Die altchristliche Kunst

Wladimir Sas-Zaloziecky

 

V. Übergang von der altchristlichen zur frühmittelalterlichen Kunst im Westen

 

1. Allgemeine Voraussetzungen  137

2. Oberitalienische dekorative Plastik  139

3. Römische Malerei des 6. bis 8. Jahrhunderts  142

4. Malerei in der Merowingerperiode  147

5. Die insulare irische und irisch-anglosächsische Buchmalerei  149

 

 

1. Allgemeine Voraussetzungen

 

Diese Periode könnte man mit besseren Gründen als das Mittelalter das eigentlich dunkle Zeitalter (dark ages) bezeichnen.

 

Es unterliegt keinem Zweifel, daß im Vergleich mit der spätantiken und altchristlichen Kunst diese Übergangszeit einen Niedergang bildet. Zu dem Niedergang haben vor allem die zerrütteten staatlichen und politischen Verhältnisse beigetragen: zunächst der erste Zusammenbruch des römischen Westreiches (476), dann der zweite Zusammenbruch der oströmischen Herrschaft in Italien anläßlich der Eroberung des ravennatischen Exarchates durch die Langobarden (751). Es ist selbstverständlich, daß diese Katastrophen und Veränderungen einen entscheidenden Einfluß auf die Kunstentwicklung Italiens ausüben mußten.

 

Wir müssen allerdings drei Gebiete voneinander unterscheiden: Oberitalien, Rom und die Länder nördlich der Alpen.

 

Während Oberitalien durch den völligen Zusammenbruch des west- und oströmischen Reichsgefüges aus dem Bereich der monumentalen Aufgaben vorderhand, also im 7. und 8. Jh., ausscheidet, fristet Rom, durch den Sitz des Papsttums und eine gewisse Kontinuität der künstlerischen Entwicklung bedingt, doch noch ein Schattendasein im Rahmen der altchristlichen Kunsttradition.

 

Beiden großen Gebieten gemeinsam ist wohl die Verminderung der monumentalen Baukunst. Die Architektur, die wir in Rom und in Oberitalien im 7. und 8. Jh. vorfinden, setzt die Tradition der altchristlichen und ravennatischen Basilika fort (z. B. Santa Maria in Cosmedin in Rom, Umbau unter Hadrian I. [772-795], Abteikirche in Pomposa, Ausgang des 8. Jh.),

 

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aber abgesehen von einer gewissen Verhärtung der Formen und von sporadischen Einflüssen aus Byzanz können wir keine neuen Stiltendenzen in dieser Übergangsarchitektur feststellen.

 

Dagegen besteht der Hauptunterschied zwischen Oberitalien und Rom vor allem darin, daß sich in Oberitalien eine dekorative Plastik ausbildet, die sich von da aus in ganz Italien und den Nachbarländern verbreitet, während in Rom insbesondere eine nicht unbedeutende Malerei aufkommt. Ganz abseits von diesen Kunstgebieten steht wiederum das Merowingerreich. Hier haben verschiedene Umstände eine echte »Übergangskunst« hervorgebracht. Am stärksten jedoch kommt das Eigenartige und Eigenwillige dieser Übergangskunst in der irisch-anglosächsischen Buchmalerei zum Ausdruck.

 

Wenn wir nun in allen diesen Gebieten einen Übergangsprozeß im künstlerischen Schaffen feststellen können, so müssen wir wohl zwei Gesichtspunkte im Auge behalten. Einerseits handelt es sich um eine Fortsetzung des Althergebrachten, die vor allem durch die Verbreitung der christlichen und christianisierten spätantiken Kunst bedingt war, die aber eine weitgehende Schrumpfung des alten Formengutes mit sich brachte, anderseits um ein Auf greifen abstrakter Tendenzen aus diesem überlieferten Kunstgut und ihre Ausdehnung auf die ganze Darstellungswelt, soweit sie wiederum in den Darstellungskreis rückt.

 

Es hat also zuerst eine Selektion, eine Auswahl aus dem reichen Formenbestand der spätantiken und altchristlichen Kunst stattgefunden, der mehr auf das Abstrakte hinzielte, und zweitens wurde das Abstrakte auch auf die menschliche Figur übertragen, als dieselbe sich aus dem Ornamentalen darstellungsmäßig herauszuentfalten begann (Oberitalien mit Ausnahme von Rom, vor allem aber im Norden). Insoweit kann man hier vielleicht nicht nur von einem Ausklang der vorhergehenden Kunst sprechen, in der sich eine Neigung zum Abstrakten bemerkbar machte, sondern auch von positiven Tendenzen, die in der Anwendung der Abstraktion bei der Wiedergabe der menschlichen Figur zum Ausdruck kommen.

 

Es ist heute noch nicht mit Sicherheit möglich, in allen Fällen nachzuweisen, wie weit hier bodenständige ältere Kunsttraditionen eingewirkt haben und wo ein urtümliches, von alter Kulturhöhe unbeschwertes Schaffen mit einem »volgare« (Vulgärkunst) der antiken und christlichen Kunst zusammentraf.

 

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Eines ist wohl sicher, daß diese aufs Abstrakte gerichteten Tendenzen um so stärker auftreten, je weiter außerhalb des großen mittelmeerländischantiken Kunstkreises wir uns begeben. Am stärksten sind sie in der irisch-anglosächsischen Miniaturmalerei, wo es doch am naheliegendsten ist, das Eindringen keltischer Kunstformen anzunehmen.

 

 

2. Oberitalienische dekorative Plastik

 

Man hat die oberitalienische Plastik vor nicht allzu langer Zeit als langobardisch bezeichnet (Cattaneo; Haupt; Zimmermann; Kautsch in seinen späteren Arbeiten, aber mit Vorbehalten).

