Reise von Belgrad nach Salonik nebst vier Abhandlungen zur alten Geschichte des Morawagebietes

Johann Georg von Hahn

 

ERSTE ABTEILUNG. Reiseskizzen.

 

Einleitung.

 

Die durch die ganze Breite der Türkei längs der Morawa und dem Wardar laufende Thalrinne ist zwar seit langem den Männern der Wissenschaft bekannt. Boué [1] und Grisebach [2] bekämpften bereits vor zwanzig Jahren den geographischen Mythus einer westöstlichen Centralkette. Ersterer sagte in seinem 1840 erschienenen grossen Werke über die europäische Türkei, dass man den ganzen Weg von Belgrad nach Salonik zu Wagen zurücklegen könne und dabei nur einige leichte Höhen zu übersteigen hätte, und erklärte dies aus dem allgemeinen Charakter der Bodenbildung der Südosthalbinsel. Nichtsdestoweniger fuhren jedoch unsere Karten fort, die sogenannte Centralkette im lückenfreien Laufe und in alpinen Formen von dem schwarzen Meere bis zur Adria ihren älteren Modellen getreulich nachzuzeichnen, bis endlich Kiepert sich vor etwa vier Jahren das Verdienst erwarb, mit den übrigen traditionsweise überkommenen Irrthümern und Fictionen der älteren Karten über die Bodenbildung der europäischen Türkei auch den Mythus der westöstlichen Centralkette aus seinem grossen Kartenwerke über dieses Land entfernt, und auf die vorhandenen geographischen Quellen zurückgehend, ein möglichst treues Bild von dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntniss der europäischen Türkei gegeben zu haben. Als solches wird daher dieses Werk trotz der Fehler, welche aus den Quellen in dasselbe

 

 

1. La Turquie d'Europe I. S. 217.

 

2. Reise durch Rumelier nach Brussa im Jahre 1889. I, S. 9; II, S. 112.

 

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übertragen wurden, und trotz der zahlreichen Lücken, die es seiner Bestimmung nach unausgefüllt lassen musste, stets von bleibendem historischem Werthe sein.

 

Der Verfasser wurde auf jene, die Türkei in eine westliche und eine östliche Hälfte theilende Rinne bereits vor acht Jahren aufmerksam, als seine albanesischen Studien eine eingehendere Beschäftigung mit der Bodenbildung der Südosthalbinsel [1] veranlassten, und er zu dem Ende besonders Boué's Werke als Leitfaden benutzte. Das nähere Studium derselben überzeugte ihn, dass diese Naturlinie für die natürliche Gliederung der Halbinsel wenigstens eben so wichtig sei, als die schon den Alten bekannte Wasserscheide zwischen der Donau und dem Beckengebiete des Mittelmeeres, aus welcher unsere Kartographen jene mythische westöstliche Centralkette gemacht hatten, und eine Zusammenstellung der verschiedenen Notizen über die Gegenden, durch welche jene Rinne streicht, ergab das überraschende Resultat, dass sie mit wenig Ausnahmen entweder Ebenen oder offene Thäler seien. Nun aber lag natürlich der Gedanke nahe, dass sich diese Rinne zur Anlage einer Eisenbahn eignen könne, und dass diese eine neue und zwar kürzere Communicationslinie zwischen Europa, Aegypten und Indien ergeben würde, doch liess er sich lange Zeit durch die Aufnahme einschüchtern, welche eine solche Chimäre überall erfuhr, wo er sich in vertraulicher Weise über diese Frage zu äussern wagte. Es mochten seitdem wenige Tage vergangen sein, an denen ihn der Gedanke an diese Bahn und ihre Folgen nicht beschäftigt hätte, und derselbe gewann allmählich solche Gewalt über ihn. dass er der Versuchung nicht länger widerstehen konnte, selbst die Probe zu wagen, die Fahrbarkeit der Linie in ihrem jetzigen Zustande als vollendete Thatsache darzustellen und hierdurch das Bahnproject auch bei dem praktischen Theile des Publicums populär zu machen. Der Verfasser erlaubt sich diese Andeutung über die Entstehung seiner Ansichten nur, um zu zeigen, dass es sich hier nicht etwa um ein flüchtiges Reiseaperçu, sondern um einen ausgetragenen Gedanken handle, auf den das nonum prematur in annum buchstäbliche Anwendung finde.

 

Die Untersuchung jener Naturrinne und der in ihr laufenden Fahrstrasse war jedoch nicht der alleinige Antrieb zu der vorliegenden Reise; auch die grosse Lücke, welche die Kiepert'sche Karte im Süden von Serbien zeigte, drängte den Verfasser dazu, so oft er diese

 

 

1. Der Verfasser begreift unter diesem Namen das ganze Dreieck, in welches Europa gegen Südosten ausläuft, weil alle bisher versuchten Gesammtbezeichnungen mehr oder weniger begründete Einsprache erfahren haben.

 

 

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Karte betrachtete, denn die terra incognita, welche sie constatirte, mass in Länge und Breite an zwanzig Stunden und erstreckte sich daher über einen Raum von etwa hundert Quadratmeilen. Ueberdies bildete diese noch unbekannte Strecke den Westrand jener Rinne, und sollten gerade hier albanesische Stämme wohnen, von denen der Verfasser in dem Mutterlande wenig mehr als ihren Namen Lab Gulap erfahren hatte, und über die er erst in Boué's neuerem Werke einige nähere Andeutungen fand [1]. Er wünschte daher eben so lebhaft, diese unbekannte Strecke und ihre eben so unbekannte Bevölkerung aus eigener Anschauung kennen zu lernen.

 

Da der Verfasser nicht im Stande war, diese Reise aus eigenen Mitteln zu unternehmen, so wandte er sich an die kaiserliche Akademie der Wissenschaften mit der Bitte um eine Subvention zu diesem Zwecke, und sowohl die Liberalität, mit welcher dieselbe sofort verwilligt, als die eingehende Theilnahme, welche seinem Vorhaben geschenkt wurde, verpflichten ihn zur wärmsten Dankbarkeit.

 

Nachdem der Verfasser somit dem Leser über seine Reisezwecke Rechenschaft gegeben hat, bleibt ihm noch, sich mit ihm über eine Frage zu verständigen, welche sich wie ein rother Faden durch den grössten Theil seines Berichtes hinzieht; sie betrifft die Bedeutung der künftigen Eisenbahn von Belgrad nach Salonik und Piräus. Ihr richtiges Verständniss erfordert jedoch einige allgemeine Bemerkungen über den Rahmen, in den sie fällt, welche wir zur leichteren Uebersicht in einzelne Abschnitte zerlegen wollen.

 

 

1. Recueil d'itineraires dans la Turquie d'Europe. Vienne 1854. I. S. 81.

 

 

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Wien, das künftige Verkehrs-Centrum von Europa

 

Es ist eine oft ausgesprochene Wahrheit, dass der Kaiserstaat der Herzstaat von Europa und die Kaiserstadt dessen natürliches Centrum sei. Der Erste aber, welcher es unternahm, diese Wahrheit graphisch darzustellen, ist unseres Wissens Ritter von Streffleur [1], und wenn wir dieselbe in der beiliegenden Karte weiter auszuführen versuchen, so folgen wir hierin seiner Spur. Diese Karte zeigt acht Kreise, welche mit stets abnehmenden Halbmessern um Wien gezogen sind.

 

Wir nennen jeden dieser Kreise nach dem Hauptpunkte, dessen von ihm ans nach Wien laufende Luftlinie den Halbmesser des Kreises bildet und zählen der Reihe nach die Hauptplätze auf, welche entweder in die Kreislinie selbst oder hart an dieselbe fallen und daher gleichweit von Wien abstehen. Mit Ausnahme von Madrid und Pest nehmen wir keinen Punkt auf, welcher über 1/10 des betreffenden Halbmessers von der Kreislinie entfernt ist.

