Die slawischen Sprachen

Hegausgeber Otto Kronsteiner

 

Vol. 16, 1988

 

10. DIE ROLLE BULGARIENS BEI DER TAUFE DER KIEWER RUS

Nikolai SCHIWAROFF (Sofia)

 

 

In der Geschichte jeden Volkes spielen stets auch die Beziehungen mit seinen Nachbarn eine gestaltende Rolle. In seine Kultur sind nicht nur die eigenen Erfahrungen und das traditionelle Erbe seiner früheren Generationen eingebettet, sondern auch die kulturellen Leistungen anderer Länder und Völker. Die vielfältigen Formen der Kultur und ihre Ähnlichkeiten zeigen, daß man weder einen Kultur-Diffusionismus in Gestalt einer sonderbaren Vermischung anzunehmen braucht, noch auch einen Kultur-Relativismus, bei dem ein Volk eigentümlich isoliert lebt. Beim Abtritt der alten Staaten von der Bühne der Weltgeschichte ging zweifellos viel Zivilisation verloren, aber nicht alles. Bemerkenswerte Kulturleistungen bleiben erhalten und gehen - früher oder später - in neue Zivilisationen über.

 

Die Geschichtsforschung zeigt, daß das Oströmische Reich - später als Byzanz bekannt - multinational war. Ober seine Ostprovinzen dringen Kulturwerte des alten Nahen Ostens ein. Im Oströmischen Reich selbst leben Völker, die Träger einer eigenen Kultur sind und sogar ein eigenes Schrifttum haben (Phrygier, Kappadokier, Syrer, Aramäer usw.) [1]. Das Erbe des klassischen Griechenlands prägt es und die griechische Sprache dient als Bindeglied. Die byzantinische Kirche erbt in theologischer und allgemein religiöser Hinsicht die altchristliche Kultur. Das für die Theologie und die theologische Literatur klassische vierte Jahrhundert ist der Höhepunkt der kirchlichen Entwicklung (bis dahin) und gleichzeitig die Grundlage für die Weiterexistenz des byzantinischen theologischen Denkens.

 

Das Werk der Slawen-Lehrer, Kyrills und Methods, ist mit der Kulturentwicklung des Ostens eng verbunden. [2] Aufgabe dieses Referats ist, ihr Werk in Bulgarien, im Hinblick auf die Taufe der Kiewer Rus im Jahre 988, seiner Christianisierung [3], sowie im Hinblick auf die historischen Voraussetzungen, die diesen Prozeß begünstigten, zu umreißen und zu charakterisieren.

 

Der bulgarische Staat entstand auf einem wichtigen Kreuzungspunkt mehrerer Kulturen.

 

 

144

 

Das Christentum dringt zu den Slawen dieses Landes und sogar bis an den Hof des Chans, lange vor der Taufe des ganzen Volkes im Jahre 865, vor. Sein Herrscher, der heilige Fürst Boris, entsendet junge Bulgaren nach Byzanz, wo sie die nötige Ausbildung genießen, um später den Aufbau der christlichen Kultur im Lande zu gestalten. Nach mühevollen Reisen treffen die Schüler Kyrills und Methods , Naum und Angelarij, 886 in Bulgarien ein. Auch andere Nachfolger der Slawenlehrer gesellen sich später - oder vielleicht schon einige Jahre vorher (wie manchen Andeutungen zu entnehmen ist) - hinzu [4]. Gemeinsam mit anderen begabten Landsleuten entfalten sie hier, auf heimatlichem Boden [5], eine umfangreiche und fruchtbringende Tätigkeit, deren Ergebnis die glänzende Periode der bulgarischen Geschichte ist, die ŠAFARIK als Goldenes Zeitalter der altbulgarischen Literatur und Kultur bezeichnet.

