Die altchristliche Kunst

Wladimir Sas-Zaloziecky

 

Universalgeschichtliche Bedeutung

 

 

Die altchristliche Kunst bildet die erste universale Kunstausweitung in der Geschichte des Abendlandes, die über das Mittelmeergebiet hinauswachsend die Grundlage aller späteren Kunsterscheinungen im Abendland vorbereitet hat.

 

Quantitativ-geographisch gesehen, umfaßt die altchristliche Kunst ein Riesenareal der ganzen damaligen Kulturwelt. Vom Pictenwall bis zum Zweistromland (Mesopotamien), von Spanien bis zum schmalen Landstrich der Krim, von der Rhein-Donau-Limesgrenze bis zum östlichen und westlichen Nordafrika, ganz abgesehen von allen mittelmeerländischen Anrainergebieten, erstreckt sich das dichte Gewebe altchristlicher Kunsterzeugnisse.

 

An den Peripherien dieses geschlossenen Gebietes stößt die altchristliche Kunst im Osten an die orientalischen Kunstsphären, wo sich Assimilierungsprozesse eigenartiger Prägung beobachten lassen (Persien, Kleinasien, Syrien, Ägypten), im Westen findet eine Auseinandersetzung mit keltischen Kunsttendenzen in Irland und England statt.

 

Es gehört zu den unbegreiflichen Tatsachen, daß trotz dieser immensen quantitativen Ausbreitung der altchristlichen Kunst dieselbe eine Einheit bildet. Trotz aller regionalen und provinziellen Verschiedenheiten ist die Einheit stärker als die Vielfältigkeit. Diese phänomenale Einheit ist um so auffallender, als sie die Auflösung der antiken Religion in unzählige Kulte, die Dämonisierung des Altertums, die Auflösung der antiken Kultur, die Völkerwanderung, den Zusammenbruch des römischen Imperiums und das Aufkommen neuer Völker auf der historischen Bühne überdauert hat.

 

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Zuletzt hat sogar die tief in die Geschichte des späten Altertums eingreifende Teilung des Reiches in eine Ostund Westhälfte, die sich unter Theodosius vollzogen hat, diese Einheit nicht zu zerreißen vermocht.

 

Unwillkürlich fragt man sich nach den historischen Ursachen dieser, alle geistigen und materiellen Katastrophen überdauernden Einheit der altchristlichen Kunst. Sie hat einerseits der allgemeinen geistigen Disposition am Ausgang der Antike entsprochen, andererseits hat sie künftige Entwicklungen vorweggenommen.

 

Trotz aller Auflösungserscheinungen der römischen antiken und spätantiken Kultur machen sich Tendenzen bemerkbar, das zerfallende antike Leben durch höhere geistige Zielsetzung herüberzuretten. Einsichtige römische Staatsmänner und bedeutende Kaiserpersönlichkeiten, wie etwa Marc Aurel und Konstantin d. Gr., haben die Gefahren erkannt und Versuche unternommen, die Auflösung aufzuhalten: der Philosophenkaiser durch den Idealismus der griechischen Philosophie und ein hohes stoisches Lebensideal, Konstantin d. Gr. durch die historische Großtat von unendlichen Folgen, durch die Anerkennung der christlichen Religion und Kirche durch den Staat.

 

Wäre dieses Werk damals nicht gelungen, so ist zu bezweifeln, ob sich das zerbröckelnde Römische Reich nicht in kleine Partikeln aufgelöst hätte, da es durch seine Riesenausdehnung kein rein Römisches Reich mehr gewesen ist.

 

Die Universalität des Christentums hat daher die sich bereits auflösende, staatliche, römische Universalität gerettet bzw. ihr eine höhere Zielsetzung verliehen, die nicht nur von den Römern, sondern von allen anderen nichtrömischen Völkern des Reiches anerkannt worden ist.

 

So bleibt also die Universalität erhalten, ja, was noch wichtiger ist, sie hat eine höhere geistige Weihe bekommen, die sich nun über alle politischen und ethnischen Unterschiede erhoben und somit die gesamte damalige Kulturökumene erfaßt hat.