 

1. Moskauer Kreis, mit einem Halbmesser von etwa 216 geographischen Meilen. Auf diese Kreislinie fallen: 1. Moskau. 2. St. Petersburg. 8. Edinburgh 4. Dublin, 5. Madrid, 6. Algier, 7. Taganrok. Diese Städte bilden mithin den ersten Kranz um ihr gemeinsames Centrum Wien.

 

2. Constantinopolitaner Kreis, mit einem Halbmesser von 167 geographischen Meilen. — 1. Constantinopel, 2. Athen, 3. Syrakus, Barcelona, 5. Bordeaux, 6. London, 7. Stockholm.

 

3. Pariser Kreis, mit einem Halbmesser von etwa 186 geographischen Meilen. — 1. Paris, 2. Marseille, 3. Korfu, 4. Salonik, 5. Adrianopel, 6. Warna, 7. Kostendsché, 8. Odessa, 9. Riga.

 

 

1. Neuerdings am Schlüsse des Jahres 1806. Separatabdruck aus der österr. Militär-Zeitschrift.

 

 

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4. Hamburger Kreis. — Halbmesser 101 geographische Meilen. — 1. Hamburg, 2. Bremen, 3. Köln, 4. Metz, 5. Nancy, 6. Turin, 7. Rom, 8. Skodra, 9. Nisch, 10. Widdin, 11. Danzig, 12. Lübek.

 

5. Mailänder Kreis. — Halbmesser 83 geographische Meilen. 1. Mailand, 2. Florenz, 3. Ragusa, 4. Hannover, 5. Mainz.

 

6. Berliner Kreis — Halbmesser 71 geographische Meilen. 1. Berlin, 2. Warschau, 3. Lemberg, 4. Klausenburg, 5. Belgrad, 6. Bosna Serai, 7. Spalato, 8. Ferrara, 9. Konstanz, 10. Stuttgart, 11. Magdeburg.

 

7. Triester Kreis — Halbmesser 46 geographische Meilen. 1. Triest, 2. Fiume, 3. Essegg, 4. Szegedin, 5. Krakau, 6. Breslau, 7. Dresden, 8. München, 9. Innsbruck.

 

8. Prager Kreis — Halbmesser 34 geographische Meilen. 1. Prag, 2. Salzburg, 3. Villach, 4. Ofen-Pest, nur um 5 Meilen näher.

 

Auch Gratz und Linz sind gleichweit von Wien entfernt.

 

Dieses Verzeichniss ergibt 65 gegenwärtige oder künftige europäische Hauptpunkte, deren natürlicher Mittelpunkt Wien ist, und die Zahl der nicht in diese Kreise fallenden Hauptpunkte ist hiergegen verschwindend klein.

 

Unserem Verfahren liegen ja doch nur Luftlinien zu Grunde und es fragt sich daher, ob etwa die Bodenbildung unseres Welttheiles diese theoretische Construction zur unpraktischen Chimäre mache, indem sie durch unübersteigliche Schwierigkeiten die Verkehrslinien von ihrer naturgemässen Eichtling aus der Peripherie nach dem Centrum gewaltsam abhält und in unnatürlichere Eichtungen zwingt, oder ob im Gegentheile die Natur der centralen Richtung der Verkehrslinien vorgearbeitet habe, und da, wo es nicht der Fall sein sollte, die entgegenstehenden Naturschwierigkeiten durch die Kunst bereits überwunden sind.

 

Zum Zwecke dieser Untersuchung wenden wir uns von den Kreislinien zu deren Halbmessern und Durchmessern und verlassen unser bisher theoretisches Vorgehen, indem wir, statt der von den Kreislinien nach dem Centrum gezogenen Luftlinien, die aus den verschiedenen Peripherien dem Centrum zulaufenden Verkehrslinien in's Auge fassen.

 

Betrachten wir zu dem Ende zuerst die natürlichen Wasseradern von Central - Europa, so erblicken wir vor allem deren grösste, die Donau, an der Kaiserstadt vorüberiiiessen und derselben eine westöstliche Wasserstrasse eröffnen, welche von Ulm bis Sulina reicht (339 1/2 geogr. Meilen) und durch den Ludwigskanal mit dem Main

 

 

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und Rhein verbunden ist. Die Länge dieser Wasserstrassen (den Rhein nur von Basel an gerechnet) beträgt 520—530 geogr. Meilen, wozu noch die 34 schiffbaren Nebenflüsse der Donau hinzuzurechnen sind.

 

Unter allen europäischen Hauptplätzen liegt ferner Wien den Punkten am nächsten, wo die Elbe, Oder, Weichsel und der Dnjester schiffbar werden.

 

Es gibt mithin keinen Punkt in Mittel-Europa, welcher zur allseitigen Benützung der dort vorhandenen Wasserstrassen günstiger gelegen wäre, als Wien.

 

Endlich liegt Wien unter allen Grossstädten in nächster Nachbarschaft von dem adriatischen Meere bei Triest, dem Archipel bei Piräus, dem ägeischen Meere bei Salonik und dem schwarzen bei Konstantinopel, Warna, Kostendsché und Odessa.

 

Wenden wir uns von den natürlichen Verbindungslinien zu den künstlichen, so linden wir vorerst, dass dieselben überall, wo es möglich ist, dem Fingerzeige der Natur folgend, in den vorhandenen Ebenen und Flussthälern hinziehen und auf diese Weise die verschiedenen Verkehrscentren unter einander verbinden; in diesen ihren natürlichen Richtungen. und gleichsam dem Naturgesetze der Schwere gehorchend, laufen sie aber schliesslich fast von allen Richtungen her in Wien als ihrem natürlichen Mittelpunkte zusammen.

 

Nur die Richtung von Südwesten, d. h. vom adriatischen Meere her, macht hierin eine Ausnahme, aber auch hier ist es der Kunst bereits gelungen, die grossen, dem Verkehre in dieser Richtung entgegengestellten Naturhindernisse zu überwinden und die möglich kürzeste Verkehrslinie zwischen Wien und der Adria herzustellen.

 

Meist durch die Gunst der Natur, aber auch durch grosse menschliche Anstrengung ist Wien zum Kreuzungspunkte aller europäischen Hauptverkehrslinien, welche das Mittel unseres Welttheiles durchschneiden werden, bereits geworden oder doch dazu bestimmt. Denn über Wien führen die kürzesten Wege:

 

1. von Moskau und Petersburg nach Venedig und ganz Italien, und von Moskau nach Südfrankreich und Spanien;

2. von London, Edinburgh und Dublin nach Konstantinopel;

3. von Paris nach Odessa;

4. von Hamburg oder Berlin nach Konstantinopel, Salonik und Athen [1].

 

 

1. Ein Blick auf die Karte genügt, um diese Thatsachen unwiderleglich festzustellen. Nur wolle der Leser hiebei von der Frage Umgang nehmen, ob alle verzeichneten Weglinien von dem Verkehre bereits wirklich benutzt werden.

 

 

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Es liegt nicht in unserer Aufgabe, dies Thema zu erschöpfen. Wir führen daher in der obigen Aufzählung nur die Hauptendpunkte dieser Linien an, und überlassen es dem Leser, die Zwischen- und Nachbarpunkte auf der Karte nachzusehen.

 

Wir schmeicheln uns jedoch, dass die obigen Ausführungen hinreichen werden, um den Leser, der dessen noch bedürftig sein sollte, zu überzeugen, dass der Kaiserstaat und die Kaiserstadt im natürlichen Mittelpunkte unseres Welttheiles liegen und von der Natur bestimmt seien, das Centrum des europäischen Verkehrs zu werden.

 

Fragen wir nun, ob die gegenwärtige Entwicklungsstufe unseres Verkehrsystems dieser uns von der Natur angewiesenen centralen Lage entspreche, oder ob wenigstens unsere Verkehrsentwicklung mit vollem Bewusstsein dieses grossen Zieles die Richtung verfolge, welche zu demselben führt, so müssen wir leider beide Fragen verneinen.