 

Die in Bulgarien Tätigen nehmen die multinationalen Leistunger von Byzanz auf. Ein oberflächlicher Blick auf die Werke, die im 9.-10. Jh. ins Altbulgarische übersetzt wurden, bezeugt dies. Es werden Schriften aus verschiedensten Regionen, aus Alexandrien, Jerusalem, Cyrrhus, Edessa, Antiochien, Cäsarea und Konstantinopel übersetzt. Die Autoren gehören verschiedenen autokephalen Kirchen an: der alexandrinischen, wie der heilige Athanasius; der von Jerusalem, wie der heilige Kyrillos; der Kirche in Antiochien, wie der heilige Johannes Chrysostomos; der georgischen, wie Peter Iver; u.a. Sie alle sind ethnisch verschiedener Abstammung: griechischer, arabischer, syrisch-aramäischer u.a. In Preslaw sucht und wählt man verschiedenartige Literatur, die die damaligen Wissensgebiete und Genres repräsentiert: dogtoatisch-philosophische (wie die Werke des heiligen Johannes Damascenus, des Pseudo-Dionysios Areopagites), moralisch-sozial gefärbte Predigten (wie die Homilien des Johannes Chrysostomos, einzeln oder im Sammelband Zlatostruj), exegetische (eine Reihe von Kommentaren und Kathechesen zu biblischen Büchern), kathechetische (die Kathechesen des Kyrillos von Jerusalem), apologetische (die Reden des heiligen Athanasius gegen die Arianer), geographische (eine Topographie des Kosmas Indikopleustes) u.a. Einen wichtigen Platz unter den Sammelbänden nimmt der des Zaren Simeon aus dem Jahre 915 ein [6]. Sogar für ein und dasselbe theologische Gebiet sucht man nach weiteren Darstellungen.

 

 

145

 

Zur Erläuterung der Psalmen z.B. nimmt man die Kommentare des Hesychios von Jerusalem (die gemäßigte Richtung der alexandrinischen Schule) und die des Theodorites von Cyrrhus (antiochenische Schule). Auf dieser Grundlage wird auch bulgarische Originalliteratur geschaffen: das Alphabet-Gebet und das 42. Gespräch aus dem Učitelno evangelie des Bischofs Konstantin von Preslaw: der Šestodnev ( = das MSechstagebuchM) des Johannes Exarch; O pismenech des Černorisec Chrabar; Gespräche des Presbyters Kozma; gottesdienstliche Poesie (Trioden zum Weihnachtsund Epiphaniefest, Predigten, Viten u.a.). [7]

 

Das schnelle Erblühen einer slawischen Kultur in Bulgarien, sowie das Erstarken der bulgarischen Kirche und des bulgarischen Staates, was LICHAČEV als Wunder bezeichnet, läßt sich nicht nur mit dem Genius und der Gotteserleuchtung Kyrills und Methods erklären, sondern auch damit, daß das bulgarische Volk sich als fähig erwies, diese Aufklärung anzunehmen, aus den Schätzen der östlichen Kirche zu schöpfen und selbst einen reichen Beitrag zu leisten. Das bulgarische Volk übernimmt byzantinisches Schrifttum und byzantinische Kultur und paßt sie schöpferisch den bulgarischen, slawischen Verhältnissen an.

 

Die byzantinische Literatur spielt eine wichtige Vermittlerrolle. Interessant ist, daß - von den Werken des heiligen Johannes Damascenus und des Pseudo-Dionysios Areopagites abgesehen - sich die Aufmerksamkeit der bulgarischen Schriftsteller auf die klassische christliche Literatur des Ostens im 4. und 5. Jh. richtet. Bis heute wurde keine Übersetzung von Werken zeitgenössischer byzantinischer Autoren des 9.-10. Jh. gefunden. Die Meinung, man habe sich das leichtere angeeignet, trifft nicht zu. Die Werke namhafter Theologen und Meister der Feder wie die von Basilius dem Großen, Gregor dem Theologen, Athanasius von Alexandrien und Johannes Chrysostomos können wohl nicht als leicht übersetzbar angesehen werden, besonders wenn es sich um eine Sprache handelt, die erst Literatursprache wird, oder um Menschen, die noch keine genügende Bildung haben. Die altbulgarischen Schriftsteller, mit ihren Herrschern, dem Fürsten Boris und dem Zaren Simeon, trachteten nach den Quellen des reinen Glaubens,

