Grenzeinteilungen früherer Kaiser verlesen werden. Am 12. Tag wird Sventopulk von der päpstlichen Delegation «more Romanorum regum» (wie die lateinische Redaktion bemerkt) zum König gekrönt.

 

Anschließend werden anhand der Erkenntnisse, die man aus den alten Schriften gewonnen hat, zwei Erzbistümer in Salona und Dioclea eingerichtet und ihnen jeweils Suffragane zugewiesen; in weltlicher Hinsicht wird das Reich in vier Provinzen aufgeteilt, die eine hierarchisch abgestufte Verwaltung erhalten.

 

Ist diese Reichsversammlung nun eine reine Fiktion, wie einige Historiker angenommen haben, oder läßt sich ein derartiges Ereignis für die Regierungszeit des «historischen», des «moravischen» Sventopulk nachweisen? Und - falls dies zu bejahen ist - welche Verfügungen könnten dort tatsächlich getroffen worden sein?

 

Zunächst zur Frage der Lokalisierung des Tagungsortes, die meist dahingehend beantwortet wurde, daß unter der «planities Dalmae» das heutige Duvjansko polje zu verstehen ist [2].

 

 

1. Presb. Diocl. 9, Ed. Šišić 1928, S.302-308 (Lucius, Orbini) bzw. 394-400 (Kaletić, Marulić).

 

2. Klaić 1925, S.9/10; Šišić 1928, S.446, 456; Havlík 1976, S.36; Schramm 1981, S.243/244; Hadžijahić 1983, S. 15 und passim.

 

 

199

 

Hier befand sich zur Römerzeit das Municipium «Delminium» im Mittelalter ein Ort «Dltmno» oder «Dumno», heute Duvno [3].

 

Die Ebene von Duvno liegt zentral im postulierten «Regnum Sclavorum», ganz allgemein auch verkehrsgünstig, zudem verweist das «Hlivaj» bzw. «Clivna» der kroatischen Redaktion auf das nahegelegene Städtchen Livno [4]. Prinzipiell denkbar wäre jedoch auch irgendeine andere, im antiken «Dalmatien» liegende Ebene.

 

Weiterhin stellt sich die Frage nach dem Zeitpunkt der Reichsversammlung. Eine Möglichkeit der Bestimmung - ohne daß man Rücksicht auf die Erwähnung Sventopulks nähme - bestände darin, eine gleichzeitig stattgefundene Regierung eines byzantinischen Kaisers «Michael» und eines Papstes «Stephan» ausfindig zu machen, doch ist eine solche Kombination im 8. bis 10. Jahrhundert zu keinem Zeitpunkt gegeben, sondern erst im Jahre 1057 mit Stephan X. und Michael VI., wonach denn auch L. Jelić datiert hat [5].

 

Unter Vernachlässigung des Namens «Michael» hat D. Mandic die Synode auf 753 verlegt, da angeblich Zustände vor dem 754 stattgehabten Bruch zwischen Byzanz und Rom erkennbar seien, 752 bzw. 752-757 aber Stephan II. und III. das Pontifikat innehatten [6].

 

Wieder andere Versuche gehen davon aus, in den beim «Presbyter Diocleas» geschilderten Ereignissen den Widerhall einer historisch bezeugten Synode im südslawischen Raum zu sehen, etwa der bekannten Synoden von Spalato/Split 925 und 928, der kroatischen Synode von 1059/60 oder einer ca. 1077/89 in Dioclea abgehaltenen Synode [7].

 

Allerdings finden sich auch Datierungen ins 9. Jahrhundert, die also rein zeitlich einen Bezug zu Sventopulk erlauben. Bereits der Verfasser des «Chronicon Vene-tum», Andrea Dandolo (1309-1354), welcher Kenntnis vom Text des «Presbyter Diocleas» hatte, setzte die Nachricht von der Krönung Sventopulks unter die Rubrik: «Ursus Participatius dux factus est anno Domini Jesu Christi VIII° LXIIII°»; die Regierung dieses Dogen währte bis 881. Der Ragusaner Historiker Ludovik

 

 

3. Jireček 1879, S.28; Thallóczy 1914, S. 14,167,398; Skok 1928, S.229/230; Steindorff 1985, S. 302; zu einer königl. «curtis» in Duvno Manojlović 1925, S.XLVI.

 

4. Zu röm. Straßen um Delminium E. Pašalić, Römische Straßen in Bosnien und der Herzegowina; in: ders., Sabrano djelo (Sarajevo 1975), S. 92-108; Škrivanić 1977, S. 136 (Karte).

 

5. L. Jelić, Duvanjski sabor; in: Vjesnik hrvatskog arheološkog društva, N. S. 10 (1909), S. 135-145.

 

6. Mandić 1963, S. 145 ff.

 

7. Manojlović 1925, S.XLIIIff.; Klaić 1925, S. 17/18; Koščak 1980/81, passim plädieren für 925/28; für 1059/60 außer Jelić Havlík 1976, S.37; für 1077/89 Steindorff 1985, S.303, 309 ff.

 

 

200

 

Tubero Cerva (1459-1527) gibt das Jahr 886 an, Junius Restius (1669-1735) in der «Chronica Ragusina» 875. Alle bisher Genannten verarbeiteten die Chronik des «Presbyter Diocleas» nebst anderen Quellen, ebenso wie der Herausgeber des «II-lyricum Sacrum», Daniele Farlati, der auf ca. 877 datierte; F. Šišić schließlich entschied sich für 882 [8].

 

Unter der Voraussetzung allerdings, daß der «Presbyter Diocleas» tatsächlich den «historischen» Sventopulk meint, ist es empfehlenswert, mit I. Boba die Adreßformeln der päpstlichen Kanzlei in den Briefen, welche sie an den Slawenherrscher richtete, zu beachten. Boba verweist darauf, daß Papst Johannes VIII. im Juni/Juli 879 die Formulierung «Zuuentapu... de Maravna» und noch im Juni 880 «Sfento-pulcho glorioso comiti» verwendet, während Stephan V. Ende 885 bereits an «Zuentopolco regi Sclavorum» schreibe.

 

Innerhalb dieser Frist müsse also die Erhebung Sventopulks zum König stattgefunden haben [9]. Dazu hat nun M. Hadžijahić noch die Anweisungen Stephans V. an die «ad Sclavos» abgehenden Legaten gestellt, das ebenfalls vom Ende des Jahres 885 stammende sog. «Commonitorium», in dem es heißt: «Cum veneritis ad ducem patriac...», ohne daß der Name dieses «dux» präzisiert würde [10].

 

Aus dem Zusammenhang geht jedoch klar hervor, daß es sich um Sventopulk handeln muß, dessen Stellung demnach von päpstlicher Seite Ende 885 von der eines «dux» zu der eines «rex» aufgewertet wurde. Es drängt sich der Gedanke auf, daß die Krönung von eben jener im «Commonitorium» angesprochenen Legation vorgenommen werden sollte, die auch den Papstbrief an den «rex» Sventopulk überbrachte.

 

Die Teilnehmer dieser Gesandtschaft waren nach dem «Commonitorium» der Bischof Dominicus sowie zwei Kleriker unbestimmbaren Ranges namens Johannes und Stephan, was mit der Dreizahl der beim «Presbyter Diocleas» erwähnten «Kardinale», nicht hingegen mit dem dort genannten Namen «Honorius»,zu vereinbaren wäre.

 

 

8. Dandolo Chron. Venet. VIII.5, Ed. Pastorello 1938, S. 155/56; Tubero Cerva zitiert bei Hadžijahić 1983, S. 35; Chron. Ragusina Junii Restii, Ed. Nodilo 1893, S. 24; Farlati, Illyricum Sacrum 7 (1817), S.5; Šišić 1917, S. 108 Anm. 1; Koščak 1980/81, S.326ff. datiert auf 888, schreibt die Versammlung aber Branimir von Kroatien zu.

 

9. Die drei Papstbriefe in MG Epp. VII, Ed. Kehr 1928, Epp. Johannis VIII. papae, Nr. 200, 255, S. 160, 222-224 und Epp. Stephani V. papae, Epp. coll. Nr. 1, S.354-358; vgl. dazu Boba 1971, S. 17/18, 106/107; ähnlich Havlík 1965b, S. 122; dagegen Löwe 1983, S.676 mit Anm.202. Zum «rex»-Titel im Papstbrief s.a. Graus 1960, S. 185.

 

10. MG Epp. VII, Ed. Kehr 1928, Fragmenta registri Stephani V. papae, Nr.33, S.352/353; dazu Hadžijahić 1970, S.219ff., 1983, S.35/36.

 

 

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Bei dem Kleriker Johannes könnte es sich eventuell um den bereits 874 und 879 als «Diplomat» Sventopulks tätig gewordenen Priester aus Venedig handeln [11].

 

Innere Wahrscheinlichkeit gewinnt aber die Datierung auf 885 angesichts der Tatsache, daß sich Sventopulk nach dem Abkommen mit Kaiser Karl III. «dem Dicken» (884) auf dem Höhepunkt seiner Macht befand. Auch ist eine vom Papsttum beabsichtigte Erhöhung der Stellung Sventopulks schon angedeutet in dem Juni 880 von Johannes VIII. ausgestellten Privileg «Industriae tuae», welches den Satz enthielt:

 

Nam divina gratta inspirante contemptis aliis saeculi huim prindpibus beatum Petrum apostolici ordinis principem vicariumque illius hohere patronum et in omnibus adiutorem ac defensorem pariter cum nobilibus viris fidelibus tuis et cum omni populo terrae tuae amore fide lis simo eligisti..., te quasi unicum filium amore ingenti implectimur [12].

 

Nach L. Havlík kann sich die Formel von der «Verachtung der anderen Herrscher» nur gegen die Karolinger gerichtet haben, womit eine Aufwertung Sventopulks als machtpolitisches Gegengewicht zu den Ostfranken einherging; eine königsgleiche Stellung des Slawenfürsten war so vorbereitet, denn die Formel vom «unicus filius» wurde sonst nie für slawische Herrscher, sondern fast nur für Inhaber der Kaiserwürde (oder Aspiranten darauf) verwendet [13]. Eine bereits erfolgte Krönung Sventopulks macht schließlich die zum Jahr 890 rückblickend verwendete Formulierung Reginos von Prüm «in regni fastigio sublimaretur» notwendig [14].

 

Zudem wäre mit der chronologischen Fixierung des Krönungsvorganges auf 885 auch die Nennung eines Papstes «Stephan» beim «Presbyter Diocleas» gerechtfertigt. Die für 885 anachronistische Anführung eines byzantinischen Kaisers Michael (III., 842-867) anstelle seines Nachfolgers Basilios I. (867-886) ist, wie im ähnlich gelagerten Fall der Chazarenmission, damit zu erklären, daß die Viten der «Slawenapostel» Michael III. eine herausragende Rolle zuwiesen, insbesondere bei der Initiierung der Slawenmission und dem Austausch von Gesandtschaften zwischen Byzanz und den Slawenfürsten [15].

 

Den Namen des Basilios kennen diese beiden Viten hingegen nicht; er erscheint nur in drei kleineren altkirchenslawischen Quellen,

 

 

11. Zum Priester Johannes Váczy 1942, S.56/57; Dittrich 1962, S. 196; Veselý 1982, S.21.

 

12. MG Epp. VII, Ed. Kehr 1928, Epp. Johannis VIII. papae, Nr.255, S.222-224. Dazu Havlík 1965b, S. 108ff., 1970, S.20/21,1973, S. 19/20, 1978, S.34ff., 1983.

 

13. Havlík 1983.

 

14. Reginon. Chron. ad a. 890, Ed. Kurze 1890, S. 134.

 

15. Konstantinsvita 14, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S. 129; Methodvita 5, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S. 155.

 

 

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von denen zwei aus dem bulgarischen Raum stammen und in Dalmatien wohl kaum bekannt waren [16]. Der «Presbyter Diocleas» konnte also annehmen, daß der ihm aus den Viten bekannte Kaiser Michael auch noch zur Zeit der Krönung Sventopulks regiert habe, da ihm keine widersprechende Aussage vorlag. Hadžijahićs Datierung des «Reichstages» von Duvno auf 885 soll hier also übernommen werden [17].

 

Ebenso sind I. Bobas Überlegungen zu den staatsrechtlichen Konsequenzen der Reichsversammlung zu würdigen. Seines Erachtens wurde Sventopulk zu einem «charismatischen» König «von Gottes Gnaden» gekrönt; als solcher war er nicht mehr einfacher Souverän, sondern Herrscher über ein «Regnum Sclavorum» geworden, das in dieser Begrifflichkeit auch der päpstlichen Kanzlei bekannt gewesen sei und mehrere untergeordnete Teilherrschaften (bei Boba «principalities») umfaßt habe [18]. Diese Teilherrschaften umschreibt der «Presbyter Diocleas» mit «Weiß-» und «Rotkroatien», «Rassa» (Raszien) und «Bosna» (Bosnien). Daß die Chronik eine Unterscheidung zwischen Teilund Gesamtherrschaft machen will, könnte auch die Verwendung des Ausdrucks «terrae et regni sui» in der lateinischen Redaktion belegen, die eventuell für den engeren und weiteren Machtbereich Sventopulks steht [19].

 

Von dieser Königserhebung Sventopulks soll sich nach Boba auch die im 10. Jahrhundert mehrfach bei den kroatischen Königen belegte Intitulatio «Dei gratia rex» ableiten, die sie gewissermaßen als Rechtsnachfolger Sventopulks im «Regnum Sclavorum» übernommen hätten.

 

Den Umfang dieses «Regnum Sclavorum» gibt der «Presbyter Diocleas» bereits unter einem der ersten Begründer des fiktiven Reiches, «Svevladus», mit wenigen Worten an: Nach Eroberung der «Praevalitana» nämlich seien die Grenzpunkte am Adriaufer «Valdevino» im Norden, «Polonia» im Süden gewesen; diese beiden Örtlichkeiten wurden als Vinodol (bei Rijeka) und als das antike Apollonia (im heutigen Albanien) identifiziert [20]. Zum Landesinneren hin wird keine genauere Angabe gemacht, sondern nur die Existenz sowohl von «maritimen» wie «transmontanen» Regionen erwähnt.

 

 

16. I. Žitije Nauma, Ed. Lavrov 1930, S. 181 bzw. Ed. MMFH 2 (1967), S. 178; Proložnoje žitije Konstantina i Mefodija, Ed. Lavrov 1930, S. 101 bzw. Ed. MMFH 2 (1967), S. 166; ein hochma. Kalendereintrag, Ed. MMFH 3 (1969), S. 43 8.

 

17. Hadžjahič 1970, S.219ff. und 1983, S. 15, 35/36.

 

18. Boba 1971, S. 17/18, 106 und 1985; zum Krönungsvorgang auch Puhiera 1959, S.16ff.; zum Königstitel Sventopulks Graus 1960; Havlík 1965b, S.lloff., 1970, S.21 mit Anm.88, 1973, S. 19 ff., 1979, S. 102, 1983, S. 25; Bilková et al. 1967, S. 300 ff.

 

19. Vgl. Ed.Šišić 1928, S.304.

 

20. Presb. Diocl. 3, Ed. Šišić 1928, S.296 (Lucius, Orbini), 388 (Kaletić, Marulić); Lokalisie rungen nach Steindorff 1985, S.280 Anm.2, S.296.

 

 

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Eben diesen Umfang soll das Reich auch unter Sventopulk noch gehabt haben: Bei der Beschreibung der Provinzen des «Regnum Sclavorum» reicht das auch «Dalmatia inferior» genannte «Weißkroatien» von «Valdevino» bis zum Ort der Reichsversammlung, «Dalma»; südlich bis «Bambalona»/«Polonia», das nunmehr mit «Dyrachium» paraphrasiert wird, schließt «Dalmatia superior» oder «Rotkroatien» an. Beide zusammen bilden die Provinz «Maritima» (in der kroatischen Redaktion «Primorje»), während jenseits der Wasserscheide im Binnenland die «Transmontana» (kroatisch «Zagorje»), auch «Surbia» genannt, liegt. Diese Provinz, deren Nordausdehnung nicht ganz klar wird, ist längs der Drina unterteilt in «Bosna», das sich im Westen bis zum «mons Pini» erstreckt (bei Kaletić «gora Borava», bei Marulus «Beira mons»), und in «Rassa», als dessen Ostgrenze der «Presbyter Diocleas» - nach Emendation eines verfehlten «palus Labeatis» - ursprünglich den Fluß Lab angesehen haben muß [21].

 

Diese Einteilung entspricht nun, wie E. Turk-Santiago und L. Steindorff nachgewiesen haben, unter Vermischung antiker und zeitgenössischer Begriffe teilweise den Verhältnissen der Spätantike, teilweise denen des 12. Jahrhunderts, also der Abfassungszeit der Chronik. In «Weißkroatien» erkennt man das eigentliche, dalmatinische und seit 1089/91 zu Ungarn gehörige Kroatien wieder. «Rotkroatien» umschreibt mehr oder weniger das Restgebiet des Reiches von Dioclea (einschließlich der Fürstentümer Travunien und Zachlumien), während «Rassa» das zu Anfang des 12. Jahrhunderts von Dioclea abgefallene serbische Binnenland unter den Nemanjiden repräsentiert. Bosnien, das sich ebenfalls zu Beginn des 12. Jahrhunderts wieder von Dioclea gelöst hatte, lag bis zu seiner Eroberung durch die Ungarn 1203 zwischen den Flüssen Drina und Vrbas, in dessen Nähe der «mons Pini» zu suchen wäre [22].

 

Das solcherart umschriebene «Regnum Sclavorum», in die Zeit Sventopulks versetzt, wäre also nichts anderes als eine «antikisierende» Darstellung der südslawischen Fürstentümer im 12. Jahrhundert, eine Erfindung. Zugleich verdeutlicht es aber die territorialen Ansprüche der Fürsten von Dioclea, die von der Chronik ja als legitime Nachfolger Sventopulks hingestellt werden. Nicht nur die zur Blütezeit des Reiches von Dioclea ihm angeschlossenen Gebiete Raszien und Bosnien, auch das mit dem Erlöschen der einheimischen Dynastie als «herrenlos» betrachtete Kroatien hoffte man zu gewinnen [23].

 

Wie hier im «weltlichen» Bereich eine der beiden verdeutlichten Grundtendenzen des «Presbyter Diocleas» durchschlägt, so offenbart sich in kirchlicher Hinsicht die andere.

 

 

21. So Steindorff 1985, S.281 Anm.8; zu «Rassa» Kalić 1976, S.59.

 

22. Turk-Santiago 1984, S. 117 ff.; Steindorff 1985, S. 296 f f.; damit ist der Versuch von Mandic 1963, S. 156ff., einen real existierenden Staat des 8. Jahrhunderts abzugrenzen, hinfällig.

 

23. Radojičić 1960, S.88.

 

 

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Nach Aussage der Chronik sollen nämlich 885 von Sventopulk und den päpstlichen Legaten zwei Erzbistümer eingerichtet worden sein, Salona und Dioclea. Salonas Jurisdiktionsbereich soll «Weißkroatien» = «Dalmatia inferior» gewesen sein, doch erscheint auch Ragusa/Dubrovnik unter seinen Suffraganen; die übrigen sind Split, Trogir, Skradin, Zadar, Nin, Knin, Rab, Osor und Krk - kurz, es werden, und zwar nur in der lateinischen Redaktion der Chronik, mit Ausnahme Ragusas jene Suffraganbistümer aufgezählt, die vor der Erhebung Zadars zum Erzbistum (1145) dem Erzbistum Spalato/Split unterstanden (das nominell seinen Sitz noch im verfallenen Salona hatte), darunter einige erst im 11. und 12. Jahrhundert begründete Sitze [24]. Die übrigen drei Viertel des «Regnum Sclavorum» einschließlich Bosniens und Serbiens hingegen sollen dem Erzbistum Dioclea unterstellt worden sein. Bei der Aufzählung der Suffragane wiederholt der «Presbyter Diocleas» im wesentlichen die Liste jener, welche 1089 der neu errichteten Metropole in Bar/Antivari zugeordnet wurden, das sich ja, wie erwähnt, als Rechtsnachfolger des untergegangenen Dioclea verstand. Deswegen erscheint «Antibari» in der Chronik auch an erster Stelle der Suffragane Diocleas; zudem fügte der «Presbyter Diocleas» noch «Budua» und «Zaculmium» hinzu [25].

 

Diese Interpolationen sollten also offensichtlich im Rechtsstreit mit Ragusa die - angeblich - althergebrachten Rechte des Bischofs von Bar auf die ihm 1089 zugestandene Erzdiözese verdeutlichen [26].

 

Doch ist mit dem Hinweis auf diese völlig zeitbezogenen, anachronistischen Angaben des «Presbyter Diocleas» wirklich jede seiner Informationen als unhistorisch abzulehnen?

 

Im Bereich der Diözesanorganisation als solcher ist diese Frage mit ziemlicher Sicherheit zu verneinen, denn gerade 885/86 wurde in der Beziehung des Erzbistums von Spalato/Split zu Kroatien eine wichtige Änderung vorgenommen. Zudem war mit dem Tode des Methodius (6. Apr. 885) der Status des nördlich angrenzenden «pannonischen» Erzbistums fraglich [27].

 

Doch auch in Hinsicht auf die weltlichen Verfügungen ist Behutsamkeit statt voreiliger Ablehnung geboten. Es wäre durchaus denkbar, daß Sventopulk im Zusammenhang mit der Krönung eine Neuorganisation seines «Regnums» vornahm; besonders interessant erscheint dabei die Behauptung der lateinischen Redaktion des «Presbyter Diocleas», daß Sventopulk in jedem der vier «Reichsteile» einen «Ban» (Statthalter) einsetzte «ex suis consanguineis fratribus» (bei Orbini «de suoi parenti») [28].

 

 

24. Steindorff 1985, S.312ff.; s.a. Šišić 1917, S.296ff.; Puhiera 1959, S.28ff.

 

25. Presb. Diocl. 9, Ed. Šišić 1928, S.306/307 (Lucius, Orbini; nicht in der kroat. Red.!).

 

26. So Medini 1942, S. 149; Banašević 1971, S.64/65; Hadžijahić 1970, S.201 ff. und 1983, S.36ff.; Steindorff 1985, S.316ff.; Waldmüller 1987, S. 19ff.

 

27. Vgl. dazu die angekündigte Untersuchung über Erzbischof Method.

 

 

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Dagegen weiß die kroatische Redaktion nichts von einer Verwandtschaft der Statthalter mit Sventopulk.

 

Auch ist die Organisationsstruktur des Reiches in beiden Redaktionen verschieden beschrieben. Die lateinische Redaktion läßt unter jedem «Ban», welches Amt sie mit «dux» erläutert, «Župane» oder Grafen («supanos id est comités») stehen, denen wiederum «Hundertschaftsführer» («sednicos id est centuriones») untergeordnet sind; beide Rangstufen seien aus dem Adel der jeweiligen Provinz besetzt worden.

 

Die kroatische Redaktion hingegen läßt die Provinzen teils von Banen (die Ma-rulus als «tribuni» erläutert), teils von Herzögen («duža» bzw. «duces») verwaltet werden, je nach Notwendigkeit, wie es heißt; darunter kennt sie keine Župane, sondern nur das Amt des «Satnik» bzw. «Centurio» [29].

 

Die genannten Ämter sind im südslawischen Bereich, was die «Župane» betrifft, bereits im frühen 9. Jahrhundert, ansonsten erst im Hochmittelalter belegt. Nun werden einerseits, wie schon ausgeführt, von den islamischen Quellen, die über Sventopulk berichten, gerade Župane als seine Stellvertreter genannt [30]. Zum anderen liegt es tatsächlich im Bereich des Möglichen, daß die Ende des 9. Jahrhunderts in Serbien und Kroatien regierenden Fürsten mit Sventopulk verwandt (wenn auch nicht seine «Brüder») waren [31]. Schließlich hat M. Hadžijahić den Hinweis gebracht, daß der Ban in Bosnien tatsächlicher Herrscher des Landes mit den von der Chronik beschriebenen Kompetenzen war, während er in Kroatien nach dem Landesfürsten die nächsthöhere Funktion ausübte, daß also die Schilderung der Chronik der «vorfeudalen Struktur Bosniens» entspreche [32].

 

Geht man also davon aus, daß ein Kern historischer Wahrheit im Bericht über die Reichsversammlung Sventopulks enthalten sei und daß dieser in Duvno 885 stattgefunden habe, so drängt sich die Vermutung auf, daß Sventopulk ursprünglich, das heißt vor 870, als im bosnischen Raum beheimatet anzusehen ist; diese Vermutung soll im folgenden erhärtet werden.

 

 

3.1.4. Bosnien-Slawonien als eigentlicher Machtbereich Sventopulks vor 870

 

Daß Sventopulk zu keinem Zeitpunkt das gesamte südslawische «Regnum» in seiner vom «Presbyter Diocleas» beschriebenen Ausdehnung direkt beherrscht haben kann, daran kann kein Zweifel bestehen.

 

Die im 9. und frühen 10. Jahrhundert regierenden Herrscher der Kroaten und Serben sind aus dem «De Administrando Imperio» sowie aus Urkunden und Inschriften hinlänglich bekannt;

 

 

28. Presb. Diocl. 9, Ed. Šišić 1928, S. 307 (Lucius, Orbini).

 

29. Dazu Božić 1968, S. 144ff.; Hadžijahić 1983, S.34; Turk-Santiago 1984, S. 117/118.

 

30. Zu Župan und Ban vgl. Exkurs 3; zu den übrigen Ämtern s. Havlík 1983, S. 25/26.

 

31. Dazu noch Kap.3.2.4.; s.a. die Überlegungen bei Boba 1991 b, S. 130.

 

32. Hadžijahić 1983, S.55; s.a. Ferluga 1976, S.249. Dagegen Steindorff 1985, S.322 mit an derer Auffassung (Wiedergabe von feudalen Verhältnissen des 12. Jahrhunderts).

 

 

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weder der Name Sventopulks, noch der seiner Vorgänger oder der seines Sohnes «Svetolik» findet sich darunter. Aber auch die vom «Presbyter Diocleas» nahegelegte besondere Beziehung Sventopulks zu «Rotkroatien», dem südlichen Küstengebiet der Adria, also auch Dioclea umfassend, scheidet als unwahrscheinlich aus: Nicht nur, daß es für sich allein genommen eine räumlich zu geringe Machtbasis für Sventopulks überragende Stellung nach 870 darstellen würde; aus Gründen innerer Wahrscheinlichkeit mußte Sventopulks Herrschaft vor 870 auch an die Rastislavs, also an Moravia, gegrenzt haben [1].

 

Somit bleibt als eigentliches Territorium Sventopulks und seiner Vorgänger im 9. Jahrhundert nur das nordwestliche «Viertel» des «Regnum Sclavorum», das die Quelle als «Bosna» bezeichnet. Zu diesem Schluß kamen auch - auf anderem Wege - M. Medini und M. Hadžijahić [2].

 

Neben dem bisher betriebenen Ausschluß verfahren sprechen jedoch auch einige ausdrückliche Quellenzeugnisse für diese Ansetzung. So bezeugt etwa die von Boba und Hadžijahić herangezogene «Chronica Ragusina» des Junius Restius (Rastič, gest. 1735) eine bosnische Herrschaft Sventopulks; sie vermeldet zum Jahre 831 einen Friedensschluß zwischen der Stadt Ragusa und «Svetimir, re di Bossina, padre di Svetopelek, o sia Svetopilo» [3]. Unter «Bossina» versteht diese Quelle das nördlich anschließende Hinterland Ragusas. Svetimir wäre an sich erst nach 838, also nach der in fränkischen Quellen mitgeteilten Vertreibung Ratimirs, als Herrscher Bosniens zu erwarten; doch begegnen mehrfach kleinere chronologische Unstimmigkeiten wie diese in der Chronik des Restius, welche verschiedene ältere Vorlagen, u.a. den «Presbyter Diocleas», mit einheimischer Ragusaner Überlieferung verbindet [4].

 

Die bis 1552 reichenden Annalen des Nicolaus de Ragnina wiederum identifizieren den vom «Presbyter Diocleas» als Sohn Sventopulks benannten «Svetolik» als «Stefano, o vero Svetolico in lingua slava, re di Bosna», ordnen ihn allerdings fast ein Jahrhundert zu früh ein, nämlich in die Zeit von 815 bis 818 [5].

 

 

1. Sonst wäre etwa der Bericht der Fuldaer Annalen (ad a. 870, Ed. Kurze 1891, S.70) von den gegenseitigen Anschlägen Rastislavs und Sventopulks aufeinander unverständlich; auch die gemeinsame Bitte Rastislavs, Sventopulks sowie Kocels an Byzanz um Entsen dung eines gemeinsamen Bischofs legt ein Aneinandergrenzen ihrer Herrschaften nahe!

 

2. Medini 1935,1942; Hadžijahić 1983, S.48ff.

 

3. Chron. Ragusina Junii Restii, Ed. Nodilo 1893, S. 20/21; dazu Boba 1971, S. 107; Hadžija hič 1983, S.53/54.

 

4. Vgl. Hadžijahić 1983, S. 52/53.

 

5. Ann. Ragusini Nicolai de Ragnina ad a. 815-819, Ed. Nodilo 1883, S. 193-195. Zu den erst später interpolierten Jahreszahlen vgl. die Bemerkungen des Hg. Nodilo auf S. 3 Anm.4!

 

 

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Aus dem Bericht der «Conversio» über die Aktion des Präfekten Ratbod gegen Sventopulks Vorgänger Ratimir läßt sich ersehen, daß dieser in der Save-Region geherrscht haben muß, also im heutigen Slawonien und Bosnien [6].

 

Auf eben dieselbe Region verweist eine bisher nicht genügend beachtete Passage der Fuldaer Annalen in der Regensburger Fortsetzung, die berichtet, daß König Arnulf im Jahre 892, und zwar im Anschluß an ein Treffen mit seinem Vasallen Brazlav, von dessen Gebiet aus eine Legation an den Bulgarenkönig Vladimir (889-893) absandte. Über den Weg dieser Gesandtschaft lassen sich die Annalen folgendermaßen aus:

 

Missi autem propter insidias Zwentibaldi ducis terrestre iter non valentes habere de regno Brazlavonis per fluvium Odagra usque ad Gulpam, dein per fluenta Savi fluminis navigio in Bulgaria perducti. Ibi a rege honorifice suscepti eadem via, qua vénérant, cum muneribus mense Maio reversi sunt [7].

 

Während die Forschung diese Stelle bisher ignorierte oder aber als Beleg für eine angeblich erfolgte Ausdehnung <Großmährens> bis an den ehemals jugoslawischen Donaulauf wertete, schloß I. Boba daraus, daß «the territory east of the Odagra, along the roads from present-day Zagreb towards Belgrade, was within the reach of Sventopolk's retinue [8].»

 

Doch widerlegt die zitierte Quelle sowohl Boba als auch die traditionelle Auffassung über die Lage Moravias. Bei herkömmlicher Ansetzung <Großmährens> nämlich hätten die Gesandten Arnulfs durchaus, von Sventopulk unbelästigt, einen «iter terrestre» nach Bulgarien durchführen können - wenn schon nicht über die nördlichste der drei in Frage kommenden Römerstraßen, die von Poetovio (Pettau/Ptuj) entlang der Dräu und Donau über Singidunum (Belgrad) zum damals bulgarischen Niš führte, oder über die mittlere von Siscia (Sisak) nach Sirmium entlang der Save, so doch über die südlichste, küstennahe Straße, von welcher mehrere Abzweigungen ins Hinterland den Weg nach Bulgarien ermöglicht hätten [9].

 

Das ausschließlich südlich der Donau gelegene Moravia, wie es sich Boba vorstellt, hätte man hingegen leicht irgendwo nördlich des Flusses umgehen können; unter dieser Prämisse erschiene die Flußfahrt der Gesandten mitten durch Feindesland unnötig und tollkühn.

 

Es ist also vielmehr davon auszugehen, daß Sventopulk 892 der ostfränkischen Abordnung den Weg nach Bulgarien in voller Breite verstellen konnte,

 

 

6. Conversio 10, Ed. Wolfram 1979, S.52/53 und Komm. S. 128/29.

 

7. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 892, Ed. Kurze 1895, S. 121.

 

8. Boba 1971, S.64; s.a. Bowlus 1986, S.88.

 

9. Zu den Römerstraßen zwischen Dräu und Adria s. N. Vulič, Le strade romane in Jugoslavia (Roma 1939); Wilkes 1969, Karte im Anh.; Westermanns Großer Atlas (1976), S.38/39; Škrivanić 1977, S. 133ff. mit Karte S. 136.

 

 

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und zwar von Böhmen im Norden (das ihm seit 890 lehnspflichtig war) über die mittlere Donaustrecke (Moravia und das 884 erworbene «Pannonien») sowie Bosnien/Slawonien im Zentrum bis zur Adria im Süden.

 

Eine Seereise der Gesandtschaft über die Adria kam ebensowenig in Frage, da sich Oberitalien erst 894 Arnulf unterstellte; auch war Bulgarien damals noch durch byzantinische Besitzungen und die serbischen Fürstentümer von der Adria abgeschnitten, an der es erst unter dem Zaren Samuel (976-1014) festen Fuß fassen konnte [10].

 

Es wird somit deutlich, daß die Betonung der Unmöglichkeit einer Reise durch den Regensburger Annalisten einer solchen zu Lande galt; der Weg zu den Bulgaren, der in jedem Fall durch den Machtbereich Sventopulks führen mußte, schien bei einer Reise auf dem Wasserwege weniger riskant - vielleicht deshalb, weil Sventopulk über keine Flußflottille (wie sie die Franken besaßen [11]) verfügte.

 

Die Ausdehnung von Sventopulks «Regnum» vor 870 wäre damit etwa folgendermaßen zu umschreiben: Im Westen grenzte es irgendwo unterhalb der Mündung der Kupa in die Save an das von Siscia aus verwaltete, seit 884 dem slawischen Fürsten Brazlav anvertraute Gebiet, im Nordwesten entlang der Dräu an das «pan-nonische Dukat» des Pribina und Kocel, im Nordosten lag das Rastislav unterstehende Moravia und im Südosten, wobei wohl die Drina die Grenze bildete, Serbien; die Zugehörigkeit der Region um Belgrad und Sirmium zu einem dieser drei Territorien ist nicht eindeutig zu entscheiden [12].

 

Südnachbarn von Sventopulks Herrschaft waren die adriatischen Kleinfürstentümer und Kroatien, die Grenze verlief hier im wesentlichen wohl entlang der dinarischen Wasserscheide.

 

 

10. Runciman 1930, S.225/226; vgl. auch die Karten im Atlas po Bălgarska istorija (1963), S.13; Angelov 1980, S. 92.

 

11. Erwähnung einer frank. Flußflottille in den Ann. Fuld. ad a. 872, Ed. Kurze 1891, S. 76; dazu Bowlus 1978, S. 6/7, 20,22.

 

12. Ersteres wegen der Reisestrecke der Gesandten von 892, die ja oberhalb von Siscia be gann; die Dräu als Südgrenze des «pannonischen Dukats» wird begründet in Kap.3.3.2. Die Drina-Grenze gegen Serbien findet sich nicht nur beim «Presbyter Diocleas», son dern auch bei Johannes Kinnamos (12. Jahrhundert; Epitome, Ed. A. Meineke, Bonn 1836, S. 104); implizit auch bei Konstantinos Porphyrogennetos (DAI 32, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 160/161). Sie stellt offenbar eine alte Grenzscheide dar, vgl. die Reichsteilung von 395! Belgrad war um 885 bulgarisch, s. Kap. 1.2.5.; das 1018 von den Byzantinern eroberte Gebiet von Sirmium (vorher meist ungarisch, zuletzt bulgarisch) wurde als eigenes «Thema» organisiert, also weder an «Serbien» noch «Bulgarien» ange schlossen, was vielleicht Rückschlüsse auf frühere Verhältnisse erlaubt: Daß nämlich Sirmien wie auch eine breitere Landstrecke südlich der Donau als eigenständige territoriale Einheit betrachtet wurden. Vgl. dazu Bulin 1960; Wasilewski 1964; Grafenauer 1966, S. 34/35,44; Božie 1968, S. 134 Anm. 6; Györffy 1971, S. 296; Dinič 1978, S. 285 ff.; Ferluga 1983, S. 340.

 

 

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Bei einer tatsächlichen Abhaltung der Reichsversammlung von 885 in Duvno («Dalma») wird die dortige Region noch zum Reich Sventopulks zu zählen sein, auch wenn sie später Konstantinos Porphyrogennetos (im «De Administrando Imperio») und Thomas Archidiaconus als Teil Kroatiens anführen [13]. (Vgl. Karte 18)

 

Wie aber kam nun der «Presbyter Diocleas» dazu, den offensichtlich im Nordwesten seines «Regnum Sclavorum», in Bosnien anzusiedelnden Sventopulk im äußersten Südosten, in seiner eigenen Heimat Dioclea, zu lokalisieren, indem er sowohl das Begräbnis Sventopulks wie auch die Krönung seines Sohnes «Svetolik» in eine Kirche «Sta. Maria in Dioclea» versetzt [14]? Hier ist wiederum auf die «ver-gangenheitsmonopolisierende» Tendenz des Chronisten zu verweisen. Auch Bosnien hatte einige Zeit zum Reich von Dioclea gehört, und in dieser Zeit hatten bosnische Traditionen nach Dioclea gelangen können. Diesen «bosnischen Informationsblock» stellte der «Presbyter Diocleas» (oder bereits seine Vorlage), dem gotischen und goto-slawischen Abschnitt der Chronik nachgeordnet, an den Anfang der eigentlichen «Slawenchronik»; er beginnt mit dem 5. Kapitel und führt bis mindestens zum 12. Kapitel, wo er sich in der Person Tomislavs mit kroatischer Tradition verbindet. Rein kroatische Gegebenheiten begegnen spätestens im 20. Kapitel, da hier - mit einem zeitlichen Rücksprung, wie er des öfteren auftritt und durch das Kompositionsschema der Chronik bedingt ist - um die Mitte des 9. Jahrhunderts der Kroatenfürst Trpimir erscheint [15].

 

Es bestätigt sich also auch für die Kapitel 5 bis 12, was sich bereits aus früheren Forschungen für andere Chronikteile ergeben hatte: Der «Presbyter Diocleas» reiht die historischen Überlieferungen verschiedener südslawischer Territorien, insbesondere der ehemaligen Teilgebiete des Reiches von Dioclea, hintereinander, ohne die streckenweise parallel verlaufende zeitliche Ebene deutlich zu machen. Vielmehr «verschmilzt» er die Genealogien verschiedener südslawischer Fürstenhäuser, indem er an den «Nahtstellen» die Abstammungsfolge einfach weiterführt. So kommt es in der Chronik zu den von L. Steindorff beobachteten «zeitlichen Sprüngen» [16].

 

 

13. Vgl. die Aufzählung der kroat. Županien bei Konst. Porph. DAI 30, Ed. Moravcsik/Jen-kins 1949, S. 144-147; dazu die Karte bei Novaković 1966/67, S.268; s.a. Babić 1972, S.55.

 

14. Presb. Diocl. 9, Ed. Šišić 1928, S. 308/309 (Lucius, Orbini) bzw. 400/401 (Kaletić, Marulić); auch Method wurde in einer Kirche mit Marienpatrozinium beigesetzt! Sollte hier eine Marienkirche in Moravias Hauptstadt als gemeinsame Grabstätte beider Personen Grundlage der Überlieferungen sein? Zur Marienkirche in Dioclea s.a. Steindorff 1985, S. 304.

 

15. Presb. Diocl. 20, Ed. Šišić 1928, S.312 (Lucius, Orbini) 404 (Kaletić, Marulić).

 

16. Steindorff 1985, S. 295.

 

 

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Zugleich verdeutlicht sich aber aus der Interessenlage und Kompilationsweise des «Presbyter Diocleas», wieso er Moravia im Zusammenhang mit Sventopulk überhaupt nicht erwähnt: Er benutzte für die Kapitel 5 bis 12 eine bosnische Vorlage mit rein bosnischer Perspektive, für welche die nur eine Generation währende Vereinigung mit Moravia kein besonderes Interesse hatte; genauso verhält es sich mit der Nichterwähnung Kroatiens im Zusammenhang mit Tomislav. Es wäre bei der Vorlage des «Presbyter Diocleas» an eine nur kurz annotierte bosnische Herrscherliste zu denken [17], die er vielleicht noch weiter verkürzte bzw. seinen Zwecken adaptierte.

 

Da nun eine Aufzeichnung historischer Ereignisse in Bosnien sicher erst im Gefolge der kyrillomethodianischen Mission und der damit verbundenen Einführung der glagolitischen Schrift, also ab ca. 863, begann, so ist es völlig logisch, daß - unter der üblichen Befristung zuverlässiger mündlicher Informationen auf zwei vorhergehende Generationen - der auf Bosnien bezügliche Teil der Chronik mit Ereignissen des frühen 9. Jahrhunderts (Bulgareneinfall zur Zeit «Vladins»!) einsetzt [18].

 

Völlig offen bleiben muß die Frage, welche Bezeichnung das «Regnum Sventopulks» im 9. Jahrhundert trug; die hier gewählte Hilfsbezeichnung «Bosnien-Slawonien» orientiert sich an der heutigen geographischen Nomenklatur. Die vom Namen des Flusses Bosna abgeleitete Landesbezeichnung «Bosnien» ist jedenfalls zum ersten Mal im «De Administrando Imperio» belegt; es werden dort «im Ländchen Bosnien» («τὸ χωρίον Βόσονα») nur zwei Burgen benannt, «Κάτερα» und «Δεσνηκ» (Kotorac und Desnik) [19]. Diese um die Mitte des 10. Jahrhunderts geltenden Verhältnisse, die Bosnien recht unbedeutend erscheinen lassen, schließen aber völlig andere Verhältnisse im 9. Jahrhundert nicht aus; waren doch die Grenzen, aber auch die Namen südslawischer Staatsbildungen des Mittelalters ständigen Fluktuationen ausgesetzt. Verschiedene «Kristallisationskerne» gruppierten, sich gegenseitig in rascher Folge ablösend, mehrere benachbarte Gebiete zu immer neuen Reichen. Bosnien bildete in der Folgezeit noch mehrfach den Nukleus größerer Reichsbildungen, etwa unter dem Ban Kulin (ab 1180) oder unter der Dynastie der Kotromaniden (in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts) [20]. So wäre hier auch im 9. Jahrhundert ein eigenständig organisiertes Territorium denkbar.

 

 

17. Vgl. Turk-Santiago 1984, S. 122.

 

18. Zur bosnischen Chronistik Hadžijahić 1983, S.57. Eine «historische Gedächtnisgrenze» von c. 70 Jahren sieht Györffy 1969, S. 109 ff. als Regel.

 

19. Konst. Porph. DAI32, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 160/161; zu «χωρα/χωριον» vgl. Babić 1972, S.55/56 mit Anm. 17; Hadžijahić 1983, S.49; Boba 1981 b, S. 125/126. Zu den beiden Ortsnamen s. Skok 1928, S. 236; Ćirkovič 1964, S. 26, 39/40.