 

Wir wollen die Rechtfertigung dieser Behauptungen mit dem Hinweise auf den grossen Abstand einleiten, welcher zwischen der Verkehrsentwicklung in den verschiedenen Nachbarländern Oesterreichs obwaltet. In den westlichen Grenzländern und der Westhälfte der nördlichen ist die Entwicklung der Eisenbahnnetze so weit vorgeschritten, dass nicht nur alle bereits vollendeten österreichischen Bahnen dort Anschlüsse finden, welche ihre natürlichen Endpunkte an der Meeresküste erreicht haben, sondern dass auch alle nach den genannten Richtungen projectirten österreichischen Bahnlinien mit der Erreichung der Reichsgrenze sich sofort an die entsprechenden, bereits bis zu ihren Endspitzen ausgebauten Nachbarbahnen anschliessen können.

 

In grellem Gegensatze zu dieser bequemen Lage bietet sich an den östlichen und südlichen Reichsgrenzen noch keine einzige Bahnlinie zum Anschlüsse an die unsrigen; denn unter allen europäischen Staaten steht das türkische Reich mit seinem Verkehrswesen am weitesten zurück, dort sind kaum in den kleinen Bahnen von Kostendsché und Warna die ersten Anfänge von Schienenwegen gemacht. Auch fehlt es dort überall an gebahnten Strassen, und daher muss, namentlich an den südlichen Reichsgrenzen, unsere gesammte Ausfuhr entweder gleich bei dem Uebertritte, oder doch kurz nachher auf Lastthiere verladen und weiter befördert werden, und in gleicher Weise findet unsere Einfuhr von dort statt. Bekanntlich ist dies aber der theuerste Transport, dessen Kostbarkeit nur die werthvollsten Waaren ertragen können. Eben so bekannt ist es ferner, dass der Verkehr im heutigen Sinne des Wortes nicht sowohl durch die Waaren erster Classe, als vielmehr durch die Massen der niederen Waarenclassen

 

 

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vertreten wird. Obwohl wir daher bei Basiasch an der Donau die südliche Reichsgrenze bereits mit einem Schienenwege erreicht haben und in jenem Strome eine natürliche Verkehrsader besitzen, so kann doch Das, was wir über die südlichen Reichsgrenzen aus- und einführen, gegen den Verkehr der West- und Nordgrenzen gar nicht in Vergleich gestellt werden.

 

Durch diese Sachlage erklärt es sich, warum das ungarisch-österreichische Verkehrsystem, statt das natürliche Centrum des europäischen Grossverkehres zu bilden, noch immer in dessen Peripherie, ja zum Theil noch ausserhalb derselben fällt.

 

Wann wird nun der grosse Umschwung eintreten, welcher das ungarisch-österreichische Verkehrswesen aus der Peripherie in das Centrum des europäischen Grossverkehrs vorschieben wird? Die Antwort ist in dem Vorhergehenden bereits enthalten und wir brauchen daher dem Leser nicht erst zu sagen, dass das uns von der Natur gesteckte grosse Ziel erst dann erreicht werden könne, wenn das europäische Bahnnetz sich au eh über den Südosten des Welttheiles erstreckt und dort, wie dies an den nördlichen, westlichen und südwestlichen Küsten bereits geschehen ist, wenigstens in den Hauptküstenplätzen seine natürlichen Endpunkte erreicht hat, d. h. bis Odessa, Kostendsché, Warna, Constantinopel, Salonik und Piräus durch Schienenwege mit dem Rumpfe des Welttheiles verbunden sind. Wir wollen die locale und strategische Bedeutung der Bahn von Lemberg nach Czernowitz nicht verkennen, aber für den Grossverkehr bleibt diese Linie so lange eine in den Sand verlaufende Spitze, als sie nicht über Jassy bei Odessa das Meer erreicht. Die von Temesvar bis Basiasch an der Donau fortgesetzte Bahn mag für den Transport der Kohlen von Orawitza und die Beschleunigung des Personenverkehrs auf der Donau recht nützlich sein, ist aber hiemit ihre Bestimmung erschöpft? — Gewiss nicht, denn diese erreicht sie erst als Section der Weltbahn, welche sich bei Nisch (Nissa) gabelt und einerseits in Constantinopel mündet, andererseits über Salonik nach dem Piräus läuft. Die im Boza- und in dem rothen Thurmpasse endenden siebenbürgischen Reichsbahnen werden dann erst volle Verkehrslinien, wenn sie jenseits der Grenze über Bukarest und Rustschuck nach Warna und Kostendsché laufen. Der natürliche Endpunkt der bis Cattaro geführten Bahn ist der Piräus; sowie die von Kssek nach Brocl an der Sau projectirte Bahn erst dann vollendet ist, wenn sie über Serajevo nach Salonik läuft.

 

Bei allen diesen Bahnlinien fällt nun leider der eben angedeutete grosse Gegensatz unserer Verkehrsnachbarschaften schwer in

 

 

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das Gewicht. Im Westen und Norden der Reichsgrenze macht sich jeder Bahnanschluss gleichsam von selbst; hat der Schienenstrang die Grenze erreicht, so ist auch die Aufgabe der Unternehmer gelöst. Anders im Osten und Süden; denn mit Erreichung der Reichsgrenze ist dort überall nur die Hälfte der Arbeit geschehen und fällt die andere meist grössere Hälfte jenseits derselben. Wenn wir aber deren Leistung, wie im Westen, von Andern erwarten wollen, so möchte uns die Zeit lang werden, bis wir das uns von der Natur gesteckte grosse Ziel erreichen — dies sollten wir mehr als bisher beherzigen und dabei bedenken, dass der Ausbau der Ost- und Südbahnen nicht blos Sache der östlichen Reichshälfte ist, sondern dem höchsten Interesse unseres gesammten Verkehrsystems entspricht, weil es durch diesen Ausbau aus der Peripherie des europäischen Grossverkehrs in dessen Centrum gerückt wird.

 

Vor Allem möchte es zu dem Ende eines Wechsels in unserem gewohnten Standpunkte bedürfen. Der Verfasser glaubt nicht zu irren, wenn er denselben dahin bestimmt, dass wir in der Regel dem Osten den Rücken kehren und gegen Westen nach Rom, Paris, London und Berlin blicken; wir machen wohl mitunter eine Schwenkung gegen Nordost und sehen dann nach Petersburg, Moskau, Odessa und Constantinopel; der letzte Punkt ist aber der südlichste in dieser Richtung, und wenn wir dann nach Salonik und Alexandrien sehen wollen, so drehen wir uns nicht etwa nach Süden, sondern nach Südwesten, und blicken über Triest und die Adria, um ganz Griechenland herumschweifend, nach Salonik oder Piräus, Smyrna und Alexandrien, gleichsam, als ob die mythische Centralkette des Balkan, welche nach der Darstellung unserer älteren Karten die Süddonauländer hermetisch von dem Beckengebiete des Mittelmeers abschliessen sollte, den Blick hindere, von Wien auf gerader Linie bis Salonik zu dringen und über dieses hinaus nach Piräus, Alexandrien oder Smyrna zu sehen.

 

Wir vermuthen, dass die von uns für Salonik geforderte directe Gesichtslinie die Mehrzahl unserer Leser neu und fremdartig, weil ungewohnt, anmuthen dürfte; gleichwohl möchte es aber an der Zeit sein, uns mit derselben vertraut zu machen, weil gerade in dieser bis dahin übersehenen Richtung die Hauptarterie des europäischen Weltverkehrs laufen wird, in so weit dieselbe nämlich von Alexandrien, dem Sammelpunkte aller das rothe Meer durchlaufenden Linien über Piräus, Salonik, Ofen-Pesth und Wien nach Norddeutschland und über Calais nach London und ganz England ziehen muss.