 

 

146

 

sie suchten die klassischen Werke der östlichen Theologie, um den wahren Glauben in Bulgarien auf eine feste Grundlage zu setzen. Sie schöpfen aus dem Gedankengut der heiligen Väter, das sich dadurch auszeichnet, daß jedes einzelne Volk bei gleichzeitiger Wahrung des universalen Blicks auf das gesamte Menschengeschlecht geachtet wird. Eingedenk der historischen Rolle ihres Volkes und des Slawentums laufen die bulgarischen Schriftsteller nicht Gefahr, unnational zu werden. Auch wenn sie von Originalwerken in griechischer Sprache Gebrauch machen, erweisen sie dem an Kulturtradition reichen Nachbarn, dem byzantinischen Staat, keinen übertriebenen Tribut, und schon gar nicht geben sie ihre nationale Individualität preis. Also erweisen die altbulgarischen Schriftsteller einerseits den Leistungen eines anderen Volkes gebührende Ehre, wissen aber andererseits die Talente ihrer eigenen Brüder zu schätzen und würdigen mit Recht die Leistungen der hervorragendsten unter ihnen.

 

Die Ostslawen, die Kiewer Rus im besonderen, bilden im 9.-10. Jh. eine territoriale Gemeinschaft mit dem bulgarischen Staat am unteren Dnjestr. Nach ihrer Ansiedlung in den Gebieten der heutigen Moldau (Bessarabien), werden die Siedler aus Twer zum Bindeglied zwischen Bulgarien und der Kiewer Rus. Mit Hilfe der bulgarischen Slawen, die in diesen Orten ansäßig bleiben, schlägt das Christentum den Weg nach Nordosten ein. Die in den Twersiedlungen gefundenen Brustkreuze liefern Zeugnis von dieser christlichen Mission [8], auch wenn Magyarenund Petschenegen-Einfälle diese Kontakte behinderten.

 

Die Ostslawen erhalten so Gelegenheit, sich mit dem Christentum vertraut zu machen. Ebenso auch in jenen Fällen, wo Kaufleute aus der Rus die bulgarischen Schwarzmeerhäfen auf dem Weg nach Konstantinopel besuchen [9]. "Russen" und Griechen brauchten bei ihren Kontakten Dolmetscher, die sie allem Anschein nach unter den Bulgaren fanden. Schon lange ist in der Wissenschaft davon die Rede, daß der Vertrag s.a. 912 zwischen der Rus und Byzanz von Bulgaren aus dem Griechischen ins Altbulgarische übersetzt worden sei [10]. Zweifellos sind die bulgarischen Dolmetscher (slawischer Herkunft) Christen und Verehrer der christlichen Literatur.

 

 

147

 

Durch sie dringt auch die christliche Botschaft in "russische" Kreise ein.

 

Mache glauben an die Hypothese der bulgarischen Herkunft der Fürstin Olga. [11] Ihre Glaubwürdigkeit ist hier nicht zu erörtern. Wichtig aber ist, daß russische Gelehrte, die diese Hypothese aufstellten, überzeugt sind von den engen Beziehungen zu jener Zeit zwischen Preslaw und Kiew. Es ist durchaus möglich, daß der Gottesdienst in der Kiewer Elias-Kirche in altbulgarischer Sprache stattfand. Deshalb wird wohl der Presbyter Grigorij, der die Fürstin begleitet, in Konstantinopel feindselig empfangen. Manche Slawisten, wie z.B. OBOLENSKIJ und Archimandrit LEONID, identifizieren ihn mit dem altbulgarischen Schriftsteller, Mönch und Presbyter Grigorij. SOBOLEVSKIJ hingegen mit dem im Mesecoslov des Ostromir-Evangeliums erwähnten ”Grigorij, Bischof von 12 Mösien” (1056-1057) [12]. Leider reicht das Material nicht aus, die Frage endgültig zu beantworten.

