I.

 Das bulgarische Volk und sein Lebensraum


Die Landschaften

Bulgarien ist das Herzland des Balkans. Der Lebensraum des bulgarischen Volkes umfaßt den zentralen Teil der Balkanhalbinsel. Er wird — in großen Zügen gesehen — im Norden von der Donau, im Osten vom Schwarzen Meer zwischen Mangalia und dem Kloster des heiligen Iwan, im Süden von der ägäischen Küste, von der Maritzamündung ab bis zur Bistriza-Mündung und im Westen vom Ochrid-See entlang der Schar-Planina und der Crna-Gora, der bulgarischen Morawa und dem Timok bis zur Donau, umgrenzt. Das Balkangebirge — bulgarisch „Stara-planina": das „alte Gebirge" — bildet den Mittelpunkt, um den sich die zahlreichen Landschaften des bulgarischen Raumes gruppieren. Es ist als der „alte Vater Balkan“ zum bulgarischen Symbol für Kampf und Freiheit, zum nationalen Hort und ewigen Wächter für ein freies und starkes Bulgarien geworden.

Das heutige Bulgarien umfaßt rund 153 000 Quadratkilometer mit einer Gesamtbevölkerung von 9,0 Mil­lionen, was einer Bevölkerungsdichte von 59 Einwohnern je Quadratkilometer entspricht, wobei zu beachten ist, daß Bulgarien verhältnismäßig viel Gebirgsland besitzt, das nicht besiedelt werden kann, so daß die Bevölkerungsdichte in den Ebenen eine viel stärkere ist. Nach Ausscheiden des nicht siedlungsfähigen Bo­dens betrug in Altbulgarien die Bevölkerungsdichte 116 Menschen je Quadratkilometer. Bulgarien ist also in Wahrheit übervölkert. Die Entwicklung des bulgarischen Staatsgebietes und seiner Bevölkerung seit der Gründung des dritten bulgarischen Reiches im Jahre 1878, die ein getreues Spiegelbild der letzten 60 Jahre Balkangeschichte darstellt, zeigen folgende Angaben:

 

Jahr

Staatsgebiet

in 1000 Quadratkilometern

Bevölkerung

in Millionen:

Bevölkerungsdichte

auf den Quadratkilometer:

 

1878

 

62,777

 

2,008

 

32

1886 1

96,346

3,154

33

1913 2

111,837

4,658

41

1919

103,146

4,847

47

1941

153,000

9,000

59

 

Der Zuwachs an Gebiet und Bevölkerung seit 1919 entfällt auf:

 

Süddobrudscha                   mit   7 696 qkm und 0,320 Millionen Einwohner

Bulgarisch-Thrazien 3          mit 15 000 qkm und 0,650 Millionen Einwohner

Bulgarisch-Mazedonien 4     mit 27 000 qkm und 1,600 Millionen Einwohner

 

Der Raum, den das bulgarische Volk heute besiedelt, ist seit Jahrtausenden ein Teil der großen Durch­gangszone gewesen, die Asien mit Europa verbindet. Immer wieder, von Norden und Süden, Westen und Osten her, aus den Steppen des Schwarzmeergebietes oder aus Kleinasien, wurde er von Völkern ver­schiedener rassischer Herkunft überflutet. Die Thraker, Illyrier, Kelten, Griechen, Römer, Ostgoten, Awaren, Slawen und die Protobulgaren, sie alle wanderten hier durch, siedelten oder übten ihre Herrschaft aus: Nach der bulgarischen Staatsgründung im 7. Jahrhundert haben byzantinische Einflüsse, die machtvolle tür­kische Herrschaft und schließlich die machtpolitischen Interessen der raumfremden imperialistischen euro­päischen Großmächte in den letzten 150 Jahren in diesem Raum gewirkt und ihre materiellen und geistigen Kräfte spielen lassen, nicht immer zugunsten einer organischen Entwicklung der eigenständigen, raum­gebundenen Kräfte.

Im einzelnen wird der Lebensraum des bulgarischen Volkes innerhalb seiner heutigen staatlichen Gren­zen durch sieben klar gegliederte und ausgeprägte Großlandschaften gebildet: Das Hochland von Sofia, Nord- oder Donaubulgarien, das Balkangebirge, Süd- oder Maritzabulgarien, das Rhodopenland, das thrazische Küstenland und Mazedonien.                                                                                                        

Jede dieser Großlandschaften und jeder der bulgarischen Volksteile, die in ihnen leben, haben in der bul­garischen Geschichte eine besondere Rolle gespielt. In ihnen lebt der bulgarische Geist des ersten und des zweiten Reiches im Mittelalter, die Erinnerungen an die Zeiten der Unfreiheit unter der Türkenherrschaft und der geistigen Überfremdung durch das Griechentum, aber auch an die Zeiten des völkischen Wieder­erwachens und an die unsterblichen Helden der Freiheitskämpfe — die Haiduken, Räuber und Rebellen - und ihre unvergänglichen Taten. Aus diesen bulgarischen Landschaften und dem tragisch-heroischen Schicksal seiner Menschen formte sich das neue Bulgarien der Gegenwart, das dritte bulgarische Reich, das endlich, nachdem so viel Blut geflossen ist, alle Bulgaren im wesentlichen umschließt.

