Das Erzbistum des Method. Lage, Wirkung und Nachleben der kyrillomethodianischen Mission

Martin Eggers

 

0. EINLEITUNG

 

 

Mehrfach wurden in den vergangenen drei Jahrzehnten Jubiläumsfeiern mit kyrillomethodianischem Bezug begangen: so von 1963 bis 1965 die Feiern zum 1100. Jahrestag des Beginns der kyrillomethodianischen Mission; 1969 der 1100. Todestag von Konstantin/Kyrill; 1985 der 1100. Todestag Methods; 1988 das 1000-jährige Jubiläum der Christianisierung Rußlands; 1993 der 1100. Jahrestag der Einführung des Altkirchenslawischen als Reichssprache in Bulgarien und der Ordinierung des Klemens von Ochrid zum Bischof in Makedonien. Alle diese Jahrestage wurden zum Anlaß genommen, der unübersehbaren Menge von Werken, die sich mit der kyrillomethodianischen Problematik beschäftigen, eine beträchtliche Anzahl neuer Arbeiten hinzuzufügen.

 

Die diesbezügliche Forschung kann auf eine Geschichte von etwa drei Jahrhunderten zurückblicken. Der eigentlichen wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Problematik gingen allerdings schon wesentlich frühere, "antiquarische" Versuche voran. Den Beginn machte wohl der gelehrte Kaiser Karl IV. aus dem Haus der Luxemburger. Er hatte im kroatischen Küstenland liturgische Texte entdeckt, die von dem Brüderpaar aus Thessalonike und ihrem Wirken in einem Gebiet oder einer Stadt namens "Morava" handelten, und deren Inhalt auf die unter luxemburgischer Herrschaft stehende Markgrafschaft Mähren (tschechisch "Morava") bezogen. Er entfachte daraufhin in den böhmischen Ländern eine regelrechte Kampagne zur Propagierung des Kultes der beiden Heiligen, in deren Gefolge zahlreiche Legenden, Predigten und Gebete entstanden, welche die Verehrung Kyrills und Methods zum Inhalt hatten und bald ein wild wucherndes Eigenleben zu führen begannen. [1]

 

Außer im westkirchlich orientierten Kroatien hatte man der beiden Heiligen bis dahin fast ausschließlich in den slawischen Ländern der Ostkirche, in Bulgarien, Makedonien, Serbien und Rußland, gedacht; im übrigen Europa, selbst in ihrer byzantinischen Heimat, waren sie so gut wie in Vergessenheit geraten. Daran änderte auch das von Karl TV. entfachte, jedoch regional auf Böhmen und Mähren begrenzte, dazu nur kurzzeitig anhaltende Interesse nicht allzu viel. Immerhin versuchte die katholische Kirche seit dem 16. Jhdt., die beiden "Slawenapostel" für ihre Unionsbestrebungen mit der Ostkirche zu instrumentalisieren [2] - eine Tendenz, die bis in die Gegenwart anhält. [3] Ansonsten wurden Kyrill und Method beispielsweise in der "Chronica Bohemorum" des Aeneas Sylvius Piccolomini von 1458 erwähnt, kurz auch in der "Kronice české cirkevní" des Bohuslav Bílejovský (erschienen 1537) sowie einigen weiteren, weniger bedeutenden kirchenhistorischen Schriften der Renaissancezeit. [4]

 

Die erste eigentliche Biographie der beiden Brüder fällt bereits in die Epoche der barocken Geschichtsschreibung: 1667 veröffentlichte der mährische Zisterzienser Johann Christian Hirschmentzel in Prag eine "Vita SS. Cyrilli et Methudii, archiepiscoporum Moraviae sive Vetus Wellehrad". Der tschechisch-slowakische Bereich sollte denn auch für lange Zeit der Schwerpunkt weiterer Forschungen zum Thema bleiben, wie eine Übersicht über die einschlägigen Veröffentlichungen des 17. und 18. Jhdts., in denen Kyrill und/oder Method zumindest eine etwas ausführlichere Würdigung erfuhren, zeigt.

