Bulgarien und der Weltkrieg

 
Inmitten des bulgarischen Wiederaufbaus, den die Nation vor allem in ihrem Heer hingebungsvoll in Angriff genommen hatte, brach am 1. August 1914 der Weltkrieg aus, der auch zum bulgarischen Schick­sal werden sollte.

Die europäischen kriegerischen Ereignisse brachten Bulgarien in eine neue Lage. Auf einmal wurde es von allen Seiten umworben. Die bulgarische Regierung jedoch hielt sich vorerst zurück, da sie ohne bin­dende Garantie für die Erfüllung der bulgarischen Wünsche das Land in keinen neuen Krieg verwickeln wollte. Die diplomatischen Vertreter der kriegführenden Mächte entfalteten in Sofia eine eifrige Tätigkeit. Andererseits war auch die bulgarische Regierung gewiß, daß eine dauernde Neutralität bei der Haltung der Großmächte Bulgarien gegenüber kaum einzuhalten sei. Als die Türkei im Januar 1915 dem Weltkrieg an der Seite der Mittelmächte beigetreten war, wurde die Bedeutung Bulgariens für die Kriegführenden wesentlich erhöht. Die bulgarische Regierung richtete an die Mittelmächte und die Entente die Aufforde­rung, ihre Versprechungen für Bulgariens Neutralität in einer verbindlichen schriftlichen Form zu äußern.

Am 23. Mai 1915 gaben die Mittelmächte die Erklärung ab, daß sie für den Fall, daß Bulgarien seine Neutralität bis zum Friedensschluß aufrechterhalte, den Besitz des damals serbischen Mazedonien einschließ­lich der strittigen und unstrittigen Zonen garantieren sowie diejenigen Gebiete, die gemäß dem Bukarester Frieden an Rumänien und Griechenland abgetreten worden waren, zusichern würden. Erst am 3. August über­gaben die Ententevertreter in Sofia ihre Noten, in denen sie erklärten, daß sie Bulgarien den unstrittigen Teil Mazedoniens, Kawalla mit Hinterland und die Besetzung Thraziens bis zur Linie Enos-Midia garan­tierten, aber unter der Voraussetzung, daß Bulgarien an die Türkei unverzüglich den Krieg erkläre und mit den militärischen Operationen begänne.

Die bulgarische Regierung prüfte wieder lange Zeit mit größter Gewissenhaftigkeit die Angebote von Ber­lin, Wien, Paris, London und Petersburg. Der Vergleich der beiden Antworten zeigte hierbei deutlich, wo für Bulgarien der Vorteil lag, so daß nunmehr die bulgarische Regierung unter Radoslawoff für ein kon­kretes Bündnis mit den Mittelmächten eintrat. Zar Ferdinand stimmte seinem Ministerpräsidenten bei. Deut­sche Unterhändler trafen in Sofia ein, mit denen Radoslawoff sofort die Bündnisverhandlungen aufnahm, während im deutschen Hauptquartier in Pleß der Abschluß einer Militärkonvention eingeleitet wurde. Im Laufe der Verhandlungen kam auch ein- bulgarisch-türkischer Vertrag zustande, der die Grenzbeziehun­gen beider Länder regelte und das rechte Ufer der Maritza an Bulgarien abtrat.

Der 6. September 1915 ist der denkwürdige Tag in der Geschichte der Beziehungen zwischen dem deut­schen und dem bulgarischen Volke, an dem das Bündnis in Sofia und die Militärkonvention in Pleß unter­zeichnet wurden. Diese beiden Verträge legten den Grundstein zur deutsch-bulgarischen Freundschaft, wie sie heute eine politische Realität und eine Herzenssache der beiden Völker geworden ist, trotz aller schwe­ren Schicksalsschläge, als sich die Hoffnungen zuerst nicht erfüllen wollten.