 

20. Dazu Klaić 1885, S.74ff., 139ff.; Čorović S.21 ff., 31 ff.; Grafenauer 1966, S.45 und Karte VII; Čirkovič 1964, S.46ff„ 84ff.; Klaić 1989, S.86ff., 215ff.

 

 

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Es bleibt die schon angesprochene, zunächst erstaunliche Tatsache, daß dieses «Regnum» zwischen der Vertreibung Ratimirs (838) und dem erstmaligen Erscheinen Sventopulks (869) keinerlei Erwähnung in fränkischen Quellen findet - ganz anders als etwa Moravia [21]. Dieses Schweigen ist wohl dadurch zu erklären, daß das bosnisch-slawonische Fürstentum in dieser Zeit mangels aggressiver Handlungen eben nicht in die «Schlagzeilen» der fränkischen Annalistik geriet - ähnliche Phasen längerer Nichterwähnung finden sich aus demselben Grunde auch bei einigen eibslawischen Stämmen.

 

Erst mit der groß angelegten Offensive ostfränkischer Heere im Südosten 869/70, welche offenbar die Hoheit Ludwig des Deutschen über alle dortigen seit Karl dem Großen nominell abhängigen Slawengebiete wieder aufrichten sollte, fand auch Sventopulks «Regnum» Beachtung bei den ostfränkischen Chronisten.

 

 

3.2. Die Verbindung von Bosnien-Slawonien mit Moravia und die Theorie eines südslawischen «Patrimoniums»

 

Während sich die fränkischen Quellen hinsichtlich der Herkunft Sventopulks recht wortkarg zeigen, geht aus ihrem Bericht der Vorgang seiner Machtübernahme in Moravia in aller Deutlichkeit hervor.

 

Nach einer längeren Phase der Zusammenarbeit mit seinem Onkel Rastislav folgte 870 ein Zerwürfnis zwischen den beiden slawischen Fürsten, als Sventopulk sein Reich von Karlmann zu Lehen nahm. Darüber erzürnt, versuchte Rastislav seinem Neffen eine Falle zu stellen, wurde aber von dem rechtzeitig gewarnten Sventopulk seinerseits überlistet und an Karlmann ausgeliefert [1].

 

Ostfränkisch-bairische Truppen besetzten Moravia, doch erhoben die Moravlja-nen alsbald einen dem Fürstenhaus angehörigen Priester («presbyterum eiusdem ducis propinquum») namens Slavomir («Sclagamar») zu ihrem Herrscher. Unter ihm nahmen sie 871 erneut den Kampf gegen die Baiern auf, die von den Markgrafen der «Ostmark», den Brüdern Wilhelm und Engelschalk, geführt wurden.

 

Mittlerweile war Sventopulk unter der Anschuldigung der «infidelitas» vorübergehend in Haft genommen worden; nachdem sich aber seine Unschuld herausstellte, entließ ihn Karlmann nicht nur mit reichen Geschenken, sondern unterstellte ihm auch ein bairisches Heer mit dem Auftrag, Slavomir auszuschalten.

 

 

21. Ein ähnliches Schweigen der «Conversio» über die Gebiete südlich der Dräu beobachtete Kahl 1980, S.61 ff.

 

1. Ann. Fuld. ad a. 869, 870, Ed. Kurze 1891, S. 68-71; Ann. Berlin, ad a. 870, Ed. Waitz 1883, S. 109,113/114; Ann. Xantenses ad a. 870, Ed. Simson 1909, S.28; Reginon. Chron. ad a. 860 (!), Ed. Kurze 1890, S. 78.

 

 

212

 

Doch Sventopulk entledigte sich dieses Auftrages auf seine Weise: Er verständigte sich mit den Moravljanen und ermöglichte ihnen einen überwältigenden Sieg über das völlig überraschte bairische Heer [2].

 

Als Verwandter des letzten Herrschers Rastislav wurde er anscheinend ohne Widerspruch als neuer Fürst Moravias anerkannt, während «Sclagamars» Spur sich in den Quellen verliert. Da nirgends behauptet wird, daß Sventopulk sein altes «Regnum» in Bosnien-Slawonien damit aufgegeben hätte, vielmehr herausgearbeitet werden konnte, daß er 892 noch darüber verfügte [3], so ergibt sich für die Jahre nach 871 eine etwa auf das Doppelte angewachsene Machtbasis Sventopulks. Sie gibt für seine gewaltigen Erfolge gegen die Ostfranken - verglichen mit seinen Vorgängern in Moravia, Moimir und Rastislav - viel eher eine Erklärung ab als die bisher betonte größere «militärische Begabung».

 

Dabei darf es nicht überraschen, daß das ursprüngliche Gebiet Sventopulks bzw. dessen Einwohner bei den fränkischen Chronisten keine eigenen Bezeichnungen erhielten, sondern unter den Begriffen «Moravia» und «Moravljanen» (neben einfachem «Sclavonia» und «Sclavi») subsumiert wurden. Moravia war den Ostfranken offenbar nicht nur länger und intensiver bekannt, es besaß auch unter den slawischen Fürstentümern ein größeres Prestige, wie z.B. die Vorrangstellung Rastislavs als «primus inter pares» gegenüber Sventopulk und Kocel bei den Missionsbestrebungen der Slawenfürsten ab 863 zeigt [4].

 

In dieselbe Richtung weist die Übersiedlung Sventopulks nach Moravia, mit dessen Hauptstadt er von der Methodvita assoziiert wird. Ebenso bringt auch Kon-stantinos Porphyrogennetos Sventopulk nur mit Moravia, nicht mit süddanubischen Gebieten in Verbindung [5].

 

Der von «Johannes presbyter de Venetiis» im Auftrage Sventopulks ausgehandelte Frieden von Forchheim (874) brachte gegen einen Treueschwur und das Versprechen einer Tributzahlung an Ludwig den Deutschen offensichtlich die Anerkennung des neuen, Moravia einschließenden Besitzstandes [6].

 

 

2. Ann. Fuld. ad a. 871, Ed. Kurze 1891, S. 73/74; Ann. Bertin. ad a. 871, Ed. Waitz 1883, S.117; Ann. Xantenses ad a. 871, 872, Ed. Simson 1909, S.30/31.

 

3. Ersichtlich aus der Schilderung der Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 892, Ed. Kurze 1891, S. 121/122.

 

4. In den Viten und Legenden wird Rastislavs Name immer denjenigen Sventopulks und Kocels vorangestellt!

 

5. Methodvita 10, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S. 160/161; Konst. Porph. DAI 13, 40, 41, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 64/65, 176/177, 180/181.

 

6. Ann. Fuld. ad a. 874, Ed. Kurze 1891, S.82/83.

 

 

213

 

In die Jahre nach dem Forchheimer Frieden fällt die Erwähnung Moravias unter jenen Gebieten, welche Karlmann bei der Reichsteilung nach dem Tode Ludwigs des Deutschen 876 zufielen. Bei Regino von Prüm ist dieser Anteil folgendermaßen erklärt: «Carlomannus sortitus est Baioariam, Pannoniam et Carnutum nec non et regna Sclavorum, Behemensium et Marahensium» [7]. I. Boba hat diese Formulierung derjenigen aus der «Ordinatio Imperii» vom Juli 817 gegenübergestellt, mit welcher Ludwig dem Deutschen damals ein offenbar identischer Reichsteil zugesprochen wurde; sie lautet: «Item Hludowicus volumus ut habeat Baioariam et Carentanos et Beheimos et Avaros atque Sclavos qui ab orientali parte Baioariae sunt» [8].

 

Sicher darf man mit Boba davon ausgehen, daß die Franken nach 817 im Osten keine neuen Eroberungen gemacht hatten, sondern nur die im Awarenkrieg gewonnenen Länder zu behaupten suchten und noch 876 «de iure» in vollem Umfang beanspruchten. Zweifelhafter ist schon Bobas weitere Prämisse, daß die in beiden Teilungsverträgen erscheinenden Territorien Baiern, Karantanien und Böhmen in ihrem Umfang gleichgeblieben seien. Vollends unzulässig ist aber die sodann von ihm vorgenommene Gleichsetzung der «Avari atque Sclavi qui ab orientali parte Baioariae sunt» von 817 mit dem «regnum Sclavorum Marahensium» sowie der «Pannonia» von 876, die nach Boba zwangsläufig gemeinsam den Raum des antiken Pannonien ausfüllten.

 

Da nördlich der Dräu das Dukat des Pribina und Kocel zu suchen ist, verbliebe also für Moravia nur der schmale Streifen zwischen der Dräu und der Save, wobei Boba zwischen diesem Moravia und Kroatien an der Adriaküste ja auch noch Bosnien als Machtbereich Sventopulks vor 870 unterbringen will [9]!

 

Demgegenüber soll hier die Ansicht vertreten werden, daß im Norden der Donau bis 876 eine Ostausdehnung Böhmens unter Absorption eines Teils der 817 genannten Awaren stattgefunden hatte. Weitere Awaren und ein Teil der «Sclavi» von 817 waren in der 876 «Pannonia» genannten ostfränkischen Verwaltungseinheit zusammengefaßt worden, wobei es unklar bleiben muß, ob hierunter auch die «Ostmark» einbezogen war.

 

Alle übrigen «Sclavi, qui ab orientali parte Baioariae sunt» und 817 Ludwig unterstellt worden waren, hatte seit 871 Sventopulk unter seiner Herrschaft vereint, nämlich Moravia und das bosnisch-slawonische Fürstentum.

 

 

7. Die «Ordinatio Imperii» von 817 in MG Capit., 1, Ed. Boretius 1883, Nr. 136, S.270-273, hier 271; dazu H. Zatschek, Die Reichsteilungen unter Ludwig dem Frommen; in: MIÖG, 49 (1935), S. 185-224; F. Ganshof, Observations sur l'Ordinatio Imperii de 817; in: Festschrift G. Kisch (Stuttgart 1955), S. 15-31.

 

8. Reginon. Chron. ad a. 876, Ed. Kurze 1890, S. 112.

 

9. Boba 1971, S.53ff.; s.a. die - selbstverständlich abweichende - Interpretation der beiden Teilungsbestimmungen bei Havlík 1978, S.21/22 und Mühlberger 1980, S.33.

 

 

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(Letzteres stellt eventuell die einzige territoriale Abweichung von der 817 getroffenen Vereinbarung dar, da ja - wie erwähnt - dieses «Regnum» bis 828, zumindest nominell, dem italischen Reichsteil zugeordnet war.)

 

Der Ausdruck «regna» bei Regino von Prüm, falls er auch auf die «Marahenses» anzuwenden ist, soll vielleicht ebenso diese Mehrzahl von Sventopulk im Jahre 876 unterstehenden Fürstentümern bezeichnen, wie möglicherweise auch eine Vielzahl von Herrschaften in Böhmen; doch ist dies unsicher.

 

Die mit der Vereinigung Bosnien-Slawoniens und Moravias evidente Vormachtstellung Sventopulks im südslawischen Bereich, die der «Presbyter Diocleas» als eine direkte und absolute Herrschaft hinstellt, interpretiert Boba - wohl beeinflußt von dieser Quelle - als die erstmalige Zusammenfassung eines nicht nur ethnisch oder ideell, sondern auch politisch und über eine gemeinsame Herrscherdynastie zusammengehörigen «Patrimoniums» («patrimony»). Dieses soll laut Boba in mehrere Teilfürstentümer («principalities») zerfallen sein, welche in den lateinischen Quellen als «regna» oder «partes», in altkirchenslawischen Legenden als «strany» aufscheinen würden. Unter die - seines Erachtens zwischen Dräu und Adria liegenden - Teilfürstentümer dieses «Patrimoniums» rechnet Boba Moravia, das bosnische «Regnum», Kroatien, Serbien und die Kleinfürstentümer an der Küste.

 

Die übergeordnete politische Einheit, der er als vergleichbare Strukturen die mittelalterliche Kiewer Rus' oder auch das Frankenreich der Karolinger an die Seite stellen möchte, glaubt Boba wiederfinden zu können in den Bezeichnungen «Sclavinia», «Sclavonia» oder «regnum» bzw. «regna Sclavorum», die in verschiedenen mittelalterlichen Quellen begegnen. Diese hätten in jedem Fall ein ganz bestimmtes Gebiet beschrieben, nämlich das oben genannte «Patrimonium» [10].

 

Dieser einseitigen Auffassung des Begriffes «Sclavinia» ist allerdings zu widersprechen. Gegenbeispiele sind überaus häufig im byzantinischen Bereich, wo «Σκλαβηνία» nicht nur jeden von Slawen besiedelten Landstrich, sondern auch die Gesamtheit des slawischen Territoriums, ja sogar eine politische Organisations-form bezeichnen konnte [11].

 

Doch auch die westlichen Quellen sind inkonsequent in ihrem Sprachgebrauch; meist ist das dem Standort des jeweiligen Schreibers am nächsten liegende Slawengebiet seine «Sclavinia» schlechthin: Für die «Conversio» etwa Karantanien und «Unterpannonien», für norddeutsche Quellen des Hochmittelalters die Region der Eibslawen oder Polen, für die ungarischen Quellen der Save-Drau-Raum [12].

 

 

10. Boba 1971, S.3ff., 14ff., 27ff. und Boba 1987.

 

11. G. Weiss, A. Katsanakis, Das Ethnikon «Sklabenoi», «Sklaboi» in den griechischen Quellen bis 1025 (Stuttgart 1988).

 

12. Vgl. J. Reisinger, G. Sowa, Das Ethnikon «Sclavi» in den lateinischen Quellen bis zum Jahr 900 (Stuttgart 1990).

 

 

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Während sich also Bobas Vorstellung, alle «Sclavinia»-Nennungen zeitgenössischer Quellen seien auf Sventopulks Großreich anwendbar, als eine Chimäre erweist, ist sein Grundkonzept eines «Patrimoniums», eines von Angehörigen einer weitverzweigten Herrscherfamilie (bzw. miteinander versippter Dynastien) regierten Verbundes südslawischer Fürstentümer, möglicherweise tragfähig. Wie weit sich dies für die einzelnen Gebiete beweisen läßt, bzw. inwieweit Sventopulk diese Fürstentümer unter seine Hegemonie brachte, soll nunmehr untersucht werden.

 

 

3.2.1. Verbindungen Serbiens zu Moravia und zum «Regnum» Sventopulks

 

Die Geschichte des frühmittelalterlichen Serbien, «Zagorje», in den Quellen später auch Raszien («Raška») genannt [1], ist weitgehend in Dunkel gehüllt.

 

Wichtigste Quelle für diesen Zeitraum ist das «De Administrando Imperio», das nach einem Bericht über die Ansiedlung der Serben auf dem Balkan eine Liste der serbischen Herrscher bringt, die in patrilinearer Erbfolge regiert haben sollen. Während die ersten drei Fürsten Viseslav, Radoslav und Prosigoj («Βοϊσέσθλαβος, Ῥοδόσθλαβος, Προσηγόης») für uns reine Namen bleiben, ist für den vierten Fürsten, Vlastimir, eine erste Datierungsmöglichkeit gegeben; er soll einen erfolgreichen Abwehrkrieg gegen den Bulgarenherrscher Presiam (oder Persian) geführt haben, dessen Regierungszeit auf ca. 836-852 angesetzt wird [2].

 

Auf Vlastimir folgten seine Söhne Mutimir, Stroimir und Gojnik («Μουντιμῆρος, Στροΐμηρος, Γοΐνικος»), zunächst unter einer Teilung des Landes. In diese Zeit gemeinsamer Regierung fällt eine erste bemerkenswerte zeitliche Koinzidenz bulgarischen Vorgehens gegen Serbien mit einer ostfränkischen Unternehmung gegen Moravia (begleitet von einem ostfränkisch-bulgarischen Bündnis), die bereits unter «moravischem» Aspekt angesprochen wurde.

 

860/61 und erneut 863 hatte sich Prinz Karlmann, der über das «Ostland» gebot, gegen seinen Vater erhoben und mit Rastislav ein Bündnis geschlossen. Als Gegenmaßnahme verabredete Ludwig der Deutsche ein gemeinsames Vorgehen mit einem in den fränkischen Quellen ungenannten bulgarischen «caganus», welcher nach Lage der Dinge damals nur Khan Boris (852-889) sein konnte.

 

Dazu stellen sich nun Nachrichten aus dem «De Administrando Imperio», denen zufolge der «ἄρχον» Bulgariens, Michael-Boris, Krieg gegen die drei serbischen Fürsten geführt habe, um die Niederlage seines Vaters Presiam zu rächen.

 

 

1. Zur frühma. geogr. Nomenklatur Serbiens s. Skok 1928; Radojičić 1957; Kalić 1976 und 1985; Dinić 1978, S. 33 ff.; Hadžijahić 1983, S. 39/40.

 

2. Konst. Porph. DAI 32, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 152 ff.; zu diesem Kap. des DAI s.a. L. Maksimović, Štruktúra 32. glave spisa DAI; in: ZRVI, 31 (1982), S.25-32.

 

 

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Ebenso weiß Konstantinos Porphyrogennetos aber auch von einem Zug des Bulgaren gegen die «Χροβάτοι» [3].

 

Beiden Unternehmungen gemeinsam ist ein für Boris erfolgloser Ausgang, wobei im Falle der Serben die Niederlage drastischer ausgemalt ist; beide endeten mit einem Abzug der Bulgaren und einem Friedensvertrag. Möglicherweise handelte es sich also um ein und dieselbe Aktion des Bulgarenherrschers, von welcher der byzantinische Kaiser über zwei verschiedene Überlieferungsstränge Kenntnis erlangte, ohne die Identität beider Vorgänge zu realisieren [4].

 

Aus der Nennung des christlichen Taufnamens von Boris, «Michael», in der byzantinischen Quelle schloß K. Jireček, daß der dort berichtete Feldzug nach dessen Bekehrung stattgefunden haben müsse, was nicht unbedingt schlüssig ist [5].

 

Dagegen ist darauf zu verweisen, daß 863 ein byzantinisches Heer in Bulgarien einfiel und aufgrund des geringen Widerstandes (den man nur mit der Abwesenheit der bulgarischen Hauptheeresmacht unter Boris erklären kann!) sehr gut vorankam. 864 mußte Boris einen mit Gebietsabtretungen verbundenen Frieden schließen und die Christianisierung seines Landes durch byzantinische Missionare gestatten [6]. Nach 864 schweigen aber auch die fränkischen Quellen von einer weiteren Mitwirkung der Bulgaren am Krieg gegen Rastislav. Schließlich wäre ein 865/66 berichteter Aufstand der bulgarischen Bojaren als eine Folge dieser Desaster an allen Fronten (wie auch als Reaktion gegen das Christentum) anzusehen [7].

 

Somit ist der Feldzug des Khan Boris gegen Serben und «Kroaten» in die Jahre 863/64 zu datieren [8]. Diese Stoßrichtung der Bulgaren wäre aber angesichts der gerade 863/64 beabsichtigten Kooperation mit Ludwig dem Deutschen gegen Rastislav befremdlich, hätte letzterer in Mähren residiert.

 

Sie wirkt hingegen völlig verständlich, setzt man ein Aneinandergrenzen (oder zumindest eine räumliche Nähe) Moravias, Serbiens und des «Regnums» Svento pulks voraus.

 

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß gerade in die Zeit um 863 eine Periode enger Zusammenarbeit zwischen Rastislav und seinem Neffen auf kirchlichem Gebiet fällt [9]. Ein entsprechendes «außenpolitisches» Zusammengehen Ra-stislavs und Sventopulks (der hier als Herrscher der von Boris angegriffenen «Kroaten» aufgefaßt werden soll) gegen die Bulgaren wäre also nichts Überraschendes;

 

 

3. Konst. Porph. DAI 32, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 154/155 bzw.31, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 150/151.

 

4. So Petrov 1968, S.49ff.

 

5. Jireček 1911, S.195 Anm. 1.

 

6. Dazu Runciman 1930, S. 108; Ostrogorsky 1952, S. 186; Dvornik 1964 b, S. 122; Angelov 1980, S. 95,115 ff.

 

7. Ann. Bertin, ad a. 866, Ed. Waitz 1883, S. 84/85.

 

8. Vgl. Petrov 1968.

 

9. Methodvita 5, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S. 155.

 

 

217

 

Serbien wäre der Dritte in diesem Bunde gewesen.

 

Schon lange ist erkannt worden, daß die Vorgänge von 863/64 Ausmaße einer größeren, fast «europäischen» Auseinandersetzung hatten: Auf der einen Seite standen die Ostfranken und Bulgaren, auf der anderen die Byzantiner und ihre slawischen Verbündeten in Südosteuropa.

 

Allerdings wurde bisher nicht der Schluß gezogen, daß auch Moravia einerseits, Serbien und das «pannonische Kroatien» (im Sinne von Sventopulks Fürstentum) zum anderen kooperiert haben könnten und daß die Quellenanalyse eine Nachbarschaft dieser drei Gebiete nahelegt. Z. Dittrich ging in einem Zirkelschluß so weit, einen gegen die Achse Ostfranken-Bulgaren gerichteten Bund zwischen Byzanz und <Großmähren> wegen dessen angeblicher geographischer Lage abzulehnen [10].

 

Auf die gemeinsame Abwendung der bulgarischen Gefahr folgte eine Zeit engerer Anlehnung Serbiens an Byzanz. Zwischen 867 und 874 ging eine serbische Gesandtschaft dorthin, unter anderem wegen der Frage einer byzantinischen Mission [11]; man beachte auch hier die zeitliche Nähe zum entsprechenden Ansinnen Rastislavs und Sventopulks. Bei der Belagerung der Sarazenen in Bari 871 sollen nach byzantinischen Quellen sogar serbische Kontingente auf Befehl («Κέλευσις») des Kaisers Basilios hin erschienen sein [12].

 

Etwa in dieser Zeit, zwischen 864 und 873, muß die vom «De Administrando Imperio» berichtete Vertreibung Stroimirs und Gojniks durch ihren Bruder stattgefunden haben [13]. Jedenfalls an einen «Montemerus, dux Sclaviniae» allein ist ein äußerst interessantes Schreiben des Papstes Johannes VIII. vom Mai 873 gerichtet; das zweite der beiden erhaltenen Bruchstücke lautet:

 

Quapropter ammonemus te, ut progenitorum tuorum secutus morem quantum potes ad Pannonensium reverti studeas diocesin. Et quia illic iam Deo gratia a sede beau Pétri apostoli episcopus ordinatus est, ad ipsius pastoralem recurras sollicitudi.

 

Es darf als sicher gelten, daß es sich bei dem Slawenherrscher oder «dux», der sich der Jurisdiktion Methods (denn dieser ist mit dem bereits ordinierten Bischof gemeint) unterstellen soll, um den serbischen Mutimir handelt. Der Kroatenfürst Mutimir, Sohn des Trpimir, der erst zwischen 888 und 892 an die Regierung kam, scheidet aus;

 

 

10. Dittrich 1962, S. 98/99.

 

11. Dazu Radojičic 1952 und 1957, S.271ff.; Dujčev 1961; Grivec 1960, S. 104; Löwe 1983, S. 662 mit Anm. 134.

 

12. Konst. Porph. DAI 29, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 128/129; zur «Κέλευσις» s. Ferhiga 1976,8.293, 301.

 

13. Konst. Porph. DAI 32, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 154/155.

 

14. MG Epp. VII, Ed. Kehr 1928, Fragmenta registri Johannis VIII. papae, Nr. 18, S.282.

 

 

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auch ein von F. Rački postulierter, sonst nicht belegter Fürst von «Pannonisch-Kroatien» ist abzulehnen.

 

Während die möglichen Folgerungen für die Lage der Diözese Methods zunächst zurückgestellt werden sollen, interessiert hier vor allem die seltsame Formulierung «der Sitte/der Vorschrift/der Art und Weise deiner Stammväter (oder eventuell: deines Geschlechts ?) folgend». Die «pannonische» Diözese wurde ja erst kurz zuvor, 869/70, begründet, also unter Mutimirs eigener Herrschaft, nicht der seiner Vorfahren [15]! Eine Berufung aufweiter zurückliegende Ereignisse scheint denkbar. So nimmt man eine erste, nur teilweise Bekehrung der Serben um die Mitte des 7. Jahrhunderts an [16]. Jedoch war die rechtliche Vorgängerin von Methods Diözese, das spätantike Erzbistum Sirmium, damals bereits untergegangen; zwischen 582 und 869 ist dort kein (Erz-)Bischof mehr bezeugt [17]. Angesichts dessen möchte man bezweifeln, daß die päpstliche Kanzlei - in derlei Dingen doch sonst recht präzise - so erstaunlich «unhistorisch» argumentieren sollte.

 

Es bleibt als einleuchtendere Deutung diejenige, daß mit den beispielgebenden «progénitures» des Mutimir jene Herrscher gemeint sein könnten, welche sich bereits Method unterstellt hatten; es sind dies bekanntlich Rastislav, Sventopulk und Kocel. Sollte Mutimir von Serbien ein Abkomme (etwa in weiblicher Linie) oder zumindest ein Verwandter eines dieser Fürsten sein? Nach I. Boba deutet die Einbeziehung Mutimirs in die Diözese Methods auf eine Zugehörigkeit Serbiens zu dem bereits erwähnten «Patrimonium» unter der Herrschaft einer Dynastie [18].

 

Ein (vielleicht nur in propagandistischer Absicht behaupteter) bulgarischer Angriff auf das Reich Sventopulks im Jahre 882, den dieser der Anstiftung Arnulfs von Kärnten zuschrieb, ist mit keiner bulgarischen Unternehmung gegen Serbien in Verbindung zu bringen [19].

 

Dagegen wiederholte sich die Situation der Jahre 863/64 noch einmal 892. Wegen des damals ausgebrochenen Krieges mit Sventopulk suchte Arnulf-aoch im selben Jahr um die Zusammenarbeit mit dem Bulgarenkönig Vladimir nach [20]. Zwar wurde dieser schon 893 von seinem Bruder Simeon abgelöst. Unter Simeons Regierung begann dann jedoch sofort die bulgarische Einmischung in die blutigen Thronfolgekämpfe, welche Serbien nach dem Tode Mutimirs (ca. 891) erschütterten [21].

 

 

15. Dazu ausführlicher in der Method-Monographie des Verf.!

 

16. Siehe etwa Radojičić 1952, S.253; Božić 1968, S. 138fŕ.

 

17. V. Popović, Le dernier évêque de Sirmium; in: Revue des études Augustiniennes, 21 (1975), S.91-111.

 

18. Boba 1971, S. 83/84; 1987; 1991 b.

 

19. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 884, Ed. Kurze 1891, S.112.

 

20. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 892, Ed. Kurze 1891, S. 121.

 

21. Konst. Porph. DAI 32, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 156 ff.

 

 

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Auch hier gilt, daß eine bulgarische Bündnisleistung im Sinne der Ostfranken, die Sventopulk (bzw. ab 894 dessen Söhnen) schaden sollte, sich aber gegen Serbien richtete, nur dann einen Sinn ergibt, wenn Serbien einen Teil des weiteren Machtbereiches von Sventopulk bildete. Der Wegfall dieses Rückhaltes der Serben durch Sventopulks Tod 894 ermöglichte erst Simeons Erfolg.

 

Schließlich stellt sich noch die Frage, welchen Gebietsumfang Serbien während der behandelten Zeitspanne, also im 9. und frühen 10. Jahrhundert hatte. Hauptquelle ist wiederum das «De Administrando Imperio», wobei allerdings die verschiedenen einschlägigen Kapitel verschiedene Zeitstufen repräsentieren; R. Novaković hat versucht, diese kartographisch zu erfassen [22]. Als Ergebnis darf gelten, daß gegen Bosnien im Westen die Drina eine Grenzfunktion ausübte, auch wenn Kon-stantinos Porphyrogennetos im 32. Kapitel Bosnien offenbar als einen Teil Serbiens betrachtet [23]. Gegen Norden hin bleibt die Ausdehnung Serbiens unbestimmbar; 885 saßen jedenfalls die Bulgaren in Belgrad. Da Konstantinos Porphyrogennetos im 40. Kapitel als Südnachbarn der Ungarn nur Bulgaren und Kroaten nennt, hat man schließen wollen, daß zum Zeitpunkt der Abfassung des entsprechenden Kapitels (ca. 950) Serbien durch diese beiden Länder von Ungarn abgeschnitten war [24].

 

Eine wichtige Rolle könnten die sechs «xaoxQa» spielen, die in Kapitel 32 des «De Administrando Imperio» als in Serbien liegend bezeichnet werden, also: «Δεστινίκον, Τζερναβουσκέη, Μεγυρέτους, Δρεσνεἡκ, Λεσνἡκ, Σαληνὲς». Doch ist nur die Identifizierung des letzten Ortes als Tuzla im heutigen Bosnien eindeutig gesichert, womit eine nördliche Minimalausdehnung gewonnen wäre. Die übrigen fünf Orte werden etwa von F. Šišić, P. Skok und R. Novaković ziemlich unterschiedlich lokalisiert; Einigkeit besteht nur darin, sie zwischen den Flußläufen von Drina und Ibar bzw. serbischer Morava ansetzen zu wollen [25].

 

Eine Information über die Ostausdehnung Serbiens bedeutet die Nennung der Burg Ras («Paar)») als Grenzpunkt zwischen Serbien und Bulgarien, bis zu der die Serben 863/64 den geschlagenen Boris eskortierten26. Östlich davon war bis zu diesem Zeitpunkt das gesamte, vorher unabhängige Slawengebiet in bulgarische Hände gekommen:

 

 

22. Novaković 1966/67, S.268 (zu Kap.30), 273 (zu Kap.32), 284 (zu Kap.40, 42).

 

23. Konst. Porph. DAI 32, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 160/161.

 

24. Konst. Porph. DAI 40, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 178/179; dazu etwa Šišić 1917, S.386 und Karte 2; auch Novaković 1968, S. 141 ff., 156ff.

 

25. Konst. Porph. DAI 32, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 160/161 dazu Šišić 1917, Karte 2; Skok 1928, Karte; Novaković 1968 und 1981.

 

26. Konst. Porph. DAI 32, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 154/155; dazu Novaković 1968, S. 160; zum Ortsnamen «Ras» Kalić 1976; zu dortigen Ausgrabungen D. Bošković, Aper çu des résultats de recherches archéologigues à Ras; in: Balcanoslavica, 6 (1977), S.61-78.

 

 

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Sofia («Serdica») erstmals 809 und endgültig ca. 835, das Moravatal mit Niš wohl während der Konfrontation mit den Franken ab 827, die südlich angrenzenden Regionen zwischen Kosovo und Thessalonike zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt zwischen ca. 830 und 860 [27]. Die Nennung des Flusses Lab im Kosovo als der Ostgrenze Serbiens durch den «Presbyter Diocleas» ist also ein offenkundiger Anachronismus. Dagegen stimmt er mit Konstantinos Porphyro-gennetos überein in der Südabgrenzung Serbiens gegen die kleinen Fürstentümer an der Küste, welche dieser sämtlich entlang der Wasserscheide (wörtlich «an der Bergseite», «πρὸς τὰ ὀρεινὰ») an Serbien stoßen läßt [28].

 

 

3.2.2. Die slawischen Kleinfürstentümer an der südlichen Adriaküste

 

Während der «Presbyter Diocleas» dieses zwischen der Cetina und dem Skutari-See liegende Gebiet als «Rotkroatien» bezeichnet, betont Konstantinos Porphyrogennetos, daß seine Bewohner sämtlich von den «ungetauften Serben» abstammten, die unter Kaiser Heraklios (610-641) das Land besiedelt hätten - ein Widerspruch, der heftigen innerjugoslawischen Gelehrtenstreit über die ethnische Zugehörigkeit der betreffenden Stämme ausgelöst hat.

 

Ebenso divergieren die beiden Quellen in ihren Auskünften über die territoriale Struktur: Der «Presbyter Diocleas» faßt das Gebiet als Einheit auf; Konstantinos Porphyrogennetos dagegen kennt in dieser Küstenregion vier kleinere Länder («Χῶραι»).

 

Über das südlichste, erst in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts zu größerer Macht aufgestiegene Territorium, nämlich Dioclea, hat er wenig zu sagen; er nennt nur vier Toponyme, von denen allein die mit dem Fürstentum gleichnamige, damals schon wüst liegende Hauptstadt lokalisierbar ist [1].

 

Das Hinterland an der Küste zwischen Kotor und Dubrovnik bildete das nördlich anschließende Travunien («Travunija») einschließlich der kleinen Küstenprovinz Kanali («Konavle») [2]. Dieses Fürstentum stand offenbar von Anfang an in engster Verbindung mit Serbien und war diesem untergeordnet, wie Konstantinos Porphyrogennetos betont: Der Serbenfürst Vlastimir machte den travunischen Župan Krainas zu seinem Schwiegersohn und verlieh ihm den Titel «Fürst» («ἄρχων »). Den Namen des Krainas («Κραΐνας») und seines Vaters Belaes («Βελάης»), aber auch diejenigen seiner Nachfolger Hvalimir («Φαλιμέρης») und Čučimir («ζουζήμερις»)

 

 

27. Dazu Ostrogorsky 1974, S. 6 ff.; Angelov 1980, S. 93 ff.; Fine 1983, S. 106 ff.

 

28. Presb. Diocl. 9, Ed. Šišić 1928, S. 307; Konst. Porph. DAI 30, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 144/145.

 

1. Konst. Porph. DAI 35, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 162-165; zu den Ortsnamen vgl. Skok 1928, S.237/238.

 

2. Konst. Porph. DAI 34, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 162/163.

 

 

221

 

finden sich wieder beim «Presbyter Diocleas» in den Formen «Chranimir», «(Pavlimir) Bello», «Chvalimir» und «Tugimir» oder «Tesimir» [3], ohne daß die Identität der Personen mit jeweils gleichem/ähnlichem Namen absolut zu beweisen wäre. Als einen chronologischen Bezugspunkt kann man aber die vom «Presbyter» in die Zeit der genannten Fürsten datierten Raubzüge der Sarazenen betrachten, die nach anderen Quellen die südliche Adria um 841 heimsuchten [4].

 

Die Narentaner («Neretljani»), um das nördlichste Territorium zwischen den Mündungen der Neretva und Cetina vorwegzunehmen, wurden nach dem «De Administrando Imperio» auch «Pagani» genannt (wohl von der romanischen Bevölkerung), da sie wesentlich später als die übrigen Südslawen die Taufe angenommen hatten. Auch verfassungsmäßig wiesen sie eine andere Struktur auf als ihre von Županen oder «Archonten» regierten Nachbarn, nämlich eine Art von Oligarchie. Im ganzen Adriaraum und insbesondere bei den Venezianern waren sie wegen ihrer Piratenzüge gefürchtet, die sie manchmal zusammen mit den Kroaten durchführten. Ansonsten sind aber keine Bindungen oder gar Abhängigkeiten der Narentaner zu erkennen, die ihre Freiheit bis ins 12. Jahrhundert bewahren konnten [5].

 

Ganz anders liegt der Fall bei Zachlumien («Zahumlje»), das einen großen Teil der heutigen Herzegowina einnahm. Hier regierte zur Zeit des Porphyrogennetos Fürst Michael, «Prokonsul und Patrikios», wie ihn der Kaiser bezeichnet [6]. Dieser Michael, erstmals um 913 belegt, erscheint in der Folgezeit häufig in den Quellen, zunächst als Parteigänger Bulgariens und entschiedener Gegner des Fürsten Peter von Serbien (zu dessen Fall er 918 beitrug), seit ca. 922/23 auf byzantinischer Seite und eng liiert mit Tomislav von Kroatien, mit dem gemeinsam er 925 auf der Synode von Spalato/Split anwesend war; mit diesem gleichzeitig erhielt er wohl auch die erwähnten Würden von Byzanz [7].

 

Von diesem Michael, Sohn des «Vyševič» («Βουσεβούτζης») weiß das «De Administrando Imperio» nun weiter zu berichten, daß seine Familie von jenen Heiden abstamme, welche am Flusse «Visla» wohnten und «Ditziki» oder «Litziki» genannt würden:

 

 

3. Presb. Diocl. 15, 27, 34, 33, 28, jeweils nur in der lat. Red.; «Bello» und «Tesimir» auch in den Ann. Ragusini Nicolai de Ragnina, Ed. Nodilo 1883, S. 175-177; zu diesen Namen s.a. Rodič 1980, S.306, 315, 318.

 

4. Vgl. Šišić 1928, S.443 Anm.73; Medini 1942, S. 139/140; Mošin 1950, S.21/22; Wasilewski 1971, S.109ff.; Banašević 1971, S.112ff.; Turk-Santiago 1984, S.127ff.

 

5. Cessi 1942, S.317ff.; Guldescu 1964, S. 72,100; Hoffmann 1969; Klaić 1971, S.212ff.; Fine 1983, S.256.

 

6. «ἀνθύπατος καὶ πατρίκιος» vgl. Konst. Porph. DAI 33, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S.160/161.

 

7. DAI Comm. (1962), S.137ff.; Wasilewski 1965, S.49ff.; Klaić 1971, S.269; Fine 1983, S. 149 ff., 160.

 

 

222

 

Ὅτι ἡ γενεά τοῦ ἀνθυπάτου καὶ πατρικίου Μιχαήλ, τοῦ νἱοῦ τοῦ Βουσεβούτζη, τοῦ ἄρχοντος τῶν Ζαχλούμων, ἦλθεν ἀπὸ τῶν κατοικούντων ἀβαπτίστων εἰς τὸν ποταμὸν Βίσλας, τοὺς ἐπονομαζομένους Λιτζίκη, καὶ ᾤκησεν εἰς τὸν ποταμόν... Ζαχλοῦμα [8]

 

Der Name des Flusses ist von jeher als der der Weichsel erkannt worden. Das ursprünglich im Text stehende «Διτζίκη» hat zuerst P. Skok als eine Verschreibung für «Λιτζίκη» und somit als griechische Transkription des altrussischen «Ležaninь» erkannt, einer alten Bezeichnung der Russen für ihre westlichen Nachbarn, die Polen («Lechen», vgl. auch ungarisches «Lengyel» für «Pole») [9].

 

Die Passage des «De Administrando Imperio» ist nunmehr von F. Dvornik so gedeutet worden, daß die Zachlumier Anfang des 7. Jahrhunderts als eigenständiger Stamm aus Südpolen eingewandert seien - wie ja Konstantinos Porphyrogennetos auch für Serben und Kroaten eine nordkarpatische Herkunft andeute [10].

 

Doch behauptet die Quelle eine solche Abkunft ja nicht für den ganzen Stamm, sondern nur für die Familie des Fürsten! Auch scheint es, daß eine weitere Quelle denselben Vorgang widerspiegelt.

 

Die Entmachtung einer heidnischen Fürstenfamilie der südpolnischen Wislanen, ja wohl sogar ihre Deportation durch Sventopulk wird nämlich angedeutet in der Methodvita. Im Zuge ihres Berichtes über die kriegerischen Erfolge Sventopulks (und der Verdienste ihres Helden Method um dieselben!) spricht die Vita im 11. Kapitel von einem sehr mächtigen, heidnischen Fürsten an der Weichsel («въ Вислѣ»), der die Christen verfolgte. Daher ließ ihm Method ausrichten: «Mein Sohn, es ist gut für dich, freiwillig in deinem eigenen Lande dich taufen zu lassen, damit du nicht als ein Gefangener in der Fremde unter Zwang getauft wirst und dich meiner dann erinnerst.» Lakonisch schließt die Vita: «Also geschah es auch [11].»

 

Aus der Kombination dieser Erzählung mit den Angaben des «DeAdministrando Imperio» wurde geschlossen, daß der Wislanenfürst der Methodvita, um 875/79 von Sventopulk vertrieben, nach Byzanz geflüchtet sei; dort habe man ihn getauft und später, ca. 878/80, in Zachlumien als Herrscher eingesetzt, wo sein Nachkomme Michael dann von Porphyrogennetos bezeugt sei.

 

 

8. Konst. Porph. DAI 33, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 160-163; engl. Übs.:

 

«The family of the proconsul and patrician Michael, son of Bouseboutzis, prince of the Zachlumi, came from the unbaptized who dwell on the river Visia and are called Litziki; and it settled on the river called Zachluma.»

 

9. Skok 1928, S.213/214, 239/240; s.a. Grégoire 1945, S.98ff.; DAI Comm. (1962), S. 139.

 

10. DAI Comm. (1962), S. 139; ähnlich Ferluga 1976, S.251.

 

11. Methodvita 11, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S.161; hier dtsch. Übs. nach Bujnoch 1972, S. 120; vgl. auch Schelesniker 1988, S.277!

 

 

223

 

Doch hat dieser Erklärungsversuch zwei schwache Punkte:

 

1.) Warum sollte ein - noch dazu heidnischer - südpolnischer Fürst ausgerechnet ins ferne Byzanz fliehen, um dort die bisher verweigerte Taufe anzunehmen (ohne «Zwang»!), wobei er das Streif gebiet nichtslawischer, notorisch gefährlicher Nomadenstämme hätte durchqueren müssen?

 

2.) Zu welchem Zeitpunkt zwischen 873 (frühestmöglicher Termin der Flucht) [12] und 913 (erstmalige Erwähnung Michaels) hätte Byzanz die Fürsteneinsetzung in Zachlumien vornehmen sollen, und warum weiß Konstantinos Porphyrogennetos - der solche byzantinischen Aktionen sonst nur allzu gern berichtet - überhaupt nichts von dieser Einsetzung?

 

Daher soll hier eine andere Interpretation der beiden Quellenstellen vorgeschlagen werden, die sich mit der bisherigen Lokalisierung <Großmährens> selbstverständlich verbot, nunmehr aber eine Ergänzung der hier vorgebrachten Theorie über Moravias Lage darstellen könnte:

 

Zunächst besiegte Sventopulk die Wislanen und führte ihren Fürsten gefangen mit sich fort; wohl in Sventopulks Residenz, also tatsächlich «in der Fremde», wurde dieser Fürst dann getauft. Nach einiger Zeit des «Wohlverhaltens» setzte er den Wislanen dann im südlich an sein bosnisches «Regnum» grenzenden Zachlumien ein, das bis dahin vielleicht einen Teil dieses «Regnums» gebildet hatte [13].

 

Damit war der Fürst, dessen Name möglicherweise «Výš» oder ähnlich lautete (sein Enkel Michael trug ja den Beinamen «Sohn des Vyševič»), zugleich «standesgemäß» untergebracht und doch weit von seiner Heimat entfernt.

 

Es versteht sich von selbst, daß der zu größerer Machtfülle aufgestiegene Fürst Michael bzw. der zachlumische Informant des Konstantinos Porphyrogennetos diesem nichts von der wenig ruhmreichen Art der Herrschaftsbegründung der Fürstenfamilie in Zachlumien hätte berichten wollen, sondern nur die rein geographische Herkunft preisgab.

 

 

3.2.3. Die Beziehungen Kroatiens zum «Regnum» Sventopulks

 

Kroatien war, wie schon im ersten Kapitel dieser Arbeit dargelegt wurde, zu Beginn des 9. Jahrhunderts in den Orbit der karolingischen Expansionspolitik geraten und hatte die fränkische Oberhoheit anerkennen müssen. Fürst Borna (bis 821) galt als treuer Verbündeter gegen seinen aufständischen Nachbarn Liudewit.