Die zentrale, beherrschende Landschaft im bulgarischen Lebensraum ist das Hochland von Sofia, auch Hochbulgarien genannt. Wenn es auch die kleinste der Großlandschaften des bulgarischen Raumes ist, so ist es doch die wichtigste. Es ist die eigentlich politische Landschaft Bulgariens, die sich mitten zwischen die anderen Landschaften gleichsam als Drehscheibe einschiebt, gekrönt von dem 2291 m hohen, Immer mit einer Schneehaube bedeckten Witoscha, dem väterlichen Beschützer der Hauptstadt Sofia. Hochbulga­rien verbindet alle anderen Großlandschaften zur festen politischen Einheit. So war es kein Zufall, daß ge­rade hier die Hauptstadt des dritten bulgarischen Reiches als Herz des neuen bulgarischen Staates entstand.

Das Hochland von Sofia vereinigt die wichtigsten Verkehrswege der Balkanhalbinsel in einem Punkt: Nach Nordosten durch das Iskertal zur Donau und zum Schwarzen Meere, nach Südosten über Edirne (Adrianopel, bulgarisch: Odrin) weiter nach Istanbul (Konstantinopel), nach Süden nach Mazedonien und durch das Struma-Tal zum Ägäischen Meer und nach Westen über Dragoman-Nisch ebenfalls nach Maze­donien sowie nach Mitteleuropa. Sofia bildet ferner die Ostecke des sogenannten „mösischen Daches", von dem alle Wasser und Wege der inneren Balkanhalbinsel nach Ihren peripheren Teilen und Randmeeren ab­gehen. Dieses mösische Dach, dessen andere Ecken das Feld von Nisch im Norden, das Kossowofeld im We­sten und die Ebenen von Kumanowo und Skopje im Süden sind, ist die zentrale Hochburg des Balkans, auf der und um die alle entscheidenden Schlachten der Balkangeschichte geschlagen wurden und das die Ver­bindung eines der wichtigsten und ältesten Balkanwege, der Morawa-Wardar-Achse, beherrscht. Hier zogen die zahlreichen Eroberer und Völkerstämme der Balkangeschichte durch: Kelten, Griechen, Römer, Ostgoten, Awaren, Byzantiner und die Südslawen. Hier liegt wohl auch das Geheimnis des bulgarisch-serbischen Gegen­satzes, der die letzten 60 Jahre der Balkangeschichte beherrschte: der Kampf um die Vormachtstellung auf dem Balkan, der Kampf um die Führung unter den Balkanvölkern.

Heute, nach der Auflösung des jugoslawischen — aber großserbisch gedachten — Staatsgebildes, beherrscht Bulgarien zwei der vier Eckpfeiler — Sofia und Skopje —, die ihm die Vorherrschaft auf dem Balkan in Verbindung mit den donau-bulgarischen Gebieten und der Beherrschung der beiden wichtigsten balkanischen Durchgangwege: Morawa-Sofia-Maritza und Morawa-Skopje-Wardar, sichern.

Durch seine beherrschende Stellung im Mittelpunkt des eigenen Lebensraumes zieht Sofia die aufstreben­den Schichten des gesamten Volkes in seinen Bann, sammelt so alle bulgarischen Kräfte und richtet sie auf einer gemeinsamen Grundlage aus, allem Sonderlandschaftlichen und Individuellen zum Trotz, das „draußen" in der „Provinz" so oft betont wird. Aber doch ist Sofia in vielem nicht Bulgarien. Die Men­schen draußen auf dem Lande, die einfachen Bauern, Handwerker und Arbeiter, verkörpern in einem grö­ßeren Maße das „Bulgarische" als die Menschen der Stadt Sofia, die bereits mit dem Boden kaum mehr in Berührung kommen und geistig immer mehr verstädtern, sobald sie das urbane Zivilisationsleben der Hauptstadt erfaßt hat.

Sofia mit seinen 408 000 Einwohnern ist zur Hauptstadt des Balkans bestimmt, nicht nur wegen seiner geo­graphischen Lage, seiner politischen Macht und seiner geistigen Kräfte, sondern auch wegen seiner soliden Grundlagen als Stadt, der Tüchtigkeit seiner Bewohner und seiner weitsichtigen Führung. Auch schon vor der Erfüllung der nationalen Ideale im Jahre 1941 kam dort das Bewußtsein, eine gesamtbalkanische Aufgabe zu haben, z. B. in der Aufstellung eines großangelegten Generalbebauungsplanes, praktisch zum Ausdruck.