 

 

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Das europäische Eisenbahnwesen entbehrt bis jetzt noch eines gemeinsamen Mittelpunktes, die verschiedenen Centren desselben, wenn auch mit andern vielfach verbunden, bilden mehr oder weniger selbstständige nach ihren Localbedürfnissen eingerichtete Ganze. Dieses Verhältniss muss sich ändern, sobald die Hauptcentren in Wien einen gemeinsamen Mittelpunkt erhalten haben; denn wir betrachten es als eine nothwendige Wirkung einer solchen gemeinsamen Verbindung, dass das hiedurch geschaffene Ganze auch einen gemeinsamen Pulsschlag erhalte; es liegt zu klar in dem wohlverstandenen Interesse des Verkehres, dass Ordnung in die verschiedenen Ausströmungen seines Mittelpunktes komme, als dass ein Zweifel hiergegen möglich wäre, und von diesem Zeitpunkte an werden sich auch die Kirchthurminteressen den allgemeinen Bedürfnissen weit unbedingter unterordnen, als dies bis jetzt der Fall ist.

 

Es wäre daher eine aller Erfahrung widersprechende Auffassung, wenn man sich Wien als den todten Kreuzimgspunkt der europäischen Haupt- und Weltlinien denken wollte. Die Erfahrung lehrt, dass jede Bahn längs ihrer Strömung neue Kräfte ansetzt und dass sich an jedem Bahnknoten entweder neues Leben bildet oder das vorhandene neuen Aufschwung erhält; — und der gemeinsame Mittelpunkt aller europäischen Hauptlinien sollte allein eine Ausnahme von dieser erfahrungsmässigen Regel bilden?

 

Bei der im Vergleiche zu dem Westen so sehr zurückgebliebenen volkswirtschaftlichen Entwicklung des europäischen Ostens möchten wir andererseits auch nicht unmittelbar hinter der Legung der letzten Ost- oder Südschiene den Anbruch des goldenen Zeitalters für Wien und den Kaiserstaat prophezeien, weil keine natürliche Entwicklung sprungweise möglich ist und jeder Fortschritt um so langsamer erfolgt, je näher er dem Anfange liegt. Dennoch müssen wir darauf aufmerksam machen, dass die östlichen Verkehrströmungen weit weniger von Zwischencentren aufgefangen werden, als im Westen, wo sich bei den kleinlicheren Wirthschaftszuständen der Vergangenheit deren vielleicht mehr gebildet haben, als den grossartigen Verhältnissen der Gegenwart zuträglich ist. Die Verkehrsbeziehungen zwischen dem gemeinsamen Centrum und den osteuropäischen Seeplätzen dürften sich daher weit unmittelbarer gestalten als im Westen, die Bildung von Zwischencentren aber nur da erfolgen, wo sie die Bedürfnisse des heutigen Verkehrswesens verlangen, und aus diesen Gründen dürfte auch die Entwicklung rascher erfolgen, als die gegenwärtigen Wirthschaftsverhältnisse des Ostens erwarten lassen.

 

 

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Betrachten wir von unserem Standpunkte das Verhältniss des verkehrenden Kaiserstaates zu dem übrigen Europa, so ist es klar, dass er als Herzstaat zugleich wesentlich Binnenstaat und seine Grenzen wesentlich trockene sein müssen.

 

Dieselben begreifen auch in der That nur eine sehr kleine Küstenstrecke, denn die dalmatinische Küste kann hiebei wegen ihrer excentrischen, durchaus anormalen Lage nicht in Anschlag gebracht werden.

 

Aus dieser Lage scheint sich aber mit zwingender Nothwendigkeit die Schlussfolgerung zu ergeben, dass das österreichischungarische Verkehrsgebiet weniger als irgend ein anderes im Stande ist, einen sogenannten geschlossenen Handelsstaat zu bilden; denn da dieser den möglichsten Abschluss nach aussen verlangt, so würden alle Verkehrsadern an den Reichsgrenzen möglichst unterbunden und ihre natürliche Strömung nach dem Meere oder von diesem nach dem Reiche abgeschnitten werden müssen.

 

Es ist also klar, dass das ungarisch-österreichische Verkehrswesen von der Natur selbst an das Freihandelsystem verwiesen ist, und zu diesem so rasch übergehen muss, als es seine unter andern Principien entwickelte Industrie erträgt, wenn es seine natürliche Bestimmung erreichen und der Mittelpunkt des europäischen Verkehrswesen werden soll.

 

Von dem ausschliesslichen [1] Standpunkte der materiellen Interessen ausgehend, erscheint die Aufstellung eines österreichischen Reichseisenbahnsystems, insoferne dasselbe mit dem Ausbau der bis zu den Reichsgrenzen reichenden Bahnen seine Aufgabe für gelöst erklären sollte, den Bedürfnissen des ungarisch-österreichischen Verkehrswesens zuwiderlaufend, weil dieselben nach allen Seiten hin die Reichsgrenzen weit überragen. Denn der Verkehr ist seinem Wesen nach ein reiner Egoist; er will nur möglichst viel ausführen, und möglichst wohlfeil einführen, — um die Fragen woher? und wohin? kümmert er sich nicht.

 

In dem gleichen Sinne müssen wir auch der so geläufigen Ansicht entgegen treten, als ob wir nur Einen Seehafen besässen, insofern hierunter mehr als Reichsseehafen verstanden wird, denn der

 

 

1. Wir verkennen daher keineswegs die Notwendigkeit der Aufstellung eines solchen Systems vom allgemeinen Standpunkte, wie dies bereits im Septemberhefte 1866 der österreichischen Revue von bekannter Meisterhand unternommen worden ist, und betrachten unsere Arbeit als Anhang zu jener vortrefflichen Ausführung, insofern sie die dort bis zu den Reichsgrenzen gezogenen Fäden jenseits derselben weiter verfolgt.

 

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verkehrende Kaiserstaat hat auch einen Nordseehafen und der lieisst Hamburg.

 

Dieser österreichische Verkehrshafen führt nicht nur grosse Massen unserer Industrieerzeugnisse über's Meer aus, sondern erweitert auch als grösserer Stapel von Colonialartikeln seinen österreichischen Absatzrayon zum Nachtheile von Triest mehr und mehr.

 

Zwei andere Häfen des verkehrenden Kaiserstaates liegen an der Ostsee, nämlich Stettin und Danzig und nach dem Ausbau der Süd- und Ostbahnen wird er auch einen ägeischen in Salonik und in Constantinopel, Kostendsché, Warna und Odessa vier Verkehrshäfen am schwarzen Meere haben.

 

Bei einer solchen Weltstellung ist die Zerreissung der ungarisch-österreichischen Volkswirtschaft in zwei Theile geradezu eine Undenkbarkeit; denn was die Natur vereinigt, kann der Mensch nicht trennen, ohne es zu zerstören. Man könnte eben so gut versuchen, das lebende Herz in seine beiden Kammern zu zerlegen.

 

Unter den gegenwärtigen Verhältnissen kann vielleicht eine gewisse Eifersucht unter den verschiedenen Verkehrscentren des Kaiserstaates nicht ohne alle Berechtigung erscheinen: sobald aber unser Verkehrsgebiet seine natürliche Grösse und gesunde Bewegung erreicht hat, könnte man sie mit der Eifersucht zwischen Herz, Hirn, Lunge und Leber auf das Blut vergleichen, welches gerade in diesen Einzeitheilen des Organismus strömt, und fände auch die Fabel von dem Magen und den Gliedern Anwendung, durch welche jener Römer die Erhaltung des bedrohten römischen Staatsganzen erzielte. Der Organismus besteht aus der Gesammtheit seiner Einzelorgane und das Wohlsein aller steht in Wechselwirkung, was aber Herz, Hirn, Lunge und Leber sein soll, das wird nur durch das unwandelbare Gesetz der Natur bestimmt.

 

Das ungarisch-österreichische Verkehrswesen siecht an halbseitiger Lähmung, sie kann nur durch den Ausbau der Süd- und Ostbahnen gehoben werden, und hiemit wird zugleich der Kaiserstaat von der Peripherie in das Centrum des verkehrenden Europa's vorrücken.

 

Blick auf den Weltverkehr. — Die obigen Bemerkungen möchten hinreichen, um auf die grosse Bedeutung hinzuweisen, welche dem Ausbau der europäischen Süd- und Ostbahnen für die notwendige, wir möchten sagen organische Entwicklung unseres Verkehrsystems zukommt.