 

Im böhmisch-mährischen Gebiet erschien 1710 zunächst die "Sacra Moraviae Historia" von Georg Strzedowsky, welche natürlich auch die beiden Slawenlehrer erwähnte. Erst 1777 in tschechischer Übersetzung erschienen, aber schon wesentlich früher in lateinischer Sprache

 

 

1. Bagin 1985, S.129 ff.; Eggers 1995, S.365 ff.

 

2. Dazu Zlámal 1969, S.114 ff.; Huber 1971, S.10.

 

3. Zur Einschätzung der kyrillomethodianischen Mission durch die Kirchen im 19. Jhdt. Tamborra 1988; zur Gegenwart Eggers 1995, S.17.

 

4. Bagin 1985, S.131.

 

 

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verfaßt war die "Apologia pro lingua slavonica praecipue bohemica" des böhmischen Jesuiten Bohuslav Baibin (1621-1688), der sich darin ausgiebig mit der seinerzeit Method von Rom erteilten Genehmigung der slawischen Liturgie auseinandersetzte. [5] 1785 veröffentlichten Adolf Pilarz und Franz Morawetz in Brunn eine "Moraviae Historia", die unter anderem auf die Geschichte von Methods Erzbistum einging.

 

Doch auch die Slowakei, das damalige "Oberungarn", hatte im gleichen Zeitraum etli che einschlägige Werke aufzuweisen. Erster Beleg sind die "Cantus Catholici", ein von Benedikt Szölösi 1655 in Leutschau herausgegebenes katholisches Gesangbuch; es be rief sich auf Traditionen aus kyrillomethodianischer Zeit und die damals in Gebrauch gekommene slawische Liturgie. Auf evangelischer Seite erwähnte erstmals der Prediger Daniel Sinapius Horčička in der Vorrede zu seinem 1678 erschienen Werk "Neoforum Latino-Slavonicum" die "Bischöfe Kyrill und Method, Glaubensboten, gute Kenner der griechischen sowie der slawischen Sprache." [6]

 

Auf gleicher Linie blieben die "Murices sive Apologia" von 1728 aus der Feder des Predigers und Gelehrten Ján Baltazár Magin, in denen unter Berufung auf Kyrill und Method vor allem das sprachliche und kulturelle Erbe der Slowaken verteidigt wurde. Von Samuel Timon, einem Jesuiten und Professor der Universität Tyrnau, erschien 1733 ein "Imago antiquae et novae Hungariae" betiteltes Werk, worin das Wirken des Brüderpaares geschildert und ihm der Ehrenname "Apostoli Slavorum" zugelegt wurde. Die 1780 von Juraj Papánek edierte "Historia Gentis Slavae" ging gleichfalls auf die Geschichte der kyrillomethodianischen Mission ein. Neben den noch zu erwähnenden Streitschriften des Juraj Sklenár sind schließlich noch gegen Ende des 18. Jhdts. zwei Werke von Juraj Fándly aufzuführen, die "Compendiata Historia Gentis Slavae" (1793), eine Geschichte der Slowakei, und eine historische Festpredigt von 1796. Alle genannten Schriften vertraten die Ansicht, daß der Wirkungskreis der "Slawenapostel" Kyrill und Method mehr oder weniger ausschließlich in Mähren und der Slowakei sowie in Böhmen gelegen habe; damit hatte eine entscheidende Weichenstellung für den zukünftigen Gang der Forschung stattgefunden. [7]

 

Zudem diente die Betonung des kulturellen Erbes unter Hervorhebung der bis auf Kyrill und Method zurückgehenden Traditionen in den böhmischen Ländern ebenso wie in der Slowakei schon seit dem späten 17. Jhdt. einer nationalen Identitätsfindung, einer Abgrenzung gegen Magyaren und Deutsche wie auch gegen deren Assimilationsbestrebungen. Die Bedeutung dieser "kyrillomethodianischen Idee" für die Tendenzen der Historiographie, seit dem zweiten Drittel des 19. Jhdts. aber in zunehmendem Maße auch für die konkreten politischen Ziele der Tschechen und Slowaken, ist nicht zu unterschätzen. [8]

 

Gegenüber der starken schriftstellerischen Tätigkeit der genannten Gebiete zur kyrillomethodianischen Problematik war der Beitrag anderer slawischer Länder zunächst völlig unbedeutend. So beteiligte sich Rußland bis weit in das 19. Jhdt. hinein nicht an der wissenschaftlichen Diskussion; hagiographische Texte über das Brüderpaar führten hier eine Art "Dornröschenschlaf" in Klosterbibliotheken und waren daher allenfalls einem engen Personenkreis aus dem kirchlichen Bereich bekannt.