Der Abschluß des Bündnisses entsprach ohne Zweifel auch der wachsenden Hinneigung führender Per­sönlichkeiten des bulgarischen Öffentlichen Lebens zum deutschen Wesen und zur deutschen Kultur. Diese Bulgaren stellten sich als Träger der sich seit 1913 von Rußland abwendenden und Mitteleuropa zuwenden­den bulgarischen Politik mutig an die Spitze und halfen der Regierung, diese schicksalhafte Wendung dem Volke verständlich zu machen und es zum Mitmarschieren mit den Mittelmächten zu bewegen.

In diesem Zusammenhang muß jenes bulgarischen Ministerpräsidenten gedacht werden, der den Gleich­klang der Interessen der europäischen Mitte und eines starken Bulgarien als Bollwerk des Balkans schon frühzeitig erkannt und ein Bündnis mit den Mittelmächten gefordert hatte: Dr. Wassil Radoslawoff. Er war ein glühender Patriot, der den Gedanken der nationalen bulgarischen Einheit unermüdlich verfolgte und danach trachtete, ihn in die Wirklichkeit umzusetzen. Innerpolitisch war er ohne jede schädliche doktrinäre Enge, war allem Neuen gegenüber aufgeschlossen, auch dem Fremden gegenüber, soweit es seiner Heimat dienlich war, vom ersten Tage seiner politischen Tätigkeit in den Jahren der Befreiung an bis zum Schick­salsjahr 1918, wo der bulgarische Zusammenbruch ihn und sein Lebenswerk vernichtete. Radoslawoff war ein treuer Freund Deutschlands, wenn ihm auch diese Freundschaft und das Festhalten Bulgariens an der gemeinsamen Sache oftmals sehr schwer gemacht wurde. Er und der bulgarische Oberkommandierende, General Jekoff, haben zusammen mit Zar Ferdinand die Bündnistreue Bulgariens sichergestellt. Die Vor­würfe der innerpolitischen Gegner Radoslawoffs und seiner äußeren Feinde, er habe Bulgarien leichtfertig in den Krieg getrieben oder habe Bulgarien an Deutschland verkauft, sind lächerlich. Schon das Ultimatum der Entente an Bulgarien vom 4. Oktober 1915, das von den geheimen Abmachungen mit den Mittelmächten nichts wußte, mit der Aufforderung „binnen 24 Stunden die Beziehungen zu den Feinden des Slawen­tums abzubrechen" zeigt, daß Bulgarien keinen anderen Weg gehen konnte. Es hätte dem Ultimatum, das den sofortigen Krieg gegen die Mittelmächte nach sich gezogen hätte, nur dann nachkommen können, wenn es den bulgarischen Interessen entsprochen hätte. Aber Bulgarien hatte seine bitteren Erfahrungen mit den Versprechungen Rußlands und- seines serbischen Verbündeten gemacht und die zahllosen Enttäuschungen noch nicht vergessen. Vielmehr eröffnete das deutsch-bulgarische Bündnis dem bulgarischen Volk nach den Verlusten dreier Kriege die begründete Aussicht auf Erfüllung seiner nationalen Hoffnungen und Gewin­nung seiner nationalen Grenzen. Und es sollte, wenn auch fast 30 Jahre vergehen mußten, nicht enttäuscht werden ...

Nachdem am 7. Oktober 1915 die Offensive der Mittelmächte unter dem militärischen Oberbefehl von Generalfeldmarschall von Mackensen gegen Serbien begonnen hatte, überschritten am 11. Oktober die bulgarischen Divisionen die serbische Grenze und eroberten in raschem Vorgehen Teile von Serbien und Ma­zedonien in Verbindung mit den deutschen Truppen. Der Feind wurde in Richtung nach Saloniki abgedrängt. Die Bulgaren unter ihrem Oberkommandierenden, General Jekoff, wollten folgen, aber die deutsche Ober­ste Heeresleitung, besonders der Chef des Generalstabes, General von Falkenhayn, lehnte ein weiteres Vor­gehen ab. Dieser Entschluß muß wegen seiner Folgen als einer der schwerwiegendsten strategischen Fehler der Mittelmächte im Weltkriege angesehen werden, wenn auch einige Gründe für ihn bestanden haben mögen. Den Bulgaren war er jedoch doppelt unverständlich und ließ eine bittere Enttäuschung bei Volk und Heer zurück, die den Keim für die späteren Zerwürfnisse bildete. Die Folge dieser Entscheidung war die Bildung einer festen Front in Mazedonien, so daß nunmehr auch die Bulgaren in den Stellungskrieg hin­eingezogen wurden, der ihnen in keiner Weise lag. Vor allem aber behielt die Orientarmee der Entente eine Basis, um zu gegebenem Zeitpunkt in den Rücken der Mittelmächte vorstoßen zu können, wie es dann 1918 auch geschah.