Nord- oder Donaubulgarien mit der Dobrudscha, das Land zwischen der unteren Donau, dem Balkan-Ge­birge und dem Schwarzen Meere, ist die Wiege des bulgarischen Staates. Hier gründeten die Protobulgaren, aus der Wolgagegend kommend, im Jahre 679 ihr Staatsgebilde, dessen stolze Wahrzeichen der Reiter von Madara und der Palast ihres Chans Omortag in Pliska (Aboba bei Schumen) sind, noch heute den stein­gewordenen Willen mächtigen Herrschergeistes verkörpernd.

Das Land zwischen Donau und Balkangebirge ist sanft hügelig, zur Donau abfallend, von zahlreichen Flüssen breit und tief durchschnitten, die sich alle in die Donau ergießen: Isker, Wit, Jantra, Ossam und Lom. Fruchtbarer schwerer Boden wechselt mit Grasland, Äcker mit üppigem Weizen und Mais werden von weitgestreckten Bergweiden mit zahlreichen Schafherden abgelöst. Plewen, die nordbulgarische Haupt­stadt, Russe, der größte bulgarische Donauhafen, dem Widin, Lom, Swischtov und Silistra als weitere Donau­häfen folgen, sowie Dobritsch, der Hauptort der „goldenen Dobrudscha", der bulgarischen Kornkammer, sind die bedeutendsten Städte dieses wichtigen Teiles des bulgarischen Lebensraumes. An der Küste des Schwarzen Meeres liegt geschützt in einer natürlichen Bucht Warna, das alte Odessos, die Perle des Schwar­zen Meeres, mit dem modernen Seebad, das im Sommer von tausenden Bulgaren und auch Ausländern be­sucht wird, die an dem weiten weißen Strand zwischen Meer und Sonne Erholung suchen und finden. Die Bedeutung Warnas als Handelshafen ist keine geringe, vor allem, nachdem er sein natürliches Hinter­land, die südliche Dobrudscha, wieder zurückerhalten hat. Außerdem ist Warna Kriegshafen und Sitz des bulgarischen Flottenkommandos, Im Norden Warnas Liegt die Bucht und der Hafen von Baltschik, ein herr­liches Stück Natur an der „Silberküste" des Schwarzen Meeres; südlich Warna ergießt sich der Kamtschia-Fluß mit seiner üppigen, subtropischen Vegetation ins Schwarze Meer.

Im Süden Donaubulgariens schließt sich im Gegensatz zu seinem steilen Südabfall langsam ansteigend das Balkangebirge an, das das ganze östliche und mittlere Bulgarien wie eine mächtige Sehne durchzieht. Seine höchste Erhebung ist der Jumruktschal, 2375 m, im Hohen Balkan. Wenige Pässe lassen den Durch­gang nach Süden offen. Von ihnen hat der Schipka-paß die größte Bedeutung für den Verkehr von Nord nach Süd. Hier kämpften und siegten 1877 nur schlecht ausgerüstete bulgarische Freiwillige todesmutig gegen das gegen die Paßhöhe anstürmende überlegene türkische Heer, das den Durchbruch erzwingen wollte, um die in Plewen eingeschlossene Armee Osman Paschas zu entsetzen. Von diesen Heldentaten kündet noch heute ein Denkmal auf der Paßhöhe, das später gleichsam zum Mahnmal für den Kampf um die Freiheit aller Bulgaren erhoben wurde.

Das ganze Balkangebirge atmet mit seinen Pässen, engen Schluchten, waldreichen Flußtälern, Städten, Dörfern und Klöstern bulgarische Geschichte und kündet bulgarisches Schicksal. Es ist das Refugium des bulgarischen Volkes. Hierher flüchtete sich der überlebende bulgarische Feudaladel des Spätmittelalters mit seinen Gefolgsleuten nach der Zerstörung des zweiten Reiches durch die Türken (1396) und alle frei­heitsliebenden Bulgaren von Norden und Süden, die unter dem Türkenjoch nicht leben konnten oder woll­ten. Ein einzigartiges Sammelbecken völkischer Kraft entstand hier, von dem im 19. Jahrhundert die sozial vertürkten und geistig vergriechten Ebenen im Norden und Süden des Balkangebirges mit frischem bul­garischen Blut neu durchpulst wurden. Diese Volkswanderung aus den Bergen, die Rebulgarisierung des bulgarischen Siedlungsbodens, ist heute noch nicht endgültig abgeschlossen. Träger dieser Entwicklung sind in der Hauptsache die Gebiete um die alten Balkanstädte wie Kopriwschtitza mit seinen malerischen Pa­trizierhäusern, Panagjurischte, das bulgarische Rothenburg, Trewna, mit seinen herrlichen Holzschnitzereien, Kotel, Kalofer, Karlowo, Sopot, Tirnowo, Elena, Drenowo, Gabrowo, Sliwen und andere. Diese Städte und Stadtdörfer hatten von den Türken Privilegien erkämpft oder durch geschickte Verhandlungen vom Sultan erreicht. Einige konnten sogar als Paßwächter unter den Waffen bleiben und ihre bulgarische Selbst­verwaltung wahren.