 

Ganz anders gestaltet sich jedoch die Frage, wenn wir von den natürlichen Endpunkten des künftigen ungarisch-österreichischen Verkehrswesens den Blick nach aussen, das heisst jenseits des Meeres richten,

 

 

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um zu untersuchen, ob nicht einer oder der andere dieser Seeplätze die europäische Scala für irgend eine Linie des Weltverkehres sei oder werden könne und dadurch die dort mündende Bahn des ungarisch-österreichischen Verkehrwesens zugleich auch eine Section dieser Weltlinie werde.

 

Bevor wir jedoch zu dieser Untersuchung übergehen, halten wir die Erklärung nicht für überflüssig, dass wir in der vorliegenden Arbeit strenge auf dem festen Boden der Gegenwart zu stehen glauben, und uns daher nur mit den vorhandenen Verhältnissen und Anforderungen beschäftigen. Alles Neue, was sich etwa in näherer oder fernerer Zukunft entwickeln könnte, fällt daher jenseits unserer Untersuchung.

 

Halten wir von diesem Standpunkte eine kurze Rundschau über die östlichen Endpunkte des ungarischösterreichischen Verkehrswesens, so können wir die in Odessa, Kostendsehe und Warna endenden Linien mit wenigen Worten abthun. Denn von keinem dieser drei Punkte führt eine Welthandelslinie im heutigen Sinne des Wortes gegen Osten. Trotz des grossen Aufschwunges, welchen Trapezunt genommen [1], schicken wir bekanntlich nur geringe Partien Krystall und Tuchwaaren von dort nach Persien; ob irgend etwas davon nach Bochara und von dort nach Pekin (128 Tagreisen) gelangt, wissen wir nicht. Sollte aber auch im Laufe der Zeit die projectirte Eisenbahn nach Tiflis und Tewris zu Stande kommen, und sich demzufolge unser Verkehr in dieser Eichtling rasch heben, so möchte es doch noch lange dauern, bis eine directe Verkehrslinie quer über das schwarze Meer möglich sein wird und müsste unser Verkehr bis dahin nach wie vor über Constantinopel gehen. Doch dem sei wie ihm wolle, wir finden in dieser Richtung wenigstens für jetzt nicht, wonach wir suchen.

 

Wenden wir uns von Osten gegen Südosten, so sind die Aussichten, von Constantinopel eine Weltarterie durch den Kaiserstaat zu leiten, weit bedeutender, denn einestheils ist dieser Punkt an sich schon eine Weltstadt, und anderntheils hat bekanntlich das Projekt einer Bahn von Constantinopel längs des Euphrat bis Bassora und von da nach Kuratschi, dem indischen Grenzplatze, seit langem aufgehört, eine Chimäre speculirender Phantasten zu sein, und beschäftigt Fachmänner der ersten Grösse wie Stephenson. Aber wie lange

 

 

1. Siehe hierüber den vortrefflichen Aufsatz von Dr. Dorn in der österr. Revue 1866, Septemberheft.

 

 

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mag es noch dauern, bis diese Linie fahrbar wird, an welcher noch der erste Spatenstich zu thun bleibt.

 

Wir wenden uns also gegen Süden und sehen von Salonik und Piräus nach Alexandrien. Hier endlich erreichen wir das oben abgegrenzte Feld, denn hier stossen wir auf bereits vorhandene Weltlinien, und zwar nicht bloss auf eine, sondern auf alle diejenigen, welche vom Cap der guten Hoffnung, Ostindien, Java, Sidney, China und Japan durch das rothe Meer in jener Weltstadt zusammen laufen, und diess erklärt die riesige Entwicklung derselben.

 

Der Leser wolle uns jedoch erlauben, dem nähern Nachweise dieser Behauptung einige Worte über eine Unterscheidung vorauszuschicken, welche bisher noch nicht hinreichend berücksichtigt worden zu sein scheint, gleichwohl aber zu einer schärferen Auffassung der See-Verkehrsverhältnisse unserer Zeit unumgänglich sein dürfte.

 

Wir unterscheiden nämlich zwischen Busen-Häfen, cl. h. solchen, welche an tief in das Festland einschneidenden grossen Meerbusen gelegen sind, und denjenigen, welche an den Enden grosser weit in's Meer vorspringender Halbinseln liegen, und für die wir, so lange kein besserer gefunden ist, den Namen Spitzenhäfen [1] vorschlagen möchten. Dem entsprechend theilen wir den Verkehr in zwei Classen, den Handelsverkehr im engeren Sinne, den man auch Massen- oder Stapelverkehr nennen könnte, und den Schnellverkehr. Bei dem ersteren wird die Rücksicht auf die Raschheit der Beförderung von der Rücksicht auf die Wohlfeilheit der Fracht überwogen: bei dem letzteren tritt das umgekehrte Verhältniss ein.

 

Ein Beispiel möchte diesen Unterschied am klarsten zeigen. Nehmen wir einen Centner Waaren an, welche den Werth von 100 Gulden haben, so fallen davon — das Capital zu 6% Zinsen jährlich gerechnet — 1 2/3 Neukreuzer [2] auf den Tag: nehmen wir die Seeversicherung zu 10% jährlich an, so stellt sich für unsern Centner der in die Frachtspesen einzubegreifende Posten für Zinsvorschuss und Assekuranz auf etwa 4 1/3 Neukreuzer pr. Reisetag.

 

Stellen wir ferner diesem einen andern Centner gegenüber, der 100,000 Gulden Werth hat, so beträgt derselbe Posten 43 1/3 Gulden pr. Tag. Nehmen wir nun zwei Verkehrslinien an, von denen die eine

 

 

1. Die grosse Bedeutung von Constantinopel und Alexandrien liegt darin, dass beide Plätze zugleich doppelte Busen- und Spitzenhäfen sind. Beide sind Ausnahmen von der allgemeinen Regel.

 

2. In der Regel beachtet der Binnenländer solche Kleinigkeiten nicht und wundert sich, wie sie in den grossen Handelsplätzen für grosse Unternehmungen bestimmend sein können, dort aber stammt man über seine Verwunderung.

 

 

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um einen Gulden pr. Centner theurer ist, als die andere, die Waare aber um 10 Tage früher liefert, so folgt ohne weiteren Nachweis, dass man in der Regel für den Centner zu 100 Gulden die langsamere Linie wählen wird, weil sie eine Ersparniss von 56 2/3 Kreuzer pr. Centner bietet; für den Centner zu 100,000 Gulden aber natürlich die schnellere Linie vorziehen muss, weil dabei 432 1/3s Guld. erspart werden.

 

Unter den gegenwärtigen Verhältnissen übersteigt aber, wie wir weiter unten nachweisen werden, die Bahngeschwindigkeit die des Seedampfers um mehr als das Doppelte; der Schnellverkehr, welcher die möglichste Schnelligkeit der Beförderung anstrebt, muss daher so rasch als möglich von der See auf das Land überzugehen trachten, und wird sich demzufolge den Spitzen-Häfen zuwenden, sobald diese mit ihren Hinterländern durch Bahnlinien verbunden sind; der eigentliche Handelsverkehr wird dagegen nach und von den Busenhäfen strömend an den Spitzenhäfen vorüberziehen.

 

Wenden wir diesen Gesichtspunkt beispielsweise auf die Plätze von Triest und Brindisi an. Wir haben eine hohe Meinung von dem Aufschwung, welcher Triest durch die Eröffnung des Canals von Suez bevorsteht, aber wir müssen denselben auf das Gebiet des Grosshandels beschränken, und glauben, dass man gegen die Natur der Dinge angehen würde, wenn man nach Vollendung der Eisenbahn von Brindisi auch den durch jenen Canal strömenden Schnellverkehr nach Triest ziehen und hierin Brindisi Concurrenz machen wollte.

 

Eben so unbegründet erscheinen uns aber auch die Befürchtungen, dass Brindisi mit Triest auf dem Gebiete des Grosshandels in Concurrenz treten könnte, denn dieser folgt ebenso ausnahmslosen, der menschlichen Willkür entzogenen Naturgesetzen, wie die Anziehungskraft im Naturreich. Ein Grosshandelsplatz kann sich an der See nur da bilden, wo eine Anzahl von Land-und Seelinien radienförmig in einem gemeinsamen Mittelpunkte zusammentreffen, und dort ihren Uebergang vom Lande auf die See und umgekehrt bewerkstelligen.