 

In Bulgarien beschäftigte sich im 17. Jhdt. immerhin der Mönch Paisij Chilendarski in seiner "Slawo-bulgarischen Geschichte" mit den "Slawenaposteln". Er konzentrierte sich aber fast völlig auf ihr (tatsächliches oder nur angebliches, auf jeden Fall umstrittenes)

 

 

5. Vgl. Kučera/Rak 1983; Bagin 1985, S.133.

 

6. Kirschbaum 1963, S.158; Habovstiaková 1981, S.278; Vragaš 1991, S.56 ff.; Bagin 1993, S.11 ff., 15.

 

7. Vgl. Kolejka 1963, S.125; Kirschbaum 1963, S.159; Bagin 1985, S.133/134; Kučera 1986, S.300/301; Vragaš 1991, S.60 ff.; Bagin 1993, S.13 ff.

 

8. Vgl. dazu Eggers 1995, S.11 ff.

 

 

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Wirken in seiner Heimat, das in bulgarisch-makedonischen Legenden seit dem Hochmittelalter immer weiter ausgeschmückt und thematisch erweitert worden war; auch mit diesem Präzedenzfall wurde eine Tendenz begründet, welche die bulgarischen Historiographie bis in die Jetztzeit weiterführte. [9]

 

Bei den katholischen Südslawen, genauer im dalmatinisch-adriatischen Bereich, begann die eigentliche Geschichtsschreibung zur kyrillomethodianischen Thematik in der Barockzeit mit Johannes Lucius und seinem 1668 erschienenen Monumentalwerk "De regno Dalmatiae et Croatiae libri sex", in dem er auf das Phänomen der slawischen Liturgie im kroatisch-dalmatinischen Küstenland Bezug nahm und deren Entstehung zu erklären suchte. Vor ihm hatte schon der Geschichtsschreiber Mauro Orbini aus Dubrovnik in dem 1601 veröffentlichten Werk "Il regno degli Slavi" einige Male der "Slawenapostel" Erwähnung getan, wobei er sich, ebenso wie Lucius, auf hoch- und spätmittelalterliche Quellen seiner Heimatstadt wie auch des bosnisch-kroatischen Bereiches stützte, darunter den noch zu erwähnenden "Presbyter Diocleas". Der Jesuit und Historiker Daniele Farlati schließlich, selbst kein Slawe, aber mit der südslawischen Kirchengeschichte befaßt, versammelte in seinem monumentalen, achtbändigen Werk "Illyricum Sacrum", das zwischen 1751 und 1819 in Venedig erschien, alle damals bei den katholischen Südslawen über den kyrillomethodianischen Themenkreis umlaufenden Traditionen. [10] Naturgemäß zeigten sie kaum Übereinstimmungen mit dem Geschichtsbild, das bis zu diesem Zeitpunkt von Tschechen und Slowaken entwickelt worden war.

 

Doch hatte sich gegen dieses Bild auch schon ein erster Widerspruch erhoben; bereits damals zeigte sich, daß die Frage nach der geographischen Ansetzung von Methods Wirkungsbereich auf das Engste mit derjenigen nach der Lage des sogenannten "Großmährischen Reiches" verbunden war. In einer heftig geführten Polemik [11] mit Gelasius Dobner ("Kritische Abhandlung von den Gränzen Altmährens", Prag 1784) und Georg Katona ("Examen vetustissimi situs Magnae Moraviae", Buda 1784; "Vetus Moravia, rursus ad suos limites redacta", Buda 1789) vertrat der Slowake Georg (Juraj) Sklenár die Ansicht, Method habe in Slawonien residiert, dem antiken Pannonien ("Vetustissimus Magnae Moraviae situs", Preßburg 1784; "Hypercriticon examinis vetustissimi Marchionatus Moraviae situs", Preßburg 1788). Ihm war - wie es auch anderen Forschern nach ihm ergehen sollte - der Widerspruch aufgefallen, daß Method einerseits "Erzbischof von Pannonien" gewesen sei, andererseits aber sein eigentlicher Wirkungsbereich viel weiter nördlich in Mähren und der Slowakei lokalisiert wurde.

