Vorläufige Untersuchungen über den bairischen Bulgarenmord von 631/632
Heinrich Kunstmann 

 

Schlußbemerkung

 

 

Eine nicht unerhebliche Anzahl von Argumenten legt den Schluß nahe, daß hinter dem im Nibelungenlied beschriebenen Untergang der Burgunden als wahre historische Folie die durch Pseudo-Fredegar verbürgte Ermordung von 8300 Protobulgaren im Jahre 631 oder 632 erkennbar wird. Trotz zum Teil tiefgreifender Umwandlungen werden an verschiedenen Stellen des Nibelungenliedes noch Fakten und Umstände dieses Genozids sichtbar, die es zusammen genommen ausschließen, daß hier rein zufällige Übereinstimmungen zwischen Dichtung und wirklichem Geschehen vorliegen. Viel wahrscheinlicher ist es dagegen, daß nicht überliefertes lokales donauländisches Wissen um den Bulgarenmord aus frühen, vermutlich mündlichen Tradierungen Eingang finden konnte in eine Vorstufe des Nibelungenliedes.

 

Zwischen den Ereignissen von 631/2 und ihrem denkbar ersten literarischen Niederschlag in der sogenannten Älteren Not von etwa 1160 liegen nahezu fünfeinhalb Jahrhunderte, eine Zeitspanne, die wahrlich genügt, um die tatsächlichen Geschehnisse zu entstellen oder bis zur Unkenntlichkeit zu deformieren. Naturgemäß verlief die Tradierung solchen Wissens über mehrere Stationen, von welchen jede in unterschiedlichem Maße verändernd wirkte. Im Blick auf Heuslers stemmatologisches System ist nun jedoch dessen erste Stufe, ein für das 5./6. Jahrhundert angenommenes fränkisches Burgundenlied in Frage zu stellen, da ja nun mehr an eine Zeit nach 631/2 gedacht werden muß. Änderungen anderer Natur ergeben sich womöglich auch auf der zweiten Stufe von Heuslers Stammbaum.

 

In den rund fünfeinhalb Jahrhunderten zwischen Bulgarenmord und dessen letzten Nachklängen auf literarischer Ebene ist es zu mehrmaligen, teilweise erheblichen Veränderungen der geschichtlichen Tatsachen gekommen. Einer der tiefgreifendsten Eingriffe ist die Ablösung der ursprünglich an dem historischen Konflikt beteiligten Ethnika durch andere, daran eben nicht beteiligte ethnische Gruppen. Namentlich ins Gewicht fällt hierbei der Wandel der Bulgaren alias Hunnen in Burgunden, eine sehr schwerwiegende

 

 

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Umwandlung, die gewiß nicht erst auf das Konto des Nibelungendichters geht. Eine solche Änderung mußte im Grunde genommen auch irgendwann im Tradierungsablauf stattfinden, gewissermaßen aus einer 'psychologischen' Notwendigkeit heraus: Der Untergang eines Hunnen- oder Bulgarenstammes konnte - insbesondere nach den verheerenden Awaren- und Ungarnstürmen - kaum mehr mit großen Sympathien bei den Rezipienten rechnen, dazu war der europäische Leumund der Reiternomadenvölker einfach zu stark belastet. Da man nun die ethnischen Angaben des Nibelungendichters für bare Münze genommen hat (und wohl auch nehmen mußtet, ohne dabei in Betracht zu ziehen, daß die von ihm verwendeten Ethnika ja nicht unbedingt den historischen Tatsachen entsprechen mußten, haben sich zwangsläufig völlig andere zeitliche und auch geographische Maßstäbe ergeben.

 

Von ebenso großem Gewicht wie die Vertauschung der Ethnika ist die grundlegende Veränderung des ursprünglichen Genozids in einen Heldenkampf. Daß die Ermordung der Bulgaren, für welche Tat es kein ausreichendes Motiv gibt, ein Stammesmord war, kann kaum bestritten werden. Auch dem Burgundenuntergang liegt - mit ebenfalls nicht einhellig beurteilter Motivation - die Vernichtung eines ganzen Stammes zugrunde. Das machen die in der Forschung gern wegformulierten Widersprüche des Nibelungenliedes deutlich. Der in seiner heimtückischen Art und unglaublichen Brutalität erschütternde Bulgarenmord hat sehr wahrscheinlich, was psychologisch durchaus verständlich ist, nach und nach eine sympathisierende Aufwertung erfahren, so daß aus meuchlings im Schlaf Ermordeten allmählich heldenhaft kämpfende Recken werden konnten. Eine derartige Heroisierung des Stammesunterganges kann proportional zum Verlust des Wissens um die wahren historischen Hintergründe verlaufen sein.

 

Mit den beiden grundlegenden Transformationen - Bulgaren > Burgunden und Genozid > Heldenkampf - waren selbstredend weitere Änderungen verschiedenen Ausmaßes verbunden, so beispielsweise die geographische Richtungsänderung der in den Untergang ziehenden Stämme. Weniger einschneidende Umformungen lassen sich dagegen wieder

 

 

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in anderen Bereichen beobachten, etwa in den im Grunde nur geringfügig divergierenden Strategemata der Stammesmordpläne: Dagoberts listige Asylgewährung unterscheidet sich ja nicht wesentlich von Kriemhilds verräterischer Einladung,

 

Ein sehr wichtiges Argument, das sowohl auf den donauländischen Tatort als auch das Bulgarengeschehen verweist, ist die Neueinschätzung des historischen Hintergrundes der Gestalt Dietrichs von Bern, hinter dem sich zu einem guten Teil der dem Genozid von 631/2 entronnene Bulgarenführer Alciocus-Alzeco verbirgt: Fluchtmotiv, dreißigjähriges Exil sowie eine Reihe weiterer Merkmale bestätigen, daß er einer der grundlegenden Prototypen des Berners gewesen sein muß. Damit ist freilich auch eine für die Dietrichepik nicht belanglose Erkenntnis gewonnen.

 

Sollte eine künftig ethnisch-anthropologische Untersuchung der anonymen Toten von St. Florian Hinweise auf turkstämmige Bulgaren erbringen, dann darf man wohl auch in Betracht ziehen, daß die Skelette der heute zu Häupten Anton Bruckners ruhenden 6000 Menschen die Überreste der vermeintlichen Burgunden-Nibelungen sind.

 

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