 

Die Form des Grosshandelsgebietes ist der Kreis; je mehr es sich dieser Form nähert, desto vollkommener ist es. Dem Spitzenhafen fehlt mithin das erste Erforderniss des Grosshandels, das entsprechende Hinterland, aus dem er seine Land-Stapel anziehen und nach dem er seinen See - Stapel absetzen könnte, und in dieser Hinsicht überragt, wie im Naturreiche, die Anziehungskraft des Grosshandelskörpers die des kleineren in demselben Grade, als er grösser ist als jener. Dar Bewohner von Calais muss den Fisch zu einer Festtafel von Paris verschreiben, der vielleicht vor seinen Fenstern gefangen wurde, und die ganze Ausfuhr von Epirus schwimmt an dem Hafen

 

 

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von Korfu vorüber dem fernen Triest zu; auch sahen wir in Skodra und Durazzo Massen von englischen Waaren, die mit dem Commissions-Stempel Schwachliofer & Comp. in Triest versehen waren, zum schlagenden Beweise, dass sie den Stapel von Triest passirt hatten. In Uebereinstimmung mit diesem Standpunkte halten wir uns zu der Ansicht berechtigt, dass in dem Grade, als sich der Grosshandel in Triest entwickelt, sich auch sein Handelsrayon nach allen Richtungen hin erweitern und verstärken, und es daher in demselben Grade auch Brindisi fester in seinen Rayon einschliessen müsse. Denn in dem Grade, als sich der Localstapel von Brindisi entwickeln wird, in demselben wird das Bedürfniss steigen, denselben nach Triest abzugeben, und jeder Versuch, denselben von Triest zu emancipiren, unnatürlicher erscheinen; denn das Streben, die Handelsbeziehungen so weit als möglich in directe zu verwandeln, ist nach unserer Ansicht kein unbegrenztes. sondern findet vielmehr in den Naturgesetzen des Stapels seine natürliche (d. Ii. je nach Umständen auch veränderliche) Beschränkung.

 

Wir bitten den Leser, in Uebereinstimmung mit der aufgestellten Unterscheidung den Piräus in der folgenden Auseinandersetzung nur als Spitzenhafen zu betrachten.

 

Der Piräus als künftige Scala des europäischen Schnellverkehrs. Der Nachweis der in der Rubrik aufgestellten These ist eben so einfach als unwiderleglich, denn er ist ein Zahlenbeweis. Wenn heutzutage ein See-Dampfer 10 Knoten oder 2 1/2 geogr. Meilen [1] in einer Zeitstunde macht, so gehört er noch immer zur ersten Classe, und wenn wir damit einen Schnellzug vergleichen, welcher 6 geogr. Meilen in der Zeitstunde zurücklegt, so bleiben wir, von den amerikanischen zu geschweigen, weit unter den englischen Maassen; weil aber diese Schnelligkeit auf dem europäischen Festlande bis jetzt noch das Durchnittsmaass bildet, so wollen wir uns mit dem Verhältniss der Seebewegung zur Landbewegung wie 2 1/2 zu 6 geogr. Meilen in der Zeitstunde begnügen, und dasselbe unseren Berechnungen zu Grunde legen.

 

Die Geschwindigkeit des Bahnzuges ist hienach fast 2 1/2 mal so gross, als die des Seedampfers. Der Schnellverkehr muss daher stets so rasch als möglich von der See auf das Land überzugehen trachten, und dies um so mehr, als man auf der Eisenbahn nicht nur

 

 

1. Wir verstehen unter Seemeilen die zu 60, und unter geographischen Meilen die zu 15 auf einen Grad.

 

 

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weit schneller, sondern auch viel zeitsicherer fährt, als auf dem Seedampfer [1].

 

In Folge dieses Sachverhaltes müssen alle sich in Alexandrien concentrirenden Schnelllinien des Weltverkehrs für ihren Uebergang nach Europa die kürzeste Seelinie nach Europa aufsuchen [2].

 

 

1. Was die persönliche Sicherheit betrifft, so möchte sie dagegen auf dem Seedampfer eher grösser, als im Waggon sein; wenigstens ist unseres Wissens dem österreichischen Lloyd während der 30 Jahre seines Bestehens noch kein einziger Passagier ertrunken.

 

2. Da Alexandrien diesseits der Landenge von Suez liegt, so kommt der Durchstich dieser Enge bei unserer Untersuchung an und für sich genommen gar nicht in Betracht, so sehr sich auch der Schnellverkehr jener Linien durch den Ausbau des Canals von Suez vermehren wird. Wir erblicken in diesem Unternehmen zwar kein rentables Gesellschaftsunternehmen, wohl aber eine europäische Angelegenheit, denn es steht zu erwarten, dass der Durchstich der Enge von Panama eine der ersten Unternehmungen des wieder beruhigten Nordamerika's sein, oder, einmal begonnen, auch rasch durchgeführt werde. Ist der Durchschnitt von Panama vollendet und bleibt Suez verschlossen, so lässt sich mit mathematischer Sicherheit voraussetzen, dass der Schwerpunkt des Welthandels und Verkehrs sich nach Amerika ziehen muss, weil dann dieser Welttheil in die Mitte zwischen Asien und Europa, unser Welttheil aber in die Peripherie des Welthandelskreises zu liegen kommen würde. Welche Folgen es aber für irgend ein grosses oder kleines Handelsgebiet nach sich ziehe, wenn die Welthandelslinie von ihm weicht und sich nach anderen Richtungen wendet, das zeigt die Handelsgeschichte fast auf jedem ihrer Blätter. Wann verarmte und verödete das alte Hellas ? Als ihm durch die Gründung Alexandriens und die Weltherrschaft Rom's die Welthandelsstrasse entzogen wurde, die es früher reich und blühend gemacht hatte.

 

Wann wird Griechenlands Wiederblüthe beginnen? Wenn die Welthandelsstrasse abermals durch sein Gebiet strömen wird.

 

Uns erscheint diese Wiederblüthe nicht als eine Vergrösserungs-, sondern als eine Verkehrs-Frage. Was helfen neue dürre Provinzen, so lange die Strömung fehlt, die sie allein befruchten kann? Das aber dem alten Lande eine Neublüthe bevorsteht, das zeigt der einfache Blick auf die Karte.

 

Auf Wien's Stellung zur Welthandelslinie hat Ritter von Streffleur in seiner beherzigenswerthen Arbeit: Das bisherige Wien und dessen mögliche künftige Entwickelung — hingewiesen.

 

Eben so klar erscheint es uns, in Hinblick auf die gegenwärtige Entwicklungsstufe der materiellen Interessen von Europa, dass der Durchstich selbst in dem Falle nicht unausgeführt bleiben könne, wenn er die Kräfte eines Privatunternehmens übersteigen sollte, weil dann die seefahrenden Staaten Europa's, in der richtigen Erkenntniss ihrer Solidarität in dieser Frage, in das Unternehmen gemeinsam einzutreten nicht unterlassen können.

 

Die Canalfrage hat für Europa eine solche Bedeutung, dass bei der nächsten gemeinsame^ Ordnung der europäischen Angelegenheiten ein Uebereinkommen zu erwarten steht, in welchem die seefahrenden Mächte die Neutralität Aegyptens garantiren und für deren Aufrechthaltung einzustehen erklären werden.

 

Die europäische Bedeutung des Canals von Suez wurde bereits im Jahre 1840 vom Freiherm Cattanei di Momo erkannt. (Dessen: „Bildung eines österreichisch-deutschen Vereins für orientalische und transatlantische Verkehrsanstalten", S. 97 und folg.)