 

 

12. Wegen der 873 erfolgten Rückkehr Methods aus ostfränkischer Haft, die zeitlich vor der Wislanen-Episode liegen muß, wie der Aufbau der Methodvita nahelegt.

 

13. Nach der Chronica Ragusina des Junius Restius, Ed. Nodilo 1893, S.20/21 schloß der bosnische Herrscher Svetiniir (also der Vater Sventopulks), den Restius unter die «principi vicini» Ragusas rechnet, einen Zollund Handelsvertrag mit der Stadt ab; er war demnach ihr Nachbar!

 

 

224

 

Bornas Neffe und Nachfolger Vladislav wurde 821 nicht nur «petente populo», sondern auch «imperatore consentiente» eingesetzt [1].

 

Über die Beziehungen der kroatischen Herrscher zu ihren Nachbarn im nördlich angrenzenden Hinterland hingegen ist seit den Kämpfen Bornas mit seinem Kontrahenten Liudewit von Siscia 819 bis 821 zunächst keine Kenntnis mehr zu erlangen. Vielleicht liegt dies an der unterschiedlichen Ausrichtung auf die karolingischen Teilreiche: Seit dem Revirement der Markeneinteilung im Südosten von 828 war von allen Slawenländern allein noch Kroatien dem italienischen Reichsteil zugeordnet und auf die Adria hin orientiert, während seine nördlichen Nachbarn nach Baiern blickten.

 

Entsprechend richteten sich die Aktionen der kroatischen Fürsten in den Adria-raum, etwa in Form von Überfällen auf venezianische Besitzungen unter Mislav (um 839) oder unter Domagoj (864-876) [2]; unter letzterem leisteten die Kroaten jedoch 869 bis 871 auch Kaiser Ludwig II. Heeresfolge bei der Belagerung des von Sarazenen besetzten Bari [3].

 

Der Tod Ludwigs II. 875 und die darauf folgenden Kämpfe karolingischer Prätendenten um Italien und die Kaiserkrone bedeuteten allerdings das faktische Ende der fränkischen Hoheit über Kroatien. Neues Leitmotiv der kroatischen Geschichte wurden Thronfolgekämpfe verschiedener einheimischer Dynastien, in welche auswärtige Mächte eingriffen.

 

Eine dieser Dynastien führte sich auf den 852 belegten Fürsten Trpimir zurück, welcher seine Urkunde damals «regnante in Italia piissimo Lothario, Francorum rege (!)» datierte [4], also die nominelle Oberhoheit der Karolinger noch anerkannte; nach ihm wird diese Dynastie als die der «Trpimiriden» bezeichnet. Abgelöst wurde Trpimir durch den Angehörigen einer anderen Adelsfamilie, Domagoj [5]. Mit ihm ist eine erste mögliche Anknüpfung kroatischer Politik an Sventopulk gegeben: Als sich Papst Johannes VIII. wegen des «Kidnapping» päpstlicher Legaten durch narentanisch-kroatische Seeräuber 869/70 bei Domagoj beschwerte, verwendete er als

 

 

1. Ann. regni Franc, ad a. 821, Ed. Kurze 1895, S. 155.

 

2. Joh. Diac., Chron. Venet. ad a. 839, Ed. Monticolo 1890, S. 113; Dandolo, Chron. Venet., Ed. Pastorello 1938, S. 150; Domagoi als «pessimus dux» bei Joh. Diac., Chron. Venet. ad a. 876, Ed. Monticolo 1890, S. 123.

 

3. Harnack 1880, S. 79; Šišić 1917, S. 86 ff.; Cessi 1942, S. 324 Anm. 1; DAI Comm. (1962), S. 102ff.; Guldescu 1964, S. 102; Ferluga 1976, S.293; Havlík 1979, S.96.

 

4. Cod. dipl. Croatiae, Ed. Kostrenčić et al. 1967, Nr. 3, S. 5; Trpimirs Familie war begütert zwischen Trogir und Split, vgl. Guldescu 1964, S. 101.

 

5. Die Vorfahren Domagojs sind unbekannt; Šišić 1917, S. 84 erschließt Begüterung seiner Familie in der Nähe von Knin, Guldescu 1964, S. 101 vermutet Verschwägerung mit Trpimir.

 

 

225

 

Unterhändler einen gewissen «presbyter Johannes». Dieser erscheint wenig später (874) unter dem Namen «presbyter Johannes de Venetiis» als Botschafter Sventopulks in Forchheim, gleichzeitig aber weiterhin als Gesandter Domagojs und seiner Nachfolger, was eine räumliche Nähe Kroatiens zum «Regnum» Sventopulks, aber auch gewisse politische Kontakte impliziert [6].

 

Diese werden noch deutlicher nach Domagojs Tod 876, als ein Sohn Trpimirs, Zdeslav, die Nachkommen Domagojs verjagte; er tat dies mit ausdrücklicher Unterstützung von Byzanz. Dieses hatte nach einer langen Periode völliger Zurückhaltung unter den Kaisern der Phrygischen Dynastie (820-867) erstmalig wieder unter Kaiser Basilios I. (867-886) im dalmatinischen Raum eingegriffen. 867 segelte wegen der sarazenischen Piraten eine byzantinische Flotte nach Ragusa/Dubrovnik; zugleich machte der byzantinische Kaiser aber auch seine Hoheit über Serbien, Travunien und Zachlumien geltend und forderte ihre Aufgebote an.

 

Es wird also eine - mit der kyrillomethodianischen Mission in Moravia gleichzeitige! - politische Offensive der Byzantiner im westlichen Balkanraum greifbar, in die nun 876/77 auch Kroatien einbezogen wurde; Zdeslav unterstellte sein Land Kaiser Basilios und schloß zugleich mit Venedig als (nominellem) Teil des byzantinischen Reiches Frieden [7].

 

Doch schon nach kurzer Zeit, im Jahre 879, fiel der «Trpimiride» Zdeslav seinerseits einem Umsturz zum Opfer. F. Šišić vermutete den Diakon Theodosius, Anwärter auf den kroatischen Bischofsitz in Nin, sowie den (von ihm ausschließlich als päpstlichen Sachwalter betrachteten) «presbyter Johannes de Venetiis», der sich damals in Kroatien aufhielt, unter den Führern der Opposition [8].

 

Dem ist hinzuzufügen, daß man im «Priester Johannes aus Venedig (oder Venetien?)» durchaus auch einen Agenten Sventopulks sehen kann. Noch wichtiger aber ist der Hinweis I. Bobas auf die «Prologvita des Methodius», welche die Gewichte beim Umsturz von 879 anders verteilt; ihr zufolge bewirkte vor allem das Auftreten Methods gegen Zdeslav dessen Untergang [9].

 

 

6. Zum «presbyter Johannes» und seinem Verhältnis zu Domagoj Hoffmann 1969, S. 36 ff.; Dujčev 1987, S. 28/29.

 

7. Dümmler 1856, S.401; Harnack 1880, S.88; Dümmler 1887/88, 3, S.25; Šišić 1917, S.85; Dvornik 1926, S.220; Runciman 1929, S.215ff.; Posedel 1950, S.218/219; Hoffmann 1969, S.31/32; Ostrogorsky 1974, S. 16; Ferluga 1976, S.293, 298; Koščak 1980/81, S. 312 ff.

 

8. Šišić 1917, S. 99/100; zu Zdeslavs Ende auch Hauptmann 1925, S. 15/16; Guldescu 1964, S. 104; Lucie 1969, S.383ff.; Klaić 1971, S.248ff.

 

9. Boba 1971, S. 16, 109 bzw. 1985, S.67, basierend auf der Proložnoje žitije Mefodija, Ed. Lavrov 1930, S. 103 bzw. Ed. MMFH 2 (1967), S.243/244.

 

 

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Eine solche Intervention Methods (den Papst Johannes VIII. gerade um diese Zeit Sventopulk gegenüber als «vester archiepiscopus» bezeichnet hatte [10]) legt einen territorialen Kontakt Kroatiens mit den von Sventopulk beherrschten Ländern nahe, was im Falle Mährens völlig ausgeschlossen wäre! Zugleich aber ist zu erwarten, daß die genannten drei gegen Zdeslav agierenden Personen im Einvernehmen, wenn nicht auf Anstoß Sventopulks hin handelten, da sie alle seinen Interessen verbunden waren.

 

Könnte man also Branimir, den neuen, seit 879 regierenden Kroatenfürsten, als Exponenten Sventopulks ansehen? Mehrere Indizien scheinen darauf hinzuweisen.

 

So verwendete Branimir wie schon vor ihm ein anderer Nicht-«Trpimiride», Domagoj, Sventopulks «Vertrauensmann», den Priester Johannes von Venedig, für Gesandtschaften [11].

 

Gleich Sventopulk sah Branimir im Papsttum die wichtigste Stütze seiner Herrschaft. Schon kurz nach dem Umsturz von 879 will Papst Johannes VIII. für Branimir und sein Volk besondere Gebete verrichtet haben, wie er ihm versichert, und der Fürst erhielt die ehrende Anrede «dilecto filio nostro» [12]. Auf eine weitere interessante Parallele zu Moravia hat Havlík hingewiesen: 881/82 beabsichtigte Branimir, sich unter die «defensio beati Petri» zu stellen, womit die «fidelitas» und das «servitium» gegenüber dem Papsttum verbunden waren. Kurz zuvor, im Jahre 880, hatte Sventopulk diesen Schritt bereits vollzogen [13].

 

Die wiederholten Versuche des Papstes, nicht nur die junge kroatische Kirche, sondern auch die unter byzantinischer Herrschaft stehenden Küstenstädte Dalma tiens an Rom zu binden, sind im Zusammenhang zu sehen mit den ausgedehnten, auch Bulgarien und die «pannonische» Erzdiözese Methods erfassenden Bemü hungen Johannes VIII. um eine kirchliche Neuordnung im südosteuropäischen Raum; sie standen in engster Wechselwirkung mit dem sog. «Photianischen Schis ma» und fanden ihren vorläufigen Höhepunkt und Abschluß auf dem Konzil von Konstantinopel 879/80.

 

Doch auch aus dem Verhältnis Kroatiens zu Byzanz läßt sich vielleicht eine Verbindung Branimirs zu Sventopulk herauslesen. Abgezielt wird hier auf jene Vereinbarung des Kaisers Basilics I. mit den Kroaten, welche man häufig in die Endphase seiner Regierung (genauer in die Jahre 882 bis 886) und damit in die Zeit Branimirs verlegte [14].

 

 

10. MG Epp. VII, Ed. Kehr 1928, Epp. Joh. VIII papae, Nr.200, S. 160 (Johannes VIII. an Sventopulkjuni/Juli 879).

 

11. Hierzu und zum Folgenden M. Zekan, Branimirova Hrvatska u pisnima Pape Ivana VIII. (Split 1989).

 

12. Cod. dipl. Croatiae, Ed. Kostrenčić et al. 1967, Nr. 11, S. 14.

 

13. Havlík 1970, S.lSff., 1979, S. 101/102, 1983, S.24.

 

 

227

 

Sie sah Tributzahlungen der byzantinischen Städte im nördlichen Dalmatien an Kroatien vor; ein ähnliches Abkommen bezüglich Ragusas schloß der Kaiser mit Zachlumien und Travunien.

 

Diese erheblichen Konzessionen wirken leichter verständlich, wenn hinter Branimir und den Kleinfürsten der südadriatischen Küste noch eine bedeutendere Macht gestanden hätte - eben ein «Regnum Sclavorum» unter Sventopulk. Denkbar wäre hier ein zeitlicher und sachlicher Zusammenhang mit der vom «Presbyter Diocleas» berichteten Anwesenheit einer byzantinischen Legation bei dem Reichstag auf der «planities Dalmae» (885). Die südslawischen Küstenstaaten allein erscheinen jedenfalls nicht als mächtig genug, um Byzanz gerade in einer Zeit relativer Stärke solche Zugeständnisse abzutrotzen!

 

Fürst Branimir ist zum letzten Mal durch eine auf das Jahr 888 datierte Steininschrift in Gornij Muč (bei Split) bezeugt [15]. Sein Nachfolger Mutimir, wiederum ein Sohn Trpimirs, erscheint zuerst als «dux» Kroatiens in einer von ihm am 28. Sept. 892 ausgestellten Urkunde [16]. Zieht man in Betracht, daß die kroatischen Trpimiri-den offensichtlich in Opposition zu Sventopulk standen, so fällt der Zeitpunkt des Regierungswechsels ins Auge: Im Frühjahr 892 begannen neuerliche Auseinandersetzungen zwischen Sventopulk und Kaiser Arnulf, wobei sich auf Seiten des letzteren auch der slawische «dux» Brazlav beteiligte, der im Kroatien benachbarten Gebiet von Siscia ansässig war. Zugleich setzte der Zerfall des von Sventopulk begründeten Großreiches ein.

 

Wäre es unter diesem Aspekt nicht denkbar, daß in Kroatien - möglicherweise unter tätiger Mithilfe von außen, von Seiten der Ostfranken über das Gebiet Brazlavs - die gegen Sventopulk stehenden Kräfte im Jahre 892 wieder die Oberhand gewannen? In dieser Hinsicht ist auch auffällig, daß Mutimir in seiner Urkunde von 892 seine Unabhängigkeit wie auch den Umstand betonte, daß er den Thron nach dem Erbrecht bestiegen habe.

 

Offenbar sah sich Mutimir, anders als sein Vorgänger Branimir, keiner auswärtigen Macht staatsrechtlich verpflichtet.

 

Zu der Urkunde von 892, in welcher Mutimir den Titel «dux» führt, stellt sich noch das Bruchstück einer Inschrift mit dem Namen des «prin(ceps)... Muncimyr» und dem Jahr 895 [17].

 

 

14. So Šišić 1917, S.109/110; Hauptmann 1925, S.22/23; Havlík 1965b, S.104; Koščak 1980/81, S.316ff.; in Zdeslavs Zeit setzen den Vertrag hingegen Guldescu 1964, S.104; Ferluga 1976, S.255, 294; Turk-Santiago 1984, S. 108; vgl. auch die Istorija srpskog naroda, 1 (1981), S. 149/150.

 

15. Mihaljčić/Steindorff 1982, Nr. 64, S. 42; weitere, undatierbare Inschriften Branimirs ebd. Nr.22,47, 48, S. 17, 32, 33; dazu Šišić 1917, S. 114; Lucie 1969, S.379; Klaić 1971, S.257ff.

 

16. Zur Herkunft Mutimirs Šišić 1917, S.117 mit Anm. 1; Perojevič 1922, S.27; Guldescu 1964, S. 107; Klaić 1971, S.259ff.; die Urkunde in Cod. dipl. Croatiae, Ed. Kostrenčić et al. 1967, Nr.20, S.22-25.

 

 

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Sodann bewahren alle einheimischen Quellen für etwa 20 Jahre völliges Schweigen über die damaligen Herrscher Kroatiens, bis die «História Sa-lonitana» des Archidiakons Thomas zum Jahre 914 von einem «Tamislavus dux» spricht [18]; es handelt sich bei ihm um jenen «Thomislavus», den der «Presbyter Diocleas» als Enkel Sventopulks aufführt [19]. Damit deutet sich erneut eine Konfrontation der «Trpimiriden» und «Moimiriden» an, über die im folgenden noch zu sprechen sein wird.

 

Hier soll abschließend nur noch einer Quelle gedacht werden, in welcher die Konzeption, daß Kroatien zum weiteren Machtbereich Sventopulks gehört habe, möglicherweise eine Stütze findet.

 

Es handelt sich um das auch von Boba herangezogene sog. «Supetarski kartu-lar», den Traditionskodex des Klosters von St. Peter de Gomai in Selo bei Omis (Dalmatien), der Urkunden und Notizen aus den Jahren 1080 bis 1187 beinhaltet [20].

 

Von einem Schreiber des späten 14. oder frühen 15. Jahrhunderts stammt ein zweiteiliger Zusatz: zunächst Bestimmungen zum kroatischen Königswahlrecht, sodann ein Verzeichnis der Träger der «Banus»-Würde in Kroatien.

 

Dieser zweite Teil beginnt mit dem Satz: «Isti fuerint Bani in Croatia de genere Croatorum a tempore regis Suetopelegi usque ad tempus Suenimiri regis Croatorum...» [21], unter welch letzterem der letzte «nationale» Kroatenherrscher vor der ungarischen Eroberung, Demetrius Zvonimir (1076-1089), zu verstehen ist.

 

Der Schreiber sah also Sventopulk zwar nicht, wie Zvonimir, als einen «Kroatenkönig», wohl aber als einen über Kroatien gesetzten «rex». Ebenso wie der «Presbyter Diocleas» schrieb er ihm zudem die Einführung des «Ban»-Amtes in Kroatien zu. Selbstverständlich ist hier nach einer eventuellen Kenntnis der Chronik von Dioclea beim Schreiber der genannten Zusätze zu fragen, zumal ja Exemplare dieser Chronik während des 16. Jahrhunderts nachgewiesenermaßen gerade im Raum von Omiš kursierten [22].

 

 

17. Mihaljčić/Steindorff 1982, Nr.62, S.41.

 

18. Thomas Arch., Hist. Salon. 13, Ed. Rački 1894, S. 36.

 

19. Presb. Diocl. 12, Ed. Šišić 1928, S.309/310 (Lucius, Orbini); bei Kaletić und Marulić (S.402) «Polislav(us)».

 

20. Boba 1971, S. 18,106/107 und 1985, S.65/66.

 

21. Ed. Novak/Skok 1952, S.231; s.a. Švob 1956, S. 104; zum «Banus» vgl. Exkurs 3.

 

22. Bejaht von Švob 1956, S. 110/111; Havlík 1976, S.6/7,18; Hadžijahić 1983, S.27; Steindorff 1985, S. 288 Anm.46; verneint von Boba 1985, S. 65. Zu mögl. polit. Hintergründen der Zusätze im Kartular s. Švob 1956, S. 107ff.; um 1400 gehörte St. Peter in Selo zu Bosnien!

 

 

229

 

Eine direkte Übernahme von Informationen ist also durchaus möglich, wenn auch nicht zu belegen, so daß die Frage nach paralleler oder sekundärer Überlieferung im «Supetarski kartular» letztlich offenbleiben muß. Jedenfalls ist dessen unbedenkliche Verwendung als selbständiges Quellenzeugnis, wie von I. Boba vorgenommen, kaum zulässig [23].

 

 

3.2.4. Genealogische Verbindungen zwischen Moravia und den südslawischen Dynastien?

 

Über die Verwandtschaftsbeziehungen der Herrscher Moravias untereinander erfahren wir aus den fränkischen Quellen zunächst, daß Moimir, der erste bekannte Fürst, mit seinem Nachfolger Rastislav verwandt war. Die Fuldaer Annalen sprechen davon, daß Prinz Ludwig 846 in Moravia «ducem... constituit Rastizen nepotem Moimari.» [1] Die Bezeichnung «nepos» wird hier im allgemeinen nicht mit der klassischen Bedeutung «Enkel» oder mit dem weiter gefaßten Begriff «Verwandter, Angehöriger» übersetzt, sondern mit «Neffe» [2].

 

Ebenso faßt man den Ausdruck «Zuentibald nepos Rastizi» auf, den die Fuldaer Annalen 870 verwenden [3]. Bei den Ereignissen von 871 ist dann auch die Rede von einem «presbyterum eiusdem ducis propinquum nomine Sclagamarum»; aus den vorangehenden Worten der Quelle ist zu erschließen, daß dieser Priester, dessen Name mit «Slavomir» transkribiert wird, mit Rastislav (und nicht mit Sventopulk) verwandt war [4].

 

Schließlich ist in der Altaicher Fortsetzung der Fuldaer Annalen die Rede von zwei Söhnen Sventopulks, «Moymirum videlicet ac Zentobolchum» [5], deren Namen die des ersten und dritten Fürsten Moravias wiederholen. Aus diesen Angaben hat L. Havlík das folgende genealogische Schema erstellt [6]:

 

 

23. An eine neuzeitliche Fälschung mit politischen Absichten denkt Györffy 1971, S.310 Anm. 87; keine neuen Erkenntnisse bringt die komment. Neued. von E. Pivčevič (Bristol 1984).

 

1. Ann. Fuld. ad a. 846, Ed. Kurze 1891, S.36.

 

2. Zu «nepos» = «Neffe» im Mittellateinischen s. DuCange, 5 (1885), S.587/588; Souter 1949, S.264; Habel 1959, Sp.253; Biaise 1975, S.615; Niermeyer 1976, S.717.

 

3. Ann. Fuld. ad a. 870, Ed. Kurze 1891, S. 70.

 

4. Ann. Fuld. ad a. 871, Ed. Kurze 1891, S. 73.

 

5. Ann. Fuld. Cont. Altah. ad a. 899, Ed. Kurze 1891, S. 132.

 

6. In MMFH 3 (1969), S.239 Anm.31; etwas abweichend auch bei Havlík 1964, S. 135 Anm. 300.

 

 

230

 

Genealogie der Fürsten Moravias nach Havlík

[[ Moimir I. (bis 846), X2

X3, Rastislav (846-870)

Svаtopluk I. (871-894), Slavomir (870-871)

Moimir II. (894-906?), Svаtopluk II., Rastislav (846-870) ]]

 

 

Die Personen X2 und X3 sowie (bis zum Jahre 871) auch Sventopulk möchte Havlík als «Teilherrscher» in Nitra ansiedeln, was jedoch aus den bereits erläuterten Gründen abzulehnen ist.

 

Vielmehr lassen sich anhand der Chronik des «Presbyter Diocleas» einige in eine andere Richtung weisende Ergänzungen vornehmen. Als Sventopulks Vater (Havlíks X3) ist Svetimir einzusetzen, als Söhne Sventopulks II. Vladislav und Tomislav, mit welch letzterem eine Anbindung der Dynastie an Kroatien gegeben ist, auf die in anderem Zusammenhang zurückgekommen werden soll. Hier sei nur erwähnt, daß zwei Quellen aus Ragusa noch zum Jahr 977 eine «linea di Moravia» kannten, deren Vertreter damals Herrscher Bosniens wurde - die Erinnerung an die zeitweilige Verbindung der Sventopulk-Dynastie mit Moravia blieb also noch längere Zeit lebendig [7].

 

Nicht völlig klar ist die Beziehung, welche der «Presbyter Diocleas» zwischen Svetimir einerseits, Ratimir und dessen Vater Vladin andererseits herstellt: Nach dem Tode Ratimirs sollen ja vier Könige «ex eius progenie» gefolgt sein, Svetimir soll wiederum aus deren «progenies» entstammen [8]. Svetimir als Vater Sventopulks ist sicher der Generation Rastislavs zuzuordnen, ebenso wohl Ratimir (bezeugt nur anläßlich seiner Beseitigung 838) [9], der vielleicht als Vetter Svetimirs anzusehen ist; dazu folgen noch weitere Überlegungen.

 

 

7. Ann. Ragusini Anon. ad a. 972, Ed. Nodilo 1883, S.22; Ann. Ragusini Nicolai de Ragnina ad a. 972, Ed. Nodilo 1883, S.202.

 

8. Presb. Diocl. 7, 8, Ed. Šišić 1928, S. 299/300 (Lucius, Orbini), 391 (Kaletić, Marulić).

 

9. Contin. Ann. Iuvav. max. ad a. 838, Ed. Bresslau 1934, S. 740; Auctarium Garstense ad a. 838, Ed. Wattenbach 1851, S. 564; Conversio 10, Ed. Wolfram 1979, S. 52/53.

 

 

231

 

Es stellt sich nunmehr die schwierige und für die weitere Untersuchung wichtige Frage, ob die Südslawen im 9. Jahrhundert die Namensvariation mit Bestandteilen der Namen ihrer Vorfahren (meist der Großväter) anwendeten, wie sie zur gleichen Zeit von den Adelskreisen des Karolingerreiches geübt wurde [10]. Diese Frage hat O. Kronsteiner zumindest für die Alpenslawen des Frühund Hochmittelalters bejaht. Ihm zufolge führen Geschwister oft dasselbe Namenselement, und es läßt sich die «familiäre Zusammengehörigkeit durch Ableitung von einem Namenselement» dokumentieren. Dieselbe Feststellung konnte H. Ludat für den Adel der Eibslawen im 9. Jahrhundert machen, der dem fränkischen Vorbild in der Namengebung folgte [11].

 

Es kann daraus jedoch nicht eindeutig gefolgert werden, daß andere slawische Gruppen, die nicht in so engem kulturellem Kontakt zu den Franken standen wie die Alpenund Eibslawen, die fränkische Art der Namengebung imitierten, weswegen die oben gestellte Frage für die hier interessierende Dynastie bedauerlicherweise offenbleiben muß.

 

Die Abkunft des ersten Herrschers Moravias bleibt jedenfalls dunkel; abgelehnt werden muß der Vorschlag, die Herrscherdynastie Moravias in eine awarische Tradition zu stellen, etwa als ehemalige awarische «Statthalter». Begründet wird dieser Vorschlag zum einen mit dem Namen «Moimar», der als awarisch aufgefaßt wird; zum anderen verwenden die Vertreter der awarisch-moravischen Kontinuitätstheorie den Bericht des Ibn Rusta über die «aqāliba», der einen angeblich «nomadischen» und damit awarischen Charakter der Herrscher Moravias erkennen lasse. Schließlich werden auch gewisse Formulierungen der «Pilgrimschen Fälschungen» im entsprechenden Sinne ausgedeutet, ohne daß jedoch die Argumentation wirklich überzeugen könnte [12].

 

Doch auch die These F. Dvorniks, Moimir sei von dem Mitte des 7. Jahrhunderts belegten Slawenfürsten Samo abzuleiten, ist ohne jede Fundierung [13].

 

Durchaus denkbar wäre hingegen, daß Moimir der (beim «Presbyter Diocleas» ja anonym bleibende) Vater Svetimirs und damit Großvater Sventopulks gewesen ist - letzteres eine Möglichkeit, .mit der auch L. Havlík zu rechnen scheint.

 

 

10. Vgl. dazu K. F. Werner, Liens de parenté et noms de personne in: Famille et parenté dans l'Occident medieval (Rom 1977), S. 13-18, 25-34.

 

11. Kronsteiner 1975, S.39, 68,182; Ludat 1971, S.16/17 mit Anm.83.

 

12. Ibn Rusta, Kitāb, Ed. de Goeje 1892, S. 144; dt. Übs. bei Marquart 1903, S.468; zu ihm und Pilgrim von Passau vgl. Kollautz 1954, S. 157, 158; Bogyay 1959, S.97/98. Den awa rischen Charakter der sog. <großmährischen> Befestigungen und Bodenfunde bringen ins Spiel Hauptmann 1933, S.38; Preidel 1953, S. 181; Kollautz 1954, S. 156/157; Kritik an ihrem Vorgehen bei Poulik 1959, S. 42 ff.

 

13. Vgl. Exkurs 2.

 

 

232

 

Eine Stütze für diese Annahme wäre der Name des ältesten Sohnes Sventopulks, bei dessen Taufe man also von der Namensvariation zur Nachbenennung übergegangen wäre - ein Wechsel, der im Verlauf des 9. Jahrhunderts auch im fränkisch-karolingischen Bereich zu beobachten ist [14].

 

Da der «Presbyter Diocleas» eine Verwandtschaft Ratimirs und Svetimirs über eine gemeinsame «progenies» behauptet, so ist ein gemeinsamer «Spitzenahn» für beide anzunehmen. Nur als Hypothese soll hier die Vermutung ausgesprochen werden, daß sich dieser vielleicht in dem ominösen Vojnomir («Wonomyrus») finden lassen könnte, der 796 Markgraf Erich von Friaul gegen die Awaren unterstützte; allerdings hat diese Vermutung einiges für sich. Sie ist unter rein chronologischen Aspekten durchaus vertretbar: Vojnomir ist 796 belegt, die der nächsten Generation zuzuordnenden Fürsten «Vladin» (wohl aufzulösen als Vladimir) um 828, Moimir um 830. Die nach dieser Hypothese als Enkel Vojnomirs zu betrachtenden Fürsten Ratimir und Svetimir regierten in Bosnien-Slawonien bis 838 bzw. bis 853.

 

Sämtliche Namen der Dynastie enthalten die Zweitsilbe «-mir», variiert mit verschiedenen bedeutungstragenden Morphemen [15]; dies gilt übrigens auch im Falle des «propinquus» von Rastislav, Slavomir. Man ist versucht, in diesem Slavomir, den die Moravljanen 871 zu ihrem Herrscher erheben wollten, einen weiteren Enkel Vojnomirs und Neffen Moimirs zu sehen, der vielleicht nach der Senioratserbfolge noch vor Sventopulk Anrechte auf den Thron gehabt hätte [16].

 

Schließlich fügt sich das hier erstellte genealogische Schema in die bisher erarbeitete Abfolge der historischen Ereignisse logisch ein: Vojnomir, der Fürst eines südslawischen Gebietes in Bosnien-Slawonien, das strategisch entsprechend günstig lag, half 796 den Franken bei der Eroberung des awarischen Zentralgebietes. Als Kompensation wurde einer seiner Söhne mit der Herrschaft über das neugewonnene Gebiet in der Ungarischen Tiefebene betraut (Moimir in Moravia) [17], während der andere das väterliche Fürstentum beibehielt («Vladin» = Vladimir in Bosnien). Als der Sohn des letzteren, Ratimir, 838 rebellierte, wurde er zunächst durch vier nicht näher bekannte Verwandte, dann durch seinen Vetter Svetimir ersetzt.

 

 

14. Dazu Brunner 1979, S. 121/122, 167, der diesen Vorgang als Strukturstabilisierung der Adelsfamilien wertet; M. Mitterauer, Zur Nachbenennung nach Lebenden und Toten in Fürstenhäusern des Frühmittelalters; in: Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für K. Bosl zum 80.Geb., 1 (München 1988), S.386-399.

 

15. Vgl. H.D. Pohl, Die slawischen zusammengesetzten Personennamen; in: ÖNf, 1974/2, S.33-40, hier S.33: «-mir» als ein beliebtes Kompositionsglied.

 

16. Gegen seine Erhebung sprach offenbar - jedenfalls nach seiner eigenen Einschätzung - daß er bereits zum Priester geweiht war, s. Ann. Fuld. ad a. 871, Ed. Kurze 1891, S.73!

 

17. Ob Moimir wirklich bereits zur Zeit Papst Eugens II. (824-827) in Moravia regierte, wie man aus einer der vom Passauer Bischof Pilgrim im 10. Jahrhundert gefälschten Urkun den (ed. bei Lehr 1909, S. 31) schließen könnte, muß dahingestellt bleiben.

 

 

233

 

Wenn also auch das Senioratsrecht nicht immer gewahrt blieb, so entstammten doch die Regenten dieser südslawischen Fürstentümer im Normalfall nur der «herrschaftsfähigen» Dynastie, eine Regelung, die auch von den Franken berücksichtigt wurde. Auf ihre Initiative geht nämlich die Thronbesteigung Rastislavs in Moravia 846 zurück, der wohl gerade deshalb berücksichtigt wurde, weil er ein «nepos» Moimirs war.

 

Übrigens weist Z. Dittrich zu Recht darauf hin, daß die damals angeblich erfolgte Absetzung Moimirs eine moderne Erfindung sei; erst nach dem Tode Moimirs - der ja offenbar gegenüber den Franken loyal blieb - hätten die Moravljanen begonnen, «den Abfall zu planen» («defectionem molire»), wie es die Fuldaer Annalen ausdrücken, ohne daß der Grund für diese Absichten klar würde. Dittrich spricht in diesem Zusammenhang von einem chronischen Konflikt zwischen dem Designationsrecht des absoluten Fürsten (aus fränkischer Sicht) und dem heimischen Senioratsrecht; er vermutet für 846 Nachfolgekämpfe zwischen Rastislav, dem (für ihn anonymen) Vater Sventopulks (Svetimir) und Pribina [18].

 

Möglich ist es aber auch, daß die Franken mit der Einsetzung Rastislavs eine derartige Machtzusammenballung unter einem Slawenfürsten (damals Svetimir) verhindern wollten, wie sie dann unter Sventopulk doch noch zustande kam.

 

Rastislav, dessen Name, auch in der Kurzform «Rastiz», ebenso südwie westslawisch sein kann [19], muß als «nepos» Moimirs der Sohn eines von dessen Geschwistern sein; sei es der des Vladimir («Vladin»), womit er ein Bruder des Ratimir wäre, sei es der Sohn einer sonst unbekannten Person.

 

Die «nepos»-Beziehung Sventopulks zu Rastislav ist dagegen nur über die mütterliche Seite herstellbar [20]; Svetimir hätte also eine Schwester Rastislavs und somit seine eigene Kusine geheiratet - in den Augen der christlichen Kirche ein Skandal, nach den Informationen der Methodvita jedoch beim zeitgenössischen Adel Moravias kein unübliches Verhalten [21].

 

In die Generation Rastislavs ist wohl auch die Anbindung des serbischen an das Fürstenhaus Moravias zu setzen, welche sich, wie bereits angedeutet, aus dem Brief Papst Johannes VIII. an «Montemerus, dux Sclaviniae» vom Mai 873 [22] erschließen läßt.

 

 

18. Dittrich 1962, S.41, 82/83.

 

19. Die Kurzform «Rastiz» findet sich in den Ann. Fuld. ad a. 846, Ed. Kurze 1891, S.36; dazu Miklosich 1927, S.92; Schwanz 1942, S.6/7; Piuk 1950, S. 124; Popović 1960, S.210. Rein westslawische Herkunft vertreten Stanislav 1948 und Grebert 1965, S. 19; rein südslawische B. Ljapunov in AfslPh, 26 (1904), S.564-568.

 

20. Sonst wäre Rastislav ein Bruder Svetimirs und damit Sohn, nicht «nepos» des Moimir!

 

21. Vgl. LThK, 3 (1959), Sp.703 («Ehehindernis») und LThK, 2 (1958), Sp.347/348 («Bluts verwandtschaft») zur Theorie, zur Praxis s. Methodvita 11, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S. 161; s.a. Löwe 1983, S.674 mit Anm. 185.

 

 

234

 

Die «progeniti», nach deren Beispiel der Serbenfürst Mutimir handeln sollte, können nur im Personenkreis Rastislav, Sventopulk und Kocel gesucht werden [23]. Unter den direkten männlichen Vorfahren Mutimirs, die aus dem «De Administrando Imperio» bekannt sind [24], erscheinen aber diese drei Namen nicht. Sollte «progeniti» wirklich im Sinne von «Vorfahren» verwendet worden sein, so käme aus zeitlichen Gründen allein Rastislav als solcher in Frage, und zwar als Großvater mütterlicherseits. Wahrscheinlicher ist jedoch die Übersetzung «Verwandter» [25], die auch eine kognatische Deutung der Beziehung zuläßt; sie wird der im Brief angedeuteten Mehrzahl der beispielgebenden Personen eher gerecht, da sie prinzipiell auch Sventopulk und Kocel in dem Kreis der damit gemeinten Personen zuließe. Zu denken wäre also an eine Verwandtschaft der genannten Herrscher mit der serbischen Fürstenfamilie über weibliche Angehörige einer oder beider Dynastien, die ja in der Überlieferung nie namentlich aufgeführt werden - mit einer möglichen Ausnahme.

 

Besonderen Einfallsreichtum hat die Forschung nämlich hinsichtlich der Gattin Sventopulks bewiesen. Die Fuldaer Annalen berichten, daß nicht näher definierte «Sclavi Marahenses» 871 die Tochter eines böhmischen Herzogs («cuiusdam ducis filiam de Behemis») als zukünftige Braut mit sich führten; als der Brautzug von den Baiern überfallen wurde, hinterließen die fliehenden Moravljanen 644 aufgezäumte Pferde und die gleiche Anzahl von Schilden [26].

 

Aus dem Range der Braut wie auch der großen Zahl der Begleitmannschaft hat man darauf schließen wollen, daß der Bräutigam Sventopulk war; das Ereignis fand auf jeden Fall kurz nach seiner Machtübernahme in Moravia statt. Beweisbar ist diese Annahme jedoch nicht, es kommt als avisierter Heiratspartner ebenso irgendein höherer Adliger der Moravljanen in Frage. Fraglich bleiben muß auch die Richtigkeit der schon mehrfach vertretenen Ansicht, die Gattin Sveatopulks habe «Sventežizna» oder ähnlich geheißen [27]. Diese Theorie basiert darauf, daß sowohl in den Namenseintragungen des Evangeliars von Cividale wie auch im ältesten Salzburger Verbrüderungsbuch auf Namen, die Sventopulk repräsentieren («Szuentiepulk» bzw. «Zuuentibald»), jeweils zwei ähnliche, auf eine Person deutende Namens formen folgen, nämlich «Szuentezizna» und «(Z)uuengizigna»; sie werden als der oben genannte weibliche Personenname interpretiert («svęti» = »heilig, stark» + «žiznь» = «Leben») [28].

 

 

22. MG Epp. VII, Ed. Kehr 1928, Fragmenta registri Joh. VIII. papae, Nr. 18, S.282.

 

23. Da sich nur diese Fürsten bis 873 der Jurisdiktion Methods unterstellt hatten.

 

24. Konst. Porph. DAI 32, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 154/155.

 

25. «Progener» = «vir neptis», duCange, 6 (1886), S. 526; «progenies» = «generation», Souter 1949, S.326; Niermayer 1976, S. 860; oder «Geschlecht», Habel 1959, Sp.313.

 

26. Ann. Fuld. ad a. 871, Ed. Kurze 1891, S.75.

 

27. So etwa Havlík 1964, S.230/231; Schmid 1986, S. 198.

 

 

235

 

Aus dem Brief Johannes VIII. an Sventopulk vom Juni 880 ist andererseits ein «Semisisnus fidelis tuus» bekannt, welcher als Gesandter Sventopulks fungierte; die beiden Eintragungen entstanden wahrscheinlich gerade anläßlich dieser Gesandtschaft, und möglicherweise wäre der Gesandte «Semьžiznь» (dessen Name aus «semь» = «Person, Familie» + «žiznь» = «Leben» gedeutet wird) identisch mit der oben genannten Person «Svętьžiznь»; er hätte sich also selbst neben seinem Fürsten eintragen lassen [29].

 

Bei der bisweilen desolaten Schreibweise slawischer Namen in den Papstbriefen ist diese Möglichkeit durchaus zu bedenken [30]; eine andere Erklärung wäre die, daß «Semьžiznь» gerade deswegen als erprobter «fidelis» galt und die wichtige Gesandtschaft nach Rom erhielt, weil er ein Verwandter von Sventopulks Gattin war - man vergleiche das identische zweite Kompositionsglied der beiden Namensformen. Die Frage nach der Identität von Sventopulks Gattin muß also offenbleiben, nur Vermutungen sind möglich.

 

Doch auch um einen angeblichen dritten Sohn Sventopulks wurde eine kontroverse Diskussion geführt. Aus den fränkischen Annalen sind nur zwei Söhne namentlich bekannt, Moimir (II.) und Sventopulk (II.), wobei letzterer, da er allein als «puer» bezeichnet wird, als der jüngere gilt [31]. D. Rаpant hat versucht, einen dritten, noch jüngeren Sohn Sventopulks nachzuweisen; im «De Administrando Imperio» spricht Konstantinos Porphyrogennetos nämlich davon, daß der Herrscher Moravias drei Söhne hinterlassen habe [32]. Im Evangeliar von Cividale erscheint nun neben «Szuentiepulc» und «Szuentezizna», der vermeintlichen Gattin Sventopulks, ein «Predezlaus», welcher Rаpant den fehlenden Namen des dritten Sohnes lieferte.

 

 

28. Codex von Cividale Fol. 4', Ed. Bethmann 1877, S. 120; Verbrüderungsbuch von St. Peter Sp.30, Ed. Herzberg-Fränkel 1904, S. 12; dazu Schmid 1988, S.286!

 

29. MG Epp. VII, Ed. Kehr 1928, Epp. Joh. VIII. papae, Nr. 255, S. 222.

 

30. Vgl. etwa die korrupten Formen «Pentepulcus», «Zuuentapu» (MG Epp. VII, Ed. Kehr 1928, Fragm. reg. Joh. VIII. papae, Nr.21, S.285 bzw. Epp. Joh. VIII. papae, Nr.200, S.160)!

 

31. Ann. Fuld. Cont. Altah. ad a. 899, Ed. Kurze 1891, S. 132; auch die Versionen Kaletić und Marulić des «Presbyter Diocleas» (Ed. Šišić 1928, S. 401) wissen zu berichten, daß «Svetolik» = Sventopulk II. beim Tode des Vaters noch ein kleines Kind gewesen sei.

 

32. D. Rаpant, Traja synovia Svatoplukovi (Bratislava 1940), zit. bei Schwanz 1942, S.24/25, 84/85; eine ähnliche, unbestimmtere Vermutung über einen dritten Sohn Sventopulks bei Vajay 1968, S.38 Anm.104; beide nach Konst. Porph. DAI 41, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 180/181.

 

 

236

 

Diesen Personennamen verband Rаpant schließlich mit dem 907 erstmals als «Brezalauspurc» erscheinenden Ortsnamen Preßburg/Bratislava [33], das er als Residenz des «Predezlaus» ansah. Zu Recht hat aber die Kritik darauf hingewiesen, daß dieser dritte Sohn auch in den fränkischen Annalen hätte erscheinen müssen - so vor allem anläßlich des Bruderzwistes unter Sventopulks Söhnen 898/99 -, hätte es ihn wirklich gegeben. Der «Predezlaus» des Evangeliars von Cividale ist wohl eher als Gefolgsmann denn als Sohn Sventopulks zu sehen.

 

Man wird also gut daran tun, weiterhin nur von zwei Söhnen Sventopulks auszugehen. Mit den beiden vom Diokleaten bezeugten Söhnen Sventopulks II., Vladislav und Tomislav, soll die hier erarbeitete Genealogie abgeschlossen werden.

 

Wirft man noch einen Blick auf die in Serbien und Kroatien herrschenden Dynastien, so zeigt sich, daß die «Namensthemen» sich dort partiell wiederholen.

In Kroatien regiert von 821 bis spätestens 839 ein Vladislav («Ladasclavus»), dessen beide Namensglieder sich in der in Bosnien und Moravia herrschenden Dynastie wiederfinden. Das Thema «Vlad-» bzw. «Vlasti-» («herrschen») + «-mir» («Frieden»), das soviel wie «Friedensherrscher» bedeutet, findet sich allerdings auch in Serbien und Bulgarien.

 

Völlig aus dem Rahmen fallen hingegen die Namen der an den Vorgängen um Liudewit beteiligten Slawenfürsten: außer diesem selbst sein Schwiegervater Dragomuž («Dragamosus»), sein Gegner Borna und dessen Onkel Liudemysl («Ljudemuhslus»). Auch die Sippe der Trpimiriden, die seit ihrem 852 belegten Spitzenahn Trpimir einen Großteil der kroatischen Fürsten stellte, verwendete außer der Zweitsilbe «-mir» völlig andere Namensformen.

 

Auffällig ist es, daß sowohl im kroatischen wie im serbischen Herrscherhaus derselbe Name Mu(n)timir [34] erscheint; der serbische Fürst dieses Namens regierte von ca. 850/60 bis 891, der kroatische von 888/92 bis nach 895. Während sie zwar verwandt, aber keinesfalls identisch sein können, ist eine solche Möglichkei t in einem anderen Fall zu bedenken.