Von diesen alten Balkanstädten gingen die geistigen Ideen der bulgarischen nationalen Wiedergeburt aus. Hier bildeten sich die Urzellen der nationalen Erhebung. Von hier stammen fast alle ersten bulga­rischen Politiker, Lehrer und Volkserzieher, Journalisten, Dichter und Kaufleute; vor allem organisierten sich von diesen Gegenden aus die Haiduken, die bulgarischen Freiheitskämpfer, die selbstlosen Beschützer und blutigen Rächer ihrer schutzlosen Volksgenossen vor türkischer Willkür.

Abef am schönsten und eindruckvollsten kann uns den Balkan doch nur ein Dichter schildern: Pentscho Slaweikoff, der große bulgarische Nationaldichter, selbst ein Kind des Balkans, in dem Prolog seines be­rühmten Epos „Das blutige Lied". Da erzählt er, wie er noch auf dem Schöße der Mutter den Erzählungen und Liedern von den düsteren Geschicken der Heimat lauschte, wie er noch im Alter jenes Lied nicht ver­gessen konnte, das sich wie die Brücke der Seufzer über den Abgrund der halb vergessenen Tage schwingt, das Lied vom gefallenen Helden, dessen Grab die Mutter dem Knaben zeigte, im Gebüsch verloren, von Dornen und Unkraut verdeckt, jenes Lied, das der alte Vater Balkan selber vor sich hin singt. Es ist das Lied von Christo Boteff, dem bulgarischen Theodor Körner, der hier in den dunklen Schluchten des Balkans durch die Kugeln der gegen ihn und seine gleichgeslnnte Kämpferschar ausgesandten türkischen Häscher fiel. Diese Zeilen kennt jeder Bulgare:


„Wer kämpfend für Freiheit und Heimat gefallen,

der stirbt nicht — ihn feiert die kommende Welt.
Beklagt von der Erde, von Himmel und Bergen
in Liedern der Sänger lebt ewig der Held."

 
Das Balkangebirge ist die heroische Landschaft Bulgariens.

Eine Sonderstellung nimmt Tirnowo, die alte Zarenstadt an der Jantra, Hauptstadt des zweiten bulga­rischen Reiches, ein. Das einzigartige malerische Stadtbild gehört mit zu dem Schönsten, was Bulgarien, ja sogar Europa, bieten kann.

Der große Moltke war von dieser Stadt so entzückt, daß er längere Zeit in ihren Mauern verbrachte, als sein Reiseplan es vorsah. Die Stadt erhebt sich stolz auf drei Hügeln amphitheatralisch in die Höhe, vorn der blaugrün schimmernden Jantra in vier Schleifen umschlungen. Des Nachts wetteifern tausende von Lich­tern mit dem Gefunkel des klaren südlichen Sternenhimmels. Auf dem Tzarewetz, einem der drei Hügel, standen im zweiten bulgarischen Reich der Palast des Zaren, umgeben von reichen Kirchen und den Bojarenhäusern, deren heutige Reste von großer Zeit künden. Heute ist Tirnowo eine „Königinwitwe in Trauer", die wehmütig von der großen Vergangenheit träumt.

Bevor nun das Balkangebirge in die Maritzaebene abfällt, schieben sich zwischen den Hochbalkan und den niedrigen Gebirgszug der Srednagora die weltbekannten Rosenfelder von Karlowo und Kasanlik. Hier ist des Sommers zur Erntezeit die Luft voll von süßem Rosenduft, der von den Millionen Rosenblättern, die bei den Rosenöldestillationsanlagen zur Verarbeitung lagern, herrührt. Vor dem Kriege war das Ro­senöl eines der Hauptausfuhrgüter Bulgariens, denn die ganze Welt benötigte das kostbare Öl zur Herstel­lung edler Parfüme. Heute ist jedoch die Bedeutung des Rosenöls durch die Herstellung synthetischer Riech­stoffe in den Hintergrund getreten.