 

Eine vorurteilslose Behandlung dieser Plastik wird jedoch zugeben müssen, daß sie in ihren Anfängen mit dem allgemeinen Schrumpfungsprozeß der spätantiken und altchristlichen dekorativen Plastik engstens zusammenhängt. Daß wir es dabei tatsächlich mit einem Ausklingen der spätantiken Plastik zu tun haben, beweist wohl die Tatsache ihrer Ausbreitung. Sie hängt zwar mit Oberitalien engstens zusammen, aber wir finden sie auch in Mittelitalien, Rom, Dalmatien, den Balkanländern und in den meisten, nördlich der Alpen liegenden Ländern, die einmal zur universalen römischen Kunstökumene gehörten. Sie findet sich also auch in Gebieten, in die nie Langobarden eingedrungen sind. Anderseits ist zwischen den letzten Ausläufern der altchristlichen bzw. ravennatischen Kunst und der dekorativen Plastik dieser Gebiete eine derart enge stilistische Verwandtschaft vorhanden, daß wir annehmen müssen, daß die letzten Stützpunkte der altchristlichen Kunst, wie z. B. Ravenna oder Mailand, den Ausgangspunkt dieser ganzen Entwicklung gebildet haben, d. h. Hauptstädte des römischen Imperiums.

 

Es sind vor allem Sarkophage, Grabplatten, Baldachine über Taufbecken (Ciborien), Pfeiler und Altarschranken, Bischofs- oder Patriarchenthrone und Ambonen, die mit dieser dekorativen Schmuckplastik bedeckt wurden.

 

Seit dem 8. Jh. treten diese Arbeiten immer häufiger auf. Zu den schönsten Beispielen gehören der Sarkophag der Theodota aus Pavia (um 720, Museum), die Grabplatte des hl. Cumianus in Bobbio (San Colombano, 712-743), das Ciborium des Patriarchen Callixtus in Cividale (um 730), Schrankenplatten in Aquileja, der Patriarchenstulil in Grado und Schranken in Santa Maria e Donato in Murano.

 

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Vergleichen wir diese plastische Schmuckkunst mit ravennatischen Arbeiten des 6. und 7. Jh., wie etwa den Altarschranken oder Kämpferkapitellen in San Vitale, oder mit den späteren exarchischen Sarkophagen (Sarkophag des Felix oder Gratiosus), dann fällt es auf, daß in der radikalen Verflachung des Reliefs, der abstrakten Behandlung organischer Motive (Pflanzen, Tiere), in der Verwendung ähnlicher Dekorationsmotive (Weintrauben, Weinblätter, Rosetten, Blattranken, stilisierter spitzer Akanthusblätter, stilisierter Palmen, stilisierter Tiermotive — Lämmer, Greifen, Pfauen, Tauben) und zuletzt in den immer stärker überhandnehmenden Bandgeflechten, die uns in verschiedensten Varianten entgegentreten, eine weitgehendste Übereinstimmung mit den ravennatischen Arbeiten festgestellt werden kann.

 

Ähnlich ist auch die Reliefbehandlung: Licht- und Schattenmotive werden durch Bohrer hervor gerufen, treten aber gegenüber der immer stärker überhandnehmenden Verflachung etwas zurück. Dagegen fehlen die feinen Durchbruchsarbeiten, die in Ravenna im 6. Jh. noch vorherrschten. Eine gewisse Vergröberung und Vulgarisierung macht sich bemerkbar, die mit einer zunehmenden Abstraktion der naturalistischen Motive Hand in Hand geht.

 

Diese stilistische Übereinstimmung zwischen der ravennatischen plastischen Dekorationsweise und der oberitalienischen und der von dort aus in die Nachbar gebiete eingedrungenen dekorativen Plastik beweist zweifellos, daß Ravenna den Ausgangpunkt dieser ganzen Entwicklung gebildet hat. Der ganze Formenvorrat, das Relief, der Hang zur abstrakten Stilisierung, ist dort bereits anzutreffen: Neues, Schöpferisch-Gestaltendes läßt sich kaum festfeststellen. Es ist weder eine autochthone Langobardenkunst, noch ist es eine griechische bzw. vom Osten hereindringende Schmuckkunst, da die letztere diese weitgehenden Auflösungstendenzen (etwa die Altarschranken von San Clemente in Rom, die von Konstantinopel beeinflußt waren und die noch feste, plastische Formen und Rahmen besitzen) nicht auf weist.

 

Auch der Schwund des tektonischen Gefühls, wie er in dem Ciborium des Eleucadius in Sant’ Apollinare in Classe in Ravenna uns entgegentritt, wo das Bandgeflecht die ganze Profilierung der Bogen und den tektonischen Aufbau bestreitet, hat sich in der ravennatischen bzw. spätantiken Plastik bereits vorbereitet (Abb. 37).

 

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Die Intensivierung der abstrakten Stilisierung, die Vergröberung der Formensprache, die gebrochenen, spitz verlaufenden Bandgeflechte und die absolute Verflachung können unter keinen Umständen als eine neue, positive Kunstsprache gewertet werden.

 

Etwas Neues tritt uns in der figuralen Plastik entgegen. Sie ist zwar äußerst selten, aber wir begegnen ihr nach der Unterbrechung der ravennatischen Tradition im 7. Jh. in dem Pemmoaltar in Cividale.

 

Der Pemmoaltar aus der Kirche San Martino in Cividale, gestiftet laut Inschrift durch König Ratchis Hidebohohrit, dem Sohn des Herzogs Pemmo, ist um 730-737 entstanden. Die Vorderseite und die Nebenseiten enthalten folgende Darstellungen: die Himmelfahrt Christi, die Anbetung der Könige und die Heimsuchung. Das abgeflachte Relief, die Figuren, Pflanzen und Ornamente entsprechen in ihrer Stilisierung der oberitalienischen dekorativen Plastik. Neu ist die Übertragung des flächigen Stils auf die Figuren, bei denen jede Raumrelation in Flächenrelation umgesetzt worden ist. Die Gewänder bestehen aus parallel verlaufenden, eingeritzten Linien. Alle richtigen Körperproportionen sind verlorengegangen, groß sind die Köpfe und Hände (Heimsuchung). Damit wird im Gegensatz zum Organischen des Körpers das »Ausdrucksmäßige« überbetont. Nicht die Form, sondern der Ausdruck entscheidet. Dasselbe gilt von den Raumverhältnissen. In der Anbetung schweben die Figuren vor dem neutralen Hintergrund. Der Bodenstreifen ist rein ornamental aufgelöst. Im Grunde genommen herrscht in der Komposition das Prinzip der Flächenfüllung vor. Zwischen Ornament und Figur wird kaum mehr ein Unterschied gemacht.