 

 

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Nach den sorgfältigsten Messungen [1] betragen aber die Fahrtlinien von Alexandrien:

nach Piräus 511 Seemeilen — nach Triest 1237

Salonik 670           „     „     Genua 1320

Brindisi 835 [2]     „     „     Marseille 1425

 

Es ist mithin kein Zweifel, dass der europäische Hafen aller jener Linien der Piräus sei, sobald er durch eine Eisenbahn mit dem europäischen Schienennetze verbunden sein wird. Denn wenn zwei Dampfer, welche 10 Seemeilen in der Stunde zurücklegen, zu gleicher Zeit von Alexandrien abfahren, so wirft der eine in dem Augenblicke im Piräus Anker, in welchem der andere noch 324 Seemeilen bis Brindisi zu machen, also noch 32 Zeitstunden bei günstigem Wetter auf dem Meere zu schwimmen hat, was er jedoch bei Kreuzung der Mündung der Adria nicht allzuhäufig finden dürfte.

 

Der Vorsprang, welchen die Piräus-Linie vor der von Brindisi bis zu dem Augenblicke, wo deren Dampfer dort Anker wirft, voraus hat, beträgt nach den oben angenommenen Verhältnissen von 6 geogr. Meilen per Zeitstunde 192 geogr. Meilen Bahnlinie.

 

Aus diesem Vorsprunge folgt, dass sobald der Piräus mit dem europäischen Eisenbahnsysteme verbunden sein wird, Brindisi den gesammten europäischen Schnellverkehr an jenen Hafen abgeben müsse, und dass selbst Lissabon und Cadix ihre Correspondenz und Reisenden über den Piräus nach Suez schicken werden. Wenn daher auch der Piräus nicht erwarten kann, durch die Eröffnung des Canals von Suez wieder zum Stapel des Welthandels zu werden, so dürfte er dafür durch einen Schnellverkehr von solcher Grossartigkeit entschädigt werden, dass vor ihm der Welthandel der Hellenen-Zeit in den Schatten zurücktreten möchte.

 

Die drei Piräuslinien. — Wir nehmen nun unsere Stellung im Piräus und wenden uns gegen Norden, um von diesem Hafen einen Blick auf die möglichen Anschlusslinien an das europäische

 

 

1. Wir verdanken dieselben den Herren k. k. Schiffsfähnrichen Mörth und Fischer.

 

2. Rückt man die Scala der italienischen Linie bis Otranto (793 Seemeilen von Alexandria) vor, so muss man auch Monembasia (17 Meilen nördlich vom Cap St. Angelo an der Ostküste des Peloponeses und 482 Seemeilen von Alexandria) als Endscala der griechischen Linie ansetzen.

 

 

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Eisenbahnsystem zu werfen. Es ergeben sich drei derartige Anschlusslinien.

 

1. Der Anschluss an die Linie von Brindisi. Diese Anschlusslinie müsste die Adria kreuzen und dann längs der akarnanischen Westküste und der Nordkliste des Korinthischen Busens durch die Schluchten des Parnass und die Thebaide dem Piräus zulaufen. Der erste Blick auf die Karte zeigt die ungeheuren Schwierigkeiten, welche eine solche Bahnlinie zu überwinden hätte. Diese Schwierigkeiten, verbunden mit dem Zeitverluste, welchen die Seesection verursacht, würden es dieser Linie unmöglich machen, mit den reinen Festlandlinien zu concurriren, umsomehr, als der Localertrag derselben ohne Bedeutung wäre, da sie meist durch schwach bevölkerte Gebirgsstrecken ohne Ausfuhr laufen würde.

 

Wir wenden uns daher zu den beiden Festlandlinien.

 

2. Die albano-dalmatinische Linie. Ziehen wir von London zwei gerade Linien nach Wien und nach Triest, so ergeben sich beide als gleich lang. Ziehen wir aber von beiden genannten Punkten zwei gerade Linien nach dem Piräus, so ergibt sich die Triester um etwa 20 geogr. Meilen kürzer, mithin wäre dieselbe nach dem von uns angenommenen Verhältnisse von 6 geogr. Meilen auf die Zeitstunde um 3 1/3 Stunden rascher als die Wiener (unter Berücksichtigung der grossen östlichen Curve dieser letzteren). Auch zeigt die vom Piräus nach London gezogene Luftlinie nur geringe Abweichung von der über Triest laufenden Bahnlinie. In Praxi dürfte jedoch der erwähnte Vorsprung, namentlich im Winter, wegen der beständigen Curven der Triester Bahn in ihrer Alpen-Section, wegen des Uebergangs über den Brenner und der zahlreichen Hebungen und Senkungen in ihren südlicheren Sectionen einen nicht unbedeutenden Abzug erleiden. Denn in ihrer dalmatinischen Section hat sie grossentheils Karstformationen zu durchschneiden und bei ihrem Uebertritt von Thessalien nach West-Macedonien einen wahrscheinlich bedeutenden Pass zu übersteigen. Im Uebrigen läuft sie in ihrer albanesischen, macedonischen und thessalischen Section, ebenso wie in der griechischen, meistens durch weite Thäler und Ebenen [1].

 

Diese Linie würde den oben beschriebenen Weltverkehr, dessen Scala der Piräus ist, nicht nur durch den ersten Seeplatz des Kaiserstaates, Triest, sondern auch durch alle dessen übrigen Seeplätze

 

 

1. Nähere geographische Andeutungen über diese Linie enthält die zweite Abtheilung dieses Werkes.

 

 

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leiten, dagegen verhält sich dieselbe zu dem ungarisch-österreichischen Bahnsystem durchaus excentrisch.

 

Schon vom Standpunkte des gesunden Menschenverstandes ist die strategische Wichtigkeit dieser Bahn einleuchtend, insofern als an der gegenüberliegenden italienischen Küste bereits eine Eisenbahn hinläuft. lieber die einschlägigen ferneren Fragen haben wir kein Urtheil. Dagegen können wir den localen Verkehr dieser Linie nur als gering betrachten; denn sie läuft von Triest bis zur Reichsgrenze durch das aus- und einfuhrarme Dalmatien und bis nach Durazzo ist sie Küstenlinie. Sie hat also in Bezug auf den Frachtverkehr die siegreiche Concurrenz der Seelinie zu bestehen, und würde daher auch die Ausfuhr des fruchtbaren Mittelalbaniens und westlichen Macedoniens nur bis nach Durazzo vermitteln.

 

Wir kennen die Wirthschaftsverhältnisse Thessaliens nicht genug, um den Verkehr seiner Westhälfte, welchen die albano-dalmatinische Linie zu vermitteln hätte, und der Osthälfte, welche der macedo-dardanischen zufiele, bestimmen zu können: der Unterschied möchte wohl nicht bedeutend sein.

 

Die griechische Nordbahn ist für beide Linien dieselbe. Wir müssen daher bei der albano-dalmatinischen Bahn den Charakter der Schnellverkehrslinie als weit überwiegend betrachten.

 

3. Die macedo-dardanische Linie. Wenn auch diese vom Piräus nach London über Pest und Wien führende Linie, wie wir oben sahen, länger ist, als die über Triest, so hat sie vor dieser den grossen Vortheil voraus, dass von derselben die ganze durch Ungarn führende Section bereits vollendet ist und bei Basiasch bereits das Donauufer erreicht. Ihre Unternehmer können daher ihr Werk dort anfangen, während der Bau der Westlinie auch nach Vollendung des Ausbaues ihrer Alpensection bei Triest beginnen muss. Hieraus folgt, dass die Unternehmer der Ostbahn um gering genommen 40 geog. M. Luftlinie weniger zu bauen brauchen, als die der westlichen.

 

Ein zweiter Vortheil besteht darin, dass ihre serbische Section von der Reichsgrenze bis Nisch, welche auf etwa 26 geogr. Meilen Bahnlinie veranschlagt ist, auch eine Section der Wien-Constantinopolitaner Bahn ist, welche sich erst bei Nisch von der Piräuslinie abzweigt. Die Herstellungskosten dieser Section fallen daher der Piräuslinie entweder nur halb zur Last oder versprechen doppelte Rente.