 

Gemeint sind der kroatische Branimir (unbekannter Herkunft) und der Sohn des serbischen Mutimir, «Bran» («Βράνος») [35]; der Name des letzteren könnte eine Kurzform für «Branimir» sein. Eine Zugehörigkeit Branimirs zu der offenbar mit Sventopulk verschwägerten serbischen Regentensippe würde erklären, warum er 879 in Kroatien als neuer Herrscher akzeptiert wurde, obwohl er nicht dem bisherigen Fürstengeschlecht, den Trpimiriden, angehörte.

 

 

33. Ann. Iuvav. max. ad a. 907, Ed. Bresslau 1934, S.742.

 

34. Zu diesem Namen Miklosich 1927, S.80 Nr.241.

 

35. Konst. Porph. DAI 32, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 154-157.

 

 

237

 

Genealogische Verbindungen südslawischer Fürstenhäuser im 9. Jahrhundert (eigener Entwurf)

 

 

238

 

Zugleich wäre eine bei ihm erkennbare Affinität zu Sventopulk, der ihm vielleicht sogar auf den kroatischen Thron verhelfen hatte, aus einer Verwandtschaftsbeziehung heraus plausibler [36].

 

Lebhafte Beziehungen zwischen Serbien und Kroatien sind jedenfalls für das Ende des 9. Jahrhunderts aus dem «De Administrando Imperio» herauszulesen [37]. Doch ist die These einer Personenidentität zwischen Branimir und «Bran» nicht zu beweisen, da die Regierung des kroatischen Branimir spätestens 892 endete; dagegen setzt man die Expedition des «Bran» gegen seinen Vetter Peter, Sohn des Mutimir-Bruders Gojnik, die ihm die Herrschaft über Serbien verschaffen sollte, bei der er aber besiegt und geblendet wurde, meist in das Jahr 895 [38]. Erwägung verdient andererseits doch auch die Bemerkung des Porphyrogennetos, daß die Südslawen seit Basilics (867-886) ihre Fürsten aus immer denselben Familien wählten [39].

 

 

3.2.5. Die Eintragungen slawischer Fürsten in liturgischen Gedenkbüchern

 

Die Namen von Fürsten Moravias finden sich in drei liturgischen Gedenkbüchern, nämlich im Evangeliar von Cividale, im Verbrüderungsbuch von St. Peter zu Salzburg sowie im erst kürzlich neu edierten Reichenauer Verbrüderungsbuch; diese Eintragungen sollen hier auf ihren Aussagewert hin überprüft werden [1].

 

Bei dem Evangeliar von Cividale handelt es sich um eine im 5. oder 6. Jahrhundert entstandene Handschrift, die ursprünglich alle vier Evangelien enthielt; das Markus-Evangelium wurde im 13. oder 14. Jahrhundert entnommen und ist heute fast unleserlich. Entstehungsund anfänglicher Aufbewahrungsort sind in der Forschung umstritten, müssen aber im Bereich der Diözese Aquileia-Cividale gelegen haben; seit 1409 befindet sich der Codex jedenfalls in Cividale [2].

 

Interesse gewinnt er für die hier behandelte Problematik dadurch, daß am Rande der Handschrift, zum Teil auch zwischen den Zeilen, die Namen von Personen eingetragen sind, die teilweise persönlich das Kloster besucht hatten, sonst aber auch über andere zum Gebetsgedenken eingetragen wurden.

 

 

36. Es sei hier noch einmal an die Bemerkung des «Presbyter Diocleas» erinnert, daß Sven topulk seine Verwandten als «Bane» oder «duces» in den verschiedenen «Reichsteilen» eingesetzt habe (Presb. Diocl. 9, nur bei Lucius und Orbini, Ed. Šišić 1928, S. 307).

 

37. Jireček 1911, S. 195; Ferluga 1976, S.298ff.

 

38. Dazu Lascaris 1943 und, ihn korrigierend, Radojičić 1952.

 

39. Konst. Porph. DAI 29, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 126/127.

 

1. Zur Problematik der Schreibung slawischer Namen in westlichen Quellen s. Blanár 1948; Kronsteiner 1975; Schmid 1988.

 

2. Bethmann 1877, S. 113 ff.; Novak 1929; Cronia 1942, S.11ff. und 1952, S. 6ff.; Kuhar 1962, S.85ff.; Menis 1971; sowie M. Hellmann, Bemerkungen zum Evangeliar von Civi dale; in: Festschrift F. Posch zum 70.Geb. (Graz 1981), S.305-311. Die von Schmid 1988 angekündigte neue Faksimile-Ausgabe ist bisher nicht erschienen, sondern nur ein Vor bericht in der Zeitschrift Forum lulii, 10/11 (1986/87), S. 15-29.

 

 

239

 

Die Notierungen beginnen Ende des 8. Jahrhunderts, haben ihren Schwerpunkt in der zweiten Hälfte des 9. und der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts und laufen allmählich zu Ende des 10. Jahrhunderts aus. Am dichtesten sind sie auf den ersten neun Blättern (auf denen sämtlicher verfügbarer Schreibraum ausgenutzt wurde), spärlicher schon auf den Blättern 10 bis 18; von da an sind nur noch sporadisch Namen eingeschrieben.

 

Diese Personennamen sind teils althochdeutschen und langobardischen, teils jedoch auch slawischen Charakters. Unter letzteren findet sich, wie schon erwähnt, Sventopulk und seine vermeintliche Gattin «Szuentezizna» samt einem nicht näher bestimmbaren «Predezlaus» [3]. Auch Sventopulks Onkel und Vorgänger Rastislav glaubt man in einem «Rastisclao» wiederzuerkennen [4].

 

Interessant ist das Milieu, in dem diese Namen erscheinen: Es ist deutlich südslawischen Charakters. So sind an zwei Orten Namen «de Bolgaria» eingetragen, darunter in erster Linie die des Fürsten Boris/Michael und seiner Familie [5]. Aus Serbien hat man die Fürsten Mutimir («Mutimira», ca. 850/60-891) [6] und dessen Sohn Pribislav («Preuuislaua», 891-892) [7] identifizieren können.

 

Von den kroatischen Fürsten ist zunächst vertreten Trpimir als «Terpimir» (vor 852-864) [8], sein sonst unbekannter Sohn Peter («Petrus filius domno Tripemero») [9] sowie Trpimirs «Türwächter» Sebedrag («Sebedra hostiarius domno Tripimero») [10]. Auch der 878-879 regierende Trpimir-Sohn Zdeslav (als «Sedesclao» neben dem Serben Pribislav) ist eingetragen [11], ebenso dessen - nicht zu den Trpimiriden gehörender - Nachfolger Branimir (879-888/92) als «Branimero comiti» samt seiner Gattin «Mariosa cometissa» [12].

 

 

3. Bethmann 1877, S. 120 (fol.4'); zum Namen Miklosich 1927, S. 88/89.

 

4. Bethmann 1877, S. 122 (fol. 6').

 

5. Bethmann 1877, S.119,120 (fol.3',4); dazu Cronia 1952, S.10; Dujčev 1987, S.28/29; Schmid 1988, S.282/283.

 

6. So liest Cronia 1952, S. 16 statt wie Bethmann 1877, S. 121 «motimira» (fol. 5').

 

7. Bethmann 1877, S. 127 (fol. 145); dazu Radojičić 1966, S. 103ff.; s.a. Cronia 1952, S. 15 zu einem weiteren Pribislav!

 

8. Bethmann 1877, S. 121 (fol.5'); dazu Šišić 1917, S. 79; Novak 1929, S.364ff.; Blanár 1948, S. 93; Cronia 1952, S. 11; Klaić 1971, S. 226/227; Schmid 1988, S. 282.

 

9. Bethmann 1877, S. 125 (fol.23); vgl. Novak 1929, S.368/369.

 

10. Bethmann 1877, S.121 (fol. 5'); möglicherweise identisch mit dem «Kolbenträger Želidrug» einer Urkunde Mutimirs von 892, s. Cod, dipl. Croatiae, Ed. Kostrenčić et al. 1967, Nr. 20, S. 24.

 

11. Bethmann 1877, S.127 (fol. 145); vgl. Cronia 1952, S.ll mit Anm.4; Radojičić 1966, S. 104; Schmid 1986, S. 194.

 

12. Bethmann 1877, S. 126 (fol. 102') dazu Šišić 1917, S. 114; Novak 1929, S.369/370; Cronia 1952, S. 11.

 

 

240

 

Fraglich bleiben muß, ob sich die Trpimiriden Mu(n)timir (888/92-nach 895) und Miroslav (Anfang des 10. Jahrhunderts) in den Formen «Munemer» [13] und «Merisclafa» [14] wiederfinden lassen. Schließlich erscheint der «dux» des Save-Drau-Gebietes zu Ende des 9. Jahrhunderts, Brazlav, als «Brasclavo et uxor eius Uuentescella» [15], daneben auch einige sonst unbekannte Personen slawischen Namens aus seinem Land («de terra Brasclauo») [16]. Die Inhaber des benachbarten «unterpanno-nischen Dukates», Pribina und sein Sohn Kocel (ca. 840-860 bzw. 861-874/76), erscheinen je zweimal: einmal gemeinsam als «Quocili. Priuuinna» in rein slawischer Umgebung [17], Pribina zudem in Vergesellschaftung mit Trpimir als «Bribina» [18], Kocel in Gemeinschaft mit einer slawisch-bairischen Adelsgruppe, die M. Mitterauer näher untersucht hat [19].

 

In solcher Umgebung sind also Moravias Fürsten Sventopulk - auf diesen beziehen alle Forscher außer Mitterauer [20] die Eintragung «Szuentiepulc» - und Rastislav im Evangeliar von Cividale eingeschrieben; wie gerieten sie dorthin?

 

Es wurden die Thesen vertreten, daß das Kloster, in dem der Codex im 9./10. Jahrhundert aufbewahrt wurde, entweder an einem vielbegangenen Verkehrsweg vom Balkan nach Italien (Rom!) lag; oder daß es selbst das Ziel von Pilgerfahrten war [21]. Im Falle Sventopulks läßt sich vermuten, daß der Eintrag durch «Uuiching p(res)b(ite)r» geschah, der auf derselben Seite vermerkt ist [22]; es wäre dies während der im Jahre 880 bezeugten Reise Wichings und des Adligen «Semisisnus» nach Rom geschehen, womit die Identifizierung des letzteren mit der Eintragung «Szuentezizna» im Codex eigentlich an Wahrscheinlichkeit gewönne.

 

Auch für Pribina und Kocel läßt sich ein Zusammenhang mit Gesandtschaften an den Papst denken, wobei Pribinas Verbindung mit Trpimir überrascht - oder handelt es sich hier um einen anderen, kroatischen Pribina?

 

 

13. Bethmann 1877, S. 126 (fol. 102').

 

14. Bethmann 1877, S.122 (fol.6'); s.a. die Transkription bei Kuhar 1962, S.87; zu Miroslav vgl. noch Kap.4.3.2.!

 

15. Bethmann 1877, S. 122 (fol. 6); vgl. Cronia 1952, S. 10 und Schmid 1986, S. 194.

 

16. Bethmann 1877, S. 118 (fol. 2).

 

17. Bethmann 1877, S. 125 (fol. 14'); dazu Stanislav 1947, der die slawischen Namen für slo wakisch erklärt; und ihm entgegnend Piuk 1950, S. 120ff.

 

18. Bethmann 1877, S.121 (fol.5'); dazu Mitterauer 1960, S.698; Schmid 1986, S.196 und 1988, S. 282.

 

19. Bethmann 1877, S. 119 (fol.2'); dazu Mitterauer 1960, S.694, 723ff.; Schmid 1988, S.282.

 

20. Mitterauer hält ihn für den in Salzburg zu Anfang des 10. Jahrhunderts bezeugten Adli gen Zwentibold (1960, S.706).

 

21. Cronia 1952, S.7; Menis 1971; Waldmüller 1976, S.549; Schmid 1988, S.283.

 

22. Bethmann 1877, S. 120 (fol. 4').

 

 

241

 

Eine weitere Parallele wäre die historisch belegte bulgarische Gesandtschaft an Papst Nikolaus I. vom Jahre 866, deren Mitglieder sich im Evangeliar verewigen ließen [23].

 

Nicht ganz klar ist die Situation im Falle Rastislavs; er steht in einer Reihe von Personen, welche durch einen «Adeluinus» angeführt wird - sollte es sich hier um Erzbischof Adalwin von Salzburg (859-873) handeln [24]? Dann könnte der Eintrag vor der Bitte Rastislavs um eine byzantinische «kirchliche Aufbauhilfe» entstanden sein, das heißt vor 862/63; man rechnet mit einer vorausgegangenen entsprechenden Anfrage Rastislavs in Rom [25].

 

Von Bedeutung für die hier vertretene Theorie ist schließlich noch, daß offenbar sowohl Sventopulks Vater Svetimir (als «Sedemir») [26 wie auch sein Sohn Sventopulk II. (als «Santpulc» in Gemeinschaft mit «Liutpaldus», also dem Markgrafen Liutpold) [27] im Cividaler Evangeliar verzeichnet sind.

 

Laut A. Cronia ist unter der von C. L. Bethmann als «Tonasclauua» transkribierten Form wahrscheinlich Tomislav zu verstehen [28], während der bereits erwähnte «Munemer» vielleicht auch einen der Moimire Moravias repräsentieren könnte.

 

Es wäre damit die gesamte im vorigen Kapitel erschlossene Dynastie, welche in Bosnien-Slawonien und Moravia herrschte, ab dem Augenblick ihrer endgültigen Christianisierung vertreten.

 

Interessant ist nicht zuletzt, daß die mit Pribina und Kocel einerseits, Rastislav andererseits vergesellschafteten Namen nicht etwa, wie J. Stanislav behauptet hat, ausschließlich westslawischen (oder genauer slowakischen) Charakters sind, sondern sich vielmehr in ihrer überwiegenden Mehrheit den Südslawen zuordnen lassen [29].

 

In dem 784 angelegten Verbrüderungsbuch von St. Peter zu Salzburg [30], dessen Eintragungen etwa bis zur Zeit der Schlacht bei Preßburg/Bratislava (907) reichen,

 

 

23. Cronia 1952, S. 10; L. Heiser, Die «Responsa ad consulta Bulgarorum» des Papstes Ni kolaus (Trier 1979); Schmid 1986, S. 192.

 

24. Bethmann 1877, S. 122 (fol. 6'); dazu Stanislav 1947/48, S. 94; Schmid 1986, S. 197; zu Ebf. Adalwin Wolfram 1979, S. 113 f f.

 

25. Dazu Löwe 1983, S.651 mit Anm.81, 652 mit Anm.86.

 

26. Bethmann 1877, S. 120 (fol.5'); s.a. Cronia 1952, S. 15 über den Zusammenhang mit wei teren Namen des fol.5'.

 

27. Bethmann 1877, S. 125 (fol. 42).

 

28. Bethmann 1877, S. 122 (fol. 6'); dazu Cronia 1952, S. 17.

 

29. Stanislav 1947, ihm folgend Grebert 1965, S. 19, dagegen Piuk 1950, S. 122 ff.

 

30. Dazu grundlegend Lhotsky 1963, S. 149/150; K. F. Herrmann, Confraternitas Sanpetrensis; in: Studien und Mitt. zur Geschichte des Benediktinerordens, 79 (1968), S.26-53; K. Schmid, Probleme der Erschließung des Salzburger Verbrüderungsbuches; in: E. Zwink (Hg.), Frühes Mönchtum in Salzburg (Salzburg 1983), S. 175-196.

 

 

242

 

finden sich einige der im Codex von Cividale begegnenden, hier interessierenden Namen wieder.

 

Dies gilt in erster Linie für das Paar «Zuuentibald. .uuengizeigna» [31]; die Tatsache, daß es unter der Rubrik «Ordo ducum vivorum cum coniugibus et liberis» erscheint, hat wohl zur erwähnten Theorie von der Gattin Sventopulks geführt. Der ebenfalls im Verbrüderungsbuch erscheinende «Cozilo» repräsentiert wohl Kocel [32]; «M...mir», der in Gesellschaft mehrerer slawischer Namen eingetragen wurde, ist wahrscheinlich zu «Moimir» zu ergänzend und vielleicht auf Moimir II. zu beziehen [33]. Auffällig ist - im Vergleich mit dem Evangeliar von Cividale - die gänzliche Abwesenheit südlich der Dräu regierender Slawenfürsten [34], aber auch das Fehlen Rastislavs und Pribinas.

 

Das Reichenauer Verbrüderungsbuch [35] schließlich, dessen Eintragungen im frühen 9. Jahrhundert beginnen, weist fünf Namen auf, die Ähnlichkeit mit dem Sventopulks zeigen; von diesen sind jedoch drei eindeutig germanisierte Formen und ihre Träger wohl Angehörige jenes bairischen Adelsgeschlechtes, das auf irgendeine Weise mit der Dynastie Sventopulks verwandt war [36]. Dagegen ist der auf fol. 63 erscheinende «Szuentebulc» wohl auf einen der beiden Fürsten dieses Namens zu beziehen [37]. Die Namensgruppe, an deren zweiter Stelle er steht, wird angeführt von dem aus der Kirchengeschichte Moravias hinreichend bekannten Kleriker Wiching («Uuichinc»). Das auf «Szuêtebulc» folgende «Marchhere» bezeichnet nicht etwa einen Titel «Markherr», sondern ist ein gängiger zeitgenössischer Personenname [38]. Von den übrigen slawischen Namen der Gruppe hat J. Schütz einige identifizieren können. Es sind dies ein Priester Zaširь («Zasir»), der auch im Codex von Cividale steht,

 

 

31. Ed. Forstner 1974, S. 10 Sp.Ba; dazu S. 32: «Letztes Drittel des 9. Jahrhunderts».

 

32. Ed. Forstner 1974, S. 14 Sp.Cd; s.a. Birnbaum 1975b, S.38.

 

33. Ed. Forstner 1974, S.27 Sp.Cd; dazu Birnbaum 1975b, S.38; zur slaw. Gruppe auch Mitterauer 1960, S. 695,724. Die Eintragung könnte anläßlich Gesandtschaft Moimirs II. nach Rom i.J. 901 entstanden sein.

 

34. Zu erklären aus der Funktion der Dräu als Südgrenze des Salzburger Missionsgebietes.

 

35. Der in der Ed. Autenrieth et al. 1979 angekündigte hist. Kommentar ist bisher nicht erschienen.

 

36. «Zuuentibold», «Zuntibold», «Zuntebold», Ed. Autenrieth et al. 1979, S. 20 Sp.B3, S. 59 Sp.D2, S.68 Sp.A5.

 

37. Ed. Autenrieth et al. 1979, S. 63 Sp. B4/5; Sventopulk I. wird favorisiert von Schütz 1980, S. 394/395; sein Sohn von Löwe 1982, S. 342 Anm.8; Schwarzmaier 1972, S. 65 denkt an einen Verwandten Sventopulks I.

 

38. Schütz 1977, S.391 bzw. 1980, S.394 zu «Markherr»; dagegen Löwe 1982, S.342 Anm.8.

 

 

243

 

und ein weiterer Priester Lazarus («Lasai»), beide der kirchlichen Partei Wichings zuzuordnen; sowie ein mit dem «unterpannonischen» Fürsten Kocel assoziierter Adliger Uněja oder Unšata («Vungei»). Die althochdeutschen Namen betrachtet der genannte Forscher als das Gefolge Wichings oder als bairische Adlige [39]. Die gesamte Gruppe soll eine Interessengemeinschaft repräsentieren, welche sich gegen den Erzbischof Method richtete, dessen Name samt denen einiger Gefährten übrigens ebenfalls im Reichenauer Verbrüderungsbuch erscheint [40]; man bringt dies mit der zeitweiligen Inhaftierung Methods durch die bairischen Bischöfe in Verbindung.

 

 

3.3. Das Verhältnis Moravias zu den westlich angrenzenden Territorien im ostfränkischen Reichsverband

 

In jener Zeitspanne, während derer Sventopulk die Situation im Südosten dominierte, wechselten die Inhaber der Herrschaft über das bairische «Ostland» besonders häufig: Nach dem Tode Ludwigs des Deutschen 876 regierte bis 880 Karlmann das Teilreich Baiern mit den südöstlichen Marken, nach seinem baldigen Tode beerbte ihn zunächst sein Bruder Ludwig III.; als auch dieser schon 882 starb, trat Karl III. «der Dicke» die Herrschaft an, der für kurze Zeit das karolingische Reich fast noch einmal gänzlich vereinigen konnte. 887 folgte auf dessen Abdankung im Ostreich der uneheliche Sohn Karlmanns, Arnulf, der sich 896 zum Kaiser krönen ließ.

 

Mit dem Regierungsantritt Karlmanns in Baiern 876 änderte sich die Verwaltungsstruktur des «Ostlandes» grundlegend. Die bis dahin in Karlmanns Hand befindliche Präfektur des Gesamtgebietes wurde aufgehoben [1]. An ihre Stelle traten zwei größere Gebietskonzentrationen (von Mitterauer als «Markgrafschaften» bezeichnet), die jeweils mehrere der bisherigen Grafschaften vereinigten.

 

Im Norden, entlang der Donau, verwaltete seit 871 ein Graf Aribo die Grafschaft des Traungaues und die Grafschaft zwischen Enns und Wienerwald sowie das sog.

 

 

39. Schütz 1977, S.392/393 bzw. 1980, S.394/395.

 

40. Ed. Autenrieth et al. 1979, S. 53 Sp.D4.

 

1. Als Ursache dieser Maßnahme ist unschwer die Gefahr zu erkennen, die bei der geringen Größe des Karlmann unterstellten Gesamtgebietes von einem Ostlandpräfekten hätte ausgehen können. Vgl. Mitterauer 1963, S.160ff., Reindel 1965, S.239, 1981, S.271ff.; Wolfram 1987, S. 290 ff.

 

 

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«Oberpannonien», das bis etwa zur Raab reichte; dieser sein Amtsbezirk soll mit der Hilfsbezeichnung einer spätkarolingischen «Ostmark» belegt werden [2].

 

Südlich davon vereinigte seit 876 der Königssohn Arnulf Karantanien, die Grafschaft um Steinamanger/Szombathely und das zuvor den slawischen Fürsten Pribina und Kocel anvertraute «Dukat» am Plattensee (in der Literatur oft als «Unter-pannonien» bezeichnet) in seiner Hand; doch sollen «Pannonien» und Karantanien in ihren Beziehungen zu Moravia getrennt untersucht werden, da sich ihre Schicksale ganz verschieden entwickelten.

 

Schließlich ist südlich der Dräu noch jenes 828 zum bairischen «Ostland» geschlagene Gebiet zu berücksichtigen, welches in der Literatur meist als zweigeteilt angesehen wird: Es soll eine von fränkischen Amtsträgern verwaltete «Grafschaft an der Save» und ein slawisches, im Vasallenverhältnis stehendes «Fürstentum in Slawonien» gegeben haben [3]. (Vgl. zum Folgenden Karte 14)

 

 

3.3.1. Die ostfränkische Grafschaft bzw. slawische Herrschaft an Save und Dräu

 

Im Saveraum erscheint in der historischen Literatur oft der etwas nebulöse Begriff eines «pannonischen Kroatien» (im Kontrast zum «eigentlichen», «dalmatinischen» Kroatien); doch ist die Existenz eines solchen Gebildes von anderer Seite auch schon bezweifelt worden. Die Bezeichnung rührt zweifellos her von der im «De Administrando Imperio» berichteten Wanderung eines Teiles der Kroaten nach «Pannonien» [1]. Diesem «zweiten» Kroatien werden meist die Fürsten Vojnomir, Liudewit, Ratimir und Brazlav zugeordnet. Ist diese Annahme aber auch aus den Quellen zu belegen, und welches Gebiet umfaßte das «pannonische Kroatien» ?

 

Für Vojnomir, für den im vorangehenden - mit gewisser Reserve - der bosnisch-slawonische Raum als Herrschaftsgebiet in Betracht gezogen wurde, hat man ansonsten außer «Pannonisch-Kroatien» auch Karantanien oder Istrien/Friaul erwogen. Doch muß das System südslawischer Staatsbildungen im westlichen Balkanraum zu Ende des S.Jahrhunderts mangels ausreichender Quellenbelege noch weitgehend ungeklärt bleiben.

 

Deutlicher konturiert sind Person und Machtbereich Liudewits [2].

 

 

2. Mitterauer 1963, S.86/87, 189; Wolfram 1980b, S.20. Zur Karolingerzeit umfaßte der Begriff «Ostmark» an sich das gesamte Gebiet östlich Baierns, z.T. einschließlich Karantaniens, s. Huber 1972, S.41; Mühlberger 1980, S.6.

 

3. Vgl. etwa die Aufstellungen bei Mitterauer 1963, S. 90, 168 oder bei Wolfram 1979, S. 152/153.

 

1. Konst. Porph. DAI 30, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 142/143.

 

2. Zu ihm neuerdings v.a. Wolfram 1984 und 1987, S.268ff.

 

 

245

 

Erstmals erscheint er 818 in den fränkischen Quellen als «dux» bzw. «rector Pannoniae infe-rioris»; als Sitz nennen die Quellen die «civitas Siscia» (heute Sisak) [3].

 

Entgegen der von den einschlägigen Quellen verwendeten Nomenklatur umfaßte Liudewits Herrschaft aber nicht die «Pannonia inferior» der frühen Kaiserzeit (während derer Siscia vielmehr zu Oberpannonien gehörte!), sondern offensichtlich den Bereich der spätantiken Provinz «Savia», als deren Hauptort schon damals Siscia fungierte.

 

819 rebellierte Liudewit gegen die fränkische Oberhoheit, aus den Feldzugsberichten der fränkischen Quellen lassen sich die ungefähren Grenzen des ihm unterstehenden Territoriums erkennen. Im Norden betrat ein fränkisches Heer, das vorher die «Pannonia superior» (hier: Westungarn) durchzogen hatte, mit Überquerung der Dräu Liudewits Gebiet. Im Westen grenzte Liudewits Machtbereich an die Region der Karantanen bzw. der an der oberen Save sitzenden «Carniolenses» (Krainer), welche teilweise zu Liudewit überliefen und 820 wieder von Markgraf Balderich unterworfen wurden [4]. Im Süden berührte Liudewits Fürstentum das seines Konkurrenten Borna, wohl entlang der alten Grenzscheide des Kapela-Gebir-ges. Borna wurde 819 von Liudewit in einer Schlacht am Flusse Kupa, der von diesem Gebirge ausgehend nordostwärts fließt, besiegt [5]. Kaum möglich ist hingegen eine Abgrenzung von Liudewits Fürstentum nach Osten. Wenig hilfreich ist die Nachricht, daß sich die Timočaner, welche aus dem bulgarischen Reich ausgewandert waren, 819 an Liudewit anschlössen, da diese Auswanderung über eine weite Strecke geführt haben konnte wie im belegbaren Fall der Guduskaner [6]; eine Herrschaft Liudewits bis zum Timok ist daraus also keineswegs erschließbar.

 

Auch die Umstände der endgültigen Niederwerfung des Aufstandes 822 gewähren nur indirekte Aufschlüsse: Liudewit floh «ad Sorabos, quae natio magnam Dal-matiae partem optinere dicitur», worunter die Serben zu verstehen sind, und bemächtigte sich hier durch Verrat einer «civitas» [7], woraus man entnehmen darf, daß die Serben zuvor nicht unter seiner Botmäßigkeit gestanden hatten. 823 wurde Liudewit, der sich nunmehr in den Machtbereich der dalmatinischen Kroaten begeben hatte, dort ermordet [8].

 

 

3. Ann. regni Franc, ad a. 818, Ed. Kurze 1895, S. 149; Anon. Vita Hludowici 31, Ed. Pertz 1829, S. 624.

 

4. Ann. regni Franc, ad a. 820, Ed. Kurze 1895, S. 152/153; Anon. Vita Hludowici 32,33, Ed. Pertz 1829, S. 624/625.

 

5. Ann. regni Franc, ad a. 819, Ed. Kurze 1895, S. 151.

 

6. Ann. regni Franc, ad a. 819, Ed. Kurze 1895, S. 150/151; daß die Guduskaner aus bulga rischem Hoheitsgebiet kamen, belegt die Anon. Vita Hludowici 31, Ed. Pertz 1829, S. 624.

 

7. Ann. regni Franc, ad a. 822, Ed. Kurze 1895, S. 158; Anon. Vita Hludowici 35, Ed. Pertz 1829, S. 626.

 

 

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Bemerkenswert ist es, daß zwar Serben, Timočaner, Guduskaner, Kroaten (wenn auch nicht unter diesem Namen, sondern als «Dalma-tier») und Karantanen am Geschehen um Liudewits Erhebung teilhatten, nicht hingegen die Moravljanen. Daß sie gerade zum Zeitpunkt der endgültigen Niederlage Liudewits, 822, ihre erste in Quellen belegte Gesandtschaft zu den Franken schickten, rechtfertigt auf keinen Fall die Annahme I. Bobas, daß sie zuvor «already part of the federation of Liudevit» gewesen seien [9]!

 

Die weiteren Schicksale der Region um Siscia liegen zunächst im dunkeln. Häufig findet sich die Ansicht, daß der 838 erwähnte Ratimir auf Liudewit folgte. Es wurde jedoch gezeigt, daß Ratimir nicht so weit im Nordwesten, sondern als einer der Vorgänger Sventopulks in Bosnien zu suchen ist.

 

So ist es viel wahrscheinlicher, daß das eroberte Gebiet Liudewits der Markgrafschaft Balderichs von Friaul angegliedert wurde, der ja bereits für die angrenzende «Carniola», vielleicht auch für Teile Karantaniens zuständig war [10].

 

Bei der Aufteilung dieser Markgrafschaft im Jahre 828 wären dann jene zwei Grafschaften, die fortan unter die Verwaltung des Ostlandpräfekten fielen, in der «Carniola» sowie dem früheren Liudewit-Gebiet um Siscia zu suchen.

 

Damit wäre es wiederum gerechtfertigt, hier jene von Mitterauer erschlossene «Grafschaft an der Save» anzusetzen, als deren ersten Amtsinhaber er den Grafen Salacho namhaft gemacht hat [11]. Salacho erscheint 838 in der «Conversio» als der «comes», welcher Pribina mit Präfekt Ratbod aussöhnte.

 

Pribina erreichte Salacho, nachdem er Ratimir verlassen und die Save überquert hatte [12]. Mehr ist aus den knappen Worten der Quelle nicht über die Lage von Sala-chos Grafschaft zu erfahren. Mitterauer scheint anzunehmen, daß Salacho das Land des 838 vertriebenen Ratimir anvertraut wurde; doch geht aus der «Conversio» ja hervor, daß Salacho bereits ein «comes» war, als noch gegen Ratimir gekämpft wurde. Es ist also wahrscheinlicher, daß 838 die der Herrschaft Ratimirs am nächsten gelegene fränkische Grafschaft die des Salacho im Savetal war, ohne daß zwischen beiden eine genauere Grenzziehung möglich wäre.

 

 

8. Zum Liudewit-Aufstand Jireček 1876, S.147; Šišić 1917, S.63ff.; Jaksch 1928, S.81/82; Moro 1963, S.87; Bulin 1968, S. 164ff.; Klaić 1971, S.206ff.; Knific 1976, S.115/115; Brunner 1979, S. 106; Wolfram 1979, S.122ff., 1984, S.292ff, 1986, S.245/246; Klaić 1984/85, S. 6/7; Katičić 1985, S. 300 ff.; Bowlus 1978, S. 12 ff.; 1986, S. 74/75; 1988, S. 168 ff.

 

9. Boba 1971, S. 4.

 

10. Zu Balderichs Amtsbereich Schmidinger 1954, S.60; Mitterauer 1963, S. 85/86; Wolfram 1979, S.122ff.; Mühlberger 1980, S.49ff.; Wolfram 1981, S.315; Bowlus 1987b, S.5 und 1988.

 

11. Mitterauer 1963, S.87ff.; zu Salacho auch Prinz 1981, S.368; Bowlus 1988, S.174.

 

12. Conversio 10, Ed. Wolfram 1979, S. 52/53.

 

 

247

 

Als Nachfolger Salachos wird wegen seiner «offenkundigen Beziehungen zu Unterpannonien» von Mitterauer ein Graf Guntram avisiert13. Er erscheint erstmals in einer vor 853 ausgestellten Schenkung des späteren Fürsten Kocel an St. Emmeram, und zwar nach Präfekt Ratbod an zweiter Stelle der Zeugenliste [14]. Zuletzt ist «Gundram comes» belegt in einer von den Herausgebern auf 883/87 datierten Urkunde, wiederum im Zusammenhang mit Transaktionen in «Unterpannonien» [15]. Er überstand also die Auseinandersetzungen der Jahre 860 bis 864, welche die Inhaber anderer Grafschaften im Südosten ihr Amt, wenn nicht das Leben kosteten.

 

An dieses letztmalige Auftreten des Grafen Guntram schließt sich nun fast nahtlos an das erstmalige Erscheinen des Fürsten Brazlav in der Regensburger Fortsetzung der Fuldaer Annalen, die 884 über seine Audienz bei Kaiser Karl III. berichtet: «Postea veniente Brazlavoni duce, qui in id tempus regnum inter Dravo et Savo flumine tenuit...». Die Chronik des Hermann von Reichenau nennt Brazlav hingegen den «dux Pannoniae ulterioris» [16]. War Brazlav Guntrams Nachfolger?

 

Brazlavs Hoheitsbereich erschließt sich genauer aus der Nachricht der Regensburger Annalen-Fortsetzung, daß die 892 ins Bulgarenreich abgehenden ostfränkischen Gesandten «de regno Brazlavonis per fluvium Odagra usque ad Gulpam...» gereist seien [17]. Als Ausgangspunkt ihrer Fahrt ist somit Siscia auszumachen, wo die Odra in die Kupa (und diese kurz darauf in die Save) mündet. Siscia gehörte also zum «regnum» des Brazlav und war wohl sogar seine Residenz. Das 892 als Treffpunkt zwischen Brazlav und Kaiser Arnulf genannte «Hengistfeldon» im Grazer Becken liegt an einer von Siscia (Sisak) über Poetovio (Ptuj) nordwärts nach Kärn-ten führenden Römerstraße [18]. Keineswegs kann jedenfalls der Hauptort Brazlavs in Sirmium gesucht werden, denn nach den Worten der Quelle drohten zwischen seinem und dem bulgarischen Machtbereich ja die Nachstellungen Sventopulks!

 

Auf jeden Fall saß also Brazlav im ehemaligen Gebiet Liudewits; zweifeln könnte man allerdings daran, daß zeitlich zwischen diesen beiden slawischen «duces» fränkische Grafen dasselbe Gebiet verwalteten, zumal die Quelle von einem «regnum» Brazlavs spricht. Doch braucht dies nicht unbedingt zu irritieren - auch Sventopulk verfügte 869 über ein den Franken tributäres «regnum», und das «regnum» der Moravljanen wurde 870/71, wenn auch nur für kurze Zeit, von fränkischen Grafen verwaltet.

 

 

13. Mitterauer 1963, S. 162, 206 ff.

 

14. Trad. Regensburg, Ed. Widemann 1943, Nr.37, S.43.

 

15. Trad. Regensburg, Ed. Widemann 1943, Nr.102, S.91.

 

16. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 884, Ed. Kurze 1891, S.113; Herim. Aug. Chron. ad a 892, Ed. Pertz 1844, S.110.

 

17. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 892, Ed. Kurze 1891, S. 121; vgl. dazu die Bemerkungen bei Boba 1971, S. 63/64.

 

18. Siehe Alföldi 1974, Karte im Anh.; vgl. auch Bowlus 1986, S.87 und 1986b, S.27.

 

 

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Parallelbeispiele für die Einsetzung eines slawischen «dux» in erobertem Gebiet durch ostfränkische Könige sind Pribina und Kocel im Plattenseegebiet.

 

Bezeichnenderweise wurde ihr ehemaliges «Dukat» 896 Brazlav übergeben («Pannoniam cum urbe paludarum Brazlavoni duci suo... commendavit») [19]; es handelt sich also bei Brazlav um einen fränkischen Amtsträger, nicht um einen gentilen Fürsten. Doch bereits vor dieser Gebietserweiterung muß Brazlavs Amtsbereich an die Reichsbildung Sventopulks gegrenzt haben, denn Arnulf besprach mit ihm 892 in Hengstfelden «tempus et locum, quomodo possit terram Maravorum intrare». Will man nicht die etwas abwegige Theorie akzeptieren, daß Brazlav der dritte Sohn Sventopulks gewesen sei, so gibt seine Heranziehung zu dem Kriegsrat Arnulfs nur dann einen Sinn, wenn es sich um einen ortskundigen Nachbarn handelte [20].

 

Zum letzten Mal ist Brazlav 898 belegt [21]. Der Zeitpunkt seines Endes ist unbekannt, fällt vielleicht mit den bairischen Unternehmungen gegen Moravia 898/99, vielleicht auch erst mit den Ungarnkriegen ab 900 zusammen. Um 925 gehört das Gebiet von Siscia schon zum «regnum» des Tomislav [22].

 

Ob man allerdings das von Liudewit und später von Brazlav beherrschte Gebiet schon im 9. Jahrhundert als «kroatisch» benennen kann, sei dahingestellt; als Selbstoder Fremdbezeichnung erscheint dieser Begriff für den betreffenden Raum im Frühmittelalter jedenfalls nicht [23]. Vielmehr hat sich die genannte Region noch lange Zeit als gesonderte territoriale Einheit erhalten, allerdings unter Verschiebung des Schwerpunktes von Siscia/Sisak nach Zagreb im 11. Jahrhundert (1094 Verlegung des Bistums!). G. Györffy hat Eigenart und Grenzen dieses «ducatus» oder «bana-tus» im Verband des mittelalterlichen ungarischen Reiches herausgearbeitet [24]. Als ein früher erobertes Gebiet wurde es vom eigentlichen, dalmatinischen Kroatien (das erst 1089/91 ungarisch wurde) begrifflich streng geschieden und erscheint etwa seit Mitte des 13. Jahrhunderts unter der Bezeichnung «Sclavonia», später «regnum Sclavoniae».

 

 

19. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 896, Ed. Kurze 1891, S. 130.

 

20. «Terra Moravorum» umfaßt hier begrifflich offensichtlich auch das bosnisch-slawonische «Regnum» Sventopulks.

 

21. Ann. Fuld. Cont. Altah. ad a. 898, Ed. Kurze 1891, S. 132.

 

22. Ersichtlich aus der Aufzählung Siscias unter den Bistümern im Reiche Tomislavs in den Akten der Synode von Spalato/Split c.925, s. Kap.4.3.2.!

 

23. Darauf verweist Katičić 1985, S. 300 mit Anm. 7.

 

24. Györffy 1971, S. 299 ff.

 

 

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Erst im Gefolge der Türkenkriege und der habsburgischen Übernahme Rest-Ungarns wurde es verwaltungsmäßig mit dem eigentlichen Kroatien vereinigt und fortan unter diesem Namen mit einbegriffen, während sich der Geltungsbereich des Namens «Slawonien» verschob und bis zum 18. Jahrhundert endgültig für die auch heute so benannte Landschaft zwischen unterer Save und Dräu üblich wurde.

 

Bereits jenseits der Grenze des hochmittelalterlichen Slawonien zur historischen Landschaft Krain lag der Ort «Richenburch» (Reichenberg, heute Brestanica in Slowenien), der in einer Urkunde Arnulfs vom 29. Sept. 895 als in der «Mark an der Save» («marchia iuxta Souuam») befindlich erwähnt wird25. Es ist dies wohl die spätere Mark «Saunien» («Souuina») der Ottonenzeit, für die auch der Name «Windische Mark» gebräuchlich war.

 

Daher erscheint es statthaft, hier auch jene «marcha contra Winidos» zu suchen, aus welcher Karlmann, offensichtlich im Kampf gegen Sventopulk stehend, 873 einen Hilferuf an seinen Vater sandte. Dieselbe Quelle, die Annalen von St. Bertin, sprechen auch 864 und 866 von einer «marca Winidorum» bzw. «adversus Winidos» [26]. Anscheinend lag sie in Reichweite von Sventopulks Truppen, wie die Ereignisse von 873 zeigen. Es wäre denkbar, daß die Region an der oberen Save, wo sich die «marchia iuxta Souuam» von 895 befand, im 9. Jahrhundert zeitweilig mit dem Gebiet von Siscia/Sisak (dem «Slawonien» des Hochmittelalters) vereinigt war und mit ihm gemeinsam eine «Wendenmark» bildete. Denn wenn man Salacho und Guntram nicht auch hier, an der oberen Save, als Grafen wirken läßt, sind bis zum Ende des 9. Jahrhunderts keine Amtsträger in dieser «Mark an der Save» bekannt.

 

Um 895 sind dann die beiden Territorien möglicherweise getrennt: Mitterauer setzt um diese Zeit den 919 verstorbenen Grafen Ratold in die «Mark an der Save» und läßt auf diesen seinen ältesten Sohn Sigihard folgen [27]. Die Übergabe des Plattenseegebietes an Brazlav 896 wäre dann vielleicht als eine Kompensation für den Verlust der Savemark im Zuge eines territorialen Revirements im Südosten zu sehen; doch ist diese Frage nicht eindeutig zu beantworten.

 

 

25. MG DD Arnolfi, Ed. Kehr 1940, Nr. 138, S.209.

 

26. Ann. Bertin, ad a. 873, Ed. Waitz 1883, S. 124. bzw. ad a. 864, 866, Ed. Waitz 1883, S.72, 82; eine «marcha contra Sclavos et Langobardos» kennt auch Ado von Vienne (Ed. Pertz 1829, S. 325).

 

27. Mitterauer 1963, S. 168, 223/224; s.a. Reindel 1981, S.275. Mühlberger 1980, S. 149 be trachtet Ratold als direkten Nachfolger Guntrams.

 

 

250

 

 

3.3.2. Das slawische Dukat des Pribina und Kocel in Pannonien

 

Im sog. «pannonischen» Raum, also östlich des Alpenkammes und Karantaniens, zwischen Donau und Dräu, kennt eine auf ca. 844 datierte Urkunde zwei Grafschaften, welche durch den Zöbernbach («Sevira») voneinander getrennt wurden [1].

 

Die südlichere dieser Grafschaften, wahrscheinlich mit Zentrum in Steinaman-ger/Szombathely, hatte Rihheri inné, der bereits 837 als «comes» belegt ist und bis 860 amtierte; die nördlichere unterstand Ratbod, dem Ostlandpräfekten [2]. Weder für Rihheri noch für Ratbod ist ein irgendwie gearteter Kontakt mit den Moravlja-nen bezeugt.

 

Zu diesen beiden Grafschaften trat wenig später eine weitere Machtkonzentration in jenem Gebiet, das die «Conversio» als «Unterpannonien» beschreibt [3]. Der Status dieses Herrschaftsgebildes ist umstritten, es wird teils als fränkische Grafschaft oder als «Dukat», teils auch als «Vasallenfürstentum» oder gar als eigenständige Herrschaft («Staat») bezeichnet. Erstgenannte Version soll als die überzeugendste hier übernommen werden.