 

Mit diesem Prozeß hängt die bildende Kunst engstens zusammen, sie hat dadurch ihre universale Einheit erhalten. Ohne Unterschiede der Länder und Provinzen, der Völker und Rassen konnte sie sich in Gebieten von gigantischen Ausmaßen ausweiten.

 

Man muß zuletzt noch auf zwei Tatsachen aufmerksam machen, die diese Ausbreitung der altchristlichen Kunst begünstigten. Die altchristliche Kunst bedeutet keinen Bruch mit der Vergangenheit,

 

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sie hat die spätantike, allen Völkern des Römischen Reiches geläufige Form beibehalten. Griechisch-hellenistische und römische Formgestaltungen in spätantiker Assimilierung haben ihre Formensprache geprägt. Sie war die Summe von allen diesen künstlerischen Bestrebungen, die das Altertum hervorgebracht hat. Diese Formensprache war daher sowohl im Osten als im Westen verständlich: sie hatte griechisch-hellenistisches, römisch assimiliertes Erbe in sich innerlich verarbeitet.

 

Aber dazu kam noch etwas Neues. Ein neuer Geist, der über der bloß sinnlichen Erscheinung der Form dem Kunstwerk eine höhere Bedeutung verliehen hat. Man könnte diesen neuen Weg, den das Kunstwerk nun beschritten hat, als den der geistigen Sublimierung bezeichnen. In der Tat ist diese geistige Sublimierung des Kunstwerkes ein entscheidender Schritt über die Antike hinaus. Sie sagt sich zwar bereits in der Spätantike an, aber an Tiefe gewinnt sie erst mit dem Aufkommen der altchristlichen Kunst.

 

Und gerade diese neue Sublimierung der Kunst, die sogar die überlieferte Form wandelt, ist das, was zur Überbrückung der tiefen Gegensätze zwischen Antike, Spätantike und Mittelalter verhilft. Wäre diese Sublimierung der antiken Kunst nicht erfolgt, dann wäre ein Bruch zwischen der ausgehenden Antike und dem Mittelalter unvermeidlich gewesen. So hat diese Sublimierung nicht nur die Brücke in die Zukunft geschlagen, sondern hat auch die Welt der antiken Formgestaltung teilweise den künftigen Generationen herübergerettet.

 

Dieser Prozeß vollzog sich in beiden Reichshälften, obwohl nicht in gleich intensiver Weise.

 

Im Osten waren die beharrenden, an die antiken Traditionen sich enger anlehnenden Tendenzen stärker, so daß es hier zu einer stärkeren Durchdringung der antiken Formenwelt und der neuen geistigen Sublimierung gekommen ist, während im Westen die geistige Sublimierung wirksamer war und die antiken Traditionen schwächer nachwirkten. Aber wie gesagt, keine von den beiden Reichshälften konnte sich dem hier angedeuteten Prozeß ganz entziehen. Die gemeinsamen Wurzeln der bildenden Kunst am Ausgang der Antike sind so stark, daß sie unverkennbar in beiden Reichshälften bis über den Fall von Konstantinopel hinaus nachwirkten.

 

Die Einheit dieser gemeinsamen Grundlagen war so mächtig, daß sie über Jahrhunderte hinaus trotz allen politischen und kirchlichen

 

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Auseinandergehens des Ostens und des Westens bewahrt geblieben ist. Gerade diese Tatsache der universalen Einheit, deren historische Hintergründe angedeutet wurden, wird oft übersehen und nicht genügend gewürdigt oder durch die Kurzsichtigkeit bloß partikularer Betrachtungsweise sogar verkannt. Sie ist es aber, die die Kapitel über die Geschichte der altchristlichen Kunst zu den faszinierendsten und spannungsreichsten der abendländischen Kunstbestrebungen macht. Wir stoßen hier von den vielverzweigten Ästen eines Riesenbaumes zu seinen in die Tiefe reichenden purzeln.

 

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