Die Slaven in Griechenland
Max Vasmer

 

Vorwort zur Neuausgabe

 

 

Seit dem zweiten Viertel des vorigen Jahrhunderts, als J. Ph. Fallmerayer, ausgehend von historischen Quellen und von Ortsnamenverzeichnissen, das Problem der Slaven in Griechenland in mehreren Arbeiten aufgeworfen und die überspitzte Behauptung aufgestellt hat, die Bewohner des nach langem Ringen mit den türkischen Unterdrückern wiedererstandenen Griechenlands seien überhaupt keine Nachkommen des antiken Hellenenvolkes, sondern der im Laufe des Mittelalters eingewanderter Völker, vornehmlich der Slaven und später der Albaner, eine Behauptung, die damals nicht nur die Griechen selbst, sondern auch die für den Freiheitskampf dieses Volkes begeisterten Philhellenen in ganz Europa provozieren mußte, ist der wissenschaftliche Meinungsstreit über diese Frage nicht mehr abgerissen.

 

Die nationalen Leidenschaften der verschiedenen, an dem Problem interessierten Völker, in erster Linie natürlich der unmittelbar betroffenen Balkanvölker, waren in der Folge oft nicht ohne Einfluß auf die Art der Parteinahme. Bei den Griechen selbst stieß verständlicherweise Fallmerayers in recht verletzender Weise formulierte These auf völlige und zum Teil auch berechtigte Ablehnung, so z. B., wenn er das Neugriechische als einen halbslavischen Dialekt bezeichnet hatte. Während Gelehrte aus slavischen Ländern oft über das Ziel hinausschössen, indem sie ohne die nötige Berücksichtigung der Bildungsweise und der Typologie der in Frage kommenden Ortsnamen — auf Grund bloßer Anklänge an slavisches Sprachgut — vorgingen, versuchte man demgegenüber griechischerseits, die eindeutigen Nachrichten der byzantinischen und anderer Autoren über Niederlassungen von Slaven auf heute griechischem Boden seit der Wende vom 6. zum 7. Jh., wenn nicht ganz beiseite zu schieben, so doch Wenigstens in ihrem historischen Aussagewert herabzumindern. Die auch durch etymologische Kunstgriffe nicht weginterpretierbaren einwandfrei slavischen Ortsnamen Griechenlands, die die Nachrichten der historischen Quellen bestätigten, versuchte seit 1880 z. B. K. Sathas als erst im Spätmittelalter durch albanische Vermittlung nach Griechenland gelangt zu erklären, und auch andere jüngere griechische Gelehrte waren eher bereit, aus albanischem und romanischem Sprachgut zu deutende Ortsnamen hinzunehmen als slavische. Über den slavisch-griechischen Disput hinaus stritten sich auch Gelehrte aus verschiedenen slavischen Ländern untereinander über die Zuweisung der slavischen Ortsnamen Griechenlands an diese oder jene slavische Sprache, besonders über die Frage, ob sie auf Besiedlung vom bulgarischen oder vom serbokroatischen Sprachbereich aus hindeuteten.

 

Als Max Vasmers hier nachgedruckte große Arbeit "Die Slaven in Griechenland" 1941 zum ersten Mal erschien, lag also bereits eine Reihe von Vorarbeiten aus der Feder von Wissenschaftlern mehrerer Länder über die nichtgriechischen sprachlichen Komponenten vor, die bei der Ausgestaltung der Toponymie Griechenlands mitgewirkt haben; außer der slavischen seien hier die albanische und aromunische besonders hervorgehoben, weil diese beiden Komponenten auch für die Vermittlung slavischer Elemente in geographischen Namen Griechenlands — neben der Vermittlung durch die Griechen selbst — in Betracht kommen. Ferner gab es Vorarbeiten über griechische Wortentlehnungen aus anderen Sprachen, über die Ortsnamen in den slavischen

 


 

Nachbarländern Griechenlands sowie Über die Slaven in Albanien. Es mag hier genügen, an Namen wie F. Miklosich, G. Meyer, G. Weigand, G. Hatzidakis, Sp. Lambros, K. Ámantos, Ph. Kukules, D. Georgakas, D. Matov, St. Mladenov, A. Iširkov, P. Skok und A. M. Seliščev zu erinnern.

 

Außer zumeist älteren, zum Teil aber auch jüngeren Arbeiten über die Frage der slavischen Urheimat, über die alten Bevölkerungsverhältnisse Rußlands vor der Ausbreitung des Slaventums in vormals von iranischen, baltischen und finnischen Stämmen besiedelten Gebieten, über Entlehnungen in die oder aus den slavischen Sprachen, über sprachliche Beziehungen zwischen Germanen und Slaven, nicht zuletzt auch über griechisch-slavische Lehnwortbeziehungen — Arbeiten, die alle wie sein letztes großes Werk „Russisches etymologisches Wörterbuch" (1953—1958) der etymologischen Wort- und Namensforschung galten und von einer tiefgründigen Kenntnis erstaunlich vieler Sprachen Zeugnis ablegten — schuf Vasmer im Gegensatz zu den meisten älteren einschlägigen Untersuchungen anderer Autoren nach streng methodischen linguistischen Gesichtspunkten (sorgfältige Beachtung der Lautentsprechungen der slavischen Namen sowie der griechischen Sprachgeschichte, Nachweis der slavischen Namentypen in sicher slavischen Gebieten) und unter Heranziehung in erster Linie der ältesten Namensbelege, d. h. des Materials, das byzantinische Historiker und Urkunden bieten, für das Spezialgebiet der slavischen Ortsnamen Griechenlands das bis heute unübertroffene Standardwerk, das die Ergebnisse der eingehenden Behandlung der Nachrichten der historischen Quellen über die Slaveneinfälle und -ansiedlungen in Griechenland vor allem durch A. A. Vasil'ev ("Slavjane v Grecii", Vizantijskij Vremennik 5, 1898, 404—438; 626—670) bestätigt, mögen auch einzelne Abstriche an Vasmers Etymologien gemacht werden müssen.