 

Jener Pribina, der um 830 von Moimir vertrieben worden war [4], wurde dort der erste Amtsträger. Daß Pribina vor seinem Exil als souveräner Fürst geherrscht haben könnte - es wird in diesem Zusammenhang stets Nitra genannt -, hat J. Sieklikki wegen des Ausdrucks «quidam Priwina», den die «Conversio» gebraucht, zu Recht bezweifelt. Der oder die Verfasser der «Conversio» hätten über den Status der zeitgenössischen slawischen Fürsten im Südosten des Reiches genau Bescheid wissen müssen und im Falle einer souveränen Stellung Pribinas eine entsprechende Titulatur statt des neutralen «quidam» gebraucht [5]. (Auch eine engere Verbindung Pribinas mit Nitra muß, wie gesagt, bezweifelt werden.)

 

Da aber Pribina mit Gefolge («cum suis») floh, kann man in ihm sicher einen Adligen, vielleicht einen mit Moimir konkurrierenden Angehörigen des Fürstenhauses in Moravia sehen [6]. Nach seiner abenteuerlichen Flucht und der ca. 838/39 vom Grafen Salacho vermittelten Versöhnung mit Präfekt Ratbod erhielt Pribina auf Bitten dieser beiden Großen um 840 Ländereien am Flusse Žala («Sala») zu Lehen; dieses Lehen wurde am 12. Okt. 847 in ein Allodium umgewandelt [7].

 

 

1. MG DD Ludowici Germanici, Ed. Kehr 1934, Nr.38, S.49/50; zur «Sévira» vgl. Tóth 1976, S.107ff.

 

2. Mitterauer 1963, S. 86/87,117ff.; Sós 1973, S. 10, 22.

 

3. Conversio 6, 7, 11, Ed. Wolfram 1979, S.44-47, 52/53.

 

4. Conversio 10, Ed. Wolfram 1979, S. 50/51.

 

5. Sieklicki 1962, S. 118 ff.

 

6. So Sieklicki 1962, S. 132 ff.; Dittrich 1962, S. 68, 72.

 

 

251

 

Die Grenzen des Pribina anvertrauten Gebietes lassen sich auf zweierlei Weise bestimmen. (Vgl. Karte 15)

 

Zum einen kennt die «Conversio» in der «Pannonia inferior», dem pannonischen Missionsgebiet Salzburgs zwischen Raab, Donau, Dräu und karantanischer Ostgrenze, keinen anderen Amtsträger des ostfränkischen Reiches vor 860 als Pribina. Zum anderen könnte sich als aufschlußreich erweisen die Identifizierung und Lokalisierung jener Orte, in denen Pribina und später sein Sohn Kocel Schenkungen machten bzw. erhielten oder Kirchen weihen ließen. Allerdings ist der Unterschied zu treffen, ob sie dabei als Inhaber eines Amtes oder aber als Eigentümer von Grundbesitz handelten; in letzterem Falle konnte sich ihr Eigengut natürlich auch außerhalb ihres Amtsbezirkes befinden.

 

In Frage kommen zwei von der «Conversio» überlieferte Listen von Kirchenor-ten im pannonischen Dukat; die eine umfaßt jene, die zur Zeit des Salzburger Erzbischofs Liupram (836-859) geweiht wurden, insgesamt 14 (bzw. 16) Ortsnamen [8]. Dazu kommt eine weitere Liste von 14 Orten, an denen Liuprams Nachfolger Adalwin 864/65 Weihungen vornahm [9]. Des weiteren werden Ortsnamen genannt in zwei Schenkungen Pribinas, 855 an Salzburg [10] und 860 an Niederaltaich [11], sowie zwei weitere Schenkungen seines Sohnes Kocel an Regensburg (vor 856) [12] und Freising [13]. Schließlich erwähnen zwei Urkunden aus der Zeit nach Kocels Tod ehemals ihm gehörigen Besitz [14].

 

 

7. Conversio 11, Ed. Wolfram 1979, S. 52/53; dazu eine weitere Verleihung am 10. Juni 846, s. MG DD Ludowici Germania, Ed. Kehr 1934, Nr.45, S.61/62; zur Umwandlung 847 ebd. Nr. 46, S. 62.

 

8. Conversio 11, Ed. Wolfram 1979, S. 52-55 mit den Ortsnamen: «Ecclesia Sandrati, ecclesia Ermperhti, Salapiugin, Dudleipin, Ussitin, Businiza, Bettobia, Stepiliperc, Lindolveschirichun, Keisi, Wiedhereschirichun, Isangrimeschirichun, Beatuseschirichun, Quinque Basilicas, Otachareschirichun, Paldmunteschirichun»; bei den beiden letzteren ist nicht sicher, ob sie Liupram oder sein Nachfolger weihte.

 

9. Conversio 13, Ed. Wolfram 1979, S. 56/57 mit den Ortsnamen: «Mosapurc, in proprietate Wittimaris, Ortahu, Weride, Spizzun, Termperhc, Fizkere, Cella, ecclesia Unzatonis, Ztradach, Weride, Quartinaha, Muzziliheschirichun, Ablanza.»

 

10. Conversio 11, Ed. Wolfram 1979, S. 52-55: in «Salapiugin».

 

11. MG DD Ludowici Germanici, Ed. Kehr 1934, Nr. 100, S. 144/145 mit den Ortsnamen: «Salapiugiti, Slougenzin marcha, Stresmaren, Waltungesbah, Hrabagiskeit, Chirihstetin».

 

12. Trad. Regensburg, Ed. Widemann 1943, Nr. 37, S. 43 mit den Ortsnamen: «Stromogin, Reginwartesdorf, Rosdorf».

 

13. Trad. Freising, 1, Ed. Bitterauf 1905, Nr.887, S.696 mit einer «villa quae dicitur Uuampaldi» nahe dem Plattensee.

 

14. Trad. Regensburg, Ed. Widemann 1943, Nr. 86, S. 78/79: Ehem. Güter Kocels «iuxta amnem... Raba», c.876/80; MG DD Arnolfi, Ed. Kehr 1940, Nr. 185, S.286-288: Ehem. Besitz Kocels «in loco Ruginesfeld» in der Gft. «Dudleipa», 891.

 

 

252

 

A. Sós hat alle bis 1960 unternommenen Identifizierungsversuche auf gelistet und kartiert; es ergab sich eine große Streubreite der Lokalisierungen - bis an die niederösterreichische Donau und an die Save! -, jedoch mit Schwerpunkt im oben umschriebenen Gebiet [15].

 

Die wirklich gesicherten Ortschaften befanden sich sämtlich zwischen Donau und Dräu, gehen also keinesfalls südlich über den letztgenannten Fluß hinaus, überschritten allerdings in zwei Fällen die als westlichen Grenzfluß angesehene Raab.

 

Das erklärte A. Sós damit, daß es sich um Güter Kocels außerhalb seines eigenen Amtsbereiches handelte, während H. Wolfram eine Ausweitung seines Dukates nach 860 in Betracht zieht [16]. Dagegen ist der Teil «Unterpannoniens» nördlich und östlich des Plattensees fast frei von lokalisierbaren Kirchenorten und Tradierungen, was die Situation dort ziemlich unsicher gestaltet. Als wirklich gesichert gelten dürfen nach T. v. Bogyay [17] die Gleichsetzungen «Bettobia» = Pettau/Ptuj, «Quinque Ecclesiae» = Pécs, «Ortaha» = Veszprém, «Salapiugin» = Zalabér, «Sabaria» = Steinamanger/Szombathely (hier käme aber vielleicht auch Martinsberg/Pannon-halma in Betracht) [18], «Ablanza» = Abláncz; dazu kommen nach den Erkenntnissen anderer Forscher noch «Dudleipin» an der Mur, etwa bei Radkersburg, die «eccle-sia Wittimaris» wohl in Fenékpuszta und «Kensi» wohl in Balatonkenese.

 

Als Herrschaftszentrum Pribinas und Kocels konnte eindeutig das heutige Zalavár nachgewiesen werden; in fränkischen Quellen wurde es als «Mosapurc» o. ä., in einem altbulgarischen Traktat des 10. Jahrhunderts als «Blatnograd» bezeichnet [19], beides hat die Bedeutung «Moorburg». C. Bowlus hat auf die strategische Rolle verwiesen, welche die tatsächlich in Pribinas Besitz bezeugten Orte an den alten Römerstraßen der Region für Feldzüge gegen den Südosten haben mußten, während sie für Züge gegen Mähren kaum brauchbar erscheinen.

 

 

15. Lit. zum Problern der in der «Conversio» genannten Kirchenorte: Pirchegger 1912, S.283ff.; Schünemann 1923, S.4ff.; Klebel 1928, S.367ff.; Kos 1936, passim; Plank 1946, S. 39 und Karte III; Zimmermann 1954, S. 73 ff.; Bogyay 1960; Koller 1960b, S. 90 ff.; Posch 1961; Bogyay 1966; Havlík 1970b, S.22ff.; Sós 1973, S.31 ff. Koller 1977; Dopsch 1978, S. 15ff.; Wolfram 1979, S.133.ff.; Bóna 1984, S.360ff.; in die Überlegungen einbe zogen werden oft noch die Ortsnamen der Schenkung Ludwigs d.D. an Salzburg vom 20. Nov. 860 (MG DD Ludowici Germanici, Ed. Kehr 1934, Nr. 102, S. 147/148), die wenigstens zum Teil im Dukat Pribinas und Kocels zu suchen sind.

 

16. Sós 1973, S.42; Wolfram 1979, S. 141.

 

17. Bogyay 1960, S. 54 ff. sowie 1966 und 1986.

 

18. Toth 1976, S.lOlff.

 

19. «Skazanije o pismenech» des Černorizec Chrabr (Ende des 9./Anf. des 10. Jahrhunderts), Ed. Vaillant 1968, S. 61.

 

 

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Auch erschloß er aus den reichen Schenkungen, welche Pribina 846/47 erhielt, daß sich dieser bereits am Feldzug von 846 gegen die Moravljanen entscheidend beteiligt hätte [20]. Der einzige von den Quellen explizit berichtete Zusammenstoß, den Pribina nach seiner Etablierung in Pannonien mit den Moravljanen hatte, endete für ihn dann tödlich; er wurde, wie gesagt, um die Jahreswende 860/61 von ihnen erschlagen. Aus diesem Vorgang sind aber keine neuen Erkenntnisse über Pribinas Herkunft oder Moravias Lage zu gewinnen.

 

Doch zeigt Pribina interessanterweise Bezüge zum südund nicht etwa westslawischen Gebiet. Seine Flucht vor dem Ostlandpräfekten Ratbod führte ihn z.B. nicht zu den Böhmen (was bei einem sprachverwandten «Mährer» bzw. «Slowaken» doch nahegelegen hätte), sondern zu den Bulgaren, dann zu dem südslawischen Fürsten Ratimir. Der Name «Pribina» selbst begegnet sehr häufig in kroatischen und bosnischen Urkunden des Frühund Hochmittelalters, kaum je in solchen westslawischer Provenienz [21].

 

Um den ethnischen Charakter des pannonischen Dukats zu erschließen, hat man auch die mit Pribina in den Zeugenreihen der oben genannten Urkunden wie auch im Evangeliar von Cividale vergesellschafteten Namen ausgewertet und in diesen Personen sein Gefolge vermutet. Da Pribina bereits mit Gefolge geflohen war, könnte man daraus auch vorsichtige Rückschlüsse auf die Zuordnung seiner Heimat zum Südoder Westslawentum ziehen.

 

Unglücklicherweise kranken die meisten derartigen Untersuchungen daran, daß sie von einer nationalistischen Tendenz beeinflußt sind. So hat J. Stanislav das Fürstentum Pribinas als «ein ausgesprochen slowakisches, d.h. westslawisches Siedlungsgebiet» erklärt, dabei aber methodisch unsauber gearbeitet; I. Popović andererseits hat unbedenklich ganz Pannonien für die «Serbokroaten» reklamiert [22].

 

Mit Sicherheit ist ein Teil der betreffenden Personennamen als «gemeinslawisch», d.h. als keiner bestimmten slawischen Sprachgruppe zugehörig anzusehen. Ein «neutraler» Forscher, der Österreicher K. Piuk, hat unter den 14 Zeugen der Kirchenweihe von 850, die als Slawen gelten, nicht wie Stanislav 11 Westund 3 Südslawen gefunden,

 

 

20. Bowlus 1986, S. 76 ff., 1986b, S. 15 ff.; ebenso in 1987 b und 1988 gegen Wolfram 1984, S. 292, der hier eine Stoßrichtung gegen Mähren sehen will.

 

21. Vgl. zu Kroatien Cod. dipl. Croatiae, Ed. Kostrenčić et al. 1967, Index unter «Pribinna» u.a.; ein kroat. Ban «Πριβούνια» in Konst. Porph. DAI 31, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 150/151; ein «iupanus Pribina» im Supetarski kartular, Ed. Novak/Skok 1952, S.214; zu Bosnien s. Thallóczy 1914, Index: «Pribina»; zu Westslawen Miklosich 1927, Nr.297, S. 87.

 

22. Stanislav, Pribinovi veľmoži; in: Linguistica Slovaca, 1/2 (1939/40), S.118-150; Popović 1960, S.31 ff.; Kritik an beiden bei Grafenauer 1966b, S.386.

 

 

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sondern ein Verhältnis von 2 westzu 5 südund 7 gemeinslawischen Namen [23].

 

Beachtung verdient schließlich noch die von M. Mitterauer und H. Wolfram erschlossene Verbindung Pribinas mit dem karantanischen Grafen Witagowo und den Wilhelminern; eventuell ehelichte Pribina sogar eine Angehörige dieses Geschlechtes [24]. Aus einer derartigen Verbindung hat man erklären wollen, daß sich die Namen des Pribina-Sohnes Kocel wie auch seines mutmaßlichen Bruders Unzat eher aus dem Althochdeutschen als aus dem Slawischen ableiten lassen. (Sollte eine solche Ehe schon vor der Vertreibung Pribinas durch Moimir bestanden haben, so spricht dies trotzdem noch nicht für eine Ansetzung seiner ursprünglichen Heimat in der Nähe der «Ostmark», da die Wilhelminer auch anderweitig begütert waren [25].)

 

Auf Pribina folgte, wohl im Jahr 861, sein Sohn Kocel, der besonders durch die mit Rastislav und Sventopulk gemeinsam betriebene Berufung der «Slawenapostel» Kyrill und Method (ab 863) bekannt geworden ist.

 

Da Rastislav damals mit dem Ostfrankenreich im Krieg stand, andererseits auch für den Tod Pribinas verantwortlich war, so hat man sich über Kocels Bereitschaft, mit ihm zusammenzuarbeiten und zugleich den ostfränkischen Klerus, ja letztlich den König zu verärgern, gewundert. Bisweilen wurde ein Abfall Kocels von Ludwig dem Deutschen in Erwägung gezogen, der nach Rastislavs Sturz (870) auch den seinen zur Folge gehabt hätte; denn 874 wird angeblich ein Graf «Gozwin» auf Kocels Gebiet tätig. Doch ist diese Ansicht ebensowenig zu halten wie eine andere, diametral entgegengesetzte, daß nämlich Kocel auf einem Feldzug gegen die Kroaten, den er im Auftrag der Ostfranken unternommen habe, 876 gefallen sei; hier liegt ein Mißverständnis des «Kroaten-Kapitels» im «De Administrando Imperio» vor [26].

 

Wahrscheinlich starb Kocel ca. 874/76 ohne Hinterlassung eines Erben, da sein Amt und seine Güter an andere Instanzen übergingen.

 

 

23. Piuk 1950, S. 119/120.

 

24. Mitterauer 1960, S.698/699, 723ff. und 1963, S. 115ff., 144; Wolfram 1979, S.128. Anm.57, 1980, S. 22 Anm.22, 1980b, S. 20.

 

25. Dazu Bowlus 1973; zudem waren die Wilhelminer vor 856/65 als Grafen nur im weit abgelegenen Traungau eingesetzt, was vor 830 bestehende Verbindungen unwahrscheinlich macht.

 

26. Konst. Porph. DAI 30, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 144/145 erwähnt einen fränkischen «Führer Kotzilis» («ἄρχων Κοτζίλις»), welcher nach siebenjährigem Kampf gegen die Kroaten Dalmatiens fiel. Diese Angaben bezogen auf Kocel: Šišić 1917, S. 95 ff.; Grégoire 1945, S. 93/94; Klebel 1960, S. 676;. DAI Comm. (1962), S. 119; Dvornik 1970, S. 156; Wolfram 1979, S. 144; dagegen auf den Mkgr. Cadalo v. Friaul (799-819): Dümmler 1856, S.391/392; Hauptmann 1925, S.3ff.; Grafenauer 1952, S. 171 ff.; Guldescu 1964, S. 103; Sos 1973, S. 31.

 

 

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A. Sós hat die ganze Frage wohl dahingehend gelöst, daß in dem 874 anläßlich einer Kirchenweihe in Pettau/Ptuj erwähnten Grafen «Gozwin» oder «Chozivinus» niemand anders als eben Kocel zu sehen ist, dessen Name von den Annalisten verschrieben wurde [27].

 

In jedem Fall ist aber sicher, daß Arnulf 876 ebenso das pannonische Dukat wie auch die Verwaltung Karantaniens übertragen wurde; zudem soll er irgendwann nach 877, der letzten Nennung des dort amtierenden Grafen Ernst, die Grafschaft um Steinamanger übernommen haben. 879 geschah die Übertragung der Kirche des hl. Johannes in «Quartinaha» am Plattensee durch den Diakon Gundbato «domino suo Arnulfo filio regali permittente» [28].

 

Doch wie es scheint, hat Arnulf wenig später in seinem Besitzstand durch Sventopulk gewaltige Einbußen hinnehmen müssen. Zwar wird diese Frage immer noch heftig und durchaus kontrovers diskutiert, durch die Neuansetzung Moravias allerdings einer Lösung nähergebracht.

 

Ausgangsbasis aller Überlegungen [29] ist die sog. «Wilhelminerfehde», eine 882 ausgebrochene Auseinandersetzung zwischen zwei Adelsparteien des «Ostlandes». Eine dieser Parteien, der Markgraf Aribo, hatte die Unterstützung Sventopulks (und offenbar auch Kaiser Karls III.); die andere Seite, die Sippe der Wilhelminer, verband sich mit Arnulf. Infolgedessen führte Sventopulk nicht nur Krieg gegen die Wilhelminer, denen er an der Raab eine entscheidende Niederlage beibrachte; er verwüstete auch das Arnulf unterstehende «Pannonien» zweimal, 883 und 884, so daß, wie eine Quelle vermerkte, «Pannonia de Hraba flumine ad orientem tota deleta est» [30].

 

Sventopulk unterschied also säuberlich das westlich der Raab gelegene Gebiet seines Verbündeten Aribo von dem östlich anschließenden seines Gegners Arnulf.

 

 

27. Auct. Garst, ad a. 874, Ed. Wattenbach 1851, S. 565; Ann. S. Rudberti ad a. 874, Ed. Wattenbach 1851, S. 770; Cont. Ann. Iuvav. max. ad a. 874, Ed. Bresslau 1934, S. 742; dazu Sós 1973, S.31, 45; s.a. Dopsch 1984, S. 1236 Anm.242.

 

28. Mitterauer 1963, S. 166, 168, 206; zu Quartinaha vgl. Trad. Regensburg, Ed. Widemann 1943, Nr. 86, S. 78/791.

 

29. Verfehlt ist wohl bei der Diskussion über die eventuelle Zugehörigkeit Pannoniens zu Moravia nach 884 die Hinzuziehung des «De Administrando Imperio» (das sich ja nur auf Moravia selbst bezieht) wie auch der altenglischen Orosius-Bearbeitung (die offenbar den Stand vor 884 wiedergibt). Wenig sinnvoll ist aber auch die Verwendung der ungari schen Quellen des Hochmittelalters (einmal abgesehen von der der Frage ihrer Zuverläs sigkeit, s. Kap.4.2.4), da die Ungarn ein seit 894 wieder ostfränkisches Pannonien antra fen. Mit den genannten Argumenten arbeiten z.B. Grafenauer 1966b, S.388/389 und Sós 1973, S.48ff.!

 

30. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 884, Ed. Kurze 1891, S. 113.

 

 

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Zur Wiederherstellung des Friedens - der eigentliche Anlaß des Krieges war ja mit der völligen Niederlage der Wilhelminer an sich beseitigt - erschien Kaiser Karl III. 884 im «Ostland», um ein allgemeines Friedensgespräch («colloquium») abzuhalten; als Ortsbestimmung verwendet der Regensburger Fortsetzer der Fuldaer Annalen «prope flumen Tullinam monte Comiano», die Fuldaer Version des Meginhard hingegen «in terminis Noricorum et Sclavorum» [31]. (Vgl. Karte 16)

 

Wie H. Mitscha-Märheim und K. Lechner gezeigt haben, ist unter dem «mons Comianus» der Kumenberg/Hohenwartsberg bzw. in weiterem Sinne der nordwestliche Ausläufer des Wienerwaldes zu verstehen; «Tullina» steht natürlich für die Tulln [32].

 

Wollte Meginhard nun ausdrücken, daß hier, am Wienerwald, eine ethnische Grenze zwischen Baiern («Norici») und Slawen gelegen habe? Angesichts der erwiesenen Siedlung von Baiern und Slawen im Gebiet zwischen Enns und Wienerwald verliert diese Annahme an Wahrscheinlichkeit [33]. Sollte vielleicht eine Verwaltungsgrenze zwischen zwei ostfränkischen Amtsbezirken gemeint sein? Oder sollte Sventopulk seinen Machtbereich 884 bis zum Wienerwald vorgeschoben haben?

 

Diese Variante bleibt plausibel, obwohl Karl III. und Sventopulk solcherart ihren gemeinsamen Verbündeten Aribo in seinem Besitz geschmälert hätten. Möglich ist aber auch, daß Meginhard sich topographisch ungenau ausdrückte und daß Sventopulk 884 nur der Anteil Arnulfs an Pannonien (also bis zur Raab) vom Kaiser übertragen wurde, wofür in den nächsten Jahren ein weiteres Indiz spricht.

 

Auch macht die politische Gesamtlage diese Interpretation sehr wahrscheinlich: Kaiser Karl III. hatte allen Grund, seinen Neffen Arnulf im Wettbewerb um die Herrschaft zu fürchten und seine Machtbasis zu verkleinern. Sventopulk hingegen - der ja keine Aspirationen auf den Kaiserthron und die Herrschaft über die Franken hegte - schien mit seinen begrenzten Gebietsansprüchen das kleinere Übel für den in seiner Position gefährdeten Kaiser [34]. Zudem leistete Sventopulk Karl III. (wohl als Gegenleistung für die territorialen Zugeständnisse) das «homagium» sowie das Versprechen, zu dessen Lebzeiten nie wieder in das Reich einzufallen.

 

 

31. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 884, Ed. Kurze 1891, S. 113; Ann. Fuld. auct. Meginh. ad a. 884, Ed. Kurze 1891, S. 101.

 

32. Mitscha-Märheim 1938, S.28/29; Lechner 1952, S.98ff.

 

33. Zum Problem bair. und slaw. Siedlung im heut. Niederösterreich s. Dobiaš 1963, S. 18 ff.; Havlík 1965; Kollautz 1966, S. 245 ff.; Mitscha-Märheim 1966, S. 26 ff.; Lechner 1972, S. 330 ff.; die Beiträge im Sammelbd. Hoher 1980; Giesler 1980; Wolfram 1980 b, S. 11 ff. und 1985, S. 142 ff.; sowie die Beiträge von Kahl, Wiesingerund Hoher im Sammelbd. Die Bayern (1985) (in Auswahl).

 

34. Zur Situation Karls III. um 884 vgl. M. Lintzel, Zur Stellung der ostfränkischen Aristo kratie beim Sturze Karls III.; in: Die Entstehung des Deutschen Reiches (Darmstadt 1963), S. 153-170; s.a. Brunner 1979, S.152ff.; Bowlus 1987.

 

 

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Diese Treueidleistung hätte somit außerhalb von Sventopulks eigenem Reich stattgefunden; er wäre dem Kaiser entgegengezogen und hätte diesem damit als einem Höhergestellten eine angemessene Ehre erwiesen [35]. Schon Ludwig der Deutsche hatte ja 864 Tulln als eine Art Sammelstelle oder Etappenort auf dem Weg nach Moravia verwendet.

 

Erst ein Jahr später, also 885, schloß auch Arnulf Frieden mit Sventopulk (an unbekanntem Ort), wobei die bairischen Großen anwesend waren [36]. Der verspätete Zeitpunkt deutet darauf hin, daß Arnulf nur widerwillig und von den Umständen gezwungen dem Frieden von 884 beitrat.

 

Gegen die Annahme einer Abtretung «Unterpannoniens» an Sventopulk spricht nun durchaus nicht, daß Arnulf noch 884 als Herr Pannoniens (»...qui tune Pannoniam tenuit») genannt wird; bis 884 war er dies ja noch de iure, wenn auch schon nicht mehr de facto.

 

Ebensowenig wird diese Annahme dadurch widerlegt, daß man darauf verweist, Arnulf habe in den Jahren 888 bis 890 in einer «Mosapurc» geurkundet, müsse also noch im Besitze von «Unterpannonien» gewesen sein [37]. Vielmehr handelt es sich dabei um eine zweite «Moosburg» in Kärnten, die bei Regino von Prüm als ein in «Carantanum» gelegenes «castrum munitissimum» namens «Mosaburh» erscheint und die Arnulf selbstverständlich auch nach 884 verblieb [38].

 

Die oben erwogene Raab-Grenze wird aber noch plausibler, betrachtet man die weiteren Ereignisse. 887 hatte Arnulf seinen Onkel verdrängt und selbst die Herrschaft über das Ostfrankenreich übernommen. Um sich für die drohende Auseinandersetzung mit den Normannen den Rücken freizuhalten, suchte er im März 890 eine Unterredung mit Sventopulk, bei der er diesem den «ducatus Behemensium» überließ [39] - wohl als Preis für dessen Wohlverhalten während des Normannenfeld-zuges. Über den Ort dieser Unterredung wissen die Fuldaer Annalen: «Rex Pannoniam proficiscens generale conventum cum Zwentibaldo duce loco, quem vulgo appellatur Omuntesperch, habuit.»

 

 

35. Vgl. dazu die Überlegungen bei Classen 1968 anläßlich eines entsprechenden Verhaltens der Päpste gegenüber Karl d. Großen!

 

36. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 885, Ed. Kurze 1891, S. 114.

 

37. So Pirchegger 1912, S.308ff.; Zibermayr 1956, S.295/296; dagegen Sós 1973, S.51/52. Die einschlägigen Urkunden datieren vom 13. März 888 («urbe Mosaburc»), 19. März 888 («Mosapurhc»), 20. Jan. 889 («Mosapurg») und 21. März 890 («Mosapurc regia civitate»), s. MG DD Arnolfi, Ed. Kehr 1940, Nr. 19, 20, 43, 75, S. 30, 31, 62, 113; hinzu kommt eine gefälschte Urkunde vom 20. Nov. 890, welche «Mosapurch» als Salzburger Besitz bezeichnet, ebd. Nr. 184, S. 284.

 

38. Sie liegt ca. 15km westlich der zentralen Karnburg, vgl. Bayer. Geschichtsatlas (1969), S. 15; die wichtige Unterscheidung zur pannon. Moosburg wird oft nicht gemacht, dazu Havlík 1970b, S.30ff.; Sós 1973, S.34 Anm.44!

 

39. Reginon. Chron. ad a. 890, Ed. Kurze 1890, S. 134.

 

 

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Dazu stellt sich das 791 genannte «Omuntes-dorf», über das hinaus Karl der Große in Pannonien gegen die Awaren vordrang [40]. Der betreffende Ort ist von verschiedenen Forschern in Amandhegy («Amandsberg») in der Nähe des berühmten Klosters Martinsberg/Pannonhalma angesetzt worden [41]. (Vgl. Karte 16)

 

Der Ortsname hängt offensichtlich zusammen mit der (älteren oder erst karolingerzeitlichen?) Tradition, daß der hl. Amandus (gest. 676) bei den Slawen und Awaren missioniert habe. Pannonhalma und Amandhegy liegen etwa 15km südöstlich der Stadt Raab/Györ an einer alten Römerstraße, die auch zur Arpádenzeit noch benutzt wurde [42].

 

Die Berücksichtigung der jeweiligen politischen Lage (vor allem der Notlage Arnulfs 892) könnte darauf schließen lassen, daß sich die beiden Herrscher - anders als 884 - dieses Mal als beinahe Gleichberechtigte begegneten und sich an (oder nahe) der Grenze ihrer beiden Reiche trafen [43]. Völlig widersinnig würde der gewählte Treffpunkt anmuten, wäre Sventopulk aus Mähren gekommen; absolut naheliegend ist er, wenn Arnulf aus Regensburg, Sventopulk aber aus der Ungarischen Tiefebene heranzog, die Donau unter Benutzung römischer Brückenanlagen entweder bei Budapest oder bei Dunaszekcsö überquerte und sodann auf den entsprechenden, im Mittelalter noch brauchbaren Römerstraßen nach «Omuntesperch» gelangte.

 

Wichtig ist nicht zuletzt auch die von I. Boba hervorgehobene Angabe der Ful-daer Annalen, daß Sventopulk bei dieser Gelegenheit eine Botschaft des Papstes Stephan VI. an Arnulf überbrachte [44]. Durch seinen Gegner Wido von Spoleto, seit 889 König von Italien, und dessen Anhänger in Umbrien und der Toskana war dem Papst der direkte Landweg ins Ostfrankenreich abgeschnitten. Boba hat richtig betont, daß die Weiterleitung der Botschaft gerade durch Sventopulk nur dann logisch sei, wenn - von Rom aus gesehen - dessen Reich näher lag als die Reisestrecke Arnulfs von Regensburg nach «Omuntesperch». Sonst hätte ein Bote des Papstes über den Seeweg entweder direkt an Arnulf oder über einen dem Papst freundlich gesonnenen Fürsten des Adriaraumes (etwa in Kroatien) geschickt werden können.

 

 

40. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 890, Ed. Kurze 1891, S. 118; vgl. Ann. Iuvav. max. ad a. 791, Ed. Bresslau 1934, S.732.

 

41. Vgl. Dittrich 1962, S.26 Anm.2; Ratkoš 1968b, S.215 Anm.44; László 1975, S. 148.

 

42. Die Amandus-Legende wurde ediert von B. Krusch in MG SS rer. Merov. V (1901), S. 395-449, hier S.439/440. Zur römischen Straße s. Mócsy 1974, Fig. 59; zur arpadenzeitlichen László 1975, Abb. 2.

 

43. Eine Grenzfunktion des «Omuntesperch» vermuten auch László 1975, S. 148; Mühlberger!980, S.136.

 

44. Boba 1971, S.60; s.a. Althoff 1988, S. 15/16.

 

 

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Ein Sventopulk in Mähren wäre daher ein ungeeigneter Überbringer, ein Herrscher über das gesamte Gebiet zwischen Adria und Karpaten hingegen der einzig in Frage kommende!

 

892 hatte sich die Situation wiederum geändert. Nach dem großen Sieg über die Normannen bei Löwen 891 war die Position Arnulfs gefestigt, und er nahm gegenüber Sventopulk eine wesentlich herablassendere Haltung ein, wie der von H. Schwarzmaier edierte, auf Ende 891 zu setzende Brief des Markgrafen Aribo an Arnulf zeigt [45].

 

Entsprechend scheint er Sventopulk nunmehr (Feb./Apr. 892) zu einer Unterredung auf ostfränkischem Gebiet aufgefordert zu haben. Es wird berichtet, daß Arnulf ins «Ostland» aufbrach

 

sperans sibi Zwentibaldum ducem obvium habere; sed ille more solito ad regem venire rennuit, fidem et omnia ante promissa mentitus est. Inde rex irato animo in Hengistfeldon cum Brazlavone duce colloquium habuit, ibi interalia quaerens tempus et locum, quomodo possit terram Maravorum intrare; consultum est enim, ut tribus exerdtibus armatis regnum illum invaderet [46].

 

Die Quelle drückt sich nicht völlig klar darüber aus, ob das Treffen mit Sventopulk in Hengstfelden (ca. 25km südlich von Graz) oder an einem anderen Ort stattfinden sollte. Letzteres wäre anzunehmen, wenn das «inde» des Textes in räumlicher und/oder zeitlicher Bedeutung verwendet wurde; dann käme theoretisch jeder andere Ort im ostfränkischen «Ostland» in Frage.

 

Stände das «inde» hingegen kausal, und das erscheint doch wesentlich einleuchtender, dann wäre außer dem tatsächlich erschienenen Brazlav auch Sventopulk in Hengstfelden erwartet worden. Hier ist auf zwei vom römischen Solva (knapp südlich von Hengstfelden) über Poetovio (Pettau/Ptuj) zur Ungarischen Tiefebene verlaufende Römerstraßen zu verweisen [47], welche eine gute Verbindung zum Reichszentrum Sventopulks garantierten. Unter der Voraussetzung, daß Sventopulk 884/85 das gesamte einst von Pribina und Kocel beherrschte Gebiet (einschließlich Pettau/Ptuj) erhalten hatte, war Hengstfelden für ihn also relativ «grenznah» gelegen, zugleich auch, wie dargelegt, Brazlav eine rasche Anreise ermöglicht. Mit anderen Worten: Die Wahl gerade dieses Konferenzortes spricht wieder gegen ein Moravia in Mähren und für ein solches in der Ungarischen Tiefebene.

 

Das Nichterscheinen Sventopulks bildete den Anlaß für den im Juli 892 begonnenen Krieg, der letzten Endes auch zur Rückeroberung «Pannoniens» führte.

 

 

45. Vgl. Schwarzmaier 1972.

 

46. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 892, Ed. Kurze 1891, S. 121.

 

47. Vgl. Bogyay 1955, Abb. 1; Mócsy 1974, Fig. 59.

 

 

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896 konnte jedenfalls Arnulf dem Fürsten Brazlav «Pannoniam cum urbe paludarum tuendam» anvertrauen [48].

 

Sicherlich war es aber schon im Herbst 894 von den Söhnen Sventopulks abgetreten worden, da nach dem damals berichteten Friedensschluß [49] bis 898 keine neuen Feindseligkeiten folgten. Mit Sicherheit war Pannonien beim Einfall der Ungarn wieder in ostfränkischer Hand, wenn auch in furchtbar verwüstetem Zustand, wie der berühmte Brief der bairischen Bischöfe von 900 nur zu deutlich vor Augen führt [50]. Immerhin scheint aber die mindestens 8 Jahre (nämlich von 884 bis 892) dauernde Herrschaft der Moravljanen eine Spur hinterlassen zu haben, und zwar in mehreren, für die Ungarn als dem Volkstum der Moravljanen zugehörig erkennbaren Siedlungen, welche sie mit den charakteristischen «Marot»-Ortsnamen belegten; diese Ortschaften liegen zwischen Raab und Save, etwa entlang der ab 884 zu postulierenden Grenze zwischen Sventopulks und Arnulfs Reichen, und sind vielleicht als Grenzwächtersiedlungen anzusehen [51].

 

 

3.3.3. Karantanien und Moravia: territoriale Kontakte?

 

Wiederholt verweist I. Boba auf eine angebliche Verkettung der Geschicke Moravias mit denen Karantaniens («fréquent associations and involvements»), ja er möchte im Sinne seiner These eines süddanubischen Moravia sogar ein Aneinan-dergrenzen beider Gebiete («Carinthian-Moravian contiguity») annehmen. In einem Zirkelschluß hält er dieses Aneinandergrenzen - er vermutet es im Gebiet der oberen Drau - für einen weiteren Beweis seiner These, denn Karantanien «did not extend to the Danube» [1]. Dieser Argumentation ist entgegenzutreten.

 

Zunächst unterscheidet Boba bei der Definition des historisch-geographischen Begriffes «Karantanien» nicht deutlich genug zwischen der fränkischen Verwaltungseinheit des späten 9. Jahrhunderts, dem «regnum Carantanum» Arnulfs seit 876, und dem karantanischen Stammesherzogtum, das sich in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts von der Awarenherrschaft befreite, seit etwa 740 unter der Herrschaft der Baiern stand und mit diesen 788 unter fränkische Hoheit gelangte [2].

 

Irgendwann zu Beginn des 9. Jahrhunderts zwischen 817 und 828 wurde dieses Fürstentum Karantanien nach dem Bericht der «Conversio» unter Ablösung der einheimischen «duces» in ein Gebiet fränkischer Grafschaftsverfassung umgewandelt [3].

 

 

48. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 896, Ed. Kurze 1891, S. 129.

 

49. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 894, Ed. Kurze 1891, S. 125.

 

50. Ed. MMFH 3 (1969), S.241/242.

 

51. Vgl. die Karte 11.

 

1. Boba 1971, S. 8/9 und ausführlicher 1982.

 

2. Zur Terminologie Dopsch 1976, S. 23.

 

 

261

 

Territorial umfaßte das Stammesherzogtum die Täler der oberen Save, Drau, Mur und Enns; die Grenze nach Osten ist kaum bestimmbar, vielleicht entsprach sie der alten norisch-pannonischen Provinzialgrenze, vielleicht verlief sie auch weiter westlich am Alpenrand [4].

 

Von 817/28 bis 860 verwalteten fränkische Grafen das Land; der Teil südlich der Drau war als eigener Bezirk «Carniola» (Krain) von 811 bis 828 der Markgrafschaf t Friaul zugeschlagen, dann fiel er, wie Karantanien von Anbeginn, unter die Zuständigkeit des Ostlandpräfekten bis zur Auflösung dieses Amtes 876 [5].

 

Der erste von Boba konstruierte «Beweis» für ein Aneinandergrenzen Karantaniens und Moravias fällt noch in diese Zeit. Er hält, wie schon gezeigt wurde, einer Überprüfung nicht stand: Die Unterstützung Rastislavs für den Prinzen Karlmann, seit 856 Ostlandpräfekt und 861 im Aufstand gegen seinen Vater Ludwig den Deutschen, erfolgte mit größter Sicherheit in Form eines Vorstoßes der Moravljanen gegen Pribina am Plattensee. Die weiteren Überlegungen Bobas sind damit hinfällig.

 

Auch die Tatsache, daß Karlmann 869 den Feldzug gegen Sventopulk führte, hat in dieser Hinsicht keine Beweiskraft [6]. Zwar verwaltete er Karantanien nach dem Sturz des Grafen Gundakar wohl direkt; doch war er ja seit 864/65, nach einer kurzen Unterbrechung, während derer Gundakar dieses Amt ausübte, wiederum der Präfekt des gesamten «Ostlandes» [7] und führte das Heer gegen Sventopulk als höchstrangiger Funktionsträger im Südosten kraft dieses Amtes. Damit erklärt sich ebenso die von Boba hervorgehobene Auslieferung Rastislavs gerade an Karlmann [8].

 

Schließlich ist die Auseinandersetzung zwischen Karlmann und Sventopulk, die 873 in der «marcha contra Winidos» stattfand [9], ebensowenig im Sinne Bobas zu verwerten.

 

Zwar ist diese «marcha», wie gezeigt, mit ziemlicher Sicherheit südlich Karantaniens anzusetzen und nicht im «Unterpannonien» Kocels, das ja auch sonst nie als «marcha» bezeichnet wird.

 

 

3. Conversio 10, Ed. Wolfram 1979, S. 50/51.

 

4. Zur Frage der Ausdehnung Karantaniens vgl. Pirchegger 1912; Mal 1939; Grafenauer 1952, S.467ff.; Braumüller 1958; Moro 1963; Grafenauer 1966b, S.381 ff.; Baltl 1970 und 1974; Appell 1976, S.6/7; Dopsch 1976, S.27; Wolfram 1979, S.77ff. und 1985, S. 137ff.; Bertels 1987.

 

5. Hellmann 1954, S.394/395; Klebel 1960, S.667/668; Grafenauer 1966b, S.382; Knific 1976, S.114; Wolfram 1979, S.80/81.

 

6. Anders Boba 1971, S. 46 ff.

 

7. Mitterauer 1963, S. 168.

 

8. Ann. Fuld. ad a. 870, Ed. Kurze 1891, S. 70.

 

9. Ann. Bertin, ad a. 873, Ed. Waitz 1883, S. 124; dazu Boba 1971, S. 51 ff.

 

 

262

 

Doch war diese Region Schauplatz des Kampfes deswegen, weil östlich angrenzend das bosnisch-slawonische «Regnum» Sventopulks lag - und nicht etwa das eigentliche Moravia! Erst mit dem Ende Kocels und der Übernahme seines Dukats durch Arnulf 876 beginnt der Begriff «Karantanien» zu verschwimmen und nunmehr auch Territorien zu erfassen, die an das eigentliche «Kernland» östlich anschließen, darunter wohl auch die Grafschaft um Steinamanger [10]. (Vgl. Karte 14)

 

Somit grenzte das «regnum Carantanum» nunmehr wirklich an «Moravia», wobei auch dieser Begriff ja durch Sventopulks Großreichbildung eine Ausweitung erfahren hatte.

 

Diesen Zustand, wobei beide Länder durch die Donau voneinander getrennt sind, hatte der Verfasser des geographischen Einschubes im altenglischen «Orosi-us» vor Augen, als er meinte, daß «südlich» der «Maroara» «on othre healfe Donua thaere ie is thaet land Carendre... [11]». Das zwischen den beiden namengebenden Kerngebieten liegende Pannonien war in diesem Fall von «Karantanien» absorbiert, und dieser Zustand dauerte an, bis es 884 an Sventopulk fiel [12].

 

Mit einer solchen begrifflichen «Aufsaugung» der zwischengelagerten Gebiete erst durch Karantanien, dann durch Moravia ist auch die Wortwahl Reginos von Prüm bei der Beschreibung der ungarischen Invasion zu begründen: Nach einer zunächst friedlichen Phase hätten die Ungarn «Carantanorum, Marahensium ac Vulgarum fines» überfallen [13]. Hier ist in chronologisch verkehrter, räumlich aber konsequent von West nach Ost schreitender Aufzählung begrifflich genauestens der Aktionsradius der Ungarn in den Jahren von 892 (erster Zug gegen Moravia) über 895 (Krieg gegen die Bulgaren) bis 901 (erster Überfall auf Karantanien) getroffen.

 

Im Zusammenhang mit dem letztgenannten Ereignis ist Boba eine weitere Fehlinterpretation unterlaufen. Die Fortsetzung der Fuldaer Annalen berichtet von ostfränkisch-moravischen Friedensverhandlungen in Regensburg 901, nach deren Abschluß

 

Richarius episcopus et Udalricus cornes Marahava missi sunt, qui eodem tenore, ut in Baiowaria firmatum fuit, ipsum ducem et omnes primates eins eandem pacem se servaturos iuramento constrinxerunt. Interdum vero Ungari australem partem regni illorum Carantanum devastando invaserunt [14].

 

 

10. Dazu Jaksch 1928, S. 106; Klebel 1960, S.676; Moro 1963, S.90ff.; Huber 1972, S.84ff.; Koller 1974, S.14ff. und 1977, S.158ff; Appell 1976, S.8; zur Rolle Karantaniens unter Karlmann und Arnulf s.a. Dopsch 1976, S.25/26; Mühlberger 1980, S. 148ff.