 

Die bereits national gefärbte Auseinandersetzung dieser "gelehrten Rokokoprälaten" [12] wurde allerdings noch auf einer recht schmalen Quellenbasis geführt. Ab dem Beginn des 19. Jhdts. wurde diese Basis durch neue, teilweise umwälzende Entdeckungen wesentlich erweitert. So machte der Göttinger Professor August Ludwig von Schlözer 1802-09 durch seine Edition der "Povesť vremennych let" (oft auch "Nestorchronik" genannt) ein weiteres Publikum mit dieser Quelle bekannt, die in Rußland etwa um 1700 wiederentdeckt worden war und ein neues Licht auf die kyrillomethodianische Frage warf. Noch viel mehr galt dies für die 1843 in Moskau geglückte Auffindung der ersten Handschriften der Kyrillund Methodviten, die dann Ernst Dümmler im Verein mit seinem slowenischen Kollegen Franz Miklosich der Öffentlichkeit im Westen Europas vorstellte. Es schlössen sich weitere Quellenentdeckungen und -editionen an, etwa der Klemensvita (1847 durch Miklosich) oder der Naumsvita.

 

 

9. Zu den Versuchen v.a. bulgarischer Forscher, Kyrills und Methods slawische Abkunft "nachzuweisen", s. Steinke 1991, S.43; Tamborra 1988, S.318.

 

10. Petrović 1988, S.13/14.

 

11. Vgl. Havlík 1991, passim; Vragaš 1991, S.62; Bagin 1993, S.16.

 

12. Birkfellner 1991, S.33.

 

 

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1854 erfolgte durch Ernst Dümmler eine erste kritische Edition der "Pilgrimschen Fälschungen", die mancherlei Irritationen verursachte. Schließlich machten die seit 1819 laufenden Quelleneditionen der "Monumenta Germaniae Historica" ein gewaltiges Potential an Chroniken, Annalen, Legenden und Viten zugänglich und verdeutlichten damit in erster Linie den Standpunkt des Ostfrankenreiches gegenüber dem "Großmährischen Reich" und dem Erzbistum Methods. Andererseits wurden seit 1873 in der Reihe "Fontes rerum bohemicarum" unter anderem die hochmittelalterlichen böhmischen Legenden kyrillomethodianischen Inhalts veröffentlicht, so daß nun auch dieser Quellenstrang, welcher in der erwähnten Polemik zu Ende des 18. Jhdts. eine wichtige Rolle gespielt hatte, weiteren Kreisen zugänglich wurde. Das Fundament der Forschung verbreiterte sich also im Laufe des 19. Jhdts. ständig, und um die Jahrhundertwende konnte die Sammlung der für die kyrillomethodianische Problematik relevanten Quellen im wesentlichen als abgeschlossen gelten.

 

Mit diesen Fortschritten auf dem Gebiet der Editionstätigkeit ging eine Ausweitung der historischen Fragestellungen einher. So veröffentlichte der "Patriarch der Slawistik" und Begründer der wissenschaftlichen Forschung über die Geschichte der Slawen, Josef Dobrovský, 1823 mit "Cyrill und Method, der Slaven Apostel" ein richtungsweisendes Werk, das, beeinflußt von der Entdeckung der "Nestorchronik", schon viele spätere Ansätze vorwegnahm. Aus seiner Feder folgten noch zahlreiche weitere Schriften zur angesprochenen Problematik. Dobrovský äußerte ernste Zweifel an der etablierten Ansicht über das Wirken Kyrills und Methods in Mähren und vor allem in Böhmen, ohne allerdings eigene alternative Vorstellungen zu präsentieren. [13]

 

Seine Zeitgenossen mochten jedoch der von ihm verfochtenen "Hyperkritik" kaum folgen. Vielmehr waren sie von den Ergebnissen des damals aufblühenden Zweiges der Sprachwissenschaft, der Slawistik, fasziniert, die sich massiv in die Diskussion eingeschaltet hatte. Erstmals wurde nun die von Kyrill und Method, wie man damals meinte, "erfundene" Kirchensprache, das Altkirchenslawische, untersucht. So verfaßte der Slowene Jernej (Bartholomäus) Kopitar unter dem Eindruck der neuentdeckten Viten des Brüderpaares 1843 die "Prolegomena historica in Evangelia slavica", und sein Landsmann Miklosich widmete etwa ab dieser Zeit zahlreiche Abhandlungen der Erforschung des Altkirchenslawischen. Pavel Josef Šafárik brachte 1826 eine "Geschichte der slawischen Sprache und Literatur" heraus, neben vielen anderen diesbezüglichen Werken, etwa den "Slawischen Altertümern" (deutsch 1843), 1858 auch ein solches "Über den Ursprung und die Heimat des Glagolitismus" (die tschechische Fassung erschien bereits 1853). [14]

