Die
Balkankriege 1912—1913
Mit der inneren Konsolidierung
des
bulgarischen Staates verstärkten sich selbstverständlich auch
die Bemühungen
des bulgarischen Volkes um die Befreiung seiner noch unter fremder
Herrschaft
stehenden Blutsbrüder in Mazedonien und Thrazien. 1903 unternahm
die gequälte,
vorwiegend bulgarische Bevölkerung Mazedoniens einen
großen Aufstand gegen die
türkische Herrschaft — den sogenannten „Ilinden1 Aufstand",
der von der „IMRO", der „Inneren mazedonischen revolutionären
Organisation", vorbereitet worden war. 20000 bewaffnete
Aufständische, die
gefürchteten Komitadschi, kämpften heldenmütig
monatelang gegen das modern
ausgerüstete türkische Heer, dessen Stärke über
200000 Mann betrug. Dem
übermächtigen Gegner gelang es schließlich, den
Aufstand niederzuwerfen. Große
Teile der Bevölkerung, die unter dem türkischen Terror nicht
mehr leben wollten
und konnten, wanderten damals in das freie bulgarische Mutterland
aus.
Inzwischen waren die Verhältnisse immer unhaltbarer geworden, so
daß sie
geeignet waren, nicht nur den Balkan, sondern auch den
europäischen Frieden zu
bedrohen. Attentate und Verfolgungen durch die fanatisierte muslimische
Menge,
Kämpfe der Komitadschibanden, kurzum die berühmten
„mazedonischen Zustände“,
waren an der Tagesordnung. Die von den interessierten
Großmächten der Hohen
Pforte vorgeschlagenen Reformen für die christliche
Bevölkerung wurden zwar von
dieser nach langem Zaudern angenommen, aber nie praktisch
durchgeführt. Der
bulgarischen Bevölkerung diesseits und Jenseits der Grenzen
bemächtigte sich
daher eine immer stärker werdende Erregung, der sich auf die Dauer
die
bulgarische Regierung nicht entziehen konnte. Das
rußlandfreundliche Kabinett
Gescheff-Daneff schloß auf Veranlassung Rußlands, das
seinerseits erneut seine
Stunde für die Erfüllung seiner Balkanpolitik gekommen
glaubte, mit Serbien ein
geheimes Militärbündnis gegen das türkische Reich mit
dem Ziel der Befreiung
von Thrazien und Mazedonien. Diesem Balkanbund2
schlössen
sich später auch Griechenland und Montenegro an. Am 17. Oktober
1912 wurden die
Feindseligkeiten eröffnet, der erste Balkankrieg begann.
Die bulgarischen Truppen begannen den Vormarsch gegen die türkischen Hauptheere im Maritzatal, der bald Europa in Staunen versetzte. Bereits am 24. Oktober 1912 wurden die Türken bei Kirk-Kilisse und am 28. bis 31. Oktober bei Lüle-Burgas vollkommen geschlagen, die Grenzfestung Losengrad genommen, Adrianopel (türkisch Edirne), das für uneinnehmbar galt, eingeschlossen, so daß der Weg nach Konstantinopel, dem bulgarischen Zarigrad, das nur noch durch die Feldbefestigungen der Tschataldscha-Linie geschützt war, frei war. Die Türkei bot einen Waffenstillstand an, den Bulgarien am 2. Dezember annahm, da auch sein Heer unter den blutigen Kämpfen, besonders aber durch die Cholera, die ebenfalls bei den Türken wütete, starke Verluste erlitten hatte.
In diesen Tagen nun erschien es Zar Ferdinand, als kein schlagkräftiges feindliches Heer mehr vor ihm stand, daß der alte Traum der bulgarischen Zaren von der Eroberung Konstantinopels und der Errichtung eines bulgarischen christlich-orthodoxen Kaisertums durch die Aufpflanzung des heiligen Kreuzes der Ostkirche auf der Hagia Sophia verwirklicht werden könnte. Eines jener seltsamen, im mystischen Halbdunkel hinter dem hellen Vordergrund des Weltgeschehens erfolgenden Zwischenspiele um die Erfüllung einer machtvollen und zwingenden Idee, um die aus dem Nebel des Schicksals plötzlich auftauchende Möglichkeit der Verwirklichung jahrhundertealter Träume eines Volkes, setzte ein. Ferdinand erwog lange alle Gegebenheiten, als seine siegreichen Truppen vor der Tschataldscha-Linie standen und das alte Byzanz wie im Mittelalter wieder vor einem bulgarischen Zaren und seinen Heerscharen zitterte, ob er die Hauptstadt; des türkischen Reiches als Sieger betreten sollte. Während in den westeuropäischen Kabinetten dieses Ereignis erwartet wurde, was aber Ferdinand zu spät erfuhr, um seine endgültigen Entschlüsse danach fassen zu können, wurde ihm in entscheidender Stunde aus Petersburg ein energisches, nicht mißzuverstehendes „Halt" geboten.