 

Unumstritten ist, daß Fürst Svjatoslav und seine Truppen Kontakt zur bulgarischen Kirche und den Literaturzentren, besonders dem in Preslaw, aufgenommen haben. Das könnte bei seinem zweiten Feldzug (969-971), als es zu einer Kooperation kam, geschehen sein. Bei seinem Rückzug nach Kiew ziehen auch bulgarische Feldherrn und Soldaten mit ihm, möglicherweise auch Geistliche. Manche byzantinische Feldherrn, wie Leo Diakonos bezeugt, machten sich durch Plünderung bulgarischer Kirchen berüchtigt [13], eine Kunde, die unter den Geistlichen sicherlich mit Besorgnis und Unzufriedenheit aufgenommen wurde. Das gilt besonders für das Kirchenzentrum Drăstăr (Durostorum/Silistra), in dem sich Svjatoslav längere Zeit aufhält. Wie bekannt, gelingt es nach Svjatoslavs Niederlage am Dnepr nur einem kleinen Teil seiner Armee mit dem Wojwoden Svendeld an der Spitze nach Kiew zurückzukehren. [14] In Slawisten-Kreisen nimmt man an, daß dieser Feldzug zum Eindringen des Christentums aus Bulgarien in die Kiewer Rus beiträgt. Die Zahl der Bulgaren, die sich zu jener Zeit in Kiew ansiedeln, dürfte - möglicherweise infolge der Niederlage am Dnestr - bescheiden gewesen sein. Daher verfügen wir über keine zuverlässigen direkten Informationen über diese Emigration.

 

Nach der Niederlage des Zaren Samuil durch den byzantinischen Kaiser Basileios II.,

 

 

148

 

dem Bulgarentöter, setzt eine neue Auswanderungswelle in Richtung nördlich der Donau ein. Nach der Überlieferung sei der erste Kiewer Metropolit, Michail, bulgarischer Herkunft gewesen [15] und er wird wohl die Beziehungen zu den bulgarischen Ländern begünstigt haben. Eine andere Hypothese behauptet, der erwähnte Metropolit sei identisch mit dem Erzbischof Joan von Ochrida, [16] was allerdings unglaubwürdig erscheint.

 

Die zeitgenössischen Daten über die Taufe im Jahre 988 sind äußerst kärglich. Viele "russische” Überlieferungen berichten vom Ort der Taufe des heiligen Wladimir und auch von wem er getauft wurde. Dennoch ist diese Frage noch immer offen [17]. Der russische Kirchengeschichtler GOLUBINSKIJ schenkt den Berichten des "russisehen” Mönchs Jakov [18] (vor 1072) mehr Vertrauen und nimmt an, der Herrscher von Kiew sei in der Hauptstadt von den dortigen Geistlichen getauft worden [19]. Ob es unter ihnen auch Bulgaren gab, ist nicht mit Sicherheit zu sagen, doch besteht kein Zweifel, daß die Taufe des Volkes von der Geistlichkeit der Hauptstadt vorgenommen wurde.