 

Fast 30 Jahre sind seit dem ersten Erscheinen von Vasmers „Slaven in Griechenland" vergangen. Es wäre daher angebracht, im folgenden außer den Rezensionen auch einige die geographischen Namen Griechenlands und das Eindringen der Slaven betreffende Arbeiten zu verzeichnen, die seither erschienen sind. Bestritten werden einige slavische Etymologien Vasmers von D. Georgakäs, Byzantinische Zeitschrift 41, 1941, 351–381; 42, 1943-1949, 76–90; 43, 1950, 301–333; Ἀφιέρωμα εἰς τὴν Ἤπειρον εἰς μνήμην Χρίστου Σούλη (1956); Πελοποννησιακά 1, 1956, 385–408; K. Amantos, Byzantinisch-Neugriechische Jahrbücher 17, 1944, 210–221, und D. Zakythenós, Νέα Ἑστία 35, 1944, 485–490; 536–542; an weiteren Besprechungen sind zu nennen D. Jaranov, Makedonski Pregled 13/2, 1942, 136–139; I. Dujčev, Bělomorski Pregled 1, 1942, 443–452, und G. Soyter, Philologische Wochenschrift 64, 1944, 11–14. Vasmers Werk gab auch den Anlaß zur Publikation von D. Zakythenös, Οἰ Σλάβοι ἐν Ἑλλάδι (1945), der S. 72–82 Reserve den historischen Schlußfolgerungen Vasmers gegenüber zeigt (vgl. dazu P. Charanis, Byzantinoslavica 10, 1949, 94–96). Ergänzungen zu Vasmers Arbeit bietet auch J. Longnon, L'Empire latin de Constantinople et la Principalité de Morée (1949), 282 f., sowie einige neue Ortsnamenvarianten aus zwei venezianischen Drucken von 1700 bzw. 1704 über die Peloponnes E. Hamp, Zeitschrift für slavische Philologie 31, 1963, 143–145. Da hier der Platz fehlt, um auch nur die wichtigen seit 1941 zum Fragenkomplex "Slaven in Griechenland" erschienenen Arbeiten vollständig zu verzeichnen, möchte ich auf F. Dölgers Forschungsbericht in: F. Dölger – A.M. Schneider, Byzanz (1952), verweisen, der eine kurze Besprechung der zwischen 1938 und 1950 erschienenen Literatur zur Frage der Ausbreitung der Slaven in Griechenland, darunter von Vasmers Arbeit, bietet (S. 72–75; 242), sowie ferner auf P. Charanis, Dumbarton Oaks Papers 5, 1950, 164–166; 13, 1959, 40; Zbornik radova Vizantoloskog Instituta 8/1, 1963, 72 f., und G. Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates, 3. Aufl. (1963), 78 Anm. 3; 108 Anm. 2; 113 Anm. 3; 160 Anm. 1 und 2; 161 Anm. 4 und 5; 185 Anm. 2, wo die neuere Literatur zur Frage kritisch verzeichnet ist. Eine Sammlung verschiedener Namensformen — allerdings ohne etymologische Deutungen — stellt neuerdings die Arbeit von O. Markl, Ortsnamen Griechenlands in "fränkischer" Zeit

 


 

(1966), dar, der aber auf S. 11–18 ein reichhaltiges Literaturverzeichnis bietet; hervorgehoben seien daraus die historisch-geographischen Werke A. Philippsons (S. 16).

 

Am 30. November 1962 starb nach einem arbeitsreichen und ehrenvollen Gelehrtenleben der große bürgerliche deutsche Slavist Max Vasmer, der sich außerordentliche Verdienste um die Belebung des Interesses für die slavischen Völker und Sprachen in Deutschland erworben hat. Zahlreiche Nachrufe ehrten sein Andenken, nachdem ihm noch zu Lebzeiten eine Festschrift zum 70. Geburtstag am 28. Februar 1956 zuteil geworden war (zusammengestellt von M. Woltner und H. Bräuer, mit einem Schriftenverzeichnis für die Jahre 1906–1955 auf S. 1–22). Sie seien hier zum Schluß angeführt: H.-J. Lieber — V. Kiparsky — Fr. Siegmann, Akademische Gedenkfeier der Freien Universität Berlin am 6. 2. 1963 (1963); H. H. Bielfeldt, Jahrbuch der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1962 (1963), 164 f.; R. Fischer, Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Jahrbuch 1960–1962 (1964), 414–416; M. Woltner, Zeitschrift für slavische Philologie 31, 1963, 1–21 (mit einem bibliographischen Nachtrag zum Schriftenverzeichnis der Vasmer-Festschrift für die Jahre 1955–1962 auf S. 19–21); H. Striedter, Südost-Forschungen 21, 1962,. 402–406; J. Hamm, Wiener slavistisches Jahrbuch 10, 1963, 138 f.; A. Mazon, Revue des Études Slaves 42, 1963, 325–328; S. Bernštein, Kratkie Soobščenija (Akademia Nauk SSSR. Institut Slavjanovedenija) 41, 1964, 102 f.

 

Berlin, im April 1970

 

Hans Ditten

 

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