 

Die Frage lautet: Niedergang der figuralen Plastik bis zu den primitiven Anfängen oder eine frühe Regung, neue Wege zu betreten? Am ehesten beides; man konnte keine neuen Wege betreten, bevor das alte, antike Formengut nicht überwunden wurde. So ist in der »Primitivierung« gleichzeitig eine Überwindung des Alten und ein Ansatz zum Neuen vorhanden. Es ist ein Verfall, aber auch ein Anfang, ähnlich wie, mutatis mutandis, in der heutigen Kunst.

 

Daß Ansätze zu etwas Neuem vorliegen, beweist die mittelalterliche Skulptur, die an diese primitiven Anfänge wieder anknüpft, wie etwa die Kanzeln des Guido da Como. Wir werden am besten tun, wenn wir diese Werke als Übergangskunst bezeichnen, wo Altes durch Primitivierung überwunden wurde und Neues sich in Ansätzen bereits ansagte.

 

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Zu derselben Richtung gehört auch die Altarplatte des Patriarchen Sigwald (762-776), die dem Callixtusbaldachin (Ciborium in Cividale) später hinzugefügt wurde.

 

 

3. Römische Malerei des 6. bis 8. Jahrhunderts

 

Trotz der immerwährenden Verwüstungen hat Rom seine Rolle als Kunstzentrum in diesen dunklen Jahrhunderten nicht eingebüßt. Seit dem 6. Jh. können wir vor allem auf dem Gebiet der Malerei ein ununterbrochenes Kunstschaffen beobachten, das sich bis ins 8. Jh. hinein erhält und den Beweis erbringt, daß Rom neben Ravenna als wichtigstes Kunstzentrum weiterbesteht. Allerdings steht es nun nicht mehr wie Ravenna unter dem Schutz der weströmischen Kaiser und byzantinischen Exarchen, die dort residieren, sondern unter dem Schutz römischer Päpste.

 

Aber auch die Päpste sind nicht unabhängig. Ihre Wahl muß vom oströmischen Kaiser bestätigt werden. Die nahen Beziehungen zur neuen Metropole werden noch dadurch offenkundig, daß die Hälfte der Päpste aus dem Osten stammt bzw. griechischer Herkunft ist. In der römischen Malerei machen sich daher stärkere byzantinische Einflüsse geltend, ja es unterliegt keinem Zweifel, daß sie mit der Zeit an Stärke gewinnen und in dieser Hinsicht die exarchische Kunst Ravennas übertreffen.

 

Es wäre aber falsch, anzunehmen, daß sich in Rom nur byzantinische Einflüsse bemerkbar machen. Auch die alte römische Kunsttradition wirkt nach: antiker Impressionismus, die große fortwirkende Maltradition der Katakomben sind immer noch lebendig. Wir können daher zwei große Maltraditionen unterscheiden: eine autochthon-römische, als Vermächtnis der antiken und christlichen urbs aeterna, und eine byzantinische, die sich mit dieser, hier latenten Tradition stets auseinandersetzen muß. Es gibt Malwerke in Rom, die die alte Maltradition verdrängen, aber es gibt nur wenige Werke, bei denen die byzantinische Kunst ohne jede Auseinandersetzung mit der alten Malerei ihre Herrschaft ausübt.

 

Ein monumentales Mosaik eröffnet die Geschichte der monumentalen Malerei in der Kirche Cosma e Damiano, die von Papst Felix IV. in ein antik-römisches Bauwerk verlegt wurde.

 

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Es ist hier nicht Christus als Weltbeherrscher dargestellt worden, wie in San Vitale, sondern die Herabkunft Christi auf Wolken vom Himmel, rechts und links im Vordergrund akklamierend Petrus und Paulus, die die beiden mit Märtyrerkränzen versehenen Ärzte empfehlen. Ganz am Rande befinden sich der hl. Theodor und (der vollständig restaurierte) Papst Felix IV., ferner der übliche Fluß Jordan und darunter ein Lämmerfries.

 

Das Mosaik unterscheidet sich stark von den ravennatischen. Der Farbenillusionismus löst die Figuren nicht so stark auf, die Fläche wird durch plastische Modellierung ersetzt. Die Gewänder sind in ihrer monumentalen Wirkung antik-gravitätisch. Genauso mächtig wirkt die Figur Christi. Die unteren Figuren stehen fest auf dem Boden. Es ist so, als ob die antike wuchtige Schwere (gravitas) hier in diesem Werk in Erscheinung treten würde. Die Apostel und Christus sind zwar frontal zum Beschauer gekehrt, aber sie sind voll lebendiger Bewegung. Es ist wie ein Gruß aus der römischen Antike, der uns hier dargebracht wird. Auch die Köpfe sind durchmodelliert, und es fehlt die strenge byzantinische Stilisierung.

 

Bei Christus fallen die groß geöffneten Augen als Ausdruck der pneumatischen (geistigen) Erfülltheit auf. Auch die Farben passen sich dieser monumental-gravitätischen Wirkung an. Aus einem dunkelblauen Hintergrund tauchen die weißen Apostelfiguren auf. Wie ein Teppich breiten sich die vielfarbigen Wolken aus, auf denen Christus wandelt. Sowohl Modellierung als Farbe dienen der Verräumlichung der Darstellung. Goldeinlagen sind nicht so massiv wie in den byzantinischen, ja sogar in den ravennatischen Mosaiken. Das Gewand Christi und die Tracht des hl. Theodor sind mit Gold durchwirkt, die Sandalen sind mit feinen Goldumrissen gerahmt. Das Gold blitzt hie und da, aber diskret, auf.