 

Die Taufe der Kiewer Rus von 988 ist ein Ereignis von großer Bedeutung. Sie erschließt den Ostslawen und in der Folge den Völkern im späteren russischen Staat, die die Orthodoxie von russischen Missionaren übernehmen, ein neues Zeitalter. Das Christentum führt durch Schrifttum und Kultur das Volk in die Familie der führenden europäischen Länder ein oder, wie Patriarch PIMEN (Patriarch ”der ganzen Rus”), sagt, "das Ereignis im Jahre 988 hat der vaterländischen (= russischen, N.Sch.) Geschichte einen neuen positiven Inhalt verliehen und unserer (= russischen, N.Sch.) Heimat verholfen, einen würdigen Platz im historischen Weltprozeß einzunehmen.” [20]

 

Die Taufe bliebe jedoch nur ein sakramentaler Akt, der in die christliche Kirche einführt, ohne besondere literarische und kulturelle Folgen, wäre nicht das Werk der hhl. Kyrill und Method. Das Schrifttum, das in verständlicher slawischer Sprache in Kiew verwendet wird, stammt fast ausschließlich aus Bulgarien. Es ist Träger bemerkenswerter kultureller Leistungen, erschließt eine neue Welt und liefert neue Kenntnisse. Oder, wie der sowjetische Professor GUDZIJ meint,

 

 

149

 

"die russische Literatur und Kultur ist gemeinsam mit den anderen slawischen Literaturen und Kulturen den Brüdern Kyrill und Method sehr zu Dank verpflichtet. Die Literatur der Kiewer Rus nutzte jenen großen Reichtum, der von Kyrill und Method und ihren hervorragenden bulgarischen Schülern geschaffen wurde.” [21] LAVROV bemerkt, das russische Volk habe das Erbe Kyrills und Methods ”mit der Annahme des Christentums von den Griechen und durch Übernahme des gesamten Reichtums des slawischen Schrifttums aus Bulgarien bewahrt.” [22]

 

Der kulturelle und literarische Einfluß des Südens kommt in die Kiewer Rus aus Byzanz im Gefolge tausendjähriger Beziehungen zur nördlichen griechischen Schwarzmeerkultur, wobei Ende des 10. Jh. dieser Einfluß um die bulgarische Literatur und Kultur bereichert wird. Beide Einflüsse sind, wie LICHAČEV hervorhebt, in ihren Äußerungen untrennbar und unlösbar miteinander verbunden. [23]

 

Die Übernahme des altbulgarischen Schrifttums in die Kiewer Rus ist kein einmaliger Akt. In der Slawistik wurden folgende Meinungen geäußert:

 

            1) Die ersten Kontakte durch Kaufleute, Dolmetscher und vielleicht auch Geistliche fanden zu Beginn des 10. Jh. statt.

 

            2) Die Feldzüge Svjatoslav Igorevičs in Bulgarien führen nicht nur zu Kontakten mit dem Christentum und der bulgarischen Kirche. Es wäre naiv zu denken, in der Umgebung des Kiewer Fürsten habe es keine Menschen gegeben, die nicht den hohen Wert der Handschriften erkannt hätten. Diese illustrierten und mit Vignetten verzierten Handschriften dürften auch Nichtkundige stark beeindruckt haben. Zahlreiche Historiker und Slawisten nehmen an, daß schon damals das altbulgarische Schrifttum nach Kiew "exportiert” wurde.

 

            3) Nach dem Fall von Preslaw 971 verschleppt der byzantinische Kaiser Johannes I. Tzimiskes alles Wertvolle nach Konstantinopel. Es ist möglich, daß kurz darauf, nach der Taufe der Rus 988, byzantinische Staatsund Kirchenführer einen Teil der Preslawer Zaren-Bibliothek nach Kiew gesandt haben. [24]

 

            4) Bei den Aussiedlungen aus Bulgarien zur Zeit der verheerenden Kriege im 10. Jh. und besonders nach 1013-1014 wurden ebenfalls Bücher in altbulgarischer Sprache transferiert. [25]

 

 

150

 

Die Übertragung des Schrifttums und seine Aufnahme wurde durch wichtige Voraussetzungen begünstigt:

 

            1) Die Übernahme der christlichen Kultur durch Bulgarien ist ein langwährender Prozeß, der sich besonders nach 886 entwickelt und dann beendet wird. Das ist die Zeit der Entstehung und allmählichen Entwicklung neuer Gesellschaftsformen, denen auch das altbulgarische Schrifttum dienlich ist. Die historischen Bedürfnisse in der Rus des 10.-11. Jh. sind ähnlich. Sie stellt auch die Aufgabe, einen neuen Menschen, einen Christen mit neuer Weltanschauung und vollkommener Moral zu prägen; eine Kirche zu organisieren und ihre Entfaltung zu ermöglichen, die ihren Mitgliedern auch im Leben hilft.