Südbulgarien mit der Maritza- und der Tundscha-Ebene ist der Fruchtgarten Bulgariens, das europä­ische Kalifornien der Zukunft. Hier gedeihen neben Getreide und Mais vor allem Wein, Erdbeeren, Toma­ten, Gurken, Gemüse aller Art, Ölfrüchte, Baumwolle, Reis und das bulgarische Hauptprodukt Tabak. Hier liegen die Zentren bulgarischen Bauern- und Gewerbefleißes, der Gärtnereikünste und des rührigen Kauf­mannsgeistes. Plowdiw — Philippopel —, die zweite Hauptstadt des Landes, an der Maritza um fünf in die weite Ebene ragende Hügel („Tepe") gelegen, ist ihr mächtiger Repräsentant. Burgas, der wichtigste bulgarische Hafen am Schwarzen Meer, ist ihr Tor zur Welt.

Die Bucht von Burgas umschließt einen bulgarischen Edelstein: Messemwria, das alte „Nesseber". Schon Herodot kündet von diesem einzigartigen Eiland, das auch wieder Moltke begeisterte und von dem Zar Ferdinand gesagt hat: „Das ist die großartigste Entdeckung, die ich in Bulgarien gemacht habe!" Allein 120 Kirchen im byzantinischen Stil wurden von den mächtigen oströmischen Herrschern auf dieser, nur durch einen schmalen Fahrdamm mit dem Festland verbundenen Insel auf kleinstem Raum erbaut. Viele prächtige Ruinen sind erhalten geblieben und künden von der vergangenen großen Zeit! Auch das alte Sosopol und die Salzfelder von Anchiolo gehören zu den bemerkenswerten Erscheinungen dieser Pontusgegend.

Den Abschluß der gesegneten thrazischen Ebene nach Süden bildet das mächtige Rhodopengebirge, von dessen Höhen man das Blau des Ägäischen Meeres schimmern sieht. Tabakbau und Schafzucht sind neben der Waldwirtschaft die hauptsächlichsten Erwerbsquellen dieser einsamen, verkehrsfeindlichen und daher noch vielfach unberührten und urtümlichen Landschaft. Mächtige Schafherden, von Hirten mit ihren Hun­den bewacht, ziehen hier einher und beleben die still erhabene, urwüchsige Natur. Nach dem Welt­kriege (1914—18) ging die Schafzucht sehr zurück, da durch den Verlust des ägäischen Küstenlandes an Griechenland die saftigen Winterweiden, in die die Herden im Herbst hinabgetrieben wurden, fehlten. Erst jetzt, nachdem Bulgarien erneut in den Besitz der ägäischen Küste gelangt ist, wird die Viehzucht in den Rhodopen wieder auf ihre alte Höhe kommen. Hier kann man auch noch Bären jagen und Wölfe in den lan­gen Winternächten heulen hören. Hier leben die Pomaken, die einzigen Bulgaren, die während der Türkenherrschaft den mohammedanischen Glauben annahmen und noch heute an ihm, wie zur Zeit der Herrschaft des Halbmondes, festhalten.

Nordwestlich, gegen das Becken von Sofia zu, schließen sich die vielfach alpinen Gebirgszüge des Pirin und Rila an, mit der höchsten Erhebung Bulgariens und der Balkanhalbinsel, dem ewig schneebedeckten Musalla (2925 m). Herrliche dunkle Wälder, grüne Gebirgswiesen, kristallklare Bergseen — mehr als hun­dert — und schnell dahinschießende schäumende Bäche sind das Panorama, das sich dem Wanderer abwech­selnd bietet.

Hier liegen auch die Quellen der Maritza, der Struma und des Isker. Der Isker ist der einzige Fluß, der das Balkangebirge in wildromantischen, zahllosen Windungen und Klüften durchschneidet und dem Reisenden eines der schönsten Landschaftsbilder Bulgariens bietet, wenn er von Sofia zur Donau oder nach Warna zum Schwarzen Meer fährt.

Inmitten hoher Gebirgsfelsen, in Wälder und Wiesen eingebettet, Liegt im Rilagebirge das alte ehrwürdige Rilakloster, bulgarisch „Rilski Monastir", ein mächtiger viereckiger Steinbau, innen mit luftigen und brei­ten durchgehenden Holzveranden, die den Blick auf den geräumigen Hof mit der Kirche und dem trotzig­eckigen Turm gleiten lassen. Als treue Wahrerin des bulgarisches Geistes und der bulgarischen Kultur gegen griechische Überfremdung während der türkischen Herrschaft ist dieses Kloster noch heute ein viel besuch­ter Ort der bulgarischen orthodoxen Gläubigen, die von weither kommen, vor allem zur Osterzeit, und in den saalartigen Räumen, die zugleich zum Aufenthalt, zum Kochen und zum Schlafen dienen, zu Tausenden Unterkunft finden können. Dann erklingen in der von bunten Fresken geschmückten Klosterkirche mit ihrer kunstvoll aus Nußholz geschnitzten, vergoldeten Ikonenwand, auf der zahlreiche Heilige dargestellt sind, die frommen Gesänge der Mönche mit ihren wohlklingenden, ausdrucksvollen Baßstimmen. Die Gläubigen erhellen den völlig im mystischen Dunkel gehaltenen Innenraum der Kirche mit unzähligen, flackernden Kerzen. Das Bild einer andächtigen Gemeinschaft, erfüllt von religiöser Hingabe und tiefer Gläubigkeit, bietet sich hier dem fremden Besucher.