 

Verglichen mit den ravennatischen Mosaiken, verrät Cosma e Damiano eine eigene römische Tradition, man könnte von einem römischen »Klassizismus« in diesem Mosaik sprechen. Für die römische Auffassung ist auch bezeichnend, daß die überirdische Begebenheit nicht den byzantinischen Glanz einer solchen unerreichbaren, übernatürlichen Begebenheit in kosmischer Abgeschiedenheit besitzt. Schon die Tatsache, daß der Hintergrund blau ist, verleiht der Erscheinung Christi einen überirdischen Eindruck, aber das Überweltliche eines Goldhintergrundes ist vermieden.

 

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Man kann daher auf Grund dieses Mosaiks von einer römischen monumentalen Malerei des 6. Jh. sprechen. Sie unterscheidet sich sowohl von der byzantinischen (Saloniki, Demetriusbasilika) als auch von der ravennatischen Mosaikmalerei.

 

Aber schon die nächsten Mosaiken in San Lorenzo fuori le mura (Gruppe von Pelagius-Laurentius, um 600), San Stefano Rotondo (624-649), in Sant’ Agnese (625-638) und in dem Oratorium des hl. Venantius im Baptisterium des Laterans (640-642) unterscheiden sich von dem, seinem Stilcharakter nach, römischen Mosaik in Cosma e Damiano.

 

Während in San Stefano Rotondo der neue Stil noch zögernd und mit römischen Reminiszenzen (breite optische Gewandfalten, gröber gezeichnete Hände, Lebendigkeit der Bewegung und das Individuelle des Kopfes) aufkommt, bedeuten Sant’ Agnese und das Oratorium des hl. Venantius den Sieg einer neuen, von Byzanz inspirierten Richtung.

 

In Sant’ Agnese steht die hl. Agnes zwischen den beiden Päpsten Honorius und Symmachus in unbeweglicher, weltabgeschiedener Frontalität beziehungslos da. Jede Bewegung, jede Andeutung von Lebendigkeit ist zugunsten dieser hieratischen Strenge unterdrückt worden. Auch zwischen den Figuren ist keine Beziehung, sie stehen wie Säulen in einer Reihe, ganz für sich isoliert da. Sogar räumlich wird zwischen der Heiligen und den Päpsten eine Zäsur geschaffen (Abb. 39).

 

Auch wird die Wucht und Schwere der Figuren von Cosma e Damiano durch eine übermäßige Schlankheit der Figuren und relativ kleine Köpfe überwunden. Die Gewandung ist flächiger, die hl. Agnes trägt wie die Märtyrerinnen in Sant’ Apollinare Nuovo byzantinische Hoftracht. Grundverschieden von Cosma e Damiano ist auch der Goldhintergrund und die bloße Andeutung des Himmels durch einen blauen Streifen mit goldenen Sternen. Die Figuren stehen am Rande einer idealen, im Unendlichen sich weitenden, goldenen, kosmischen Sphäre. Ein Abgrund zwischen Mensch und dieser überirdischen Sphäre tut sich auf.

 

Genau dasselbe gilt von dem Mosaik des Oratoriums des hl. Venantius. Hier tritt uns der »Byzantinismus« noch stärker entgegen. In der Apsis ist Maria als Orantin zwischen Heiligen dargestellt und über ihr, in den Wolken, der segnende Christus in Büstenform. Diese Art der Darstellung hat sich dann in den monumentalen Kuppelausschmückungen byzantinischer Anlagen fortgesetzt.

 

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In den Reihen der Heiligen rechts und links von der Apsis tritt uns der strenge, hieratische, byzantinische Stil in voller Blüte entgegen. Die Figuren sind unbeweglich frontal, in »feierlicher Selbstherrlichkeit« wiedergegeben und heben sich von einem goldenen Hintergrund ab.

 

Im 8. Jh. weicht dieser byzantinische Hofstil allerdings einem anderen. Fragmente der ehemaligen Mosaikdekoration des Oratoriums des Papstes Johann VII. an der Peterskirche (705-707) beweisen, daß ein neuer flächiger Stil mit einem Ansatz zu illusionistischer Flächigkeit in Verbindung mit einem neuen Linearismus die höfische byzantinische Malerei überwindet.

 

Auch in dem bedeutendsten Denkmal der römischen Freskenmalerei des 5. bis 8. Jh. in Santa Maria Antiqua können wir zwei Strömungen feststellen, eine byzantinisierende und eine, die die alte, antik-römische, illusionistische Malerei wieder aufgreift.

 

An der rechten Apsiswand treten uns in einigen Schichten diese starken Stildifferenzen entgegen. In der fragmentarischen Darstellung der thronenden Muttergottes mit zwei adorierenden Engeln hat sich die älteste Schicht, die in das 6. Jh. reicht, erhalten. Es ist eine Madonna in byzantinischer Kaiserinnentracht dargestellt, frontal und hoheitsvoll, das Jesuskind frontal vor sich haltend. Trotz aller byzantinischen Überladung und Stilstrenge verraten die Modellierung des Gesichtes, die Krone, die flächig plumpen Hände, daß wir es nicht mit dem rein byzantinischen, sondern mit einem byzantinisierenden Stil zu tun haben, der der römischen Maltradition Konzessionen macht (Abb. 42).

 

Dagegen steht die zweite Malschicht mit dem Fragment einer Verkündigung (vor allem ein Engelskopf) im scharfen Gegensatz zu der byzantinisierenden Madonna. Es ist die Rückkehr zu dem spätantiken und altchristlichen Farbenillusionismus, der uns hier entgegentritt. Weiche, duftige Modellierung, antike Kopfbehandlung, feine Lichtübergänge, mit einem Worte die ganze alte, auf sinnlicher Wirkung beruhende impressionistische Malerei, die in den Katakombenmalereien (Flavierkatakombe) oder in Santa Maria Maggiore noch lebendig war, kommt wieder auf und steht im Gegensatz zu der strengeren, wenig modellierten, sich scharf abzeichnenden Stilisierung der Madonna.