 

11. Altengl. Orosius U, Ed. Bately 1980, S. 13.

 

12. Der Zustand der Zeit vor 884 gilt dann wieder für die Erwähnungen des Markgrafen Liutpold von Karantanien im Zusammenhang mit seinen Kämpfen gegen Moimir II. von Moravia ab 898.

 

13. Reginon. Chron. ad a. 889, Ed. Kurze 1890, S. 132.

 

 

263

 

Boba schließt, wobei er «illorum» auf den «dux» Moravias und seine «primates» bezieht: «Carinthia was invaded by the same Hungarians across Moravian territory [15].» Diese Interpretation ist aber selbst dann nicht zwingend, wenn man nach «illorum» ein «et» ergänzt [16].

 

Da eine Zugehörigkeit Karantaniens zu Moravia wohl von niemandem ernstlich behauptet werden kann, ist die einfachste Auflösung dieser Stelle damit erreicht, daß man «illorum» auf die Ostfranken (bzw. die Baiern) bezieht; tatsächlich lag ja Karantanien im Süden des Ostfrankenreiches.

 

(Eine zweite, wenn auch weniger wahrscheinliche Deutung bestände darin, in «Carantanum» - bei ausgefallenem «-or-» - einen Genitiv Plural zu sehen und den ungarischen Überfall auf den Südteil Karantaniens stattfinden zu lassen [17].)

 

Es bleibt also festzuhalten, daß zwar ostfränkische Amtsträger in Karantanien des öfteren in Auseinandersetzungen mit Moravia verwickelt waren, daß diese Involvierungen aber in allen Fällen anders erklärbar sind als mit einer direkten Nachbarschaft der beiden Territorien, abgesehen von der kurzen Phase moravischer Herrschaft in Pannonien 884 bis 892/94.

 

 

3.3.4. Die Beziehungen der karolingischen «Ostmark» zu Moravia

 

Dagegen griff Sventopulk im Gebiet der «Ostmark» auf besonders spektakuläre Weise in die inneren Angelegenheiten des ostfränkischen Reiches ein, und zwar im Zuge der sog. «Wilhelminerfehde».

 

Die Wilhelminer, deren Ursprünge O. Mitis und M. Mitterauer verfolgt haben, stellten den ersten sicher bezeugten Amtsträger im Südosten mit Wilhelm I., ca. 820-853 Graf im Traungau. Auch Graf Rihheri, ca. 837-860 als Inhaber der Grafschaft um Steinamanger/Szombathely belegt, wird mit der Wilhelminersippe in Verbindung gebracht [1]. Wilhelm II. und Engelschalk, die Söhne Wilhelms 1, erhielten zum Traungau noch die Grafschaft zwischen Enns und Wienerwald hinzu (865); sie ersetzten hier den des Verrates angeklagten Grafen Werner. Um 865 rechnet Mitterauer auch mit der Übernahme der «oberpannonischen» Grafschaft, die bis dahin vom jeweiligen Ostlandpräfekten verwaltet worden war, durch Engelschalk.

 

 

14. Ann. Fuld. Cont. Altah. ad a. 901, Ed. Kurze 1891, S. 135.

 

15. Boba 1971, S. 75/76.

 

16. Die Ungarn könnten ja 901 den Südteil Moravias («australem partem regni illorum») und gleichzeitig auch Karantanien angegriffen haben!

 

17. In der ungarischen Chronik des Simon de Kéza (Ed. Domanovszky 1937, S. 167), die hier wohl auf obengenannten Annalen basiert, wird der Sachverhalt offenbar so aufgefaßt.

 

1. Mitis 1950, S.543ff.; Mitterauer 1963, S. 104ff.; Störmer 1973, S.219, 227/228.

 

 

264

 

Damit reichte der Amtsbereich der Wilhelminer ostwärts bis zur Raab, sie waren zu diesem Zeitpunkt das mächtigste Adelsgeschlecht östlich Baierns [2].

 

Aus dieser Position heraus (und nicht etwa aus einer angeblichen Nachbarschaft ihres Gebietes zum <Großmährischen Reich>) erklärt es sich, daß den Wilhelminern 870 die Verwaltung des eroberten Moravia anvertraut wurde. Doch schon im nächsten Jahr brach die Stellung der Familie jäh zusammen, als Wilhelm und Engelschalk bei der von Sventopulk verursachten Katastrophe des bairischen Heeres in Moravia umkamen und nur minderjährige Nachkommen hinterließen. Die gesamte «Markgrafschaft» an der Donau zwischen Traungau und «Oberpannonien» wurde daher dem Grafen Aribo übertragen [3].

 

Erst 882 - vielleicht mit Erreichen der Volljährigkeit, vielleicht aber auch angesichts der gerade günstigen politischen Situation [4] - forderten die Söhne Wilhelms II. und Engelschalks (es sind ihrer sechs bekannt) die väterlichen Ämter im Donauraum von Aribo zurück. Die betreffende Region bezeichnet der Regensburger Fortsetzer der Fuldaer Annalen in diesem Zusammenhang als «terminus regni Baiowariorum in oriente contra Maravanos», worin man die erste Erwähnung einer Grenze zwischen Baiern (im weiteren Sinne) und Moravia zu sehen hat. Aribo sah seine Stellung wegen des Überlaufens zahlreicher Großer der «Ostmark» zu den Wilhelminern bedroht und wandte sich an Kaiser Karl III., der ihn zwar in seinem Besitz bestätigte, aber keinerlei militärische Hilfe leistete. Diese erhielt Aribo, aus den umstrittenen Gebieten vertrieben, erst von Sventopulk, den er nunmehr um Beistand anging; jener hatte, wie der Annalist vermerkt, Ressentiments gegen die Wilhelminer, «non immemor,... quanta ab antecessoribus istorum puerorum cum gente sua, usque dum ad illos terminum Baiowariorum praetenderunt, passus sit mala... [5]»

 

Diese Worte möchte C. Bowlus dahingehend zu interpretieren, daß es eine bereits lange Zeit währende Konfrontation zwischen Sventopulk-(und dessen Vorgängern) einerseits, den Wilhelminern andererseits gegeben habe - und zwar nicht, wie die Forschung gemeinhin annimmt, im niederösterreichisch-mährischen Grenzgebiet, sondern in Karantanien und an der Save, womit Bobas Theorie eine Stütze finden würde [6].

 

 

2. So Mitterauer 1963, S.125ff., 164,168; Bowlus 1973, S.764ff.

 

3. Zur Abstammung Aribos s. Mitterauer 1963, S.188ff. und Diepolder 1964 mit teilweise divergierenden Ergebnissen; s.a. Stornier 1973, S.228; Mühlberger 1980, S. 129/130; Prinz 1981, S. 369; Csendes 1991, S. 96/97.

 

4. In Baiern herrschten nach Karlmanns Tod 880 unklare Verhältnisse, im Ostfrankenreich seit 882 der schwache Karl «der Dicke».

 

5. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 884, Ed. Kurze 1891, S.110.

 

6. Bowlus 1973, S.768ff., 1985, S.4ff.

 

 

265

 

Die von Bowlus vorgebrachten Argumente können überzeugen aber nicht völlig. Zwar hatten die Wilhelminer Güterbesitz auch in Karantanien [7], und der dort ca. 839-860 bezeugte Graf Pabo gehörte wohl zur weiteren Verwandtschaft. Doch die von Bowlus und Boba behauptete Konfrontation zwischen Pabo und Rastislav beruht auf einer verfehlten Konstruktion; zudem war ja Pabo in diesem Falle der Geschädigte [8]!

 

Als «antecessor» der 882 gegen Sventopulk stehenden Wilhelminer kann er zudem ebensowenig gelten wie der von Bowlus ebenfalls für die Sippe reklamierte Graf Salacho [9]. Die «quanta mala», deren sich Sventopulk erinnerte, sind also nicht mit diesen beiden Personen in Verbindung zu bringen, sondern wohl eher mit der Besetzung Moravias wie auch des «Regnums» von Sventopulk in den Jahren 869 bis 871, bei der die Wilhelminer eine Hauptrolle spielten. Vielleicht hatten sie auch die Hand im Spiel, als Sventopulk für kurze Zeit - und offenbar ohne berechtigte Gründe - bei Karlmann in Ungnade fiel, ja sogar eingekerkert wurde; waren sie doch die Nutznießer dieser Affäre [10].

 

Berechtigt ist jedoch der Hinweis von Bowlus, daß die Annahme einer bereits länger andauernden Reibung zwischen den Wilhelminern und den Moravljanen ausschließlich auf der A-priori-Lokalisierung Moravias im Marchtal beruht. Die Schilderung der Wilhelminerfehde in den Fuldaer Annalen, die einen der wenigen konkreten Anhaltspunkte zur Lage Moravias liefert, läßt aber erkennen, daß die Reibungsflächen nicht in Niederösterreich lagen, sondern weiter donau-abwärts. [11]

 

Als nämlich Aribo hatte fliehen müssen, verständigte sich Sventopulk mit Karl III. und griff dann auf der Seite Aribos, der seinen Sohn Isanrich als Geisel stellte, ein. Seine Männer verstümmelten Werner, einen der Söhne Engelschalks, «de sep-tentrionali parte Histri apprehenso», sowie den Grafen Wezzilo und deren Gefolge. Diese erste Auseinandersetzung spielte sich also nördlich der Donau ab, was Bobas These (da keine vorhergehende Überquerung der Donau erwähnt wird) widerspricht. Letztlich nicht sicher zu beantworten ist es,

 

 

7. Diese Güter wurden im 10. Jahrhundert Grundlage eines neuerlichen Aufstieges der sog. «jüngeren Wilhelminer», vgl. Mitterauer 1960, S.709, 711, 1963, S.lSlff.; Mühlberger 1980, S. 145.

 

8. Er mußte nach Salzburg fliehen (vor Karlmann, nicht vor Rastislav!), wie das Auctarium Garstense berichtet (Ed. Wattenbach 1851, S. 565).

 

9. Zur genealogischen Stellung Pabos und Salachos vgl. Mitterauer 1963, S. 109,139; Bowlus 1985, S.8;Schmid 1988.

 

10. Ann. Fuld. ad a. 871, Ed. Kurze 1891, S.72/73; die hier vertretene Meinung findet sich auch bei Bowlus 1987 b, S. 13/14!

 

11. Ann. Fuld. Cont. Ratisb. ad a. 884, Ed. Kurze 1891, S. 110ff.

 

 

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ob die Verwendung des Begriffes «Hister» durch den Annalisten eine Zuordnung des Geschehens in den Bereich der unteren Donau jenseits der Einmündung der Dräu oder der Save erlaubt, wie Boba und Bowlus annehmen [12].

 

Erst nach dem Überfall auf Werner schickte Sventopulk seine Leute über die Donau («ultra Danubium»), die dort - also auf dem rechten Donauufer - «proprietas vel substantia» der Wilhelminer zerstörten. Darauf wandten sich diese an Arnulf, der damals über Karantanien und «Unterpannonien» gebot, um Hilfe und wurden als Gegenleistung seine «homines». Das wiederum forderte die Vergeltung Sventopulks heraus, der Arnulf nicht nur diese Verbindung zum Vorwurf machte, sondern auch eine angebliche Verschwörung mit den Bulgaren.

 

883 fiel er mit einem gewaltigen Heer «ex omni parte Sclavorum» in Pannonien ein; dieser Vorgang wiederholte sich 884, als Sventopulks Heer zwölf Tage lang in «Pannonia» bzw. dem «regnum Arnolfi» Plünderungen und Verwüstungen verübte. Dazu präzisiert der Regensburger Annalist später, daß «Pannonia de Hraba flumine ad orientem tota deleta» war, nachdem die Kämpfe drei Jahre angedauert hatten. (Vgl. zum Folgenden Karte 17)

 

Diese Angabe müßte die Befürworter eines «mährischen Moravia» überraschen: Wieso verwüstete Sventopulk gerade das gesamte Pannonien östlich der Raab [13], also auch das Plattenseegebiet, anstatt die Mähren soviel näher liegenden Territorien westlich der Raab heimzusuchen, über die seine Feinde, die Wilhelminer, ja damals verfügten? Die Antwort kann nur lauten, daß Sventopulks Heere nicht von Norden, also aus Mähren, in Pannonien einfielen, sondern von Osten und Süden, aus der Ungarischen Tiefebene und Bosnien-Slawonien. Bobas Behauptung, daß im Zuge dieser Operationen keine Donauüberquerung erwähnt sei, daher Sventopulks gesamte Basis (Bosnien und Moravia) südlich der Donau gelegen haben müsse, ist schlichtweg falsch. Tatsächlich erscheinen im Text Hinweise auf solche Flußübergänge («ultra Danubium», «supra Danubium») [14], doch interpretiert Boba sie - wie auch schon bei anderer Gelegenheit - als intransitive Formen, welche als Richtungsangaben zu verstehen seien; und zwar, vom Schreiber der Annalen in Regensburg aus gesehen,

 

 

12. Boba 1971, S.51,65; Bowlus 1973, S.761, 774; und - schon zurückhaltender - 1987 b, S. 15; zur Verwendung von «Ister» im Altertum s.C. Brandis, Danuvius; in: RE, 1V/2 (1.901), Sp.2103-2133.

 

13. So ist die Stelle mit Schünemann 1923, S. 16 und Bowlus 1986, S. 85/86 zu übersetzen; Dümmler 1887/88,2, S.225 interpretiert «oriens» z.B. als «Ostmark»; s. zu dieser Passa ge auch Plank 1946, S.52; Huber 1972, S.35; Mühlberger 1980, S.67; Wolfram 1980b, S.24;Bóna 1985b, S.157.

 

14. Zu mittellat. «trans», «ultra», «super» s. Lošek 1982, S. 144/145; R. Kühner, C. Stegmann, Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache, Satzlehre 1. Teil (Darmstadt 1962) 109, S. 572 ff.

 

 

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«links der Donau», was zweifellos als Fehlübersetzung abzulehnen ist.

 

Sieht man hingegen Sventopulks Ausgangsbasis in der Ungarischen Tiefebene, so wird auch der Ablauf der Schlacht, die er mit den Wilhelminern Megingoz und Pabo ausfocht, einsichtiger. Diese beiden sammelten, nachdem bereits Teile von Sventopulks Heer über die Donau gezogen waren («missa quadam exercitus sui parte supra Danubium»), einige Angehörige des Aufgebotes ihrer «oberpannoni-schen» Grafschaft («quibusdam Pannoniorum secum assumptis») und überfielen die restlichen Krieger Sventopulks. Da sie aber unvorsichtig vorgingen, verloren Megingoz und Pabo die Schlacht und ertranken auf der Flucht in der Raab.

 

Daraus ergibt sich, daß die Kämpfe südlich der Donau stattfanden; aus den vorhergehenden Auslassungen des Annalisten über die Verwüstungen Sventopulks «de Hraba flumine ad orientem», aber auch aus der Lage der «oberpannonischen» Grafschaft der Wilhelminer läßt sich schließen, daß man östlich der Raab gekämpft hatte. Die strategische Gesamtsituation läßt den Schluß zu, daß die Heeresbewegungen am ungarischen Südufer der Donau entlang einer West-Ost-Achse stattfanden (vielleicht entlang der Römerstraße Carnuntum/Petronell-Arrabona/Györ-Aquincum/Budapest) [15]: Zuerst ging Sventopulk in westlicher Richtung in das Gebiet seiner Feinde bis zur Raab vor; eine entsprechende Bewegung aus mährisch-slowakischem Gebiet über die Donau wäre wegen der Gefahr eines Flankenangriffes von Westen wie auch eines fränkischen Entlastungsangriffes ins Marchtal völlig unsinnig gewesen!

 

Der Gegenstoß der Wilhelminer zielte aus dem Raum zwischen Wienerwald und Raab auf die Ungarische Tiefebene; eine solche Bewegung wäre wegen der Gefahr eines Flankenangriffes von Norden wiederum militärisch unvertretbar gewesen, wenn das gegnerische Zentrum in Mähren gelegen hätte [16].

 

Die Friedensschlüsse Sventopulks mit Karl III. (884) und Arnulf (885) brachten ihm, wie dargelegt wurde, den Besitz Pannoniens. Die Forschung geht davon aus, daß damals auch Graf Aribo die Leitung der karolingischen «Ostmark» wieder in vollem Umfange übernahm; darauf deutet jedenfalls die Titulatur Aribos in zwei Urkunden der Jahre 888 und 892 hin [17]. Anläßlich des Treffens von 884 ist zum zweiten Mal die Rede von einer Grenze zwischen Baiern und Slawen («in terminis Noricorum et Sclavorum»)18. Es ist nicht völlig sicher auszumachen, ob diese Grenze am Wienerwald oder aber an der Raab verlief.

 

 

15. Dazu Mócsy 1974, Karte; auch im Mittelalter noch benutzt, s. Bogyay 1955, Karte 1 S.355.

 

16. Die hier gezogenen Folgerungen ähnlich bei Bowlus 1987, S. 561 ff.

 

17. MG DD Arnolfi, Ed. Kehr 1940, Nr.32, 44, 98, S.48, 63, 143: Aribo als «terminalis comes» bzw. «in comitatu Arbonis».

 

18. Ann. Fuld. auct. Meginhardo ad a. 884, Ed. Kurze 1891, S. 101.

 

 

268

 

Ein Teil der Forschung vermutet, daß die «oberpannonische» Grafschaft zwischen Wienerwald und Raab - die demnach zunächst Aribo verblieben wäre - nach Arnulfs «Staatsstreich» von 887 an den Wilhelminer Engelschalk gefallen sei; 893 nennt ihn eine Quelle «marchensis in oriente», was man auf «Oberpannonien» beziehen möchte [19].

 

Andererseits erhielt ein weiterer Wilhelminer, Ruodpert, 887 die Leitung des bisher von Arnulf selbst verwalteten Karantanien, was als Kompensation für den Verlust der Donaugrafschaften wie auch als Lohn für treue Gefolgschaft interpretiert werden kann. Da die Wilhelminer hier, wie gesagt, über größere Güter verfügten, wäre es genauso denkbar, daß Engelschalk eine Markgrafschaft in Karantanien innehatte, daß der Ausdruck «oriens» also statt «Ostmark» ganz allgemein «Osten» bedeutet.

 

893 erfolgte die zweite Katastrophe der Wilhelminer. Zunächst wurde Engelschalk von einer Gruppe bairischer Adliger verurteilt und geblendet, sodann sein Vetter Wilhelm, als er die Hilfe Sventopulks suchte, wegen Hochverrates hingerichtet. Den letzten, zu ihm geflohenen Wilhelminer dieser Generation, Ruodpert, ließ Sventopulk ermorden [20].

 

Da dieser Ruodpert in Karantanien von dem neuen Markgrafen Liutpold beerbt wurde [21], nimmt man im Analogieschluß an, daß er auch auf Engelschalk in «Oberpannonien» folgte. Doch ist die gesamte Konstruktion nicht schlüssig: Der von K. Reindel beigebrachte Hinweis, daß sich Liutpold 898/99 an den Kämpfen gegen die Moravljanen beteiligte, wäre ja nur dann ein Beleg für dessen Übernahme «Ober-pannoniens», wenn man die Ansetzung Moravias in Mähren akzeptiert! Gegen ein Moravia in der Ungarischen Tiefebene konnte dagegen ebensogut ein nur in Karantanien amtierender Liutpold vorgehen. Es besteht also kein zwingender Grund, Aribos «Ostmark» nach 887 durch eine wilhelminische Grafschaft in «Oberpannonien» im Osten beschnitten zu sehen.

 

Gegen diese Annahme, jedoch für ein Näherrücken der Moravljanen an die Markgrafschaft Aribos nach 884 spricht dagegen eine Verfügung König Arnulfs vom Frühsommer 888; er verleiht darin seinem Mundschenk Heimo Grund «in pago Grunzwiti..., ubi Arbo terminalis cornes praeesse visus est.»

 

 

19. So Reindel 1954, S. 207 bzw. 1965, S. 239; Mitterauer 1963, S. 167, 189; Diepolder 1964, S. 111; Holter 1970, S.200; Huber 1972, S. 93; Mühlberger 1980, S. 141/142 nach den Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 893, Ed. Kurze 1891, S. 122.

 

20. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 893, Ed. Kurze 1891, S. 122; Ann. Alamannici ad a. 893, Ed. Pertz 1826, S. 53.

 

21. So schließt man aus der Nennung Liutpolds als Graf «von» (oder «in» ?) Karantanien in einer Urkunde vom 29. Sept. 895 (MG DD Arnolfi, Ed. Kehr 1940, Nr. 138, S.209); dazu Mitterauer 1963, S. 167; Stornier 1973, S.228; Mühlberger 1980, S. 144ff.

 

 

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Mit dieser Verleihung verbunden war jedoch die Verpflichtung zum Bau einer Befestigung «contra inimicorum insidias» im westlich des Flusses Traisen gelegenen Grunzwitigau [22].

 

Diese Formulierung führt man meist auf eine Bedrohung durch die Ungarn zurück, mit denen ein erster Zusammenstoß (bei Wien) 881 vermeldet ist. Doch war um 888 Sventopulk - trotz aller Friedensschlüsse - sicher noch die größere Bedrohung für das Ostfrankenreich, während gegen die Ungarn erst seit 900/01 Burgen errichtet wurden.

 

Auch geht aus dem Kontext hervor, daß die neu zu erbauende Burg als eine Art «Grenzstation» gegen die Moravljanen betrachtet wurde: Der Abfasser der Urkunde rechnete mit der Möglichkeit, daß hier bei Heimo Rechtsuchende «de Maravor-um regno» erscheinen könnten. Die Festung Heimos sollte aber südlich der Donau errichtet werden! Diese Sachlage läßt prinzipiell zwei Deutungen zu.

 

Die bisherige Forschung ging unter der Annahme, daß das Zentrum Moravias im Marchtal zu suchen sei, davon aus, daß <Großmähren> damals nahe an das Donauufer herangerückt sei, ja daß die Donau im heutigen Niederösterreich die Grenze zum Ostfrankenreich gebildet habe [23].

 

Dem widersprechen jedoch zahlreiche Schenkungen am nördlichen Donauufer, auch östlich von Krems bis in die Gegend von Wien: eine Schenkung Ludwigs des Frommen von 823 an Passau beim Ort Stockerau; die Schenkung des «locus Wachowa» (Wachau) im Jahre 830 und von «Smidaha» (Absdorf an der Schmida) im Jahre 864 durch Ludwig den Deutschen, beide an Niederaltaich; die Schenkung eines slawischen Edlen an Freising bei Stiefern am Kamp um die Mitte des 9. Jahrhunderts; Güter der Wilhelminer bei Mautern (oder Ybbs?) und bei Grafenwörth an der Kampmündung, 893 an Kremsmünster übertragen;

 

 

22. MG DD Arnolfi, Ed. Kehr 1940, Nr. 32, S. 47/48; Zum Grunzwiti-Gau s. Helleiner 1929, S. 123; Zibermayr 1956, S. 253/254; K. Lechner, Der «pagus Grunzwiti» und seine Besitz verhältnisse; in: JbLkNÖ, N.F.34 (1958/60), S.301-324; Deér 1965, S.746/747; Havlík 1970 b, S. 27.

 

23. So argumentiert wegen der Urkunde Arnulfs von 888 Havlík 1965, S. 193; s. a. Riedl 1951, S. 41, 44; Odložilik 1954, S. 78, Stana 1985, S. 178; wesentlich vorsichtiger in dieser Frage sind Friesinger 1977, S. 110 und Wolfram 1979, S. 11 bzw. 1989. Doch ist gegenüber Wolf ram 1987, S. 303 zu betonen, daß Heimo keineswegs «Prozesse aus dem Mährerreich» behandeln sollte; der Text der Urkunde lautet wörtlich:

 

«Ad publicum iam fati comitis mallum scilicet idem Heimo seu vicarius eius legem ac iustitiam exigendam vel perpetrandam pergat. Et is forsan de Marauorum regno aliquis causa iustitiae supervenerit, si taie quidlibet est quod ipse Heimo vel advocatus eius corrigere nequiverit, iudicio eiusdem comitis potenter finiatur.»

 

 

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sowie eine gleichfalls an Kremsmünster gehende Schenkung von 877 zwischen Schmida und Wagram (Hausleiten) [24].

 

Es hätte schon längst auffallen müssen, daß in allen diesen Urkunden, die sich auf das nördliche Donauufer beziehen, von Moravia oder den Moravljanen keine Rede ist. (Wohl aber kennen die Quellen nicht näher spezifizierte «Sclavi» als Einwohner der karolingischen «Ostmark»!) Es ist vielmehr bezeichnend, daß die Moravljanen 888 in einem süddanubischen Kontext in Niederösterreich erscheinen (wie ja auch die beiden Treffen Sventopulks mit fränkischen Herrschern südlich der Donau stattfanden) und ebenso charakteristisch, daß dies erst nach 884 geschieht; schließlich ist es auch bemerkenswert, daß man erst jetzt bei den Ostfranken an die Errichtung besonderer Befestigungen in Niederösterreich dachte [25].

 

Mit dieser Überlegung wird wahrscheinlicher, daß die Grenze gegen Sventopulk 888 nicht an der Raab, sondern doch eher am Wienerwald verlief; Mitterauer etwa rechnet damit, daß die «oberpannonische» Grafschaft erst 892 zurückerobert wurde [26].

 

In den Jahren von 885 bis 892 herrschte zwischen Sventopulk und Arnulf Frieden. In dieser Zeit diente Markgraf Aribo als «Mittelsmann» zwischen beiden Herrschern. Diese seine Rolle - die wohl auf seine guten Beziehungen zu Sventopulk zurückzuführen ist, nicht darauf, daß seine Mark angeblich als einzige an Moravia grenzte! - geht hervor aus einem bemerkenswerten Schriftstück, das der Herausgeber auf 891 datiert [27], einem Originalbrief Aribos an König Arnulf. Darin schreibt der «humilis comes»: «Innot (escimus au) ribus vestris, quod missi nostri de origentalibus partibus venerunt» [28]; diese überbrachten die Nachricht, daß die «Marahoni» zur Tributund Dienstleistung [29] gegenüber dem ostfränkischen Reich bereit seien. Von Wichtigkeit für die Lage Moravias ist nun der Ausdruck «de origentalibus partis», «von Osten»; von der Markgrafschaft Aribos aus gesehen ließe sich diese Richtungsangabe keinesfalls für Mähren rechtfertigen. Dagegen weist die Wortwahl Aribos noch deutlicher auf die Ungarische Tiefebene (bzw. das vorgelagerte Westungarn),

 

 

24. ÜB Oberösterreich, 2 (1856), Nr. 5, S. 8/9; MG DD Ludowici Germanici, Ed. Kehr 1934, Nr. 2, S. 2/3; MG DD Ludowici Germanici, Ed. Kehr 1934, Nr. 116, S. 164/165; Trad. Freising, Ed. Bitterauf 1905, Nr. 1037, S. 781/782; MG DD Arnolfi, Ed. Kehr 1940, Nr. 120, S. 175-177; MG DD Karlomanni, Ed. Kehr 1934, Nr.3, S.287-289; zu den dort erscheinenden Ortsnamen vgl. Lechner 1938!

 

25. Zu weiteren Wehrbauten an der niederösterreichischen Donau Lechner 1971, S. 336 ff.

 

26. Mitterauer 1963, S. 166/167.

 

27. Schwarzmaier 1972, S. 62/63.

 

28. Schwarzmaier 1972, S. 57.

 

29. So übersetzt Ratkoš 1982, S. 12/13 den Begriff «servitium»; s.a. Althoff 1988, S. 16/17.

 

 

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wenn man die wegen der solarbestimmten Orientierung um 45° im Uhrzeigersinn verschobene mittelalterliche Windrose berücksichtigt.

 

Bezüglich der Grenzfunktion der «Ostmark» gegen Moravia bleibt festzuhalten, daß eine solche erstmals 884 erwähnt wird, wohl unter Bezugnahme auf bereits 882 bestehende Zustände [30]. Das kann nicht weiter überraschen, da erst kurz zuvor (zwischen 874 und 880) die Region um Nitra von Sventopulk erobert worden war, der damit an die bis zur Raab reichende «Ostmark» näher heranrückte, während bisher nördlich der Donau eine heidnische «gens», südlich der Donau «Pannonien» zwischen Aribos Mark und Moravia gelegen hatte. Südlich der Donau ändert sich dieser Zustand 884 mit dem Erwerb Pannoniens durch Sventopulk, welcher für die Gegend am Wienerwald nahe Tulln prompt die Ortsangabe «in terminis Noricorum et Sclavorum» nach sich zog [31]. Es ist wohl naheliegend, diese Grenzfestlegung nicht als eine volkstumsmäßige, sondern als eine «staatsrechtliche» zu betrachten und die «Sclavi» der Annalen hier als eine Bezeichnung für die Untertanen Sventopulks zu interpretieren. Während man so südlich der Donau eine explizite Äußerung über den Grenzverlauf hat, versucht ein Teil der Forschung die Fortführung dieser Grenze nördlich der Donau gegen Böhmen hin - wie sie ja nach der «orthodoxen» Theorie vom Anbeginn <Großmährens> hätte existieren müssen - implizit aus besitzgeschichtlichen Erwägungen sowie Rückschlüssen aus dem 10./11.Jahrhundert abzuleiten, ohne überzeugend zu sein.

 

Im Falle der besitzgeschichtlichen Argumentation ist es doch nicht weiter überraschend, daß sich die in den fränkischen Schenkungen und Traditionen der Karolingerzeit genannten Orte nördlich der Donau allesamt direkt an oder doch nahe diesem Strom befinden und nicht im Hinterland [32]. Denn allein die flußnahen Ebenen waren bereits seit der Römerzeit erschlossenes Ackerland («terra arabilis»), während sich nördlich davon bis etwa zur Kampmündung ein dichter Urwald hinzog, der «Nordwald», später auch «silva Boemica» genannt [33]. Am Kamp findet sich dann als einzige Ausnahme eine etwas weiter (ca. 15 km) von der Donau entfernte Schenkung, und nur zwischen Kamp und Stockerau könnte man weitere derartige Schenkungen oder Besitznennungen erwarten [34], ohne jedoch aus deren Fehlen den Beweis <großmährischer> Herrschaft seit Anfang des 9. Jahrhunderts erschließen zu dürfen.

 

 

30. Ann. Fuld. cont. Ratisbon. ad a. 884, Ed. Kurze 1891, S. 110.

 

31. Ann. Fuld. ad a. 884, Ed. Kurze 1891, S. 101; zur dort genannten Grenze Baiern/Slawen vgl. Lechner 1952, S.97ff.; Havlík 1965, S. 193 mit Anm.114; Váczy 1972, S. 411/412.

 

32. Vgl. Riedl 1951, S.43ff.; Lechner 1971, S.341; ähnlich auch Mitterauer 1963, S. 179/180; Wolfram, 1987, S. 288,291.

 

33. Zur Wald-Kulturland-Verteilung s. Karte bei Preidel 1955!

 

34. Vgl. die Fundkarten bei Kollautz 1966, Karte 1; Friesinger 1977; Giesler 1980, Abb. 6-9 zu Funden des 8.-10. Jahrhunderts!

 

 

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Noch weniger überzeugt die Heranziehung von späteren Grenzbeschreibungen gegen Mähren. Eine erste genaue Angabe über eine solche Grenze findet sich in dem Weistum, das Herzog Heinrich II. von Baiern zwischen 985 und 991 über Besitz des Passauer Bistums ausstellen ließ, welcher einstmals dem Stift Kremsmünster gehört hatte: «... et ita ultra Danubium usque ad Marevinos terminos in latu et sursum in longum usque ad Mochinle et Trebinse... [35]». Da «Mochinle» als ein vorzeitlicher Grabhügel bei Unterzögersdorf und «Trebinse» als Triebensee identifiziert wurden, hat man erschlossen, daß die Grenze gegen Mähren bei Stokkerau verlief [36].

 

Dieselbe Grenzführung läßt der Bericht Thietmars von Merseburg über den Märtyrertod des Iren Koloman im Jahre 1012 «in Bawariorum confinio atque Ma-rarensium» erkennen, denn einer Tradition des 12. Jahrhunderts zufolge wurde Koloman bei Stockerau ermordet [37].

 

Ob dieser Befund des späten 10. bzw. frühen 11. Jahrhunderts aber auf Zustände des 9. Jahrhunderts zurückgehen muß, scheint doch sehr fraglich, zumal die Bezeichnung «Marevini»/«Mararenses» zur Zeit der angeführten «Beweisstücke» bereits einen anderen Bedeutungsgehalt hatte als im 9. Jahrhundert! [38]

 

 

3.4. Der Testund Sonderfall Böhmen

 

Als Testfall darf das Verhältnis Moravias zu Böhmen deswegen gelten, weil eine herrschaftliche Abhängigkeit Böhmens von Moravia für eine gewisse, noch näher zu definierende Zeit quellenmäßig gesichert ist. Eine solche Abhängigkeit aber bedingte bei den politischen und geographischen Gegebenheiten Mitteleuropas im 9. Jahrhundert ein räumliches Aneinandergrenzen des unter Sventopulk ja erheblich ausgedehnten Reiches der Moravljanen mit dem böhmischen Gebiet. Jede Theorie, welche Moravia nicht nach Mähren, sondern in weiter südlich gelegene Gefilde verlegt, muß diese Erscheinung erklären; Boba ist dies nach Ansicht seiner Rezensenten nicht gelungen.

 

 

35. Trad. Passau, Ed. Heuwieser 1930, Nr.92, S. 80.

 

36. Lechner 1938, S.211 ff.; Klebel 1928, S.363; Zibermayr 1956, S.277; Havlík 1965, S. 193; Wolfram 1979, S. 11 und 1980b, S.20. Unsinnig ist der Versuch von Riedl 1951, S.41 mit Anm.96, bereits aus einer älteren, ähnlich lautenden und wohl als Vorlage dienenden Urkunde vom 28. Juni 823 im ÜB Oberösterreich, 2 (l 856), Nr. 6, S. 9-11, eine «großmährisch»-bairische Grenze für das 9. Jahrhundert herauslesen zu wollen, da dort gerade der entscheidende Passus «usque ad Marevinos terminos» noch gar nicht steht!

 

37. Thietmari Chron. VII.76, Ed. Holtzmann 1935, S. 492; zur Tradition vgl. die Melker Annalen, Ed. Wattenbach in MG SS IX (1851), S.497; und die «Passio Sancti Colomanni», Ed. G. Waitz in MG SS IV (1841), S.676.

 

38. Vgl. Kap. 4.4.3.

 

 

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Als ein Sonderfall ist Böhmen hingegen anzusehen, weil seine Zugehörigkeit zum ostfränkischen Reichsverband im 9. Jahrhundert, deren staatsrechtlicher Aspekt sich auf jeden Fall von dem der bisher besprochenen Territorien unterscheidet, bestritten worden ist. Anders als etwa im Falle des «pannonischen Dukats» sind Grad und Dauer ostfränkischer Hoheit keineswegs völlig eindeutig zu bestimmen. Da diese Frage aber von Wichtigkeit für die Beurteilung der böhmisch-moravischen Beziehungen ist, soll sie den weiteren Erörterungen vorangestellt werden.

 

 

3.4.1. Die Frage der Abhängigkeit Böhmens vom ostfränkischen Reich

 

Die angesprochene Problematik ist, wie aus einem von F. Prinz aufgestellten wissenschaftsgeschichtlichen Überblick hervorgeht, ebenso wie die vergleichbare Fragestellung nach der «staatsrechtlichen» Position des sog. «Großmährischen Rei-ches» seit jeher kontrovers beurteilt worden, wobei hier wie dort wissenschaftsfremde, politisch bedingte Gedankengänge teils offen, teils unterschwellig Eingang gefunden haben [1].

 

Eine gewisse Rolle spielt dabei sicher die wenig eindeutige, oft widersprüchliche Wortwahl der Quellen. So ist man sich bereits über das grundlegende Faktum uneinig, ob Karl dem Großen 805/06 überhaupt die Eroberung Böhmens gelang. Gestützt auf die Chronik von Moissac, die davon spricht, daß Karl «cum victoria reversus est» [2], haben mehrere Historiker die Frage bejaht. Dagegen wurde aber von anderer Seite verwiesen auf den wesentlich zurückhaltenderen Bericht der Annales Mettenses priores, wozu sich auch die nicht klar einzuordnenden Aussagen der Hildesheimer Annalen über einen Mißerfolg der Franken «in Winidos ultra flumen Albiam» stellen [3]. Diese Richtung geht davon aus, daß sich die böhmischen Heeresaufgebote 805 in ihre Befestigungen zurückzogen und Karl nur das flache Land verwüsten konnte, ohne einen entscheidenden Sieg zu erringen; auch sei ja, wie die Fuldaer und die Reichsannalen vermelden, 806 ein neuerlicher Zug gegen Böhmen für nötig erachtet worden [4]. Bemerkenswert ist schließlich, daß Böhmen in der «Divisio regnorum» Karls des Großen vom 6. Feb. 806 noch nicht erscheint,

 

 

1. Prinz 1965; s.a. Prinz 1984, S.186ff.; Graus 1980, S.53/54.

 

2. Chron. Moissac. ad a. 805, Ed. Pertz 1826, S. 308; ähnlich auch der Poeta Saxo, Ed. Winterfeld 1899, S. 50 und Einhardi Vita Karoli Magni 15, Ed. Holder-Egger 1911, S. 18.

 

3. Ann. Mett. Pr. ad a. 805, Ed. Simson 1905, S. 93-95; Ann. Hildesheim, ad a. 805, Ed. Waitz 1878, S. 15; ist deren Bericht eventuell auf das Gebiet nördlich des Erzgebirges zu beziehen?

 

4. Ann. Fuld. ad a. 806, Ed. Kurze 1891, S. 16; Ann. regni Franc, ad a. 806, Ed. Kurze 1895, S. 122.

 

 

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andererseits die auf ca. 807 datierten «Capitula de causis diversis» Bestimmungen über Heeresstärken bei eventuellen Feldzügen nach Böhmen enthalten [5], woraus vorsichtige Schlußfolgerungen über eine weiter andauernde selbständige Stellung Böhmens möglich wären.

 

Daß Böhmen trotzdem noch unter der Regierung Karls des Großen unter fränkische Oberhoheit geriet, ergibt sich für W. Wegener aus den Worten des ersten böhmischen Chronisten, Cosmas von Prag, der im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts schrieb. Dieser spricht von einer auf Karl und dessen Sohn Pippin zurückgehenden jährlichen Tributzahlung der Böhmen von 120 Ochsen und 500 Mark («marcas») [6]. Während nun aber Wegener - wie schon andere vor ihm - diese Tributzahlung staatsrechtlich als Begründung einer persönlichen Dienstbarkeit der tschechischen Fürsten gegenüber dem fränkischen Kaiser interpretiert (und Böhmen somit zunächst nur zum «impérium» Karls, erst später auch zum engeren Bereich des ostfränkisch-deutschen «regnum» rechnet) [7], leugnet Z. Fiala jegliche sich aus den Tributzahlungen ergebende Abhängigkeit Böhmens [8].

 

Diese Auffassung ist auf keinen Fall haltbar. Nicht nur sind die Böhmen 817 unter den Ludwig dem Deutschen zugewiesenen tributären Völkern, neben den Karantanen sowie den «Awaren und Slawen, die östlich Baierns sind», aufgezählt [9], was bei einem Vergleich mit der aus der «Conversio» wesentlich besser bekannten Rechtsstellung der Karantanen wichtige Rückschlüsse zuläßt. Die Böhmen schikken vielmehr auch, wie schon 812 und 815, Gesandte zu den Reichstagen von 822, eventuell 831 und sicher wieder 845, wobei sie in Vergesellschaftung mit eindeutig tributären Völkerschaften erscheinen [10].

 

Besonders bedeutsam ist dabei die im Jahre 845 erfolgte Taufe von 14 böhmischen «duces» samt Gefolge auf Anordnung Ludwigs des Deutschen, wie K. Bosl und F. Prinz herausgearbeitet haben, während Z. Fiala auch ihr jegliche politische Bedeutung abspricht [11].

 

 

5. Die «Divisio» von 806 in MG LL 2/1, Ed. Boretius 1883, Nr. 45, S. 126-130; die «Capitula» ebd. Nr. 49, S. 135/136.

 

6. Cosmas II.8, Ed. Bretholz 1955, S. 93/94; einen Tribut Böhmens erwähnt auch eine Ur kunde Ottos III. vom 1. Mai 991 (MG DD Ottonis III., Ed. Sickel 1893, Nr.71, S.478).

 

7. Wegener 1959, S.12ff.; weniger überzeugend lt. Prinz 1965, S. 102/103 seine Ableitung staatsrechtlicher Konsequenzen aus der tschechischen Bezeichnung für «König» («král», aus dem Namen Karls d. Gr.).

 

8. Fiala 1958, S.35ff. bzw. 1959, S.40ff.; s.a. Kadlec 1967, S.29/30.

 

9. MG LL 2/1, Ed. Boretius 1883, Nr. 136, S. 270/271.

 

10. Vgl. Ann. regni Franc, ad a. 822, Ed. Kurze 1895, S. 159; Ann. Bertin, ad a. 831, Ed. Waitz 1883, S. 3; Ann. Fuld. ad a. 845, Ed. Kurze 1891, S. 35.

 

11. Vgl. Bosl 1958, S.51 ff. bzw. 1974, S.270; Prinz 1965, S. 102/103 und 1984, S.54/55; dage gen Fiala 1958, S.35ff.

 

 

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Ein Vergleich etwa mit jenen normannischen Abenteurern und Adligen, die sich im 9. Jahrhundert an den Höfen der Karolinger taufen ließen, zeigt aber, daß ein solcher Schritt nur dann unternommen wurde, wenn zugleich eine vasallitische Beziehung zum betreffenden fränkischen Herrscher hergestellt wurde [12]. So wird man letztlich auf das von F. Prinz betonte «Gewicht realer Machtverhältnisse für die Gültigkeit rechtlicher Beziehungen» besonderes Augenmerk richten.

 

Denn es erhebt sich selbstverständlich die Frage, ob der theoretische Anspruch des Frankenreiches auf Tributzahlung auch de facto durchzusetzen war. Wie im Falle Moravias spielte hierbei das jeweilige Kräfteverhältnis die entscheidende Rolle, das nicht zuletzt bestimmt wurde durch anderweitige Beanspruchungen der (ost-)fränkischen Machthaber: in erster Linie durch die innerfränkischen Auseinandersetzungen seit 830, doch auch durch die immer bedrohlicher werdenden Einfalle der Normannen.

 

In diesem Sinne sind die seit 846 wiederholt aufflackernden Aufstände und Raubzüge der Böhmen zu deuten, mit denen das Ostfrankenreich 846/49, 856/57, 869, 871/74 und 880 konfrontiert wurde; sie nutzten jeweils Schwächeperioden der ostfränkischen Machthaber wie auch der angrenzenden bairischen oder sächsischthüringischen Lokalgewalten. Dabei muß es offenbleiben, ob die Böhmen tatsächlich bei jedem dieser überlieferten «Aufstände» die Abschüttelung der ostfränkischen Oberhoheit anstrebten, oder ob es sich nicht um fehdeähnliche bzw. lokale Konflikte handelte, die nur einer graduellen Verbesserung der Rechtsstellung, vielleicht sogar nur dem Beutemachen dienen sollten [13].