Nach Süden schließt sich an das Rhodopenland und das Piringebirge das thrazische Küstenland in natür­licher organischer Ergänzung an. Seine Gliederung erfährt es durch die sich fast rechtwinklig zur Küste hinziehenden, leicht abfallenden Ausläufer des Rhodopen- und Pirin-Massivs sowie durch die Flüsse Ma­ritza, Mesta und Struma. Geographisch 5 gehört das Gebiet zwischen Maritza und Mesta mit den hauptsächlichsten Städten Xanthi, Gümürdschina und Dedeagatsch — dem einzigen bulgarischen Hafen an der Ägäis von 1913 bis 1919 — zu West-Thrazien und das Gebiet zwischen Mesta und Struma mit den hauptsächlich­sten Städten Drama, Seres sowie der Hafenstadt Kawalla, die heute Gebietshauptstadt ist, zu Ost-Mazedo­nien. Aber auch unter der neuen bulgarischen Verwaltung seit dem Sommer 1941 bilden diese Gebiete als „Belomorie" (Weißes Meer-Gebiet) eine Einheit. Der Küste vorgelagert sind die beiden Inseln Thasos und Samothraki.

Der äußerst fruchtbare, mit vorwiegend subtropischem Klima ausgestattete Landstrich, der von 1919 bis 1941 unter griechischer Herrschaft stand und somit Bulgarien einen freien, den natürlichen geographi­schen und wirtschaftlichen Gegebenheiten entsprechenden Ausgang zum Ägäischen Meer versperrte, ist in seiner West-Ost-Ausdehnung 350 km lang und in seiner Nord-Süd-Ausdehnung 50—80 km breit. Seine Be­völkerung beträgt ungefähr 650 000, die vor den großen griechischen Umsiedlungen seit 1919 großenteils bulgarischer Volkstumszugehörigkeit waren. Durch die Griechen sind nach 1919 viele Bulgaren6 vertrieben und an ihrer Stelle griechische Flüchtlinge aus Kleinasien angesiedelt worden, von denen aller­dings viele in die Städte zogen, wie sie es von ihrer bisherigen Heimat her gewöhnt waren7.

Die Landwirtschaft ist die Haupterwerbsquelle der Bevölkerung, vor allem der Tabakbau, der in den Gegenden um Xanthi und Kawalla die besten europäischen Orienttabake hervorbringt. Auch der Anbau von Baumwolle, Öl- und Faserpflanzen ist in der Entwicklung begriffen. Der Bodenreichtum an Erzen der ver­schiedensten Art ist bisher kaum erforscht, die Industrie noch nicht nennenswert entwickelt. Heute, nach­dem die wirtschaftliche Entwicklung des Gebietes wieder in die Hände des fleißigen bulgarischen Bauern, des emsigen bulgarischen Kaufmanns und des strebsamen bulgarischen Industriellen gelegt ist, wird sein Aufstieg, engstens angelehnt an den mitteleuropäischen Wirtschaftsraum und seine Bedürfnisse, nicht auf sich warten lassen. Kawalla wird sein Haupthafen und das Haupttor Bulgariens zur Welt werden.

Westlich schließt sich an Thrazien, das Piringebirge und das Hochland von Sofia das bulgarische Maze­donien an. Der mazedonische Gesamtraum als geographischer Begriff umfaßt rund 40 000 Quadratkilometer. Er wird im Osten vom Mesta-Tal, im Westen vom Tal des Schwarzen Drins, im Norden von der Schar-Planina und Crna-Gora und im Süden vom Bistritza-Tal und der Ägäis umgrenzt. Im Frühsommer 1941 hat Bulgarien alle jene bis dahin jugoslawischen Teile mit Ausnahme eines Streifens Westmazedoniens mit den Städten Debar, Kitschewo, Struga, Gostiwar und Tetowo, die zur Zeit unter italienischer Verwaltung stehen, an das Mutterland rückgegliedert.