 

Jedenfalls zeigen der weiche flaumige Stil, die Lebendigkeit der Darstellung einen großen Unterschied gegenüber der Schicht des 6. Jh., die durch ihre Prunkhaftigkeit und Hieratik eine andere Welt verrät.

 

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Ebenso weit entfernt ist die Darstellung der Verkündigung (Engelskopf) von den späteren Darstellungen, wo einige Heilige (nebst dem Thron Marias ein Kopf) streng frontal dargestellt wurden.

 

Diesen Gegensatz zwischen zwei grundverschiedenen Malstilen können wir auch an anderen Malschichten dieser reichsten römischen Ausschmückung feststellen. Den impressionistischen Stil finden wir in den Malereien aus der Zeit Johanns VII. (705 bis 707), und zwar in der nur in Fragmenten erhaltenen Anbetung des Kreuzes in der Apsis (Kopf eines Cherubims, der in seiner skizzenhaften Auflösung den Engel der Verkündigung übertrifft) und in christologischen Szenen des Presbyteriums (z. B. Anbetung der Magier, Kreuztragung und Darstellung der Mutter der Makkabäer, stehende Maria); der impressionistische Stil ist hier noch voll entwickelt. Er steht den Mosaiken von Santa Maria Maggiore in nichts nach. Die monumentale Haltung der Figuren, die vollplastische Gewandbehandlung und die Landschaft, die in farbige Streifen, grün, blau und dunkelgrün aufgelöst ist, beweisen, daß der impressionistische Stil fortgesetzt wird. Diesen Stil zeigen auch die Malereien des Papstes Zacharias (um 741), z. B. die Kreuzigung, obwohl die Farbgebung etwas härter geworden ist, und die Darstellungen aus dem Leben des Quiricus und der Julitta, in der linken Kapelle neben der Apsis, aus der Zeit desselben Papstes.

 

Als Abschluß dieser größten römischen »Freskenpinakothek« können die Wandmalereien aus der Zeit Pauls I. (757-767) bezeichnet werden. Dieser Zeit verdanken wir die Ausschmückung der Nischenapsis mit einem Christusbild und eine Reihe von Heiligen im linken Seitenschiff. Das Christusbild der Apsis und die imposante Reihe von lateinischen und griechischen Kirchenlehrern in feierlicher, frontaler Hieratik links und rechts vom thronenden Christus verraten einen Rückfall in die feierliche, weitabgewandte und weltabgeschiedene Sphäre des Byzantinismus. Man kann sich keinen größeren Gegensatz vorstellen als den zwischen der lebensbejahenden, von Lebendigkeit noch sprudelnden Welt des antiken Impressionismus (Engelskopf der Apsiswand) und dieser morosen, in ihrer dogmatischen Unbeweglichkeit unbeirrbaren, strengen Welt mit ihren Reihen von asketischen, hieratischen, überlangen, alle Natürlichkeit durch konzentriertes inneres Leben überwindenden Figuren der östlichen Welt.

 

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Beide Richtungen wurden im 9. Jh. durch eine Malrichtung abgelöst, die sich in Rom, verspätet durch die Übermacht der fortwirkenden antiken Tradition und durch die Abhängigkeit des Papsttums von Byzanz, durchsetzt und die eine neue schöpferische Verbindung zwischen abgeschwächter altchristlicher Tradition und einer abstrakten, teilweise »vulgarisierten« Malerei im Anschluß an den Westen eingeht. Diese Wandlung vollzieht sich bereits in den Malereien der Unterkirche von San Clemente in Rom, z. B. in dem Fresko »Christus in der Vorhölle«. Sie setzt die große, weltpolitisch entscheidende Wandlung, und zwar die Emanzipierung des Papsttums vom byzantinischen Kaisertum und die Annäherung an das Frankenreich voraus (Abb. 41).

 

 

4. Malerei in der Merowingerperiode

 

Von den Denkmälern der monumentalen Mosaikmalerei (Basilika des hl. Martin in Tours, Kirche der hl. Genovefa in St.-Germain-des-Pres) hat sich leider nichts erhalten. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß diese Mosaikmalerei die Tradition der altchristlichen Malerei fortgesetzt hat.

 

Verhältnismäßig gut hat sich eine Reihe von illuminierten merowingischen Flandschriften erhalten, die von H. Zimmermann in einige Schulen (Luxeuil, Fleury, Corbie, Nordostfränkische Gruppe u. a.) aufgeteilt werden.

 

Im Vergleich mit der altchristlichen Buchmalerei haben wir es mit einem offenkundigen Schrumpfungsprozeß zu tun. Figurale Darstellungen bilden eine Ausnahme und treten erst spät auf, wie z. B. in der Schule von Fleury (Gundohinus, um 754) oder in dem bereits unter karolingischem Einfluß stehenden Sakramentar aus Gellone.

 

Sonst beschränkt sich die Dekoration auf ganzseitige Zierleisten, Darstellungen von Canonesbogen, in den meisten Fällen jedoch auf die Initialornamentik.

 

Zwar geht die Initialornamentik der merowingischen Buchmalerei auf spätantike Vorbilder (stilisierte Fische) zurück, wie es die Initiale »Q« des vatikanischen Vergil (vat. lat. 3256) beweist, aber die Initiale ist in der merowingischen Buchmalerei viel reicher ausgestattet.

 

Zu den charakteristischen Eigenschaften dieser Initialornamentik gehört die Verbindung von Fischund Vogelmotiven.

 

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Ineinanderverschlungen bilden sie die Initialen. Sehr schöne Beispiele davon haben sich in dem Ambrosius der Pariser Nationalbibliothek (lat. 1213 $), dem Sacramentarium Gelasianum und dem Missale Gothicum (beide in der vatikanischen Bibliothek in Rom) erhalten. In einigen Handschriften treten sie nicht nur in der Einzelinitiale, sondern in den Buchstaben ganzer Zeilen auf, wodurch eine einheitliche ornamentale Behandlung ganzer Seiten wirkungsvoll in Erscheinung tritt (Farbtafel VIII).