So wurde auch 1912 dieser imperiale Traum vergeblich geträumt, wie schon zu Zeiten der mächtigen bulgarischen Zaren des I. und II. Reiches. Das Scheitern dieser hochgespannten Hoffnungen beleuchtete andererseits schlagartig die weltpolitischen Bindungen der Meerengenfrage.
Die bulgarische Regierung hatte das Friedensangebot der Pforte, in dem sie an Bulgarien ganz Thrazien abtreten wollte, nicht angenommen. Dieser Entschluß war einer der folgenschwersten der neuen bulgarischen Geschichte. Obgleich vertraglich im Rahmen des Balkankrieges festgelegt war, daß Bulgarien bei einem siegreichen Ausgang des Befreiungskrieges den Großteil Mazedoniens erhalten sollte — mit Ausnahme des nordwestlichen Teils, dessen Vereinigung mit Bulgarien oder Serbien einem späteren Schiedsspruch des russischen Zaren überlassen bleiben sollte —, begannen Serbien und Griechenland diese Abmachungen durch Besetzung von Mazedonien zu umgehen. Mit ihren ausgeruhten, kaum in ernsthaften Kämpfen gestandenen Truppen wollten sie das Ergebnis der in London tagenden Botschafterkonferenz zwischen den Staaten des Balkanbundes und der Türkei abwarten. Da die sich langsam hinschleppenden Friedensverhandlungen zu keinem für Bulgarien befriedigenden Ergebnis gelangten — die Türkei wollte das immer noch der bulgarischen Belagerung standhaltende Adrianopel Bulgarien nicht zuerkennen — wurden am 3. Februar 1913 die Operationen seitens der bulgarischen Armee gegen die Türkei wieder aufgenommen. Nachdem eine türkische Offensive abgeschlagen war, beschloß die bulgarische Heeresleitung, Adrianopel im Sturm zu nehmen. Das Unternehmen gelang. Adrianopel fiel am 26. März unter dem stürmischen Angriffsgeist des bulgarischen Heeres, was von militärischen Fachleuten damals kaum für möglich gehalten worden war. Die Türken beeilten sich, einen Waffenstillstand und den Frieden anzubieten. Nach zweimonatigen Verhandlungen, die wieder in London stattfanden, kam der Frieden zwischen der Türkei und Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro zustande, wobei u. a. die Türkei auf alle ihre bisherigen europäischen Besitzungen bis auf die Linie Enos-Midia (Ost-Thrazien) verzichtete. Der erste Balkankrieg war für die Balkanvölker siegreich beendet worden. Nun aber mußte noch die Teilung der eroberten türkischen Gebiete gemäß den vertraglichen Bestimmungen des Balkanbundes unter den Siegern erfolgen. Hierbei brach nun jener folgenschwere Streit zwischen Bulgarien einerseits und Serbien sowie Griechenland andererseits aus, der zum zweiten Balkankrieg, dem Krieg zwischen den ehemaligen Verbündeten führte.
Serbien und Griechenland hatten bereits während des ersten Balkankrieges den Hauptteil Mazedoniens widerrechtlich besetzt und in einem Geheimvertrag, dem später auch Rumänien und Montenegro beitraten, vereinbart, diese Gebiete unter sich aufzuteilen. Bulgarien bestand auf seinen vertraglichen Rechten, vor allem im Vertrauen auf Rußland und auf einen gerechten Schiedsspruch des russischen Zaren, und lehnte den serbischen Vorschlag auf Revision der Abmachungen ab. Das bulgarische Oberkommando verlegte die Hauptkräfte an die mazedonische und serbische Grenze, da es den russischen Vermittlungsabsichten entgegen der Meinung der bulgarischen russophilen Regierung mißtraute. Die bulgarisch-serbische Spannung begann sich ihrem kritischen Punkt zu nähern. Die unheilvolle Rolle des russischen Gesandten Hartwig in Belgrad muß hier erwähnt werden, der den serbischen Ministerpräsidenten und Außenminister Paschitsch zur Unnachgiebigkeit Bulgarien gegenüber ermunterte und es gleichzeitig verstand, den russischen Außenminister Sasonoff zur Unterstützung der serbischen Ansprüche zu gewinnen. Als der bulgarische Oberkommandierende, General Michael Sawoff, die bulgarische Regierung Daneff aufgefordert hatte, binnen 7 Tagen die Frage so oder so zu lösen und ein von Zar Ferdinand am 9. Juni einberufener Kronrat beschlossen hatte, den bulgarischen Gesandten in Petersburg zu einem entsprechenden Schritt zu veranlassen, der den immer wieder hinausgezögerten Schiedsspruch des Zaren herbeiführen sollte, war die Entscheidung gefallen. Rußland faßte die bulgarische Bitte ultimativ auf und brach über Bulgarien den Stab.