 

Daß die ostfränkische Seite eine Oberhoheit im 9. Jahrhundert durchgehend beanspruchte - abgesehen von einer kurzen Unterbrechung in den Jahren 890 bis 895, als Böhmen aus der unmittelbaren Herrschaft des ostfränkischen Reiches in eine nur mehr mittelbare überging -, zeigt sich bei Regino von Prüm; er beschreibt die Übergabe des «ducatus Behemensium» durch Arnulf an Sventopulk 890 so, daß die Böhmen «Francorum regibus fidelitatem promissam inviolato foedere conser-vaverunt» und erst nach Arnulfs Verzichterklärung «a fidelitate diutius custodita recesserunt» [14]. In dieselbe Richtung weist die Wortwahl der Fuldaer Annalen (in der Regensburger Fortsetzung) bei der neuerlichen Unterstellung der Böhmen unter Arnulf 895, daß Sventopulk die «duces Boemanorum» aus der «consortio et potestate Baioaricae gentis per vim dudum divellendo detraxerat» [15]. Auf die Tatsache, daß auch von böhmischer Seite ein Vasallitätsverhältnis anerkannt wurde (und zwar schon vor 895!), wie auch auf die Form dieser Abhängigkeitsbekundung als «commendatio per manus»,

 

 

12. A. Angenendt, Taufe und Politik im frühen Mittelalter; in: FrmSt 7 (1973), S. 143-168.

 

13. Dieser Verdacht drängt sich v. a. bei den Zügen von 869 und 880 auf, vgl. Ann. Fuld., Ed. Kurze 1891,8.67, 94/95.

 

14. Reginon. Chron. ad a. 890, Ed. Kurze 1890, S. 134.

 

15. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 895, Ed. Kurze 1891, S. 126.

 

 

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wirft ein willkommenes Licht die weitere Ausführung dieser Quelle, daß die Böhmenfürsten, darunter deren «Vornehmste» («primores») «Spitignewo» und «Witizla», «ad regem venientes et honorifice ab eo recepti per manus, prout mos est, régi potestati reconciliatos se subdiderunt» [16].

 

Es wird also deutlich, daß das Ostfrankenreich eine seit den Eroberungszügen Karls des Großen de iure beanspruchte Hoheit über Böhmen auch de facto während des 9. Jahrhunderts immer wieder durchsetzen konnte; ganz im Gegensatz zu Moravia, wo die ostfränkische Machtstellung 871 de facto zusammenbrach, 874 sodann eine Art «innerer Autonomie» bei Treuepflicht gegen Ludwig den Deutschen und jährlicher Zinszahlung erreicht wurde, die de iure bis zum Tode Sventopulks, ja wahrscheinlich sogar bis zum Untergang Moravias Gültigkeit hatte.

 

Den Böhmen selbst wurde eine derartige Autonomie nie zugestanden, sondern bezeichnenderweise der böhmische «ducatus» eben nur dem Herrscher Moravias übertragen. Es fragt sich, ob diese unterschiedliche Position gegenüber dem Ostfrankenreich wirklich aus einer andauernden Stammeswie herrschaftsmäßigen Zersplitterung Böhmens bei gleichzeitiger vollendeter Zentralisierung Moravias zu begründen ist (wie meist behauptet wird) oder ob hier nicht andere, etwa geographisch bedingte Ursachen vorliegen.

 

 

3.4.2. Das Problem der böhmischen Teilstämme bzw. Teilfürsten

 

Grundlage der Auffassung, Böhmen sei im 9. Jahrhundert noch in eine Vielzahl unabhängiger Stammesherrschaften zerfallen, bilden einige Aussagen der «Böhmenchronik» des Cosmas von Prag sowie die 1086 für das Prager Bistum von Kaiser Heinrich IV. ausgestellte Urkunde, welche eine auf die Zeit der Gründung dieses Bistums (973) bezogene Grenzbeschreibung enthält.

 

Während Cosmas Böhmen zu seiner eigenen Zeit als politische und geographische Einheit betrachtet, kennt er in früheren Zeitschichten mehrere Herrschaftsbildungen innerhalb des böhmischen Raumes. So beschreibt er die definitive Einigung Böhmens unter den Přemysliden durch die Ausrottung des konkurrierenden Geschlechtes der Slavnikiden in Libice (995); deren südund ostböhmischer Machtbereich wird von Cosmas an anderer Stelle auch konkret umschrieben, allerdings nicht mit «Stammesgebieten» gleichgesetzt [1].

 

 

16. Dazu Wostry 1953, S.231/232; Bosl 1958, S.55/56; Wegener 1959, S.25/26; Jäger 1960, S. 23/24; Prinz 1965, S. 103/104; eine ähnliche Ausdrucksweise übrigens schon in den Ann. Fuld. ad a. 869 (Ed. Kurze 1891, S.70): «Behemi dextras sibi a Carlmanno dari petunt et accipiunt».

 

1. Cosmas I.2, Ed. Bretholz 1955, S.5-7; 1.29, Ed. Bretholz 1955, S.53; 1.27, Ed. Bretholz 1955, S.49/50.

 

 

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Eine Erwähnung von Stämmen findet sich vielmehr nur in dem chronologisch nicht näher präzisierten, sagenhaft anmutenden Teil der «Böhmenchronik», in der Erzählung über einen Krieg zwischen den «Lučanen» unter Fürst Vlastislav und den eigentlichen Tschechen, dem böhmischen «Kernstamm» unter dem Fürsten Bořivoj [2].

 

Eine wesentlich größere Anzahl von (echten oder vermeintlichen) «Stammesnamen» kennt die oben genannte Urkunde von 1086:

 

«Tugust, ... Zedlza et Lusane et Dazane, Liutomerici, Lemuzi, ..., Pssouane, Chrouati et altera Chrowati» [3].

 

Aus dieser Liste glaubte R. Turek 11 frühmittelalterliche böhmische Stammesgebiete rekonstruieren zu können; er berücksichtigte dabei zur territorialen Abgrenzung nicht nur historische Nachrichten, sondern auch archäologische Gegebenheiten, in erster Linie keramische Sondertypen und regionale Unterschiede in der Anlage von Burgwällen. Diese Vorgehensweise wurde von verschiedener Seite scharf kritisiert [4].

 

Die Gegenposition formulierte vor allem J. Dobiáš; er lehnte die Existenz tatsächlicher, ethnisch differenzierter «Teilstämme» im Böhmen des 9. Jahrhunderts ab und sah in den überlieferten Namensbildungen eher «geographische Begriffe» oder «territoriale Einheiten» [5].

 

R. Wenskus verwies darauf, daß die nicht als «Neubildungen aus lebendigem Sprachgut» erklärbaren Stammesnamen wie jene der «Chorwaten» (Kroaten) und «Dudleber», denen wir auch im südund ostslawischen Milieu begegnen, eine ursprüngliche Einheit der betreffenden Stammessplitter voraussetzen könnten. Traditionstragende führende Schichten müßten den «Traditionszusammenhang», der eben aus der Erhaltung des Namens erkennbar werde, bewahrt haben; wenigstens ältere «ethnische Einheiten» hält Wenskus daher für unbestreitbar [6].

 

Die slawischen Bewohner Böhmens wären demnach nicht als geschlossener Stammesverband in ihre heutigen Sitze eingerückt, vielmehr sei mit einem langsamen Einsickern kleinerer Gruppen und Stammessplitter zu rechnen.

 

 

2. Cosmas I.10-13, Ed. Bretholz 1955, S.22-32; dieser «Lucanerkrieg», meist als sagenhaft angesehen, wird von Turek 1957, S. 97 in die Jahrzehnte vor 872 datiert, von Nový 1968 S.209 auf ca. 895-905, von Karbusický 1980, S. 139/140 mit Ereignissen um 936 verbunden.

 

3. MG DD Henrici IV, 2, Ed. Gladiss 1959, Nr.390, S.515-517.

 

4. Turek in seinen Veröff. von 1957, 1970, 1974, 1975, 1979 und 1983; dazu die Rez. von Böhm 1958, S.601/602 und Preidel 1964, S.269/270.

 

5. Dobias 1963, S.43; s.a. Graus 1980, S.200.

 

6. Wenskus 1967, S. 35 ff.

 

 

278

 

Der Prozeß einer inneren Angleichung dieser Stammesteile und Siedlergruppen könnte allerdings zur Zeit Karls des Großen bereits abgeschlossen gewesen sein, wobei sich wohl neue Untergruppierungen nach Siedlungsgebieten gebildet hätten [7].

 

Die Vertreter der Ansicht, daß Böhmen im 9. Jahrhundert zumindest ethnisch vereinheitlicht war (was nicht automatisch mit «herrschaftlich» gleichzusetzen ist), verweisen nämlich darauf, daß die Einwohner Böhmens in den westlich-fränkischen Quellen des 9. und 10. Jahrhunderts konsequent unter einem Namen zusammengefaßt werden. Die alte, bei Tacitus überlieferte Bezeichnung des Landes als «Boiohaemum » erscheint dabei im Volksnamen unter den verschiedensten Umformungen wie z.B. «Beheimi», «Boemani» oder «Beu-Winides». Als Untereinheiten kennen sie keine Einzelstämme, sondern nur Bezeichnungen wie die 857 erwähnte «civitas Wiztrachi ducis» [8]. Die angelsächsische Orosius-Bearbeitung erwähnt gleichfalls neben den Böhmen («Baeme» bzw. «Behemas») keinen der sog. «böhmischen Teilstämme»; die in diesem Zusammenhang bisweilen angeführten «Ho-rigti» oder «Horoti» sind eher nördlich des Karpatenbogens zu suchen. Dieser Befund steht in klarem und beweiskräftigem Gegensatz zur Situation bei den benachbarten Sorben, deren zahlreiche Teiloder Unterstämme in fränkischen Anna-len und Chroniken wiederholt genannt werden; selbst die altenglische Völkertafel zählt neben den Sorben deren bedeutendste Untergruppe, die Siusler, auf [9].

 

Um diesem Dilemma abzuhelfen, wurden böhmische Teilstämme wenigstens bei dem bereits abgehandelten «Bairischen Geographen» gesucht. Zwar führt dessen Völkerverzeichnis unter jenen «gentes», welche dem ostfränkischen Reich benachbart waren, auch die «Beheimare» mit 15 «civitates» an, und diese Angabe wäre eigentlich ganz selbstverständlich auf das gesamte Böhmen zu beziehen (das nach Ansicht mancher Forscher damals in 15 «Burgwallbezirke» oder «Gaufürstentümer» zerfallen wäre) [10]. V. Vančček und R. Turek jedoch, welche die «civitates» der Quelle als «Befestigungen» übersetzen, schien die Zahl von 15 Burgen im 9. Jahrhundert für ganz Böhmen zu gering zu sein. Sie griffen daher zurück auf die zweite Hälfte der Völkerliste des «Bairischen Geographen», welche jene «gentes» aufzählt, die nicht an das Ostfrankenreich grenzten. Das dort erscheinende «Fraganeo» (mit 40 «civitates») interpretierten sie als das vom böhmischen «Kernstamm» der Tschechen eingenommene Gebiet um Prag. Des weiteren vereinnahmte Turek die «Be-sunzane» der Liste (2 «civitates») als die Pšovaner der Urkunde von 1086, während die «Vericane» (10 «civitates») gleich 5 der dort erscheinenden Stämme in Nordwestböhmen repräsentieren sollen.

 

 

7. Vgl. Wenskus 1967 und Schwarz 1967; Fritze 1979; Graus 1980, S. 200 bzw. 1983, S. 174; Třeštík 1983; archäol. Aspekt bei Turek 1970.

 

8. Vgl. die Belegsammlungen bei Graus 1980, S. 162 ff., 170.ff. und 192ff.; doch ist zu beto nen, daß die Fremdnicht der Eigenbezeichnung entsprochen haben muß.

 

9. Altengl. Orosius 1.1, Ed. Bately 1980, S. 12/13 und Komm. S. 173. 10 Ed. Horák/Trávníček 1956, S.2.

 

 

279

 

Der rätselhafte Name «Lupiglaa» soll Kroaten und Zličaner in Ostböhmen vertreten, «Beheimare» nach Tureks Ansicht nur Südböhmen bezeichnen [11].

 

Doch die Gleichsetzung «Fraganeo» = Prag läßt sich nicht halten. Sowohl sprachwissenschaftliche (ein althochdeutscher Lautersatz «f» für slawisches «p» ist unmöglich! [12]) wie auch sachliche Gründe (im 9. Jahrhundert war noch Levy Hradec, nicht Prag das Zentrum der mittelböhmischen Region) stehen dieser Identifizierung entgegen. Andere Lokalisationen des «Fraganeo» unter besserer Berücksichtigung der Gliederung des «Bairischen Geographen» wirken wesentlich überzeugender [13]; dasselbe gilt für die «Besunzane» und «Vericane», während die Deutung von «Lupiglaa» wohl offenbleiben muß.

 

Auch die Heranziehung zweier islamischer Quellen zur Abstützung der Teilstämme-Theorie ist wenig hilfreich.

 

Der bereits erwähnte al-Mas'ūdī nennt in seinem geographischen Werk «Goldwiesen» unter den drei bedeutendsten Reichen der «aqāliba» ein Reich «al-Firaġ», (auch: «al-Ifrāġ», «al-Afrvāġ», «al-Ifranǧ»), das allzu bedenkenlos, als Umschreibung von «Prag» gelesen, auf Böhmen bezogen wurde [14]. Die beigefügte Information, daß der Fürst dieses Landes gegen «Romäer» (Byzantiner, im Text «al-Rūm»), Franken («al-Ifranja») und Langobarden (oder Ungarn bzw. Bulgaren? im Text «an-Nukard» bzw. «al-Bažkard») Kriege führen müsse, deutet, vor allem wegen der Byzantiner, eher in den Adriaraum!

 

An anderer Stelle von Mas'ūdīs Bericht über die «aqāliba» findet sich in den Handschriften ein Volk der «Çāchīn» (bzw. «āīn») neben «Dūlābā», «M.rāwa» und «.rwātīn»; «Bāmǧin» glaubte man (neben der Lesung «Nāmǧīn») gleichfalls in diesem Text zu entdecken und somit die «Teilstämme» der Dudleber, Mährer, Chorwaten neben dem Stamm der Tschechen wiedererkennen zu können [15].

 

Es sei aber bemerkt, daß die Eigenheiten der arabischen Schrift gerade an dieser Stelle zu größter Vorsicht veranlassen sollten und die angeführten Deutungen äußerst problematisch machen.

 

 

11. Vaněcek 1949, S.40ff.; Turek 1957, S.77ff, 1974, S. 193/194; übernommen von Klar 1974, S. 225, 253 ff.

 

12. Schwarz 1967, S.30.

 

13. Es wurde bereits ein «Frauengau» vorgeschlagen, aber auch Verbindungen zum antiken Waldgebirge «Fergunna» gezogen (Käubler 1961, S.285); evtl. wäre auch an Waräger auf Rügen bzw. an der Odermündung zu denken (Dralle 1985, S. 13/14).

 

14. Al-Mas'ūdī, Murūǧ 34, Ed. Pellat, 2 (1965), S. 342 (frz. Übs.); dazu Marquart 1903, S. 102, 142ff.; Hrubý 1926, S.llSff.; Hauptmann 1954, S. 151 ff.; Turek 1957, S.87/88.

 

15. Al-Mas'ūdī, Murūǧ 34, Ed. Pellat, 2 (1965), S. 341/342 (frz. Übs.); dazu Westberg 1898, S.131; Marquart 1903, S. 122ff.; Turek 1957, S.86ff. und 1974, S.31/32; Herrmann 1963, S. 82/83; Bosl 1974, S. 277; Shboul 1979, S. 178 ff.

 

 

280

 

Dasselbe gilt für den Bericht des um 965/73 im östlichen Mitteleuropa reisenden jüdischen Kaufmannes aus dem spanischen Tortosa, Ibrahim Ibn Ja'qūb, der noch dazu einen späteren Zustand als al-Mas'ūdī schildert. «Farāġa», «Bōjema» und «Karakō» (auch transkribiert als «Braġa»/«Praġa», «Biūma»/«Buima» und «Krkūia»/«Trkua») erscheinen bei ihm als das Reich des «Bōjelāw» oder «Buyalāw» (Boleslav 1, 929/35-967). Zwischen den Städten «Faräga» und «Karakō» beträgt die Entfernung drei Wochen, das Land grenzt nach Ibrahim längs an das Land der «al-Turk» («Türken» = Ungarn) [16]. Hier ist mit «Bōjema» o.a. sicher Böhmen gemeint, mit «Faräga» usw. wahrscheinlich Prag, ohne daß dies eine stammesmäßige Zweiteilung Böhmens implizieren müßte. «Karakō» u. ä. wird im allgemeinen als Krakau in Kleinpolen, dem «Chorwatenland», gedeutet [17]. Ibrahim Ibn Ja'qūb gibt also mit den zwei Städteund dem einen Landschaftsnamen die Přemyslidenherrschaft wieder, wie sie vor der polnischen Expansion unter Boleslav Chrobry Ende des 10. Jahrhunderts bestand, nicht etwa eine innerböhmische Stammesgliederung!

 

Unter Berücksichtigung aller genannten Fakten scheint es gerechtfertigt, Böhmen im 9. Jahrhundert als ein ethnisch bereits vereinheitlichtes, geschlossenes Gebiet zu betrachten, da alle zeitgenössischen Quellen es mit nur jeweils einer geographischen Bezeichnung versehen. Die verschiedentlich erscheinenden nördlichen Kroaten sind nicht als böhmischer Teilstamm zu verstehen, sondern in Südpolen, zum Teil noch weiter östlich am Nordrand der Karpaten anzusetzen [18].

 

Die zitierten Namen der Urkunde Heinrichs IV. von 1086 sind entsprechend nur als geographische bzw. verwaltungstechnische Termini aufzufassen, zu einem guten Teil neuere, etwa auf Ortsnamen zurückgehende Bildungen. Selbstverständlich schließt das nicht aus, daß gewisse dieser Regionalbezeichnungen die Namen älterer Stämme oder Stammessplitter enthalten, die allerdings schon wesentlich früher in den Neustamm der Böhmen eingeschmolzen worden waren. Dabei sollte bedacht werden, daß auch der Begriff eines «Stammes» selbst eirie durchaus problematische und wandelbare Größe ist.

 

Von den bisherigen Erörterungen nicht berührt wurde die Frage der politischen Einheit oder Vielfalt Böhmens im 9. Jahrhundert. Ausgehend von der Erwähnung eines wechselnd als «dux» oder «rex» bezeichneten Führers der Böhmen im Jahre 805 nimmt M. Hellmann an, daß zu Beginn des 9. Jahrhunderts möglicherweise ein «Großfürst» in Böhmen regierte (dessen Name oder Titel in den Quellen als «Lecho» erscheint),

 

 

16. Ibrahim Ibn Ja'qūb, Ed. Kowalski 1946, S. 145/146.

 

17. Hauptmann 1954, S. 151/152; Havlík 1961, S.67; Hrbek 1962, S. 183/184; Herrmann 1963, S. 82/83; Lewicki 1965, S. 478; Richter 1967, S. 205; Turek 1974, S. 32/33, 193; Miquel 1975, S. 316 ff.

 

18. Dazu Evans 1989, S.69ff.; Malycky 1990; eine zeitlich früher anzusetzende kroat. Sied lung in Böhmen ist von dieser Aussage nicht berührt!

 

 

281

 

nach dessen Tod eine Zersplitterung der Herrschaft eingesetzt habe [19].

 

Für den Rest des 9. Jahrhunderts kennen die fränkischen Quellen nämlich nur noch eine Vielzahl böhmischer «duces». Ein Teil der Forscher sieht in ihnen «Stammesfürsten»; H. Preidel will hingegen - in Analogie zu der Terminologie im Frankenreich selbst - nur die Übersetzung «Heerführer» akzeptieren, während R. Wenskus vor allzu einseitiger Auslegung des «schillernden Begriffes eines dux» warnte [20].

 

Verschiedentlich wurde aus den Quellen eine Tendenz zur Zentralisierung herausgelesen [21]; denn während die Fuldaer Annalen 845 noch 14 böhmische «duces» kennen (genauer heißt es allerdings: «XIIII ex ducibus Boemannorum» [22]!), erscheinen neben anderen Passagen, die lediglich eine Vielzahl andeuten [23], im Jahre 872 nur noch 5 namentlich genannte «duces», «Zuentislan, Witislan, Heriman, Spoitimar, Moyslan», wozu eine der Rezensionen der Annalen noch einen «Goriwei» setzt [24].

 

Dieser «Goriwei» wurde mit dem sonst nur aus der böhmischen Überlieferung bekannten Fürsten Bořivoj gleichgesetzt und, etwas voreilig, als bereits etablierter Großfürst Böhmens angesprochen. Doch muß schon die nachträgliche Einfügung des Namens stutzig machen, und die Annahme einer derartig frühen «Oberhoheit» Bořivojs in Böhmen ist mit großen chronologischen Schwierigkeiten verbunden. In jedem Falle ist es gar nicht sicher, ob die Annalen zu 872 wirklich alle böhmischen «duces» nennen und ob die Bezeichnung «dux» konsequent gebraucht wird für ein und dieselbe Kategorie politischer Repräsentanten.

 

895 schließlich spricht die Regensburger Fortsetzung der Fuldaer Annalen von «omnes duces Boemannorum», hebt aus dieser Vielzahl jedoch zwei Namen hervor: «Spitignewo», den man mit dem gleichnamigen Přemysliden der böhmischen Überlieferung identifizieren möchte, und «Witizla», möglicherweise identisch mit dem fast gleichnamigen Fürsten von 872, in dem einige Forscher einen Vertreter des in Kourim ansässigen Geschlechtes der Slavnikiden vermuten, das jedoch erst im späten 10. Jahrhundert sicher belegt ist [25].

 

R. Turek hat diese (tatsächliche oder scheinbare) Abnahme der Anzahl böhmischer «duces», die er ja als «Stammesherzöge» betrachtet, kombiniert mit seiner Theorie von Teilstämmen;

 

 

19. Hellmann 1965, S. 718.

 

20. Preidel 1957, S.29ff.; dazu Rez. Wenskus 1961, S. 167.

 

21. So etwa Novotný 1912, S.283; Vanëcek 1949, S. 114/115; Havlík 1964, S. 191 ff., 286ff.; Herrmann 1965, S. 107, 136/137.

 

22. Ann. Fuld. ad a. 845, Ed. Kurze 1891, S.35.

 

23. Vgl. Ann. Fuld. ad a. 856, 897, Ed. Kurze 1891, S. 47,131.

 

24. Ann. Fuld. ad a. 872, Ed. Kurze 1891, S.76.

 

25. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 895, Ed. Kurze 1891, S. 126.

 

 

282

 

für ihn spiegelt sich darin die Aufsaugung der Kleinstämme von zwei großen Zentren aus: einerseits durch den Stamm der Tschechen um Prag, andererseits durch die Chorwaten um Kourim, repräsentiert durch die Geschlechter der Přemysliden und Slavnikiden [26].

 

Dagegen sind selbstverständlich auch andere Deutungen möglich. So rechnen manche weiterhin mit einer großen Menge böhmischer Teilfürsten während des ganzen 9., ja noch im frühen 10. Jahrhundert. Eine eindeutige Lösung des Problems scheint kaum möglich; es verdient immerhin festgehalten zu werden, daß im ethnisch als einheitlich anzusehenden Böhmen 872 fünf bzw. sechs «duces» gleichberechtigt nebeneinander erscheinen, 895 - nach einer Phase der Oberhoheit Moravias - immerhin noch zwei unter den «duces» als gleichgeordnete «primores» genannt werden. Wie groß also auch immer die Zahl der Herrschaftsbildungen während des 9. Jahrhunderts gewesen sein mag, mit einer «von innen» kommenden völligen politischen Vereinheitlichung Böhmens ist in dieser Zeitspanne kaum zu rechnen. Frühestens zum Zeitpunkt der Einbeziehung Böhmens in die Machtsphäre Sventopulks fand sie, und zwar möglicherweise von außen gelenkt, statt - falls nämlich sowohl «Spitignewo» als auch «Witizla» als Angehörige des Přemysliden-hauses anzusehen sind, die 895 gleichberechtigt nebeneinander die Oberherrschaft über Böhmen ausübten [27].

 

In jedem Falle drängt sich die Frage auf, wieso das offensichtlich herrschaftlich zersplitterte Böhmen nicht sehr viel früher in den Machtbereich Moravias geriet, als es dann tatsächlich der Fall war.

 

 

3.4.3. Böhmens Verhältnis zu Moravia nach den zeitgenössischen fränkischen Quellen

 

Nach der traditionellen Konzeption der tschechischen Historiographie wäre nämlich zu erwarten, daß das bereits unter Moimir «zentralisierte» und damit kräftigere Moravia schon in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz versucht hätte, Böhmen unter seine Botmäßigkeit zu zwingen oder wenigstens in seine Aktionen gegen das Ostfrankenreich einzubeziehen. Derart frühzeitige Korrelationen, geradezu eine notwendige Folge einer tatsächlichen Nachbarschaft Böhmens zu Moravia, sind aber aus den Quellen nicht herauszulesen, sondern nur in diese hineininterpretiert worden!

 

 

26. Turek 1974, S. 153, 162/163, 173.

 

27. So Novotný 1912, S.444/445; Jäger 1960, S.23; Herrmann 1965, S. 180; gewisse Skepsis hierzu äußert Prinz 1984, S.62.

 

 

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Die erste historisch bezeugte Gegebenheit, welche Böhmen und Moravia in eine gewisse Beziehung zueinander bringt [1], ist die Strafexpedition des Prinzen Ludwig vom Jahre 846. Es muß aber gegen eventuelle Tendenzen, hier bereits ein Bündnis zwischen Böhmen und Moravia sehen zu wollen, betont werden, daß von einem solchen in den Quellen selbst keine Rede ist; sie berichten nur, daß das ostfränkische Heer erst gegen Moravia, dann auf dem Rückweg über Böhmen zog und dort überraschend auf Widerstand stieß, wobei noch zu bedenken ist, daß Ludwig hier wohl mit Unterstützung rechnete - waren doch erst im Vorjahr 845 14 böhmische «duces» unter seiner Ägide getauft worden! Das muß keine Absprache der Gegner implizieren, sondern könnte neben strategischen unter anderem auch auf wirtschaftliche Opportunitätserwägungen des ostfränkischen Prinzen zurückzuführen sein, nämlich auf die Absicht, die Verpflegung des Heeres aus Böhmen zu bestreiten statt aus dem ostfränkischen «Pannonien» oder gar aus Baiern.

 

Denkbar wäre es hingegen aufgrund dieser Feldzugsberichte, daß die «Marharii» im Marchtal bis 846 bereits unter böhmische Herrschaft gekommen waren, da zwischen den «Sclavi Margenses» und den Böhmen keine weitere von Ludwig bekriegte Völkerschaft erwähnt wird.

 

Bei den weiteren, glücklos verlaufenden Auseinandersetzungen mit den Böhmen 848/49 wird in den fränkischen Quellen überhaupt nicht mehr der Moravljanen gedacht [2]; mit ihnen hatte man ja nach der Einsetzung Rastislavs (im Jahre 846) bis 854/55 Frieden. Es sieht also so aus, als hätten im Jahre 846 die Moravljanen und die Böhmen unabhängig voneinander eine anscheinend günstige Situation zum Aufstand nutzen wollen. Dabei ist an die normannische Invasion von 845 im Mündungsgebiet von Weser und Elbe zu denken; ein ähnliches Verhalten der Böhmen im Jahre 880 ist belegt.

 

Vergleichbar ist die Situation des Jahres 856, als sich die Böhmen im Anschluß an die 854/55 begonnene Rebellion Rastislavs ihrerseits erhoben3: Auch hier dürften sie nur ausgenutzt haben, daß das bairische Aufgebot von den Moravljanen gebunden war; von einem Bündnis oder gar einer Kooperation der slawischen Gegner berichten die ostfränkischen Annalisten, die solch bedrohlichen Verbindungen sonst recht deutlich kennzeichnen4, jedenfalls nichts.

 

 

1. Wenn man nicht das gleichzeitige Erscheinen von Gesandtschaften aus Böhmen und Moravia auf dem Reichstag von 822 hierher rechnen möchte, das allerdings in dieser Hinsicht nichts beweist.

 

2. Vgl. Ann. Fuld. ad a. 848, 849, Ed. Kurze 1891, S.37/38; Ann. Bertin, ad a. 848, 849, Ed. Waitz 1883, S. 35/36; Ann. Xantenses ad a. 849, Ed. Simson 1909, S. 16.

 

3. Ann. Fuld. ad a. 856, Ed. Kurze 1891, S.47.

 

4. Beispielsweise im Falle des bulgarisch-«slawischen» Bündnisses von 853 (Ann. Bertin., Ed. Waitz 1883, S.43) oder des böhmisch-sorbischen von 869 (Ann. Fuld. Ed. Kurze 1891, S. 67).

 

 

284

 

Die von den Fuldaer Annalen auf 857 datierte Flucht des böhmischen, antifränkischen «dux» Sclavitag zu Rastislav ist zwar das erste wirklich belegbare Ineinandergreifen böhmischer Geschichte mit der Moravias [5]. Doch gibt diese Flucht keinen Hinweis auf die relative Lage Böhmens und Moravias zueinander, sondern nur auf die damals gefestigte Position Rastislavs, der offenbar als einziger Slawenfürst in Reichweite Böhmens die Sicherheit Sclavitags vor seinen ostfränkischen Verfolgern garantieren konnte. (Die Lage der Residenz Sclavitags, der «civitas Wiztrachi ducis», innerhalb Böhmens ist umstritten [6].) Wie weit die Fluchtwege slawischer Exi-lanten unter Umständen reichen konnten, zeigt zur Genüge das Beispiel des Pribina! Bezeichnenderweise beteiligten sich die Böhmen, 857 offenbar von den Ostfranken in die Knie gezwungen, nicht am 861 erneut ausgebrochenen Aufstand Rastislavs. Vielmehr verbanden sie sich, als sie 869 in ostfränkisches Gebiet einfielen, mit ihren nördlichen Nachbarn, den Sorben und Siuslern, und zwar, wie es heißt, «a Sorabis mercede conducti». Anläßlich des ostfränkischen Gegenschlages ist wiederum keine Zusammenarbeit mit Rastislav und Sventopulk erkennbar, die ja beide von zwei anderen Heeren Ludwigs des Deutschen angegriffen wurden. Statt dessen schlössen die Böhmen schon 869, also vor Sventopulk, Frieden und erkannten erneut die ostfränkische Oberhoheit an [7]. Es liegt also wahrscheinlich wieder, wie schon 846 und 856, der Versuch einer Ausnutzung ostfränkischer Schwäche vor.

 

Erst beim neuerlichen Abfall der Böhmen 871 wird ein erstes Zusammengehen mit den nunmehr unter Sventopulk stehenden Moravljanen greifbar. Eine etwas ausführlicher berichtete Episode läßt dabei interessante Rückschlüsse auf die 871 herrschende Situation zu. Die Böhmen hatten in ihrem Grenzgebiet einen Hinterhalt gelegt, der einen potentiellen Anmarschweg so verengte, daß Reiterei kein Durchkommen mehr finden konnte; an sich war diese Sperre gegen einen aus Baiern kommenden Vorstoß gerichtet. Statt dessen geriet jedoch der schon erwähnte, nach Moravia heimkehrende Brautzug in diese Falle, als er jäh auf ein bayrisches Aufgebot unter Bischof Arn von Würzburg stieß und vor diesem zurück nach Böhmen flüchtete8. Ein solcher Zwischenfall wäre undenkbar, hätte Moravia wirklich im heutigen Mähren gelegen und entlang der Böhmisch-Mährischen Höhe direkt an Böhmen gegrenzt.

 

 

5. Ann. Fuld. ad a. 857, Ed. Kurze 1891, S.47.

 

6. Vgl. dazu etwa Dobiaš 1963, S.37ff. (Lokalisierung in Weitra/NÖ); Havlík 1964, S. 193 Anm.99 (ebenso); J. Slama, Civitas Wiztrachi ducis; in: HG 11 (1973), S.3-30 (bei Zabrušany nahe Brüx); eine zwangsläufige Nachbarschaft der Burg des «Wiztrach» zu Mähren postuliert Staber 1974, S.64, während sie nach Richter 1967, S.191 Anm.14 «nicht näher lokalisierbar» ist.

 

7. Ann. Fuld. ad a. 869, ed. Kurze 1891, S.67; s.a. Ann. Bert, ad a. 869, Ed. Waitz 1883, S. 101.

 

8. Ann. Fuld. ad a. 871, Ed. Kurze 1891, S. 75.

 

 

285

 

Die wichtigsten hochmittelalterlichen Verbindungsstraßen waren hier die von Prag über Leitomischl nach Olmütz führende Nordroute, eine mittlere Strecke über Časlav, dann nahe der Schwarzawa und die Südroute über Iglau/Znaim [9]. Noch südlichere Wegstrecken würden die Moravljanen wegen des Kriegszustandes mit den Ostfranken kaum gewählt haben. Die genannten Wegstrecken aber lagen so weit von der ostfränkischen Basis im Donautal entfernt, daß auf ihnen ein plötzlicher gegnerischer Vorstoß nicht zu gewärtigen war; zudem verhinderte der dichte «Nordwald» derartige Heeresbewegungen (noch dazu mit Kavallerie!) aus dem bai-rischen Donauraum in das Grenzgebiet zwischen Böhmen und Mähren [10].

 

Ganz anders liegen die Dinge, wenn man die hier vorgestellte Theorie über die Lage Moravias akzeptiert und zugleich davon ausgeht, daß das heutige Mähren 871 bereits unter böhmischer Kontrolle stand. Die «Falle» der Böhmen wäre dann im südlichen Mähren zu suchen, das allerdings von einem bairischen Stoßtrupp aus der «Ostmark» mit Leichtigkeit erreicht werden konnte [11]. Selbstverständlich wären die Moravljanen in diesem Fall gezwungen gewesen, zwischen «Böhmen» (im weiteren Sinne, also einschließlich Mährens) und ihrer eigenen Heimat eine größere Strecke durch «neutrales» Gelände zu ziehen, das aus dem ostfränkischen Bereich südlich der Donau jederzeit bedroht werden konnte; gemeint ist die Wegstrecke am Nordufer der Donau, etwa zwischen Preßburg und dem ungarischen Donauknie. Mit diesem für sie riskanten Abschnitt ihrer Brautfahrt ließe sich auch die zahlenmäßige Stärke der moravischen Gesellschaft (immerhin 644 Mann) erklären, die bei direkter Nachbarschaft zu Böhmen wenig Sinn hätte. Schließlich ist der von Bischof Arn erzielte Überraschungseffekt in «neutralem» Gebiet wahrscheinlicher als in einem solchen, das ständig von böhmischen oder bairischen Grenzposten - derer im Text gedacht wird! - überwacht wurde. Man darf diese Episode also wohl als Stütze für die Auffassung heranziehen, daß Böhmen und Moravia 871 noch keine direkten Nachbarn waren, sondern zu solchen erst während der Herrschaft Sventopulks wurden, und zwar bis spätestens 880.

 

Gegen die Annahme, daß Sventopulk um 871, vielleicht durch die Heirat mit einer böhmischen Herzogstochter, irgendwelche herrschaftlichen Befugnisse in Böhmen gewonnen habe [12], spricht die Tatsache, daß die Böhmen in den beiden nächsten Jahren völlig selbständig agierten.

 

 

9. Großer Hist. Weltatlas, 2 (1970), S.94.

 

10. Vgl. dazu Klebel 1928, S.362; Dobiaš 1963, S.41 mit Anm.94; Wolfram 1985, S. 140.

 

11. Zu den landschaftlich-verkehrstechnischen Gegebenheiten im dortigen Grenzraum vgl. die Karten bei Preidel 1954, S. 81; Novotný 1979, S. 574 sowie im Großen Hist. Weltatlas, 2(1970), S. 61 Karte b).

 

12. Dümmler 1854b, S. 175 und 1887/88,2, S.336; Dudík 1860, S.206, 211; Wostry 1953, S.230; Wegener 1959, S.23; Grivec 1960, S. 138/139; Havlík 1964, S.230; Herrmann 1965, S, 135/136; weniger deutlich Jäger 1960, S.22; Graus 1966 b, S. 167.

 

 

286

 

Daß der Friede mit den Ostfranken 874 von den Böhmen zur gleichen Zeit wie von Sventopulk besiegelt wurde, muß nicht auf einer Unterordnung beruhen, sondern allenfalls auf einem Bündnis. Die Gleichzeitigkeit des Friedensschlusses könnte jedoch auch ein Resultat der zu diesem Zeitpunkt deutlich werdenden Bemühungen Ludwigs des Deutschen sein, mit seinen sämtlichen slawischen Nachbarn ins reine zu kommen [13].

 

Im Jahre 876 erscheinen die Böhmen als eigenes «regnum», als von Moravia deutlich abgegrenzte, eigenständige Größe [14]. Während sie nun aber 880 (wie schon 869) an der Seite ihrer alten Verbündeten, der Sorben sowie der Daleminzier Einfalle in Thüringen unternahmen [15], wissen die Quellen nichts von einer böhmischen Parteinahme in der «Wilhelminerfehde». Eine solche würde aber bei tatsächlich bereits erfolgter, wie auch immer gearteter Unterstellung Böhmens unter die Herrschaft Sventopulks zu erwarten sein!

 

Doch selbst die Annahme, daß Sventopulk mit Abschluß des damaligen Krieges, also 884/85, die Herrschaft über Böhmen de facto errungen oder gar von Karl III. vertraglich zugesichert bekommen habe [16], ist nicht zu halten.

 

Denn Regino von Prüm sagt deutlich genug, daß Arnulf erst im Jahre 890 (also wohl bei der Unterredung in «Omuntesperch» [17]) den «ducatus» Böhmens abtrat. Keine Rede ist hier von vorhergegangener faktischer Inbesitznahme durch Sventopulk, vielmehr betont Regino, daß einerseits Böhmen bis dato immer Fürsten eigenen Stammes über sich gehabt hätte, andererseits die Böhmen vor 890 dem Ostfrankenreich längere Zeit («diutius», d. h. wohl seit 880) die Treue gewahrt hätten [18].

 

Arnulf hatte also bis 890 die unbestrittene Lehnsherrschaft über Böhmen inné und trat sie als äußerste Konzession angesichts der Normannengefahr an Sventopulk ab, um diesen zum Stillhalten zu bewegen, während er selbst im Nordwesten seines Reiches Krieg führte; diese Rechnung ging bekanntlich auf [19].

 

 

13. Ann. Bertin, ad a. 873, Ed. Waitz 1883, S. 124: «... per missos suos Winidos sub diversis principibus constitutos modo qui potuit sibi conciliavit.»

 

14. Nämlich im Bericht des Regino von Prüm (Ed. Kurze 1890, S. 112) über die damalige Teilung des ostfränkischen Reiches unter die Söhne Ludwigs des Deutschen.

 

15. Ann. Fuld. ad a. 880, Ed. Kurze 1891, S.94/95.

 

16. Jäger 1960, S. 23; Třeštík 1981, S. 94.

 

17. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 890, Ed. Kurze 1891, S.118.

 

18. Reginon. Chron. ad a. 890, Ed. Kurze 1890, S. 134.

 

19. Diese Interpretation auch bei Bowlus 1987, S. 563. Als formelle Anerkennung eines schon länger bestehenden Zustandes deuten den Vorgang Novotný 1912, S.380ff.; Wostry 1953, S.231/232; Turek 1974, S. 155. Ähnlich, doch mit Annahme einer weiter bestehen den ostfränkischen Oberhoheit Bosl 1958, S. 55; Preidel 1960, S. 75/76. Mühlberger 1980, S. 141 spricht von einem möglichen Tausch Unterpannoniens gegen Böhmen (!). Boba 1971, S. 62 vermutet als Motiv Arnulfs für die Abtretung eine beabsichtigte «Pufferzone» im Osten gegen die ungarischen Vorstöße.

 

 

287

 

Dabei bedeutet es keinen Widerspruch, wenn die Regensburger Fortsetzung der fuldischen Annalen von einer gewaltsamen «Losreißung» Böhmens aus dem ostfränkischen Lehensverband spricht [20]: Die Lehnsübertragung konnte Sventopulk von Arnulf unter Gewaltdrohung erreicht und sodann gegen fränkische Parteigänger in Böhmen ebenso mit Gewalt durchgesetzt haben!

 

Daß Böhmen nach Aussage der fränkischen Quellen eigentlich erst als letzte Erwerbung an das vermeintlich angrenzende <Großmährische Reich> fiel, hat die Forschung natürlich immer wieder irritiert. Verlegt man allerdings das Zentrum Moravias nicht nach Mähren, sondern in die Ungarische Tiefebene, so ist die relativ späte Angliederung eines dazu völlig peripher liegenden Landes wie Böhmen nicht anders zu erwarten; zudem war diese Angliederung ja räumlich auch erst möglich, nachdem Sventopulk das zwischengelagerte Gebiet von Nitra sowie Pannonien seinem Reich einverleibt hatte.

 

Ebenso wird mit dieser Sichtweise plausibler, warum sich die Böhmen nach nur kurzer, etwa fünfjähriger Oberhoheit Moravias im Juli 895 wieder von dieser befreien konnten [21]. Die räumliche Entfernung, nicht nur die Schwächung Moravias allein, verhinderten eine wirksame Kontrolle Böhmens nach dem Tode Sventopulks, zumal nach der Rückerstattung «Pannoniens» an das Ostfrankenreich durch Moimir II.

 

Das hier vorgestellte Modell vermag, anders als dasjenige Bobas, jedoch auch zu erklären, wieso es noch 897 zu Klagen böhmischer «duces» über Angriffe der Mo-ravljanen kommen konnte [22]; diese Auseinandersetzungen fanden nördlich der Donau statt, im heutigen mährisch-slowakischen Grenzgebiet, wo die Region von Nitra offenbar weiterhin zu Moravia gehörte (oder vielleicht für kurze Zeit zu Böhmen?), bevor sie um 900 von den Ungarn erobert wurde.

 

Der Ansetzung Moravias in Sirmien wird durch den Bericht der Annalen dagegen entschieden widersprochen, da nach den von Boba vertretenen Vorstellungen ein böhmisch-moravischer Kontakt nur über «Pannonien» möglich wäre, dieses aber seit 894 wieder in ostfränkischer Hand war.

 

Ob die Sorben tatsächlich zur Zeit Sventopulks unter böhmischer Herrschaft standen und an Moravia jährlich Zins zahlten, wie der um 1012/18 schreibende Thietmar von Merseburg in seiner Chronik mitteilt [23], ist angesichts fehlender zeitgenössischer Überlieferungen nicht so sicher, wie es bisweilen dargestellt wird.

 

 

20. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 895, Ed. Kurze 1891, S. 126.

 

21. Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. ad a. 895, Ed. Kurze 1891, S. 126.