 

Man hat diese Zoomorphisierung der Ornamentik mit der orientalischen Buchmalerei, hauptsächlich mit der armenischen, in Verbindung gebracht. Gegen diese Ableitung spricht jedoch die Tatsache, daß die armenische Fisch-Vogel-Ornamentik nicht vor dem 10. Jh., also erst einige Jahrhunderte nach der merowingischen, aufkommt. Ferner ist der Stilcharakter beider grundverschieden. Die armenischen zoomorphen Motive sind viel plastischer und naturalistischer dargestellt, während die merowingischen flach sind und stark umstilisiert wurden. Sie sind dem allgemein herrschenden, abstrakten Stil unterworfen, den wir auch in der ornamentalen Skulptur Italiens vorgefunden haben.

 

Man hat zwar bis jetzt keine Verbindung der Fisch-Vogel-Ornamentik mit der spätantiken und altchristlichen Buchmalerei vorgefunden, aber die abstrakte, flache, stilisierte Behandlung dieser Ornamentik, d. h. die Darstellungsart der Fischund Vogelmotive, ist in unzähligen Beispielen der dekorativen Plastik und in kunstgewerblichen Arbeiten (z. B. Vogelfibeln) anzutreffen, so daß man hier viel eher Vorbilder annehmen kann, die wohl von das aus die abendländische und byzantinische Buchmalerei beeinflußt haben.

 

Was die Malweise dieses Buchschmuckes im allgemeinen anbelangt, so zeichnet sie sich durch eine leicht lavierende, skizzenhafte, jede feste Konturierung vermeidende Art aus, die als eine Fortsetzung der Spätantike leicht zu erkennen ist. Auch der Motivenschatz der meisten Zierleisten und Canonesbogen (Rosetten, Kreuzmotive, Palmetten, Halbpalmetten, strenge Feldeinteilung, heraldische Vogeldarstellungen) ist dem spätantiken entnommen. Dasselbe gilt von den Farben.

 

Der antike Farbenillusionismus tritt zugunsten einer zarten, aber eher gebrochenen Farbgebung zurück. Die Farbe hat auch ihre modellierende Kraft eingebüßt, auch sie ist von den abstrakten Tendenzen ergriffen worden.

 

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Später steigert sich die Buntheit zu einem kräftigen Kolorismus, bei dem wie in der römischen Malerei des 8.-9. Jh. das Grelle der gelben, grünen und zinnoberroten Farben die Oberhand gewinnt.

 

In dem frühen Ornamentschmuck spielt das Flechtband eine relativ geringe Rolle. Erst gegen den Ausgang des 8. Jh. nimmt es zu, wie z. B. in Corbie (Pariser Hieronymus, Nr. 1162, um 800). Aber das Flechtband hat sich im Gegensatz zu seinem ruhigen, statischen, abgewogenen Charakter, wie wir ihn aus dem Ausgange der antiken und noch aus der oberitalienischen Dekorationsplastik her kennen, weitgehend gewandelt. Das Unorganische des Flechtbandes wird nicht nur unruhiger und bewegter, sondern es hat etwas »Vegetatives, Pflanzliches, organisch Durchpulstes« erhalten. Diese Wandlung beweist, daß wir es hier mit einer insularen Einwirkung, d. h. der irisch-anglosächsischen Buchmalerei, zu tun haben.

 

 

5. Die insulare irische und irisch-anglosächsische Buchmalerei

 

Am eigenartigsten und eigenwilligsten setzt sich in der vorkarolingischen Epoche die irische und irisch-anglosächsische Buchmalerei durch.

 

Man hat den Eindruck, daß hier die von der antiken und spätantiken Überlieferung vorgeschriebenen Grenzen der formalen Gestaltung überschritten wurden und neue schöpferische Kräfte am Werke sind, die einerseits das alte Kunstgut weitgehendst verarbeiten, anderseits eine neue Formenwelt entstehen lassen, die die alten Grundlagen zu sprengen scheint.

 

Die Ursprünge, die genaue Entstehungszeit dieser immer noch von der Mittelmeerkunst beeinflußten, frühmittelalterlichen Buchmalerei liegen noch im Dunkel.

 

Zwei Richtungen kann man innerhalb der insularen Buchmalerei unterscheiden: eine irische und eine irisch-anglosächsische.

 

Zu den bedeutendsten irischen Handschriften gehören die Evangeliare aus Durrow und das »Book of Kells« (beide Trinity College in Dublin). Man nimmt an, daß beide Handschriften um oder bald nach 700 entstanden sind.

 

Eine neue Ornamentik und ein neues Verhältnis zur menschlichen Figur tritt uns bereits in dem Evangeliar aus Durrow entgegen. Einiges, und zwar die gröbere Rankenbehandlung, eine abstraktere Gestaltung der organischen Formen,

 

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die Vermeidung von figürlichen Darstellungen und eine knappe Beschränkung auf die bloßen Evangelistensymbole, würde für eine etwas frühere Entstehung als bei dem Book of Kells sprechen.

 

Die Ausschmückung der ganzen Handschrift bestand ursprünglich aus den vier Evangelistensymbolen, am Anfang der einzelnen Evangelien, aus ganzseitigen Ornamentblättern und aus reichverzierten Initialen. Entscheidend für diese Ausschmückung ist daher die Ornamentik. Bei den Evangelistensymbolen sind die Tiere stark stilisiert und ins Amorphe umgesetzt, nur die Miniatur mit der Darstellung des Evangelisten Matthäus zeigt eine menschenähnliche Engelsfigur, die jedoch in eine flache, ornamentierte Masse verwandelt wurde, aus der nur der Kopf und die unorganisch angefügten Füße herausragen. Alles Organische ist ins Amorph-Ornamentale umgesetzt.