 

            2) Das Schaffen der altbulgarischen Schriftsteller ist dazu bestimmt, den regionalen Bedürfnissen zu entsprechen. Doch sind sowohl die Übersetzungen als auch die Original werke ethnisch nicht eingeschränkt. Sie haben einen nationalen und zugleich einen universalen Charakter. Die Ideale der Verfasser haben allgemein-slawische Bedeutung (z.B. das Alphabet-Gebet des Bischofs Konstantin von Preslaw oder die Abhandlung über die Buchstaben des Mönchs Chrabar), während Werke wie der Sestodnev des Joan Exarch - wie dies auch der Gebrauch durch nicht slawische Völker zeigt - allgemein-menschliche Gültigkeit haben.

 

            3) Die Sprache der Werke der altbulgarischen Schriftsteller ist selbstverständlich die der bulgarischen Slawen mit protobulgarischen Elementen (wie z.B. чрьтогъ, кънигъчи, коумиръ) , wobei die einzelnen Bücher mehr oder weniger bulgarische Mundarten widerspiegeln. In ihrem phonetischen, grammatikalischen, lexikalischen und stilistischen System aber, enthält das Altbulgarische Elemente, die anderen Slawen jener Zeit verständlich waren, so daß diese es nicht als unverständliche und fremde Sprache empfinden. [26] Deshalb brauchte diese Literatur aus Bulgarien anderswo auch nicht übersetzt zu werden.

 

In der Kiewer Rus findet die altbulgarische Literatur gute Aufnahme. Die, die in Bulgarien übersetzt wurde, widerspiegelt die byzantinische Kulturerfahrung auf slawischem Boden und entspricht den gesellschaftlich-sozialen Verhältnissen der Zeit. Sie ist der mittelalterlichen europäischen Literatur ebenbürtig.

 

 

151

 

"Dieser reifen Kultur des Mittelalters wurde Bulgarien teilhaftig und nachher, unmittelbar von Byzanz und durch Bulgarien, in ihrem national bulgarischen Gepräge auch die Rus”, betont LICHAČEV [27]. So wie die byzantinische Kultur Mittlerin des reichen Erbes des Ostens und der östlichen Kirche im besonderen ist, genauso erweist sich auch die altbulgarische Literatur als Mittlerin. LICHAČEV hat Recht, wenn er über sie schreibt, daß sie 1) "kein Original" der byzantinischen Literatur, wohl aber der byzantinischen Kultur ist; daß sie 2) nach regionaler Wahl gestaltet wird und daß deshalb nicht einzelne Werke, sondern die Kultur selbst "samt den ihr eigenen religiösen, ästhetischen, philosophischen und juristischen Vorstellungen "transplantiert" wird [28]. So gestaltet sich auch die den Ost- und Südslawen gemeinsame Literatur. Das vollzieht sich natürlich auf der Grundlage des Obernommenen wie auch der Originalwerke. Die Aneignung ist etwas Aktives. Das Hergebrachte wird "transplantiert". Sogar der Abschreiber spielt eine wichtige Rolle. Sehr oft ist er gleichzeitig auch ein "Redakteur, der sich nicht scheut, den Text den Bedürfnissen und dem Geschmack der Zeit und dem Milieu anzupassen". [29]

 