Auch als Rumänien am 27. August 1916 den Mittelmächten den Krieg erklärte, beteiligten sich bulgari­sche Truppen an den militärischen Operationen mit großer Tapferkeit und ihrem sprichwörtlichen Angriffs­geist, besonders bei der Eroberung der Dobrudscha, deren Schlüssel, die Festung Tutrakan, sie im Sturm nahmen. Das bulgarische Bündnis mit den Mittelmächten hatte sich militärisch auf das beste bewährt. Die deutsch-bulgarische Waffenbrüderschaft, die die Völkerfreundschaft mit dem gemeinsam vergossenen Blut besiegelte, hatte ihre Feuerprobe an vielen Fronten bestanden und ein gegenseitiges herzliches Ver­stehen ergeben.

Jedoch die Fronterlebnisse und Frontkameradschaften reichten allein nicht aus, die politischen und psy­chologischen Fehler, die mehr oder weniger von beiden Seiten gemacht wurden, zu überwinden, vor allem, als die schwere Zeit der Jahre 1917 und 1918 kam. Schon der siegreiche Abschluß des rumänischen Feld­zuges ließ anstatt der Vertiefung des Bündnisses und der Zusammenarbeit Verstimmungen aufkommen, die die gegenseitigen Beziehungen trübten, je länger der Krieg dauerte. Der Stellungskrieg in Mazedonien, der täglich Opfer kostete, die die Bulgaren aus ihrer Mentalität heraus nicht verstehen konnten, das Schweben der Dobrudschafrage, was der ententistischen Propaganda eine gefährliche Wirksamkeit bis ins letzte Dorf verlieh, die zunehmende Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Bulgarien, Teuerung und verminderte Ernten, untergruben die Moral der Heimat und die Kampfkraft der Front. Unter diesen Umständen gewannen die Bestrebungen der Opposition, die bereits zu Beginn des Jahres 1917 Friedenswünsche laut werden ließ, zu­mal die bulgarischen Kriegsziele ja im wesentlichen erreicht waren, bald an Boden. Die Führer der Oppo­sition waren der linksradikale Bauernführer Stambulijski und der Führer der Demokraten, Malinoff. Die Notwendigkeit des weiteren Durchhaltens im Interesse des Gesamtkampfes der Verbündeten vermochte das bulgarische Volk, weder Soldaten noch Bauern, schwer  einzusehen.  Dies war ein psychologischer Faktor, dem sich die bulgarische Regierung und Zar Ferdinand auf die Dauer nicht entziehen konnten, umsomehr, als Bulgarien bei Kriegseintritt 1915 die beiden verlustreichen Balkankriege noch nicht überwunden hatte. Die damalige bulgarische Stimmung gibt am besten ein Telegramm Radoslawoffs an seinen Berliner Ge­sandten Risoff vom 30. April 1917 wieder: „Berlin kennt Bulgarien nicht, das Rußland mit Verachtung ge­straft hat, weil es ebenso wie Deutschland seinen Worten nicht glaubte!"