 

Trotz einer gewissen Verwandtschaft mit dem Bandgeflecht der Mittelmeerkunst tritt uns in der Ornamentik der Zierleisten der Bordüren und vor allem in der ganzseitigen ornamentalen Ausschmückung etwas entschieden Neues entgegen. Es sind nicht nur neue Motive, wie etwa die rotierenden Spiralrosetten und Trompetenmuster und eine bewegtere Behandlung dieser Motive, sondern es entsteht durch die Verbindung von Bandverschlingungen mit Tierköpfen und Tierfüßen eine Zoomorphisierung der Ornamentik, die in der Kunst der Mittelmeervölker keine Stilparallelen findet. Diese Verbindung von Tieren, Bandgeflecht und Pflanzen ist durchaus unantik und tritt in dieser Eigenart zum ersten Male in der insularen irischen Malerei auf.

 

Die gewollte Verschlingung, Verflechtung von Tier, Ornament und Pflanze, die gewollte Verunklärung dieses Verhältnisses, man könnte von einem Labyrinth der ornamentalen Formenwelt sprechen, bildet einen Gegensatz zu der klaren Scheidung von Ornament, Tier und Pflanze und der übersichtlichen Darstellung dieser getrennten Formenwelten in der antiken Kunst. Dasselbe gilt von den Initialen. Sie spielen eine unvergleichlich bedeutendere Rolle als in der spätantiken oder merowingischen Buchmalerei. Auch hier kommt es durch die exorbitante Überfülle von verschiedensten Ornamentmotiven zu einer Verschleierung der Struktur des Buchstabens. Es ist vielmehr ein beschwingtes Ausklingen von immer in sich bewegten Bandgeflechten, Spiralen, Spiralrosetten und den sog. »scrolls«, die sich von einem teppichartigen Ornamentgrund abheben.

 

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Es gibt auch keine Wiederholung von Motiven, das Spiel mit der Ornamentik wird von einer schier unerschöpflichen Phantasie und einem Empfindungsreichtum bestimmt.

 

Prachtvoller und reicher als das Evangeliar von Durrow ist das Book of Kells. Die Ornamentik ist nerviger und feinfühliger, der Reichtum an Motiven größer. Vor allem fallen in dieser Hinsicht die ganzseitigen Ausschmückungen, die Initialen und die Buchstaben im Text auf. Es ist wohl in dieser Beziehung nicht nur die reichste insulare, sondern vielleicht die reichste Miniaturhand“ schrifl: überhaupt, die wir im Abendlande besitzen. Die ganzseitigen Initialen finden, was Reichtum, Erfindungs- und Kombinationsgabe betrifft, nicht ihresgleichen. Es ist wie ein gewirkter Teppich, was sich vor uns ausbreitet, ein Schwelgen im Ornamentalen, in dem sich eine zügellose Phantasie spiegelt. Es sind zoomorphe, vegetabile, geometrische, flechtbandartige, anthropomorphe Motive, die sich in einer gerollten, verschlungenen Unübersichtlichkeit durchdringen und ineinander übergehen (Abb. 43).

 

Im Gegensatz zum Evangeliar von Durrow besitzt das Book of Kells eine Reihe von figürlichen Darstellungen und Kompositionen. Den Evangelien sind die vier Evangelisten vorangestellt, außerdem enthält das Evangeliar drei Darstellungen aus dem Neuen Testament: die sitzende Maria, die Gefangennahme Christi und die Versuchung Christi. In den Figuren herrscht strenge Frontalität und das Prinzip der Flächenfüllung bei schwacher Raumentfaltung. Am räumlichsten wirkt die Maria, obwohl auch hier Raumrelationen in Flächenrelationen umgesetzt wurden. Unräumlich ist auch die Modellierung der Gesichter.

 

Der irische Stil kommt vor allem in der Überwucherung der Figur durch das Ornament zum Ausdruck. Alles ist ins Ornamentale umgesetzt worden: die Köpfe, die Haare, die Heiligenscheine, das Gewand, ja sogar die Hände, die, steif und hölzern wiedergegeben, alle Lebendigkeit eingebüßt haben. Auch der Raum ist weiß, neutral, ohne jede Tiefe, als Hintergrund für die Ornamentalisierung der menschlichen Figur aufgefaßt. Die Überwucherung des Ornamentalen spiegelt sich in der breiten Bordürenumrahmung wider, die bei den Evangelisten in das Figürliche übergeht. Es besteht eben keine reine Scheidung zwischen der Darstellung und der sie einrahmenden Bordürenornamentik.

 

Im Grunde genommen beherrscht nicht das Bildmäßige, sondern das Ornamentale die Darstellungen. Es spiegelt sich darin eine Abneigung gegen die Wiedergabe naturnaher Erscheinungen, wie der menschlichen Figuren, der räumlichen Tiefe und richtiger Proportionen.

 

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Auch die Farben dienen durch ihre grelle Verteilung von Ocker, Gelb, Dunkelblau, Violett und Purpur nicht der Hervorhebung der natürlichen, räumlichen oder gegenständlichen Darstellung, sondern sie unterstreichen eher die abstrakt-ornamentale Wirkung der Miniaturen. Die Gesichter werden, wie z. B. bei der Madonna, durch schwarze Linien, dunkle Zinnoberstreifen geformt, die Augensterne sind von violettem Lack umrahmt, so daß ein maskenartiger, lebensfremder Eindruck entsteht.

 

Die Ornamentik der Initialen, die ganzseitige Ornamentierung übertreffen bei weitem das Evangeliar von Durrow. Oft sind nicht nur Initialen, sondern einzelne Buchstaben ornamentiert. Bei den Rieseninitialen tritt eine prachtvoll gesteigerte Teppich Wirkung zutage. Ornament hebt sich von Ornament ab. Sowohl das Muster als auch der Fiintergrund bestehen aus Ornamentmotiven. Noch stärker als im Book of Durrow hat sich hier die Struktur des Buchstabens in einen kühnen, schwungvollen, nach allen Seiten zu ausschwingenden Duktus verwandelt.