Sehr bald liefert die altbulgarische Literatur einen starken Impuls zum Entstehen einer "russischen". Ich erwähne die Arbeiten LICHAČEVs bezüglich des Einflusses des Šestodnev auf Vladimir Monomach, der im Poučenie zum Ausdruck kommt. [30] Dasselbe gilt auch für das slovo o pogibeli russkoj zemli. Das Werk desselben Joan Exarch, Nebesa, inspiriert den Verfasser der Skazanie i strast' i pochvala svjatuju mučeniku Borisa i Gieba, der sich diese altbulgarische Schrift schöpferisch zu eigen gemacht hat. [31] Ähnliche Fälle gibt es auch später, als die Literatur der Rus bereits ihre Blütezeit erreicht. [32]

 

Bulgarien trägt zur Christianisierung der Kiewer Rus nicht allein bei, doch ist sein Beitrag brüderlich und fruchtbringend. "Indem es eine gemeinsame Literatur für alle Länder des orthodoxen Slawentums schafft, trägt es zur Gemeinschaft aller orthodoxen christlichen Länder bei". [33] In der Tat geht, wie SOBOLEVSKIJ bemerkt, "die gesamte Obersetzungsliteratur Altbulgariens, an der Spitze die Bücher der Heiligen Schrift, und zugleich auch die weniger umfangreiche offizielle bulgarische Literatur, mit dem Christentum in die Rus über und wird hier russisch”. [34]

 

 

152

 

Sie macht ”den Hauptteil der russischen Literatur der vormongolischen Zeit” aus [35]. Doch laufen die Beziehungen nicht nur in eine Richtung, im Gegenteil, es besteht auch eine gegenseitige Zusammenarbeit. Das russische Volk erweist seine Genialität. Manchmal wird gemeinsam mit Südslawen geschaffen. Verschiedenes russisches Schrifttum schlägt mehrmals den Rückweg nach Süden ein: originale, kompilative oder übersetzte Werke wie z.B. die Liturgie für den heiligen Boris und Gleb, das Slovo o zakone i blagodati des Metropoliten Ilarion, das Slovo o vere varjažskoj des heiligen Theodosij von Pečora, die Pritča o belorizce des Kyrill Turovskij u.a. Darin kommt eine große brüderliche Unterstützung zum Ausdruck, besonders zur Zeit, als die Südslawen unter dem osmanischen Joch litten.

 

 

ANMERKUNGEN

 

1. Vgl. История Византии. Ред. С.Д. СКАЗКИН и др. T.I. Москва 1967: 72-74;

H. JENSEN, Die Schrift in Vergangenheit und Gegenwart. Berlin 1958: 443-

 

2. Vgl. N. ŠIVAROV, Die ostkirchliche Grundlage der Slawenapostel Kyrill und Method. Mitteilungen des Bulgarischen Forschungsinstituts in Österreich, 1/VIII/1986)

 

3. Vgl. dazu die zitierten Aufsätze des Autors.

 

4. THEOPHYLACTUS, Vita des Hl. Element von Ochrid, XI; Ausführliche Vita des Hl. Method, XIII; Vita des Hl. Naum. - Vgl. Е. ГЕОРГИЕВ, Кирил и Методий. Истината за създателите на българската и славянската писменост. София 1969.

 

5. THEOPHYLACTUS о.с. XIV: 42

 

6. Bekannt als "Izbornik Svjatoslava" durch die Abschrift aus 1073.

 

7. Leider sind viele altbulgarische Werke während der Kriege des 10. und 11. Jh. für immer verlorengegangen.

 

8. Г.Б. ЩУКИН, Городище Енимауци в Молдавии. Архитектурное наследие 8/1957: 23; Е. МИХАЙЛОВ, Руси и българи през ранното средновековие. Год.Соф. унив., Истор.фак., 6/1972-1973. София 1975: 602-954.

 

9. KONSTANTINUS PORPHYROGENETUS, De administrando imperio. Migne PG, 113, 177; vgl. H.M. КАРАМЗИН, Предания веков. Сказания, легенди, рассказм из "Истории государства Российского". Москва 1987: 119.