 

Mit dem zweiten Drittel des 19. Jhdts. begann mit dem Eindringen nationalen Pretigedenkens in die Geschichtsschreibung auch die Inanspruchnahme Kyrills und Methods durch die tschechische und slowakische Nationalbewegung. Der Begründer des neuzeitlichen tschechischen Geschichtsbildes, der gebürtige Mährer und Protestant František Palacký, brachte in seiner seit 1836 auf Deutsch, seit 1848 auch auf Tschechisch erschienenen "Geschichte Böhmens" bei der Betrachtung der kyrillomethodianischen Mission eine ausgesprochen nationale Note ins Spiel. [15] Fast gleichzeitig erschienen aus der Feder des slowakischen Dichters Ján Hollý die "Cyrillomethodiada" (1835), die ein frühes slowakisches Nationalgefühl ausdrückten; einen ähnlichen Tenor schlug das Buch "Cyrill a Method" von Andrej Radlinský (1860) an. Der slowakische Priester Ján Palárik rechnete die "Slawenapostel" in seiner 1854/55 veröffentlichten Kirchengeschichte unter die bedeutendsten Gestalten des Frühmittelalters.

 

 

13. Zlámal 1969, S.132 ff.; Bagin 1985, S.134; Fryščak 1987; Mĕšťan 1988, S.207.

 

14. Bagin 1993, S.23 ff.

 

15. Zu Palacký Morava 1990; s.a. Mĕšťan 1988, S.207.

 

 

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Entscheidende Impulse erhielt die Forschung ebenso wie die nationale, aber auch die panslawistische Bewegung durch die Feiern zum 1000. Jahrestag der Initiierung der kyrillomethodianischen Mission im Jahre 1863; in der Folgezeit befaßte sich vor allem der Historiker und Sekretär der 1863 gegründeten slowakischen Nationalgesellschaft "Matica slovenská" František Václav Sasinek mit dieser Thematik (etwa das 1885 erschienene Werk "Život sv. Cyrila a Methoda apoštolov slovanských"). [16]

 

In dem Maße, wie sich die gesamte europäische, vor allem aber die deutsche Forschung, welche von Anfang an die mehrheitliche tschechisch-slowakische Lokalisierung des Schauplatzes der Mission Kyrills und Methods unter den Slawen übernommen hatte, vermehrt an der Bearbeitung der kyrillomethodianischen Problematik beteiligte, wurden Untersuchungen zur historischen Geographie dieser Mission (1862 etwa bestimmte der mährische Archivar Viktor Brandi Velehrad als den Metropolitensitz Methods [17]) immer seltener, und philologische Fragestellungen traten in den Vordergrund. Diesen Stand der Forschungsgeschichte vertritt etwa die "Geschichte der Slawenapostel Cyrill und Method und der slawischen Liturgie" von Johann Anton Ginzel, 1857 in Leitmeritz erschienen.

 

Auf Seiten der Kroaten beschäftigte sich zu dieser Zeit vor allem Franjo Rački in verschiedenen, seit 1855 erschienenen Werken mit kyrillomethodianischen Fragen. Dabei interessierte er sich in erster Linie für den Ursprung der in Kroatien seit frühester Zeit bestehenden, in diese Richtung weisenden Traditionen (darunter vor allem des "Glagolitismus"). [18] Als erster Historiker verwies er übrigens auf einige verblüffende, bis dahin übersehene Beziehungen Serbiens und Kroatiens zu Method hin, ohne jedoch die volle Tragweite seiner Erkenntnisse zu überblicken. Einen ersten Höhepunkt der sprachwissenschaftlichen Erforschung des Altkirchenslawischen durch kroatische Forscher bedeutete die 1913 erschienene zweite und verbesserte Ausgabe der "Entstehungsgeschichte der slawischen Sprache" des kroatischen Sprachwissenschaftlers Vatroslav Jagič. [19]

 