In dem seit 1913 zu Griechenland gehörenden südlichen Teil von Mazedonien leben auch Bulgaren8, die in der Hauptsache in den Gebieten der Städte Kostur, Kukusch, Lerin (Florina), Ostrowo, Solun (Saloniki) und Woden wohnen und deren Zahl mit rund 200 000 in neusten bulgarischen Angaben verzeichnet werden.

Die Bedeutung Mazedoniens ist jedoch entschieden größer, als die Zahl der Quadratkilometer auf den ersten Blick erkennen läßt. Die entscheidende Rolle Mazedoniens in dem geschichtebildenden Wechsel­spiel der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte der Mächte des Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit ist durch seine beherrschende Lage in der Mitte der Balkanhalbinsel bedingt. Der maze­donische Raum wird von dem bedeutendsten Verbindungswege der Balkanhalbinsel von Norden nach Sü­den, der Morawa-Wardar-Achse mit ihren Brückenköpfen Nisch und Saloniki, und dem wichtigsten von Westen nach Osten, Durazzo über Bitolja nach Saloniki — der antiken Via Egnatia — durchzogen. Diese Wege müssen von den Kräften, die im Balkan die Herrschaft ausüben wollen, unbedingt in Besitz genom­men werden. Daher ist die fast zweitausend jährige Geschichte des mazedonischen Raumes ein untrüg­liches Spiegelbild der gesamtbalkanischen Geschichte.

Nach dem Verfall seiner Selbständigkeit im Altertum nach Alexanders des Großen Tod (323 v. d. Zr.) sind acht zeitlich ungleiche Herrschaftsepochen festzustellen:

 
Die griechisch-römische und oströmische Zeit bis zur Einwanderung der Slawen im 6. Jahrhundert,

die slawische Landnahme (6. bis 8. Jahrhundert),

das erste bulgarische Reich (839-1018),

die byzantinische Herrschaft (1018—1230),

das zweite bulgarische Reich: von der Schlacht bei Klokotnitza (1230) bis zur serbischen Reichsgründung (gegen Ende des 13. Jahrhunderts),

die serbische Herrschaft (bis 1355, Todesjahr des Zaren Stefan Duschan und Auflösung seines Reiches in Teilfürstentümer),

die türkische Herrschaft (1389—1912), die serbische bzw. griechische Herrschaft (1912 bis 1941).

Eindeutiger als die wechselvollen äußeren Geschicke ist die völkische Zugehörigkeit des Gebietes. Nach­dem die Südslawen in den mazedonischen Raum einwanderten und im Laufe des 6. bis 8. Jahrhunderts auch hier seßhaft wurden, gehört Mazedonien von der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts ab, da es im Jahre 839 durch Khan Pressiam dem bulgarischen Staat eingegliedert wurde, zum bulgarischen Lebensraum. Zar Samuel (980—1014) legte den Schwerpunkt seines westbulgarischen Teilreiches nach Mazedonien, nachdem Ostbulgarien im Jahre 972, das mittlere Bulgarien im Jahre 1002 unter die Herrschaft von Byzanz geraten war. Seine mazedonischen Residenzen waren Prilep, Prespa und Ochrid. Bald nach seiner Eingliederung in das bulgarische Reich und der Christianisierung der Bulgaren wurde Mazedonien auch die Heimat eines blühenden bulgarischen kulturellen Lebens. So entstand in Ochrid, im Kloster des Heiligen Kliment, eines Schülers der Brüder Kyrill und Methodi, bereits 886 die erste bulgarische Hochschule — nach der die heutige Universität in Sofia (1888 gegründet) ihren Namen erhalten hat —, die den geistig-kulturellen Mittelpunkt des ersten bulgarischen Reiches bildete. 980, nach dem Zusammenbruch Ostbulgariens, wurde auch das bulgarische Patriarchat von Dorostolje nach Ochrid verlegt, wo es ununterbrochen bis 1767 be­stand9. Die Fremdherrschaften der Byzantiner, Serben, Türken und wieder Serben und Griechen konnten an dem einmal begründeten bulgarischen Charakter des Landes und Volkes nichts mehr ändern, wenn auch geistige Überfremdungen, politische Fremdherrschaften und wiederholte Einwanderungen fremden Volkstums im Laufe der Jahrhunderte erfolgten. So kommt es auch, daß sich in Mazedonien das bulgarische Nationalbewußtsein bis in die jüngste Zeit viel stärker erhielt als in den altbulgarischen Ostbalkangebieten, wo Tür­ken und Griechen das völkische Bewußtsein der bulgarischen Bevölkerung für Jahrhunderte fast auslöschen konnten. Dieser bulgarische Charakter Mazedoniens ist in älterer Zeit auch unbestritten gewesen. Man kannte zum Beispiel noch 1885 in Serbien kein mazedonisches Problem, da Mazedonien selbst dort als bul­garisches Gebiet angesehen würde. Die „mazedonische Frage" entstand überhaupt erst durch das für Bul­garien unbefriedigende Ergebnis des Berliner Kongresses im Jahre 1878. Durch die sich abwechselnden Herrschaftsepochen konnte es jedoch nicht ausbleiben, daß sich in Mazedonien noch heute die verschieden­sten Volkssplitter befinden, die sich von der bulgarischen völkischen Grundlage buntscheckig abheben. Neben den Bulgaren leben dort Albaner, Aromunen oder Kutzo-Walachen — die den heutigen Rumänen ver­wandt sind — Griechen und Juden — diese besonders in den Städten der Küste — und mohammedanische Türken.