Fünf Tage später, am 16. Juni 1913, brach der zweite Balkankrieg aus.
Den bulgarischen Truppen gelang es, in
Serbien in Richtung auf Nisch vorzudringen. Aber wieder hinderte die
Diplomatie
ihren weiteren siegreichen Vormarsch. Der bulgarische russophile
Ministerpräsident Daneff ordnete die Einstellung der Kämpfe
an, da er auf Grund
einiger Äußerungen des russischen Gesandten in Sofia
annehmen zu können
glaubte, hierdurch Rußland für Bulgarien günstig zu
stimmen. Wieder wurde Bulgarien
getäuscht. Nicht nur, daß Rußland Serbien inoffiziell
riet, die Kämpfe mit den
Bulgaren nicht einzustellen, sondern zum Angriff überzugehen, es
veranlaßte
auch Rumänien, sich gegen Bulgarien zu stellen.
Die frischen rumänischen Truppen marschierten in das von allen bulgarischen Streitkräften entblößte Nordbulgarien und besetzten bald Plewen. Diese Notlage Bulgariens nutete auch die Türkei aus. Sie besetzte mit ihrer Kavallerie unter Enver Bei das östliche Thrazien und eroberte Adrianopel zurück.
Bulgarien sah sich von allen Seiten angegriffen und plötzlich einer unhaltbaren Lage gegenüber, wenn auch Österreich-Ungarn mit allen diplomatischen Mitteln sich für Bulgarien, insbesondere in Bukarest, einsetzte. Vor allem sah Conrad von Hötzendorf, Generalstabschef der österreichisch-ungarischen Armee, eine günstige Gelegenheit, die von ihm und vielen nationalen Kreisen der Doppel-Monarchie für notwendig befundene Auseinandersetzung mit Serbien jetzt durchzuführen. Der österreichisch-ungarische Außenminister Graf Berchtold teilte den deutschen und italienischen Partnern des Dreierbundes diese Absicht mit, erhielt aber von beiden eine ablehnende Antwort. Der Ausbruch des kommenden Weltkrieges, der sich den Tieferblickenden bereits deutlich am weltpolitischen Horizont abzeichnete, war verschoben...
Ohne Aussicht auf fremde Hilfe sah sich Bulgarien, mit der eigenen Kraft am Ende, gezwungen, den aussichtslosen Kampf abzubrechen. Die Rumänen konnten kurz vor den Toren Sofias zum Stehen gebracht werden. Der Waffenstillstand wurde geschlossen und die Friedenskonferenz nach Bukarest einberufen. Am 10. August 1913 wurde der für Bulgarien so unheilvolle 2. Balkankrieg mit dem Frieden von Bukarest beendet. Der bulgarische Delegierte, General Fitscheff, erklärte damals: „Man legt uns die Rechnung vor, sie muß bezahlt werden."
Bulgarien verlor an Rumänien die
Süd-Dobrudscha, an Serbien und Griechenland seinen mazedonischen
Anteil, an die
Türkei alle thrazischen Gebiete östlich der Maritza mit
Adrianopel. Ihm
verblieb als einziges Westthrazien mit der ägäischen
Küste zwischen Maritza
und Mesta
Dieser Friedensvertrag war eine flagrante Ungerechtigkeit gegen Bulgarien. Wieder einmal hatte sich der Traum von einem Bulgarien, das alle Bulgaren umfassen sollte, als eine schwere Enttäuschung herausgestellt. Sieger geblieben war der serbische Nachbar, hinter dem seit der Ermordung des Österreich-freundlichen Fürsten Alexander Obrenowitsch 1903 durch die Organisation der „Schwarzen Hand" und der Einsetzung der Dynastie Karageorgewitsch immer eindeutiger Rußland stand.
Zar Ferdinand sprach den Willen der Nation in jener denkwürdigen Dankproklamation an das heimkehrende bulgarische Heer mit den schwerwiegenden Worten aus: „Laßt unsere Fahnen ruhen, bis glücklichere Tage kommen."
Volk und Regierung waren einig,
daß
sobald als möglich eine Revision des Bukarester Friedens erreicht
werden mußte.
1 Der Name kommt daher, weil dieser Aufstand am Tage des hl. Ellas (bulg. „Ilinden") ausbrach.
2 Der Balkanbund Stellte ohne Zweifel
in serbischen Augen die Fortsetzung des von dem serbischen
Ministerpräsidenten Ga.ro-schanin
sdion 1844 aufgestellten Programmes der serbischen Politik dar,
nach dem
Verfall der türkischen Herrschaft die diriftlichen
Balkanvölker in einem Bund
zusammenzufassen und unter serbischer Führung zu befreien.