Seit etwa dem letzten Drittel des 19. Jhdts. hatte sich eine Diskussion um die Frage der "Rechtgläubigkeit" des Brüderpaares Kyrill und Method entzündet, was, je nach Konfessionszugehörigkeit und Sichtweise der Autoren, auf ihre "Treue" zur Ostoder Westkirche hinauslief. Sie spiegelt die sich damals verschärfende Auseinandersetzung zwischen katholischer und orthodoxer Kirche, aber auch des Habsburger- und des Zarenreiches als jeweiliger Schutzmächte beider Konfessionen wider; schließlich gab es aber auch innerhalb dieser beiden Reiche konfessionelle Streitigkeiten. [20] Von ostkirchlicher Seite stammen in dieser Richtung etwa die Arbeit des russischen Historikers Alexander Gil'ferding über Kyrill und Method von 1865 oder die des serbischen Erzbischofs von Dalmatien, Nikodim Milaš, "Slavenski apostoli Čiril i Metodije i istina pravoslavlja" (1881). Aus der Endphase der Debatte datieren unter anderem Friedrich Snopeks "Konstantinus-Kyrillus und Methodius, die Slavenapostel" (Kremsier 1911) und Alexander Brückners polemische Antwort "Die Wahrheit über die Slawenapostel" (Tübingen 1913). Wie letzterer richtig darlegte, handelte es sich um eine grundsätzlich anachronistische Fragestellung, da ja im 9. Jhdt. (trotz des sog. "Photianischen Schismas") von einer Kirchenspaltung noch gar nicht die Rede sein konnte.

 

 

16. Kolejka 1963, S.128 ff.; Kirschbaum 1963, S.164 ff.; Zlámal 1969, S.144 ff.; Bagin 1985, S.134/135; Mešťan 1988, S.208; Vragaš 1991, S.66 ff., 75 ff.; Bagin 1993, S.26 ff.

 

17. Schelesniker 1989, S.183.

 

18. Petrović 1988, S.14 ff.; ebd. S.19 weitere kroatische Beiträge zur kyrillomethodianischen Forschung bis zum 2. Weltkrieg.

 

19. Petrović 1988, S.20/21.

 

20. Vgl. Tamborra 1988, S.321 ff. und passim; Eggers 1995, S.15.

 

 

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Zu Beginn des 20. Jhdts. und in der Zwischenkriegszeit widmete man sich dann überwiegend Einzelfragen der Textkritik und versuchte, das Phänomen der kyrillomethodianischen Mission in die allgemeine politische Geschichte des 9. Jhdts. einzubinden, so daß Gesamtdarstellungen des kyrillomethodianischen Problemkreises meist mit solchen der "großmährischen" Geschichte verquickt wurden; ein Beispiel ist der von Ján Stanislav 1933 herausgegebene Sammelband "Ríša Veľkomoravská". [21] Durch die Darstellungen von Francis Dvorník (etwa "Les Slaves, Byzance et Rome au 9ième siècle", 1926; "Les Légendes de Constantin et de Méthode vues de Byzance", 1930; später auch "Byzantine Missions among the Slavs", 1970) wurde der erreichte Wissensstand geradezu kanonisiert, zudem eine gerechte Würdigung der Rolle sowohl Roms als auch Konstantinopels in der Missionsfrage versucht. Dasselbe gilt für die Werke seines slowenischen Kollegen Franz Grivec (am bekanntesten "Konstantin und Method, Lehrer der Slaven", erschienen in zahlreichen Sprachen, deutsch 1960).

 