Als der Bukarester Frieden (5. März 1918) zwischen Rumänien und den Mittelmächten Bulgarien die nördliche Dobrudscha vorenthielt — sie wurde unter jenes unglückselige Kondominium gestellt, vor allem auf Grund der Stellungnahme des General Ludendorff — und ihm nur den südlichen Teil zugestand, brach die entscheidende Krise in Bulgarien aus. Das bulgarische Volk fühlte sich von seinen Verbündeten verlassen. Das Kabinett Radoslawoff mußte zurücktreten. Ein neues Kabinett unter Malinoff, dem Führer der Demokraten nach Karaweloffs Tod, wurde gebildet, das kein Freund des Bündnisses war, in seinem linken Flügel sogar Anhänger für den Abschluß eines Sonderfriedens hatte. Von nun an nahm das Verhäng­nis seinen Lauf. Die Abgesandten der Entente setzten verstärkt mit ihrer Propaganda ein, die von der amerikanischen Gesandtschaft in Sofia auf das lebhafteste unterstützt wurde. Die von Saloniki aus neu­gebildete und modern ausgerüstete Orientarmee unter dem Kommando des französischen Generals Sarrail rollte in einer mächtigen Offensive heran und rieb die dünn besetzten, entkräfteten und zum Teil schlecht ausgerüsteten Linien der bulgarischen Mazedonien-Front, bei der nur noch ein schwaches deutsches Kon­tingent verblieben war, in kurzer Zeit auf. Als die deutsche Regierung schließlich in der Dobrudschafrage nachgab und auch die bis dahin verweigerte militärische Hilfe zusagte, war es bereits zu spät. Bulgarien stand am Ende seiner Kräfte. Alle seine bisherigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen schienen verloren zu gehen. Die Regierung Malinoff schloß, von ihren linksradikalen Mitgliedern gedrängt, ohne Wissen des Zaren Ferdinand am 29. September 1918 den Waffenstillstand von Saloniki ab. Die Trup­pen strömten zurück nach Haus und Hof, zu Acker und Vieh, woran sie so hingen und wofür sie nun schon seit sechs Jahren so schwer gekämpft hatten.

Nachdem zum letztenmal deutsche und bulgarische Truppen Aufständische und linksradikale Revolutio­näre gemeinsam vor den Toren Sofias geschlagen hatten, brachte Zar Ferdinand das letzte Opfer. Er dankte am 3. Oktober 1918 zugunsten seines 24jährigen Sohnes Boris ab. Mit den Worten: „Meine Mission im Orient ist beendfet", verließ er das Land nach 31jähriger Regierungszeit.

Der Weltkrieg war für Bulgarien, das, aus allen Wunden blutend, zu Boden lag, zu Ende. Sein Zusam­menbruch leitete den Sturz der Mittelmächte ein. Am 27. November 1919 mußte es wieder eine ihm präsen­tierte Rechnung begleichen: Das Friedensdiktat von Neuilly. Alle territorialen Eroberungen des Weltkrieges mußten wieder abgetreten werden, ferner der 1913 gewonnene Korridor zum Ägäischen Meer an Griechen­land, die Gebiete von Zaribrod und Strumitza an das neugegründete Jugoslawien. Von 111000 Quadrat­kilometer Fläche, die Bulgarien nach dem Bukarester Frieden von 1913 umfaßte, ging nunmehr sein Staats­gebiet auf 103000 Quadratkilometer zurück. Aber diese Gebiets Verluste waren es nicht allein, die das Land an den Rand der Verzweiflung trieben: Die hohen Reparationslasten, der Umstand, daß wieder alle un­menschlichen Anstrengungen und Opfer der letzten 4 Jahre, die das verarmte Land, das sich seit 1912 im Kriege befand, ertragen mußte, vergeblich zu sein schienen, und die Zerschlagung der bulgarischen Ar­mee lasteten genau so schwer auf dem auch bald von innerpolitischen radikalen Strömungen durchzogenen Land. Jedoch: der bulgarische Revisionismus und der so oft erprobte unbändige Lebenswille des bulgari­schen Volkes konnte auch durch die größte Not nicht unterbunden werden. Es lebte weiter in der Hoff­nung, die „nationalen Ideale" eines Tages doch noch lösen zu können

.


[Back]  [Index]  [Next]