 

Nur hie und da tauchen aus dem bunten, unübersichtlichen Gewirr Fragmente organischer Darstellungen hervor: ein Engel mit weit ausgebreiteten Flügeln, ein Menschenkopf als Ausklang einer Zierleiste, kleine Flasen in Zwickeln zwischen dem Rollwerk; ruhende Punkte im Labyrinth einer verwirrenden Durchdringung des Ornamentalen (Initiale als Monogramm Christi). Oft steigert sich die Welt des Ornamentalen bis ins Groteske; wir finden z. B. menschliche Füße ohne Körper, die in ein Flechtwerk übergehen, oder es erscheint ein Kopf, aus dessen Mund ein Flechtwerk hervorwächst, an dem, durch eine Spirale verbunden, eine menschliche Hand hängt.

 

Woher stammt diese wuchernde Sprache einer Ornamentik, die, alles Gegenständliche umgestaltend, eine schier unerschöpfliche Erfindungsgabe verrät und die zu der ganzen mittelmeerländischen Kunst im Gegensatz steht? Eine Abneigung gegen das Figürliche und eine weitgehende abstrakte Stilisierung haben wir bereits in der oberitalienischen Dekorationsplastik festgestellt. Die irische Ornamentik aber übertrifft alle diese schüchternen Versuche und schafft sich eine davon unabhängige Darstellungswelt des Ornamentalen.

 

Man hat nicht mit Unrecht auf keltische (Wirbelrosette-Scrollmotive) und skandinavische Vorbilder hingewiesen (Verschlingungen von Tier und Flechtband).

 

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Es ist heute noch schwer zu sagen, welches Kunstgebiet stärker eingewirkt hat, aber es ist naheliegender, bei der irischen Ornamentik auf keltische Vorlagen hinzuweisen. Es handelt sich jedenfalls um eine Kunst, in der sich eine freie, durch keine formende Tradition gehemmte, unerschöpfte künstlerische Phantasie auszuleben scheint.

 

Erst im Book of Kells muß sich diese auf subjektiver Erfindung beruhende, abstrakt-ornamentale Kunst mit dem Gegenständlichen der christlichen Inhalte auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung fällt ihr sehr schwer, aber erst durch die Berührung mit der Welt eines Kunstkreises, der auf uralte Traditionen zurückgeht, erreicht die irische Buchmalerei eine höhere Stufe als durch das bloße Sich-Ausleben im Ornamentalen. Durch diese Berührung mit der antiken und alt christlichen Tradition erst konnte sich diese Kunst aus dem engen Inselbereich zu einer weit ausgebreiteten, kontinentalen Kunst entwickeln.

 

Nur diesem Umstande ist es zu verdanken, daß in St. Gallen (Evangeliar aus St. Gallen), in Echternach (Evangeliar in der Nationalbibliothek in Paris), in Salzburg (Cutbrecht-Evangeliar) eine Buchmalerei sich vorfindet, die über das bloß Ornamental-Abstrakte hinaus zur Bewältigung gegenständlicher Themen schreiten konnte.

 

Daß die kontinentale Buchmalerei auf die insulare eingewirkt hat, beweisen Miniaturhandschriften, die in England (Nordengland, Northumbrien und Südengland) entstanden sind. Das schönste Beispiel einer nordenglischen Miniaturhandschrift, die das Irische in den bildlichen Darstellungen durch kontinentale Einwirkungen überwunden hat, bildet das Lindisfarn-Evangeliar (entstanden 698—721), das sich im Britischen Museum in London befindet.

 

Im Lindisfarn-Evangeliar ist nur die Schrift und der Schmuck der großen Initialen der fünf Zierseiten und der sechzehn Kanonesseiten irisch, wogegen die Evangelistendarstellungen im Gegensatz zu den beiden irischen Handschriften einen vollen Durchbruch der anthropomorphen, antik-mittelmeerländischen Auffassung verraten. Die Evangelisten sind dreidimensional, frei sitzend und frei bewegt, vollplastisch dargestellt worden, im Gegensatz zu den flächig und ornamental aufgelösten Evangelisten des Book of Kells.

 

Wir können auch auf die Ursachen und Vorbilder dieser Wandlung hinweisen. Durch Benediktinermönche sind Evangelienbücher, die in dem berühmten Kloster Cassiodors Vivarium kopiert wurden, nach England geschickt worden (Ceolfried, Abt Benedikt von Wearmuth und Jarrow).

 

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Eine Bestätigung dessen erhalten wir durch einen Vergleich der Darstellung des Evangelisten Markus im Lindisfarn-Evangeliar mit einem Autorenporträt des Codex Amiatinus aus dem 6. Jh., der sich in der Laurentiana in Florenz befindet. Die sitzende Figur des Autors diente hier als direktes Vorbild für den Evangelisten im Lindisfarn-Evangeliar. Nur in der stärker stilisierten Gewandung und in dem neutralen Hintergrund sind noch Überbleibsel der irischen Mal weise vorhanden (Abb. 44).

 

Auch die Ornamentik der Zierleisten, vor allem aber der ganzseitigen Initialen hat sich verändert. Die phantastische Überfülle der Motive des Book of Kells hat sich in einen kühleren, dezenteren, ausgeglicheneren Duktus verwandelt. Die Farben sind leuchtender wie im Book of Kells, aber gleichzeitig von einer auffallend vornehmen Gedämpftheit. Genau dasselbe gilt für Südengland, wo ebenfalls enge Beziehungen zu Papst Gregor d. Gr. bestanden.

 

So wird die rein ornamentale, abstrakte und zum Gegenstandslosen neigende irische Miniaturmalerei überwunden, ähnlich wie der Einfluß der hierarchisch schwach organisierten irischen Kirche durch den disziplinierten Geist des Benediktinerordens ersetzt wird. Die irische Buchmalerei ist trotz ihres überschäumenden Reichtums an ornamentalem Erfindungsgeist nur »eine schöne Episode« in der Geschichte der abendländischen Malerei gewesen.

 

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