Die Ausstellungen und Festschriften der 1963 beginnenden Jubiläumsfeiern standen ganz im Banne einer Wissenschaft, die sich erst seit relativ kurzer Zeit auch in der kyrillomethodianischen Forschung zu Wort gemeldet hatte, nämlich der Archäologie. [22] Die seit 1948 mit erhöhter Intensität betriebenen Ausgrabungen in Mähren und in der Westslowakei hatten eine glanzvolle, bis dahin unbekannte archäologische Kultur des 9. Jhdts. zu Tage gebracht, die umgehend mit dem "Großmährischen Reich" in Verbindung gebracht wurde und die "traditionelle" Lokalisierung dieses Reiches zu bestätigen schien. Doch auch die Tätigkeit Methods und seiner Schüler suchte man aus den Bodenfunden nachzuweisen und anhand dieser den Ort seiner erzbischöflichen Residenz zu bestimmen. Archäologische Erwägungen nahmen seit den sechziger Jahren in den tschechoslowakischen Publikationen zur kyrillomethodianischen Mission einen zunehmend breiteren Raum ein; wie es H. Schelesniker ausdrückt, "... bildete sich im Laufe der letzten vier Jahrzehnte auf der Grundlage der archäologischen Steinfunde und mit kirchlichem Segen sowie staatlicher Zustimmung und Förderung in der nationalpolitisch engagierten, aber auch in der unabhängigen Historiographie aus der March-Hypothese die March-Doktrin heraus, um schließlich zu einer Weltanschauung zu versteinern." [23] Einen Mißklang in die scheinbare Harmonie übereinstimmender Meinungen darüber, wo Method denn nun eigentlich residiert und gewirkt habe, brachten erstmals seit langer Zeit wieder die Arbeiten des kürzlich verstorbenen Historikers Imre Boba, zunächst sein 1967 veröffentlichter Aufsatz "The Episcopacy of St. Methodius", dann seine 1971 erschienene Monographie "Moravia's History Reconsidered", [24] denen zahlreiche weitere Artikel folgten. Bobas Ausgangspunkt war die These, daß Method nicht nur nominell, sondern tatsächlich Erzbischof von "Pannonien" gewesen sei. Ihm als Metropoliten mit Sitz in Sirmium habe das Territorium der antiken Provinz dieses Namens (zuzüglich einiger in der Spätantike angeschlossener Verwaltungseinheiten) unterstanden, somit habe sein Jurisdiktionsbereich ausschließlich südlich der Donau gelegen; ergo seien dort auch die Herrschaften der drei bekannten slawischen Fürsten Rastislav, Sventopulk und Kocel zu suchen.

 

Bobas Thesen lösten eine durchaus gemischte, zunächst aber überwiegend ablehnende Reaktion aus; im hier interessierenden Zusammenhang sei festgehalten, daß die Existenz einer (von Boba aus dem Wortlaut der Quellen überzeugend nachgewiesenen) Burg oder

 

 

21. Kolejka 1963, S.137 ff.; Mešťan 1988, S.210/211; Vragaš 1991, S.94; Bagin 1993. S.35.

 

22. Ein guter Überblick über den damaligen Stand bei Parrott 1965; eine Synthese der neueren Zeit bei Poulik 1986.

 

23. Schelesniker 1989, S.186; s.a. Lunt 1995, S.147.

 

24. Eine serbokroatische Ausgabe erschien 1986, eine deutsche unter dem Titel "Zur Geschichte Moraviens - Eine Neubetrachtung" 1991.

 

 

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Stadt namens "Morava"/"Marava" und ihre Funktion als Hauptort Rastislavs und Sventopulks zwar mehrheitlich akzeptiert, ihre Gleichsetzung mit dem antiken Sirmium aber aus philologischen Gründen fast allgemein abgelehnt wurde. Sogar eine der wichtigsten Stützen von Bobas Theorie, nämlich die prinzipielle Identität weltlicher und kirchlicher Verwaltungsgrenzen im Früh- und Hochmittelalter, wurde - m.E. zu Unrecht - in Frage gestellt. Berechtigt war hingegen der Hinweis, daß mindestens ein Suffraganbistum Methods, nämlich dasjenige von Nitra, nördlich der Donau und somit außerhalb des antiken Pannoniens gelegen habe, was der Auffassung einer ausschließlich südlich dieses Stromes liegenden Erzdiözese Methods entgegenstehen würde. Dagegen stimmten auch Rezensenten, die sich sonst nicht Bobas Thesen anschließen mochten, mit ihm darin überein, daß eine angeblich ungebrochene kyrillomethodianische Tradition in Böhmen nicht aufrecht zu erhalten sei. [25]

 

Die Diskussion über die Neulokalisierung "Großmährens"/Moravias und - damit engstens verbunden - die Ansetzung der Erzdiözese Methods, aber auch über die historischphilologische Gewichtung der kyrillomethodianischen Traditionen in den betroffenen Ländern lief zunächst etwas zäh an. [26] Inzwischen kam sie aber, nicht zuletzt im Gefolge der erwähnten Jahrestage von 1985 und 1988 sowie der damit verbundenen Tagungen, schließlich doch in Gang, wobei sich die Mediävistik [27] und die Slawistik [28] gleichermaßen beteiligten, während die Mittelalterarchäologie bisher noch kaum zu den Implikationen für ihr Fachgebiet Stellung genommen hat. [29]