 

10. С.П. ОБНОРСКИЙ, Язык договоров русских с греками. Язык и мышление 6-7. Москва-Ленинград 1936: 102.

 

11. В.Н. ТАТИЩЕВ, История Российская. T.I. Москва-Ленинград 1962: 340; Д. АЙНАЛОВ, Очерки и заметки по истории древнерусского искуства. Изв. отд. русского язька и словесности 13. 1908, №2: 299-300, 304.

 

12. Л. ΓΡΑШΕΒΑ, Григорий Презвитер. Кирило-Методиевска енциклопедия, Т.1. София 1985: 544.

 

 

153

 

13. LEONTIUS DIACONUS, Historia IX. - Migne PG 117, 872.

 

14. Повесть временных лет.

 

15. Йоакимовая летопись.

 

16. vgl. X. КОХ, Byzanz, Ochrid und Kiev 987-1037. Königsberg-Berlin 1938: 253-1037.

 

17. In Kiew, Vasilev, Chersones (Повесть временных лет) oder anderswo.

 

18. Памят и похвала für Fürst Wladimir.

 

19. Е. ГОЛУБИНСКИЙ, История Русской церкви, I, II. Москва 1901: 112-113.

 

20. "Оно . . . придало отечественной истории новое положительное содержание и помогло нашей Родине занять достойное место во всемирном историческом процессе" (9 апр. 1982).

 

21. Н.П. ГУДЗИЙ, Вклад русских и украинских ученых в изучение Кирилло-Мефодиевского вопроса. Тържествена сесия за 1100 годишнината на славянската писменост. 863-1963. София 1965: 119.

 

22. П.А. ЛАВРОВ, Материалы по истории возникновения древнейшей славянской письмености. Труды славянской коммиссии АН СССР, T.I. Ленинград 1930: II.

 

23. Д.С. ЛИХАЧЕВ, Развитие русской литературы X-XVII веков. Избранные работы в трех томах. T.I. Ленинград 1987: 38-39.

 

24. М.В. ЩЕПКИНА, К изучению Изборника 1073 г. Изборник Святослава 1073 г. Сборник статей. Отв.ред. Б.А. Рыбаков. Москва 1977: 232-233.

 

25. Л.П. ЖУКОВСКАЯ. Изборник 1073 г. Изборник Святослава 1073 г. Сборник статей ... : 224.

 

26. Р. ЗЛАТАНОВА, Старобългарски език. Увод в изучаването на южнославянските езици. София 1986: 47-.

 

27. Развитие русской литературы ...: 36.

 

28. о.с. 52

 

29. Н.К. ГУДЗИЙ, История древней русской литературы. Москва 1966: 15.

 

30. Д.С. ЛИХАЧЕВ, Сочинения княза Владимира Мономаха. Избранные работы... T. II: 146-

 

31. Б. АНГЕЛОВ, Из историята на руско-българските литературни връзки. София 1980: 19-20.

 

32. Zum Einfluß der "Сказание о писмънех" des altbulgarischen Schriftstellers Černorizec Chrabar auf "Житие св. Стефана Пермского" von Epifanij Premudryj s. O.M. БОДЯНСКИЙ, О времени происхождения славянских письмен. Москва 1855: 94-95; К.М. КУЕВ, Черноризец Храбър. София 1967: 171-172.

 

33. Д.С. ЛИХАЧЕВ, Своеобразие исторического пути русской литературы X-XVII в. Прошлое-будущему. Ленинград 1985: 225.

 

34. А.И. СОБОЛЕВСКИЙ, История русского литературното языка. Ленинград 1980: 28, 33.

 

35. М.Н. СПЕРАНСКИЙ, Из истории русско-славянских литературных связей. Москва 1960: 11-54.

 

[Previous]

[Back to Index]