 

22. Ann. Fuld. Cont. Altah. ad a. 897, Ed. Kurze 1891, S. 131.

 

23. Thietmari Chron. VI.99, Ed. Holtzmann 1935, S. 392. Zum Quellenwert Lhotsky 1963, S. 170; s.a. H. Lippelt, Thietmar von Merseburg, Reichsbischof und Chronist (Köln/Wien 1973).

 

 

288

 

Enge böhmisch-sorbische Beziehungen sind immerhin im letzten Drittel des 9. Jahrhunderts belegt und könnten zu einer zeitlich parallelen Tributleistung an Moravia von 890 bis 895 geführt haben [24].

 

 

3.4.4. Böhmen und Moravia nach der hochmittelalterlichen Tradition Böhmens

 

Die Einbeziehung der einheimischen böhmischen Quellen zur Lösung der angesprochenen Frage wirft mehrere gravierende Probleme auf. Zum einen ist die Datierung der vermeintlich ältesten Quelle böhmischer Provenienz, welche auf die Beziehungen des Landes zu Moravia eingeht, eine noch keineswegs gelöste Streitfrage: Die Wenzelslegende des sog. «Christian» wird von den Vertretern ihrer «Echtheit», d.h. von jenen, die die im Text behauptete Autorschaft eines Verwandten des hl. Adalbert akzeptieren, in das letzte Jahrzehnt des 10. Jahrhunderts gesetzt; andere halten sie für eine «Fälschung» des 14. Jahrhunderts. Dieser Frage soll an anderer Stelle nachgegangen werden [1]; vorläufig sei nur angedeutet, daß gerade bei der Betrachtung des hier interessierenden Teiles der Legende eine Entstehung im 12. Jahrhundert die größte Wahrscheinlichkeit für sich hat.

 

Als weiteres Problem stellt sich damit die Frage nach der Priorität und gegenseitigen Abhängigkeit der Legende «Christians» im Verhältnis zur ältesten böhmischen Chronik, der des Cosmas von Prag aus dem ersten Viertel des 12. Jahrhunderts. Beide bringen zum Komplex der böhmischen Geschichte in der Zeit vor dem hl. Wenzel einige gemeinsame Informationen, die in keiner älteren Quelle zu finden sind; daneben führt jedoch jede einzelne für sich weiteres Material an, das nur ihr zu eigen ist. Da die Art der Überlieferung dieser Berichte vom Zeitpunkt des Geschehens im 9. Jahrhundert bis zur Abfassung der Quellen, also über etwas mehr als zwei Jahrhunderte, nicht verifizierbar ist (denkbar wäre prinzipiell auch eine mündliche Überlieferung, vielleicht in epischer Form), sollte die böhmische hochmittelalterliche Überlieferung für die Zeit vor Wenzel - also auch für die hier interessierende Spanne - nur mit größter Vorsicht ausgewertet werden. Alle Schlüsse zur Stellung Böhmens gegenüber Moravia, die sich nur auf diese Quellengattung stützen, sind von vornherein verdächtig.

 

Die Wenzelslegende «Christians» berichtet [2], daß sich der noch junge Böhmenherzog Bofivoj, der sich vom «Stammvater» der Böhmen, Přemysl, herleitete, einst an den Hof seines Herrn, des Königs von Moravia, Sventopulk («Zuentepulc»), begab.

 

 

24. Bosl 1974, S.281/282; auf dynastische Eheverbindungen verweist v.a. Ludat 1971, S. 105 Anm.56.

 

1. Nämlich im Zusammenhang mit der angeblichen kyrillomethodianischen Legendentra dition Böhmens in einer Abhandlung über Ebf. Method.

 

2. Christian 2, Ed. Ludvíkovský 1978, S. 16-25.

 

 

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Dort konnte er vom Erzbischof («presul», auch «pontifex») Methodius zur Taufe bewegen werden, die er als erster böhmischer Herrscher erhielt. Bei seiner Rückkehr nach Böhmen wurde Bořivoj von einem Priester namens «Caych» begleitet; er erbaute in Levy Hradec («Gradic») eine dem hl. Clemens geweihte Kirche. Doch das böhmische Volk lehnte sich gegen den neuen Glauben auf und vertrieb Bořivoj, der nach Moravia floh. Zum neuen Herrscher wurde ein gewisser «Stroimir» berufen, der so lange Zeit bei den «Deutschen» («aput Theutonicos») im Exil verbracht hatte, daß er seine tschechische Muttersprache verlernt hatte. Dies machte den neuen Herrn unbeliebt, und nach einer Auseinandersetzung vor der Prager Burg vermochte die Partei Boŕivojs Stroimir und seinen Anhang zu verjagen. Bořivoj wurde aus Moravia zurückgeholt und erbaute als Dank für seine glückliche Rückkehr auf der Prager Burg eine Marienkirche [3].

 

Diese Erzählung ist mehrfach herangezogen worden als Beweis für die These, daß Sventopulk bereits vor 890 in Böhmen die faktische Hoheit ausgeübt habe. Denn wenn Bořivoj ihm schon zu jener Zeit Untertan war, zu der Method noch lebte und am Hofe Moravias weilte, so mußte dies vor 885 (dem Todesjahr Methods), aber nach 873 (Entlassung Methods aus bairischer Haft) gewesen sein [4].

 

Andererseits widersprach aber die Behauptung, Bořivoj sei der erste getaufte Böhmenfürst gewesen, der bekannten Nachricht von der Taufe 14 böhmischer «duces» in Regensburg 845 [5], wie auch der Tatsache, daß die angeblich von Method vollzogene Taufe in dessen Vita keinerlei Erwähnung findet!

 

Auch die innerböhmischen Verhältnisse erscheinen bei «Christian» in ganz anderem Licht als in den fränkischen Quellen: Statt einer Vielzahl von «duces», wie sie dort mehrfach aufgeführt ist, kennt die Legende «Christians» jeweils nur einen «dux» in Böhmen. Der Name des ersten, Bořivoj, ist auch Cosmas von Prag sowie späteren böhmischen Legenden bekannt. In der fränkischen Annalistik findet sich, wie schon angedeutet, nur eine recht unsichere Parallele: Die Schlettstädter Handschrift der Fuldaer Annalen setzt als einzige zu den übrigen fünf böhmischen «duces» des Jahres 872 einen «Goriwei» [6].

 

 

3. In die Stroimir-Episode ist eine «Wandersage» eingebaut, die in einer Variante auch bei Dalimil (Anf. 14. Jahrhundert) erscheint, s. Wostry 1953, S.228/229; Turek 1974, S. 14,63; die Glaubwürdigkeit der ganzen Erzählung über Bořivoj wird dadurch nicht gerade erhöht!

 

4. Diese Überlegungen etwa bei Chaloupecký 1939, S. 177ff., 411, der sich für das Taufjahr 874 entscheidet.

 

5. Ann. Fuld. ad a. 845, Ed. Kurze 1891, S.35.

 

6. Dieser Zusatz «Goriwei», der wohl aus einer Marginalie in den Text geriet, wird in der Ed. Kurze 1891, S. 76 nicht weiter kommentiert. Wostry 1953, S.219 und Bosl 1958, S. 53 lassen die Frage «Goriwei» = Bořivoj offen; die meisten tschechischen Historiker bejahen.

 

 

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Ansonsten erscheint Bořivoj jedoch, ganz im Gegensatz zu seinen Söhnen Spytihněv und Vratislav, aber auch zu seinen Enkeln Wenzel und Boleslav, nicht in der außerböhmischen Überlieferung - ebensowenig übrigens in den älteren Wenzelslegenden des 10. und 11. Jahrhunderts [7].

 

Sein angeblich bei den Ostfranken («Deutschen») im Exil lebender Konkurrent «Stroimir» ist weder in fränkischen Quellen noch sonst irgendwo belegt. Bei einem zweimaligen Machtwechsel in Böhmen, der auch die ostfränkisch-moravischen Beziehungen involvierte, wäre aber doch eigentlich eine entsprechende Bemerkung in ostfränkischen Annalen zu erwarten - analog etwa zu den Ereignissen des Jahres 857 in der «civitas Wiztrachi ducis», als der antifränkische Sclavitag von seinem profränkischen Bruder, der bis dahin im Exil bei den Sorben gelebt hatte, abgelöst wurde.

 

Weiterhin ist es in hohem Maße unglaubwürdig, daß ausgerechnet der Protagonist des böhmischen Heidentums bei den Ostfranken Schutz gesucht hätte. Schließlich muß die zu Bořivoj («Heereszerstörer») antithetische Namensbildung «Stroimir» («Friedensbereiter»), deren Etymologie noch dazu von «Christian» gegeben wird, Verdacht erregen [8]. Aus allen diesen Überlegungen heraus wurde der Bericht «Christians» bereits frühzeitig als ahistorisch verworfen. Andererseits hat man jedoch auch Versuche unternommen, die hier gebotenen Legendenstoffe mit der «weltlichen» Überlieferung zu verbinden, und zwar - außer mit den älteren fränkischen Quellen - in erster Linie mit der ca. 1119 bis 1125 entstandenen «Böhmenchronik» des Cosmas.

 

Auch bei Cosmas stellt sich die Quellenfrage; sicher zu belegen ist für den hier relevanten Teil eine Verwendung der Chronik Reginos von Prüm [9]. Unklar ist hingegen das Verhältnis zu «Christian».

 

Cosmas führt als erste chronikalische Quelle Böhmens die Person des Bořivoj ein, den er in direkter Linie über acht Generationen vom legendären Stammvater der Dynastie, Přemysl, abstammen läßt. Seine mehrgliedrige Genealogie kennt in dieser Form keine andere Quelle;

 

 

7. Bořivoj kennen nicht die Wenzelslegenden «Crescente fide», des Gumpold und des Laurentius, «Oportet nos fratres» und «Oriente iam sole», sondern erst (außer «Christian») die in ihrem Alter umstrittenen Ludmilla-Legenden «Fuit in provincia Boemorum» und «Beata Ludmila»; die 2. altslawische Wenzelslegende; die sog. «Mährische Legende» (Tempore Michaelis imperatoris»); die «Böhmische Legende» («Diffundente sole»); die Legende «Quemadmodum»; die Wenzelslegende Karls IV. sowie die Vita der hll. Crha und Strachota; vgl. die jeweiligen Editionen in den MMFH.

 

8. So Novotný 1912, S.384 Anm. 1; F. Graus in Graus/Ludat 1967, S. 126; für eine spätere Interpolation hielt Chaloupecký 1939, S.232ff. die Stroimir-Erzählung; ihre Historizität erwägen Wostry 1953, S.237; Bosl 1958, S. 118/119 und 1964, S.29; Herrmann 1965, S. 205; Turek 1974, S.154; Třeštik 1986, S. 323 ff.

 

9. Vgl. D. Třeštik, Kosmas a Regino; in: ČSČH 8 (1960), S.564-587; s.a. Třeštík 1968, S.50ff.; Turek 1974, S.7; Bujnoch 1977; Treštík 1981, S.llff.; Hemmerle 1981, S.42.

 

 

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«Christian» erwähnt vor Bořivoj allein den «Urvater» Přemysl [10]. Nach F. Graus geht sie nicht auf eine Volkstradition zurück. Bořivoj steht bei Cosmas gewissermaßen an der «Schnittstelle» der nur hier zu findenden, vielleicht höfischen, sicher aber fiktiven Herkunftssage und jenem Abschnitt pŕemyslidischer Dynastengeschichte, der aus den Wenzelsund Ludmillalegenden sowie Quellen aus dem Westen besser erhellt ist [11].

 

Über das Verhältnis Böhmens zu Moravia während der Zeit Bořivojs berichtet Cosmas bei zwei Gelegenheiten. Zunächst weiß auch er, wie «Christian» und spätere Legenden, von einer Taufe Bořivojs, die der «Bischof» Methodius in Moravia vorgenommen habe zur Zeit des dortigen Königs Sventopulk und des Kaisers Arnulf; an anderer Stelle datiert Cosmas diese Taufe auf das Jahr 894 [12]!

 

Diese Daten sind unmöglich miteinander zu vereinbaren, wie schon J. Dojrovsky erkannte [13]; nicht nur, daß Method bereits 885 verstarb und Arnulf erst 896 zum Kaiser gekrönt wurde, auch die Königserhebung Sventopulks ist auf das Ende ies Jahres 885 zu setzen. Wahrscheinlich kombinierte Cosmas hier verschiedene ľraditionsstränge bei falschen chronologischen Schlußfolgerungen; die Jahreszahl 394 bezeichnete in seiner Vorlage vielleicht ursprünglich das Todesjahr Sventopulks (wie bei Regino) oder auch das Bořivojs [14].

 

895 erscheint jedenfalls in fränkischen Annalen bereits dessen Sohn Spytihněv als einer der beiden bedeutendsten böhmischen «duces», so daß man Bořivojs Tod vor diesem Jahr ansetzen müßte. Da er nach Angaben in zwei seiner Gattin Ludmilla gewidmeten Legenden nur 36 Jahre alt wurde [15], andererseits schon 872 als Heerführer aufgetreten sein soll, so müßte er spätestens Ende der fünfziger Jahre des 9. Jahrhunderts geboren worden sein und wäre etwa gleichzeitig mit Sventopulk um 892 gestorben [16]. Die von «Christian» berichtete Taufe und anschließende Vertreibung Bořivojs wäre allenfalls in die Jahre zwischen 873 und 885 zu setzen, da, wie gesagt, nur während dieser Zeitspanne Sventopulk und Method in Moravia wirkten.

 

 

11. Cosmas I.9, 10, Ed. Bretholz 1955, S.21/22.

 

12. Graus 1967, S. 148; vgl. auch Wostry 1953, S.241. Karbusický 1980 versuchte teils epische, teils historische Motive im «Přemyslidenzyklus» des Cosmas zu erweisen; vgl. dazu die ablehnenden Rez. von Graus 1981 und Hlavácek 1981. Cosmas I.10, Ed. Bretholz 1955, S.22 und 1.14, Ed. Bretholz 1955, S.32.

 

13. J. Dobrovský, Cyrill und Method (Prag 1823), S. 107/108.

 

14. Zu dieser Frage Wostry 1953, S.229ff.; Třeštík 1981, S. 14ff.

 

15. Legende «Fuit in provincia Boemorum», Ed. Emler 1873, S. 144; «Beata Ludmila fuit», Ed. Kolári 873, S. 123.

 

16. So jedenfalls, wenn man ihn mit dem «Goriwei» der Schlettstadter Handschrift der Ful-daer Annalen identifiziert und er 872 bereits ein «kommandofähiges» Alter, also etwa 14 Jahre erreicht hatte, was 894 als Todesjahr ergäbe.

 

 

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Möchte man also den Berichten des Cosmas und «Christian» zumindest partielle Glaubwürdigkeit zubilligen und an der Mitwirkung Methods bei der Taufe Bořivojs festhalten, so könnte man entweder die 871 bis 874 oder aber die 880 in fränkischen Annalen berichteten Konflikte mit der Vertreibung Bořivojs in Verbindung bringen. Die Ersetzung eines mit Sventopulk sympathisierenden, jedenfalls antifränkischen böhmischen Fürsten (oder Teilfürsten?) durch einen solchen profränkischer Richtung 874 oder 880 könnte jedenfalls durch Reginos Aussage Wahrscheinlichkeit gewinnen, daß die Böhmen vor 890 eine längere Phase der «fidelitas» gewahrt hätten.

 

890 wäre nach dieser Kombination der ostfränkische Sympathisant, wie auch immer er geheißen haben mag, abgelöst worden von einem Vertrauensmann Sventopulks, eben dem Bořivoj «Christians» und Cosmas'. Dagegen ist die These W. Wostrys, Bořivoj sei als «Landfremder» von Sventopulk eingesetzt worden [17], kaum zu halten, da ja laut Regino die Böhmen bis 890 nur aus dem eigenen Lande stammende Herrscher gehabt hätten. Wahrscheinlich bleibt unter den bisher angeführten Prämissen seine Annahme, daß Bořivoj als «Exponent» Sventopulks in Böhmen anzusehen ist.

 

Auf Bořivojs Tod (der vielleicht im Zusammenhang mit den seit 892 geführten ostfränkischen Feldzügen gegen Sventopulk zu sehen ist) wäre sodann sein Sohn Spytihnev gefolgt, der sich 895 den Ostfranken unterwarf. Aus rein chronologischem Blickwinkel ist eine solche Kombination der späteren böhmischen Überlieferung mit den Aussagen der fränkischen Quellen des 9./10. Jahrhunderts möglich; strikt beweisbar ist ihre Richtigkeit jedoch nicht. Auf jeden Fall besteht kein Anlaß, die aus der zeitgenössischen Annalistik gewonnene Auffassung einer erst spät im 9. Jahrhundert einsetzenden böhmisch-moravischen Verbindung, gestützt allein auf die böhmischen Quellen erheblich späterer Provenienz, zu revidieren [18].

 

Es ist nochmals zu betonen, daß die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Moravia und Böhmen bei einer von Anfang an bestehenden Nachbarschaft beider Territorien kaum verständlich wäre. Der zu erwartende erobernde Übergriff Moimirs oder Rastislavs gegen das zwar nicht in Stämme, wohl aber in mehrere Herrschaftsbildungen zersplitterte Böhmen erfolgte nicht. Eine vielleicht als Bündnis anzusprechende Beziehung wird erstmalig 871/74 deutlich.

 

 

17. Wostry 1953, S.241ÍÍ.; ihm folgend Bosl 1958, S.56.

 

18. Vgl. Sasse 1982, S.48. Nicht übersehen werden sollte, daß sich 1107 nochmals eine Konstellation «Bořivoj in Böhmen» und «Svatopluk in Mähren (-Olmütz)» ergab, wobei der mährische Teilfürst den böhmischen Herzog verdrängte (s. Prinz 1984, S. 100/101); sind hier vielleicht Einflüsse auf die Darstellung des Cosmas denkbar?

 

 

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Eine vor 890 wirksam werdende, als «Protektorat» o.a. zu apostrophierende Einflußnahme Sventopulks in Böhmen ist jedoch nur aus der späteren tschechischen Überlieferung herauszuin-terpretieren - ausdrücklich behauptet wird sie auch dort nicht! Angesichts des großen zeitlichen Abstandes dieser Quellen zu den berichteten Ereignissen ist mit Verzerrungen und Brüchen einer eventuellen bodenständigen Tradition Böhmens über Moravias Rolle in seiner Geschichte zu rechnen, die alle Kombinationen allein auf dieser Basis suspekt machen.

 

Die quellenmäßig überlieferten Ansprüche des Ostfrankenreiches auf eine Oberhoheit mögen oftmals nicht der faktischen politischen Situation entsprochen haben - eine Suprematie Moravias vor 890 ist deswegen noch keinesfalls anzunehmen. Erst zu diesem Jahr 890 ist die Einbeziehung Böhmens in das Großreich Sventopulks wirklich aus den Quellen verifizierbar; sie wurde schon nach fünf Jahren rückgängig gemacht. Diese nur sehr ephemere Angliederung erklärt sich aus der beträchtlichen Entfernung Böhmens vom Reichszentrum Moravias.

 

 

3.5. Die Verhältnisse im Karpatenraum

 

Problematisch ist die Quellenlage für den östlich an Böhmen anschließenden Raum, welcher etwa Mähren, die Slowakei mit Teilen Nordungarns, Nordostungarn sowie Siebenbürgen umfaßt. Die besonders gelagerte Frage des politischen Schicksales von Mähren soll dabei erst an anderer Stelle angesprochen werden.

 

Für die westliche und mittlere Slowakei konnte bereits bei der Untersuchung der historischen Rolle des Ortes Nitra im 9. Jahrhundert auf jenen Brief verwiesen werden, welchen der bairische Episkopat im Jahre 900 an Papst Johannes IX. richtete. Er legt unzweifelhaft eine Eroberung der Region um Nitra erst unter Sventopulk und nicht, wie sonst behauptet, schon unter Moimir I. nahe; der entscheidende Satz lautet:

 

«Antecessor vester [Papst Johannes VIII.] Zuentibaldo duce impétrante, Wichingum consecravit episcopum ... in quandam neophytam gentem, quam ipse dux bello domuit et ex paganis christianos esse patravit. [1]»

 

Die von Sventopulk bezwungene, noch heidnische «gens», welche der geistlichen Obhut Wichings anvertraut wurde, ist wohl nicht mit den südpolnischen Wis-lanen gleichzusetzen, sondern mit den «Vulgarii» des «Bairischen Geographen», der sie zwischen Böhmen und «Marharii» einerseits, den als Moravljanen interpretierten «Merehani» andererseits plazierte [2]. Die bulgarischstämmige Restgruppe der Awarenföderation, die sich hier offenbar auch nach den Eroberungskriegen Karls des Großen gehalten hatte,

 

 

1. Die Briefstelle in MMFH 3 (1969), S.237; Wiching wurde 880 konsekriert.

 

2. Ed. Horák/Trávníček 1956, S. 2.

 

 

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wurde also von Sventopulk zwischen 871, dem Zeitpunkt seiner Machtübernahme in Moravia, und 880, dem Datum der Bischofsweihe Wichings, besiegt und seinem Reich angegliedert. Damit war nach der hier vertretenen Auffassung erstmals der direkte territoriale Kontakt zu Böhmen hergestellt, gleichzeitig ein Eingreifen Sventopulks in die dortigen Angelegenheiten überhaupt erst ermöglicht.

 

Zu den bisher gewonnenen Erkenntnissen ist nun eine bisher in der genauen Bedeutung ihres Wortlauts nicht richtig ausgewertete Quellenstelle zu vergleichen; Cosmas von Prag schreibt in seiner «Böhmenchronik»: «Zuatopluk ... qui sibi non solum Boemiam, verum etiam alias regiones hinc usque ad flumen Odram et inde versus Ungariam usque ad fluvium Gron subiugabat... [3]». Nach Cosmas hatte Sventopulk also nicht nur Böhmen «unterworfen» (worüber Cosmas sich bei seiner Vorlage Regino von Prüm informieren konnte) [4], sondern auch die östlich angrenzenden Territorien bis zur Oder und Gran/Hron.

 

I. Boba hat die Ausdrucksweise Cosmas' so ausgelegt, daß das derart umschriebene Gebiet einschließlich Mährens unmöglich von Anfang an zu Sventopulks Machtbereich gehört haben kann und daß auch Cosmas selbst den Sachverhalt so gesehen habe [5]. Diese Möglichkeit ist immerhin erwägenswert, wenn auch nicht stringent zu beweisen. Interessant ist jedenfalls, daß die von Cosmas gegebenen Fixpunkte nicht mit denen der bereits erwähnten Prager Bistumsurkunde von 1086 übereinstimmen, die des öfteren bei der Bestimmung der Nordostgrenze des <Großmährischen Reiches> herangezogen wurde.

 

Die in dieser Urkunde aufgeführte Grenzbeschreibung des Prager Bistums soll nämlich nach Ansicht einiger Forscher zurückgehen auf die Grenzen der Erzdiözese Methods [6]. Die sehr verworrene Darstellung der Grenze, auf die noch zurückzukommen sein wird, schließt südlich der Karpaten Gebiete bis zum Flusse Waag/Vah ein, also weniger Territorium als bei Cosmas, insbesondere nicht die Stadt Nitra. Nördlich der Karpaten sind hingegen beträchtliche Teile Südpolens um Krakau einbezogen, ebenso große Strecken der Ukraine bis zu den Flüssen Bug und Styr, hier also wesentlich mehr Raum als bei Cosmas [7].

 

Angesichts der nicht sehr vertrauenswürdigen geographischen Terminologie der Urkunde selbst für die Zeit ihrer Ausstellung sollte sie für die territorialen Fragen des 9. Jahrhunderts auf keinen Fall herangezogen werden.

 

 

3. Cosmas I.14, Ed. Bretholz 1955, S.32/33.

 

4. Vgl. Třeštík 1968.

 

5. Boba 1971, S. 62/63, 117ff.

 

6. Hrubý 1926, S. 109/110; Preidel 1957, S. 50; gegen diese Ansicht wendet sich Hauptmann 1954, S. 154.

 

7. MG DD Henrici IV, 2, Ed. v. Gladiss 1959, Nr.390, hier S.517.

 

 

295

 

Die bereits erwähnten südpolnischen Wislanen bezeichnet die Methodvita als Heiden [8]. Nicht aus dem Wortlaut der Quelle selbst, wohl aber aus dem Kontext wird ersichtlich, daß das Volk von Sventopulk besiegt und sein Fürst gefangengenommen wurde. Ein anschließendes Abhängigkeitsverhältnis der Wislanen ist damit zwar nicht gesichert, aber möglich [9].

 

Der Zeitpunkt des Konfliktes läßt sich aufgrund der Stellung des entsprechenden Kapitels in der Methodvita, die im allgemeinen eine korrekte chronologische Reihenfolge der Ereignisse einhält, auf die Jahre zwischen 873/74 und 880/81 einengen. Es ist zu betonen, daß es für ein nördlich über das Wislanengebiet noch hinausgehendes Ausgreifen Sventopulks, wie es zum Teil angenommen wird [10], keinerlei Belege gibt.

 

Völlig unklar müssen auch die politischen Verhältnisse im Gebiet der oberen Theiß bleiben. Es lag außerhalb des als Grenzbefestigung Moravias interpretierten Wallsystems; in ethnischer Hinsicht war es vielleicht von einer weiteren Restgruppe der Awarenföderation besetzt.

 

Die verschiedenen, jedoch unbeweisbaren Möglichkeiten für Siebenbürgen sind eine Hoheit Moravias oder Bulgariens bzw. die selbständige Existenz einer awarisch-slawischen Gruppe. Einziger Hinweis auf diese Randgebiete könnte der Bericht der Methodvita über einen Kampf Sventopulks gegen ungenannte Heiden sein, den sie erst im Anschluß an die Wislanen-Episode bringt. Diese Heiden können nur im Norden oder Osten Moravias lokalisiert werden, da in allen anderen Himmelsrichtungen bereits christianisierte Völker saßen [11]. An erste Vortrupps der Ungarn, die ja 862 und 881 im Donauraum auftauchten, ist hier jedenfalls kaum zu denken, da sie sich in beiden Fällen gegen das Ostfrankenreich und nicht gegen Moravia, das mit diesem im Krieg lag, wandten.

 

 

8. Methodvita 11, Ed Grivec/Tomšič 1960, S. 161.

 

9. So etwa F. Hrušovský, Veľká Morava a Poľsko; in: Stanislav 1933, S.289-317; Odložilík 1954, S.79; Grivec 1960, S. 140; Dittrich 1962, S.204/205; Havlík 1964 passim, 1965 b, S.105; Wasilewski 1965; Hensel 1967, S. 19; Myślinski 1968, S.482; Dabrowska 1970; Ratkoš 1984 b, S.ISff.; Wolfram 1987, S. 364.

 

10. Völlig abgelehnt hingegen von Boba 1973 b, S. 970, der philologisch argumentiert: «Visle» bedeute hier nicht Weichsel; aus historischen Überlegungen hingegen negiert von Vincenz 1983, passim; s.a. Schelesniker 1988, S.277; Kronsteiner 1989, S. 18, 111. 1 10 So etwa von Żak 1985.

 

11. Methodvita 11, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S. 161. Zur Zeit der Herrschaft Sventopulks in Moravia waren bereits getauft die Bulgaren (seit 864); die Serben und Kroaten (in der 1. H. des 9. Jahrhunderts); Pannonien (seit Anf. des 9. Jahrhunderts) und Böhmen (Taufe der «duces» 845); die gerade zuvor genannten Wislanen scheiden wohl ebenfalls aus. Oder sind statt «Heiden» allgemein vielmehr die heidnischen «Paganier» oder Narentaner an der Adria gemeint (so Kronsteiner 1989, S. 18, 120)?

 

 

296

 

Das Desinteresse der fränkischen und byzantinischen Schriftsteller an diesen Ländern, die ihnen so fern lagen, erlaubt also keine konkreten Aussagen über deren politische Zuordnung. Eine entsprechende Auswertung der Autoren des islamischen Bereiches, wie sie etwa L. Havlík versucht hat, bleibt hingegen wegen der auf zahllosen Konjekturen und Text«verbesserungen» beruhenden Argumentation mehr als anfechtbar [12].

 

 

3.6. Zusammenfassung

 

Wahrend im zweiten Kapitel gezeigt wurde, daß das eigentliche Moravia im engeren Sinne unter Moimir I. und Rastislav in seinem Umfange recht stabil blieb und sich während dieser Zeitspanne eher in der Defensive gegenüber Ostfranken und Bulgaren befand, ist die im dritten Kapitel behandelte Regierungszeit Sventopulks die Phase einer gewaltigen Expansion Moravias. (Vgl. Karte 18)

 

Dies machte ein verstärktes Eingehen auf die Moravia benachbarten Territorien und die wechselseitigen Beziehungen nötig. Eine entscheidende Rolle spielte zunächst jenes Gebiet, welches Sventopulk vor seinem Regierungsantritt in Moravia (871) beherrschte. Dieses «Regnum», wie es in fränkischen Quellen bezeichnet wird [1], lag nun - im Gegensatz zu Moravia - tatsächlich südlich der von Boba postulierten Drau-Donau-Linie. Es umfaßte allerdings nicht nur Bosnien, wie Boba annimmt, sondern auch Teile des Save-Drau-Stromlandes, des heutigen Slawonien, wo die Forschung den 838 genannten Slawenfürsten Ratimir lokalisiert hatte - zu Recht, wie die Untersuchung erwies, nur daß sich dieses Fürstentum eben weiter nach Süden ausdehnte als bisher angenommen. Dagegen hatte Sventopulks «Regnum» nichts mit der ephemeren Reichsbildung des Liudewit von Siscia zu Beginn des 9. Jahrhunderts zu tun.

 

Vielmehr konnte eine vom frühen 9. bis zum frühen 10. Jahrhundert reichende Herrscherliste des bosnisch-slawonischen Fürstentums erstellt werden. Als wichtigstes Hilfsmittel bei dieser Rekonstruktion erwies sich eine bisher weitgehend vernachlässigte und auch von Boba nur ungenügend ausgewertete südslawische Quelle aus dem 12. Jahrhundert, die Chronik des sog. «Presbyter Diocleas», die jedoch auf ältere Vorlagen, zum Teil wohl noch aus dem 9. Jahrhundert, zurückging. Sie lieferte - um einen Ausdruck aus der Archäologie zu verwenden - die relative Chronologie, während die absolutchronologischen «Eckdaten» aus Quellen des fränkischen Bereiches gewonnen werden konnten.

 

 

12. Vgl. Havlík 1961, S. 16, 37 bzw. 1964, S.240/241.

 

1. Ann. Fuld. ad a. 869, 870, Ed. Kurze 1891, S.67ff.; Herim. Augiensis Chron. ad a. 870, Ed.Pertz 1844, S.106.

 

 

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Ebenso war es möglich, einen Großteil der vom «Presbyter Diocleas» berichteten historischen Fakten dieses Zeitraumes anhand anderer, in ihrer Glaubwürdigkeit etablierter Quellen zu verifizieren, so etwa ein Bündnis des bosnisch-slawonischen Fürstentums mit den Bulgaren im dritten und vierten Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts, eine Christenverfolgung unter Ratimir, das Datum des Regierungswechsels von Svetimir zu Sventopulk, die Christianisierung des «Regnums» unter Sventopulk und die Glanzzeit des «Regnum Sclavorum» unter diesem Herrscher, die Regierungsübernahme durch einen (annähernd) gleichnamigen Sohn Sventopulks und die Ungarnkriege von Sventopulks Enkel Tomislav [2].

 

Zudem konnte aber auch eine gemeinsame Genealogie der Fürstenhäuser von Moravia und Bosnien-Slawonien entwickelt werden; als überraschendes Ergebnis zeigte es sich, daß alle bisher aus fränkischen Quellen bekannten Fürsten Moravias (Moimir, Rastislav, Slavomir, Sventopulk, Moimir II. und Sventopulk II.) in Verwandtschaft standen sowohl zu dem bisher als «pannonisch-kroatisch» apostrophierten Ratimir wie auch zu dem angeblich «dalmatinisch-kroatischen» Tomislav. Der aus den Awarenkriegen Karls des Großen bekannte Vojnomir wurde als hypothetischer Spitzenahn vorgeschlagen, die fehlenden Zwischenglieder (Vladimir, Svetimir) lieferte der «Presbyter Diocleas».

 

Verwandtschaftsbeziehungen zu den Dynastien vor allem Serbiens (aufgrund des Ausdrucks «progenies» im Papstbrief von 873 [3]) wie auch eventuell Kroatiens sowie dieser Dynastien untereinander deuteten sich an; eine Einbeziehung auch Pribinas und Kocels in diesen Kreis südslawischer Dynasten könnte erwogen werden [4]. Bobas Idee eines südslawischen «Patrimoniums» in Analogie zur späteren Kiewer Rus' scheint also nicht ganz abwegig. Auf enge Beziehungen aller genannten Fürstenhäuser (wie auch auf eine Zugehörigkeit Moravias und des «Regnums» Sventopulks zum südslawischen Bereich) deuten die gemeinsamen Eintragungen im Evangeliar von Cividale.

 

Aus der Erkenntnis heraus, daß Moravia und Sventopulks «Regnum» mit Serbien, Kroatien und den Kleinfürstentümern an der Adriaküste einen südslawischen territorialen Block bildeten, präsentierten sich verschiedene bisher übersehene (oder fehlinterpretierte) Interaktionen in neuem Licht.

 

So zeigte es sich, daß bulgarische Angriffe auf Moravia im Bündnis mit dem Ostfrankenreich (und zwar bereits zu Zeiten Rastislavs) in zeitlicher Koinzidenz mit solchen auf Serbien stattfanden. Serbische Fürsten verfolgten wiederum denselben politischen Kurs gegenüber Byzanz wie diejenigen Moravias, wobei gerade auch eine zeitliche Übereinstimmung zu beobachten war.

 

 

2. Die Weiterführung der Geschichte des bosnisch-slawonischen Fstms. ab Tomislav (Anf. 10. Jahrhundert) in Kap.4.3.2. u. 4.3.3.

 

3. MG Epp. VII, Ed. Kehr 1928, Fragm. Registri Johannis VIII. papae, Nr. 18, S.282.

 

4. So Boba 1987; allerdings nicht beweisbar!

 

 

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Im südadriatischen Zachlumien setzte Sventopulk offenbar einen aus Südpolen stammenden Fürsten als Regenten ein, was eine Abhängigkeit Zachlumiens von Sventopulks «Regnum» wie auch eine Nachbarschaft Südpolens und Zachlumiens zum Gesamtreich desselben impliziert. Die Politik Kroatiens (damals noch auf das dalmatinische Küstenland beschränkt), das zunächst unter fränkisch-italienischem, dann byzantinischem Einfluß gestanden hatte, zeigte unter Fürst Branimir in den Jahren 879 bis 892 so eklatante Parallelen zu derjenigen Sventopulks, daß auf dessen Hegemonie, zumindest aber auf eine enge Interessengemeinschaft bei territorialer Nachbarschaft geschlossen werden konnte [5].

 

Die mit der Regierungszeit Sventopulks notwendig werdende differenzierende Betrachtung des Verhältnisses der einzelnen Territorien des Ostfrankenreiches zu Moravia brachte einige sowohl von der «orthodoxen» Meinung wie auch derjenigen Bobas abweichende Ergebnisse.

 

So wurde z.B. die slawische Herrschaftsbildung um Siscia/Sisak zu keiner Zeit ein Teil der Besitzungen Sventopulks, sondern war zunächst eine fränkische Grafschaft, sodann unter Brazlav Ende des 9. Jahrhunderts wieder, wie unter Liudewit, eine slawische Herrschaft, jedoch unter ostfränkischer Hoheit [6].

 

Auch Bobas Spekulationen über direkte Involvierungen der Herrscher Moravias im eigentlichen Karantanien konnten als unbegründet erwiesen werden, u.a. ein angeblicher Feldzug Rastislavs bis zum Inn; erst die Erweiterung des Begriffes «Karantanien» auch auf das angrenzende westungarische «Pannonien» führte zu einer direkten Nachbarschaft mit Moravia.

 

Der Umfang des in «Pannonien» mit dem Zentrum Mosaburg am Plattensee von 847 bis 876 bestehenden slawischen «Dukates», vor allem dessen Südgrenze an der Dräu, konnte ebenso aus den Quellen ermittelt werden wie deutliche Beziehungen der Führungsschicht zum südslawischen Bereich. Es wurde schließlich der bereits häufiger vertretenen Ansicht beigepflichtet, daß dieses Gebiet 884 an Sventopulk abgetreten werden mußte, wofür einige zusätzliche Belege beigesteuert wurden.

 

Über «Pannonien» hinweg, und zwar meist in Ost-West-Richtung, verliefen -soweit überhaupt lokalisierbar - die Kriege Sventopulks mit den Ostfranken; dabei wurde eine wichtige Rolle der Donau und ihrer Übergänge deutlich. Die «Front» erstreckte sich von der karolingischen «Ostmark» im Norden bis zur «Windischen Mark» im Süden. Aufschluß über die Abgrenzung des Ostfrankenreiches vom Reich Sventopulks vermitteln jene Orte, an denen Friedensgespräche stattfanden bzw. an denen sich ostfränkische Heere zu Kriegszügen gegen Sventopulk versammelten;

 

 

5. Weitere derartige Parallelen im kirchlichen Bereich werden in der angekündigten Arbeit über die kyrillomethodianische Problematik aufgezeigt!

 

6. Somit war Brazlav also nicht, wie oft vermutet, ein Nachfolger Ratimirs.

 

 

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im Norden lagen diese am Wienerwald («prope flumen Tullinam») und an der Raab («Omuntesperch»), im Süden an der Südostgrenze Karantaniens («Hen-gistfeldon», Siscia). In diesen beiden besonders gefährdeten Regionen wurden nach 884 auch neue Festungen gegen die Moravljanen errichtet.

 

Schließlich hat C. R. Bowlus gezeigt, daß das Itinerár Arnulfs von Kärnten in den Jahren 887 bis 892 auffallend häufig in den äußersten Südosten des Ostfrankenreiches führte, ohne daß dafür bisher wirklich plausible Gründe gefunden worden wären. Bowlus erklärt dieses Phänomen mit der gewichtigen Stellung, die Sventopulk im Rahmen der Ostpolitik Arnulfs eingenommen habe. Beabsichtigte Treffen beider Herrscher auf kürzestem Wege hätten eben diese Routen Arnulfs erforderlich gemacht [7]. Die Argumente von Bowlus wirken noch überzeugender, bezieht man sie auf ein Moravia in der Ungarischen Tiefebene!

 

Die bei der vorgegebenen Problematik besonders prekäre Frage der Stellung Böhmens konnte recht eindeutig dahingehend beantwortet werden, daß die seit Karl dem Großen de iure beanspruchte (ost-)fränkische Hoheit bis 890 behauptet und erst dann an Moravia übertragen wurde. Die tatsächliche Durchsetzung dieses Anspruches war eine Frage der jeweiligen Machtverhältnisse; daß sie den Ostfranken in Böhmen besser gelang als in Moravia, war nicht (oder nicht nur) Folge einer größeren herrschaftsmäßigen Zersplitterung Böhmens, sondern vor allem auch einer größeren geographischen Nähe zu den Basen ostfränkischer Macht. Vor 890 wurde jedoch die ostfränkische Hoheit zu keinem Zeitpunkt von der Moravias abgelöst; allenfalls sind ab ca. 871 moravisch-böhmische «konzertierte Aktionen» gegen das Ostfrankenreich denkbar.

 

Territoriale Voraussetzung für Sventopulks Übernahme der Lehnshoheit über Böhmen war die vorherige Erwerbung «Pannoniens» sowie der bulgarischen «gens» um Nitra; eine Eroberung des Wislanenlandes ist möglich, aber nicht gesichert.

 

Wie stellt sich also die rapide Expansion «Groß-Moravias» [8] unter Sventopulk chronologisch dar? Entscheidendes Moment für den Beginn der Großreichsbildung war die 871 geglückte Verbindung zweier größerer südslawischer Territorien, die wohl ethnisch eng verwandt waren, unter einem Fürsten, der einer in beiden Reichen als herrschaftsfähig angesehenen Dynastie angehörte. Mit verdoppeltem Potential, aber auch großem Kriegsglück vermochte sich Sventopulk gegen die Ostfranken erfolgreich zu halten. Die 874 im Frieden von Forchheim getroffene Vereinbarung brachte ihm die Anerkennung des Status quo und eine längere, bis 882 währende Periode des Friedens mit dem Ostfrankenreich.

 

 

7. Bowlus 1987; er erschließt einige weitere, in der Annalistik nicht überlieferte Treffen mit Sventopulk 887 bis 892 eben aus dem Itinerár Arnulfs.

 

8. Diese Hilfsbezeichnung soll für das unter Sventopulk zunächst um Bosnien-Slawonien erweiterte Moravia gelten.

 

 

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Damit war ihm ein Ausgreifen in alle übrigen Richtungen ermöglicht; die Methodvita beschreibt diese Zeit mit den Worten, daß «die Herrschaft Moravias («Моравьска область») nach allen Seiten hin sich auszudehnen begann» [9]. In diese Jahre fällt das Eingreifen in innerkroatische Wirren (879), das Sventopulk dort möglicherweise eine hegemoniale Stellung verschaffte; die zwischen 874 und 880 zu setzende Bezwingung der heidnischen Bulgaren um Nitra; das in der Methodvita angesprochene Vorgehen gegen die Wislanen [10], vielleicht auch Unternehmungen gegen awarische Restgruppen im Osten Moravias, etwa in Siebenbürgen.

 

Der 882 neuerlich ausbrechende Konflikt mit lokalen Gewalten des Ostfrankenreiches führte 884 zum Erwerb «Pannoniens». Daran schließt sich zeitlich die vom Papst sanktionierte Erhebung Sventopulks zum charismatischen «Rex» auf dem Reichstag im Herbst 885. Dieser Reichstag stellte den Höhepunkt seiner «Karriere» dar; vielleicht hatte seine Herrschaft südlich von Dräu und Donau (einschließlich der nur indirekt abhängigen Gebiete) wirklich annähernd jene Ausdehnung erreicht, die der «Presbyter Diocleas» dem «Regnum Sclavorum» zuschreibt [11]. Territorialer Zuwachs ergab sich nur noch aus der Lehnshoheit über Böhmen und dessen Dependancen (Mähren, eventuell das Sorbenland), die Sventopulk im Jahre 890 Arnulf abrang. Damit hatten die ostfränkischen Karolinger alle von ihrem großen Ahnherren im Südosten gemachten Eroberungen an Sventopulk verloren, dessen Reich sich in seinen territorialen Ausmaßen durchaus mit dem ihren messen konnte. Doch sollte sich dieses allzu schnell entstandene, dazu in jeder Hinsicht inhomogene Großreich nur weniger Jahre seiner Existenz erfreuen.

 

 

9. Methodvita 10, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S. 154; hier dtsch. Übs. nach Bujnoch 1972, S. 121.

 

10. Methodvita 11, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S. 161.

 

11. Presb. Diocl. 3, 9, Ed. Šišić 1928, S.296, 305/306 (Lucius, Orbini) bzw. 388, 398 (Kaletić, Marulić).

 

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