 

Dabei ist zu beobachten, daß sowohl im historischen wie auch im philologischen Bereich die Bereitschaft wächst, althergebrachte, in klassischen Handbüchern verewigte Interpretationsmuster in Frage zu stellen und die Primärquellen erneut auf ihre tatsächliche Aussagekraft hin zu überprüfen. [30] Die vorliegende Arbeit, im Kern ursprünglich Teil einer 1991 an der Universität München eingereichten Dissertation, [31] möchte einige neue Gesichtspunkte in die Diskussion einbringen. Deren Ton hat sich in letzter Zeit erstaunlich verschärft - und das nicht nur in Beiträgen aus jenen Ländern des ehemaligen "Ostblocks", in denen im Gefolge der seit 1989 stattgehabten Umwälzungen ein im Grunde gar nicht so "neuer" Nationalismus erwacht ist, der sich auch in den Publikationen zur kyrillomethodianischen Problematik niedergeschlagen hat. [32] Aus - leider - gegebenem Anlaß sei daher betont, daß der Verf. von keinerlei "außerwissenschaftlichen" Motiven, sei es nationaler oder ideologischer Art, geleitet wird.

 

 

25. Zu derartigen Folgerungen waren allerdings vor Boba schon andere Forscher gekommen, um nur Dobrovský oder Jagić zu nennen.

 

26. Zum Stand der Diskussion bis etwa 1990 s. Eggers 1995, S.24 ff.

 

27. Positive Reaktionen der letzten zehn Jahre: Bogyay 1989; Bowlus 1987, 1988, 1995; Urbanczyk 1988; negative Reaktionen: Budak 1987; Ďurica 1985 (ohne namentliche Nennung Bobas); Havlík 1991; Kadlec 1987; Kučera 1986; Marsina 1992, 1993; Ratkoš 1985; Wolfram 1987, 1995.

 

28. Zustimmend äußerten sich u.a.: Aitzetmüller 1990; Décsy 1989; Hannick 1991; Kronsteiner 1982 ff.; Fohl 1986; Schelesniker 1988, 1989; mit Reserven Lunt 1994, 1995; ablehnend: Birkfellner 1991; Birnbaum 1993; Reinhart 1990 b; Schaeken 1993.

 

29. Eine Ausnahme ist Popović 1975 b. Der Verf. beabsichtigt eine Übersicht zur Archäologie des Donauraumes vom späten 8. bis zum frühen 10. Jhdt. unter den neu gewonnenen Aspekten zu veröffentlichen (erscheint voraussichtlich 1997).

 

30. Vgl. dazu den Aufsatz "Cyril and Methodius with Rastislav Prince of Morava: Where were they?" von H.G. Lunt (erscheint in der Festschrift Zimin, Moskau)

 

31. Eine Kommentierung dieser Dissertation im HČ 43/1 (1995), S.3/4 erfolgte bereits, noch bevor diese überhaupt im (Teil-) Druck erschienen war (vgl. Wolfram 1995) - eine im Wissenschaftsbetrieb zumindest unübliche Vorgehensweise.

 

32. Zu derartigen Attitüden s. Lunt 1994.

 

 

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Im übrigen sei daran erinnert, daß sich im Grunde keine der heutigen Nationen als "Erbe" der "Großmährer"/Moravljanen [33] betrachten kann. Nach dem Zeugnis des byzantinischen Kaisers Konstantinos Porphyrogennetos aus dem 10. Jhdt. wurde das Land der Moravljanen in seiner Gänze von den Ungarn, also einem nichtslawischen Volk, besetzt. Während ein Teil der Bewohner "zu den Bulgaren, Kroaten und anderen Völkern" floh, ging der verbleibende Rest in den Ungarn auf; ähnliches berichten auch zwei altslawische Heiligenviten. [34] Weder territorial noch ethnisch besteht also eine Kontinuität zwischen den Slawen, unter denen Method wirkte, und einer der heutigen slawischen Nationen!

 

 

33. Ersteres der in deutschsprachigen Publikationen der "traditionellen" Richtung übliche Ausdruck, zweiteres die aus slawischen Quellen abzuleitende Selbstbezeichnung des Volkes.

 

34. Vgl. Eggers 1995, S.104-106, 143.

 

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