Der gebirgige Charakter des Gebietes läßt nur wenig intensive landwirtschaftliche Nutzung zu, mit Ausnahme der sogenannten „Poljen" (Siedlungsfelder zwischen den praktisch unbewohnbaren Siedlungs­öden) um Skopje, zwischen Prilep und Bitolja sowie dem Owtsche-Polje südlich vom Platschkowitza-Gebirge. Die Industrie, der Bergbau und der Handel sind noch wenig entwickelt, gemessen am Mutterlande, wäh­rend Handwerk und Gewerbe Mazedoniens dem Altbulgariens nicht nachsteht.

Die beiden Hauptstädte — Sitz der Gebietsverwaltungen — des heutigen bulgarischen Mazedonien sind Skopje, eine alte römische Gründung, und Bitolja. Die bedeutendsten übrigen Städte sind Prilep, Schtip, Weles und Ochrid. Auch das Bild der mazedonischen Kulturlandschaft hebt sich von den anderen bulgarisehen Gebieten besonders durch die zahlreichen Moscheen in den Städten und Dörfern ab, deren schlanke weiße Minarette elegant in den azurblauen südlichen Himmel ragen. Berge und Täler, Wälder, Wiesen und Äcker wechseln in langer Reihenfolge, belebt durch die bunten Trachten der fleißigen Bauern und die schwerfälligen Bewegungen ihrer Büffelgespanne. Jedes Volkstum und jedes religiöse Bekenntnis, jedes Tal und jedes Dorf haben hier ihre verschiedenen kunstvoll gearbeiteten Gewänder; jeder Familienstand der Männer und Frauen läßt sich für den Kenner an der selbstgefertigten, von Generation zu Generation über­kommenen, meist sehr kostbaren Tracht ablesen. Aber diese Schönheiten schwinden wie überall immer mehr und mehr, sobald die europäische Zivilisation das Land tiefer erfaßt und die alte balkanische Lebens­form der patriarchalischen Gemeinschaft von ihren überkommenen Bindungen ablöst.

Mazedonien ist ein herrliches Land, echtester Balkan, mit großartigen Menschen. Bald wird es von vie­len Deutschen durchzogen oder durchfahren werden. Sie alle werden von Mazedonien für ihr Leben einen tiefen Eindruck mitnehmen, genau wie die deutschen Soldaten aus dem großen Krieg und ihre Söhne im kurzen Balkanfeldzug des Frühjahres 1941.


1  nach dem Anschluß Ostrumeliens

2  nach den Balkankriegen

3  mit den Inseln Thasos und Samothraki

4  mit dem Morawa-Gebiet

5 Um die einzelnen Begriffe zu bestimmen, sei ausgeführt, daß das gesamte Thrakien, wie es vom Altertum her ein geographischer Begriff ist, in drei Teile zerfällt: Nord-, West- und Ost-Thrazien. Nord-Thrazien umfaßt das Land süd­lich des Balkangebirges, West-Thrazien das Gebiet zwischen Mesta und Maritza, Ost-Thrazien — heute zur Türkei ge­hörig — das Gebiet zwischen der Maritza sowie dem Marmara- und dem Schwarzen Meer.

6 Nach neuesten bulgarischen Angaben bis auf rund 100 000.

7 Nach bulgarischen Angaben betrug die Zahl der gemäß des griechisch-türkischen Abkommens über den gegenseitigen Bevöl­kerungsaustausch von 1920 in diesen Gebieten angesiedelten kleinasiatischen Griechen 250 000, von denen ein Teil sog. „Karamanlis" waren, das sind Reste der im 12. Jahrhundert von Byzanz christianisierten türkischen Seldschuken.

8 Vergleiche auch J. H. Schnitze, Griechischer Lebensraum in Antike und Gegenwart, in: Lebensraumfragen europäischer Volker, Leipzig 1941, Quelle und Meyer, Bd. i.

9 In diesem Jahr setzte das griechische Patriarchat in seinem Kampf gegen den erwachenden Nationalismus der Bulgaren seine Auflösung beim Sultan durch..


[Index]  [Next]