 

Die serbische, dardanische und macedonische Section verbindet das ungarisch-österreichische Verkehrswesen mit seinem zweiten Haupthafen, denn so wie Triest der Hauptstapel des adriatischen Meeres ist, so ist Salonik der Hauptstapel des ägeischen Meeres.

 

 

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Diese Bahn ist für uns daher nicht blos Schnell Verkehrslinie, sondern auch Pracht- und Handelslinie. Denn wir sind die nächsten industriellen Nachbarn des reichen Macedoniens, und daher vor Allen berufen, seine Baumwolle, Seide und Wolle [1] zu spinnen und zu weben, und wenn auch die Bahnlinie von der Stadt Salonik (ihrer südlichsten Bahnstation) bis zur Donau um ein Drittel länger ist, als die von Triest nach Wien, so beträgt die Wasserstrasse der Donau bis Wien nur ein Viertel des Seeweges von Salonik bis Triest. Sogar der Localverkehr dieser Bahn dürfte kein geringer sein, denn die in der zweiten Abtheilung aufgestellte Berechnung der in ihrem Rayon vorhandenen städtischen Bevölkerung berechtigt zu dieser Annahme. Ueber die günstige Bodenbildung dieser Sectionen giebt die vorliegende Reise Aufschluss.

 

Was die Thessalische Section betrifft, so bildet der Durchgang durch die altberühmte felsige Flussenge Tempe wohl das schwierigste Object der ganzen Linie, im übrigen läuft dieselbe fast nur durch Ebenen.

 

Auch in der griechischen Section überwiegen die ebenen Strecken bei weitem; doch dürfte hier der Furka-Pass bei dem Uebertritte aus Thessalien nach Griechenland und der bekannte Thermopylen-Pass, wenn auch durchaus keine unüberwindlichen, so doch beträchtliche Schwierigkeiten machen. Der Local-Verkehr dieser Section dürfte nicht bedeutend sein, jedoch dieThebaide nach Austrocknung des Kopais-Sees in ihrem Getreide einen namhaften Frachtartikel bis Piräus liefern.

 

Sobald die macedo-dardanische Linie Salonik erreicht hat, wird dieser Busenhafen in den Stand gesetzt, mit dem Spitzenhafen von Brindisi in Bezug auf den Schnellverkehr mit Alexandrien in Concurrenz zu treten, weil seine Linie vor der von Brindisi drei Vortheile voraus hat. Seine Seelinie ist nämlich um 150 Meilen kürzer, als die von Brindisi. Die von Salonik ausgehende Landlinie erhält sonach bei ruhigem Wetter einen Vorsprung von 15 Zeitstunden oder 90 Bahnmeilen. Nehmen wir jedoch London als den Hauptendpunkt der Weltlinie an, so müssen wir von diesem Vorsprung etwa 35 Meilen abziehen , um welche die Luftlinie zwischen London und Salonik länger ist, als die zwischen London und Brindisi. Ferner erscheint uns die Abweichung der Salonik-Londoner Bahnlinie von der Luftlinie beträchtlich grösser, als die der Brindisi-Londoner. Wir möchten

 

 

1. Näheres hierüber in der zweiten Abtheilung.

 

 

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daher den wirklichen Vorsprang der Saloniker-Linie bei ihrer Ankunft in London nur auf 18 bis 24 Meilen oder 3 bis 4 Stunden stellen und daher zweifeln, ob derselbe hinreichen werde, um den Londoner Schnellverkehr, nachdem er sich einmal in die Brindisi-Linie eingewöhnt, zum Uebergange auf die Salonik-Linie zu bestimmen, wenn nicht die auf die letzten 15 Fahrstunden des Brindisi-Dampfers fallenden Stürme und die Schwierigkeiten bei der Uebersteigung des Mont-Cenis zur Winterszeit die Fahrtdauer der Brindisi-Linie bis London, und demzufolge auch jenen Vorsprung noch beträchtlich vermehren sollten. Diese Frage lässt sich also schwerlich von vornherein, sondern nur durch mehrjährige Erfahrung beantworten.

 

Für jetzt kann man daher die London-Alexandriner-Linie der vorliegenden Bahn erst dann als gesichert ansehen, wenn sie den Piräus erreicht haben wird.

 

Um sich nicht den Verdacht chimärischer Projectenmacherei zuzuziehen, wagte der Verfasser in der Einleitung zur ersten Ausgabe dieser Reise nur schüchtern auf die ferne Zukunft hinzuweisen, in welcher die Eisenbahnen die Spitzen der italienischen und der griechischen Halbinsel erreicht haben würden; in dem gegenwärtigen Augenblicke ist die Bahn von Brindisi so gut wie vollendet. Dass aber bei ihrem Baue keine inneren Zwecke, sondern die Erwerbung der Alexandriner-Londoner Weltlinie für Italien erstrebt wurde, bedarf keiner näheren Ausführung; denn die inneren Bedürfnisse von Italien, und zwar sowohl die allgemeinen aus der Thatsache erwachsenden, dass der Schwerpunkt von Italien nicht auf der Ost-, sondern auf der Westküste liegt, als auch die momentan politischen Bedürfnisse, forderten vor Allem den Anschluss von Neapel an den Norden der Halbinsel, und dennoch baute man die Ostküstenlinie an Neapel vorüber bis Brindisi aus und verwandelte hierdurch diesen Platz in den Südosthafen von Italien und Frankreich.

 

Was das Bauverfahren bei allen diesen Bahnen betrifft, so erscheint uns unbedingt das sogenannte amerikanische als das allein praktische. Dasselbe besteht bekanntlich in dein Streben, vor Allem die Verbindung zwischen beiden Endpunkten der Bahn herzustellen, und dieselbe hierdurch in vollen Ertrag zu setzen. Zu dem Ende wirft man vorerst alle Kräfte auf die Herstellung der Trace und sucht, so weit dies immer möglich, alle Zeit und Geld erfordernden Kunstbauten durch provisorische zu ersetzen, und die aus deren Mangel erwachsenden Schwierigkeiten, wie Tunnels oder Viaducte, durch Aufstellung von Localmaschinen, Umgehungen, provisorische Holzwerke u. s. w. zu überwinden.

 

 

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Ist dann die Bahn auf diese Weise hergestellt, so geht man je nach Bedürfniss und Zweckmässigkeit zur Herstellung der definitiven Kunsthauten über. Man erreicht dadurch drei wesentliche Vortheile :

 

1. Die möglichste Verringerung der ersten Anlagekosten.

 

2. Die möglichste Verkürzung der Brachzeit des Anlagecapitals.

 

3. Die Benützung der Bahn zur Herbeischaffung des geeigneten Materials für die Kunstbauten auf der ganzen Länge der Bahnstrecke und die Vermeidung jeder Ueberstürzung bei der Ausführung der definitiven Kunstbauten, welche dadurch nothwendig solider und zugleich auch wohlfeiler ausfallen müssen, als da, wo deren definitive Herstellung in die erste Bahnanlage mit einbegriffen wird.

 

Bedenkt man nun, dass in den Ländern, durch welche jene Bahnen führen, nichts zur Ausführung grosser Kunstbauten vorbereitet ist, dass dort das erforderliche Material, die Transportmittel desselben und die Arbeitskräfte erst gesucht und beschafft werden müssen, so kann wohl über die Vorzüge des empfohlenen Systemes kein Zweifel bestehen.

 

Unter der Voraussetzung eines solchen Bauverfahrens dürfte sich der gewöhnliche Durchschnitts-Anschlag von 150.000 Francs per Kilometer für die Trace dieser Bahnen wohl zu hoch ergeben, denn wenn auch der gemeine Taglohn in jenen Gegenden seit dem Krimkriege nicht unbeträchtlich gestiegen ist, so dürfte er wohl nirgends 1 1/2 Fr. pr. Tag übersteigen, und die Arbeitskräfte dieser Gattung wären leicht zu beschaffen, da grosse Massen wandernder Erdarbeiter aus Albanien [1] und Bulgarien vorhanden sind. Auch wäre das nöthige Holz fast überall in nächster Nähe der Bahn vorhanden und für dasselbe kaum mehr als der Schlaglohn und Transport zu berechnen.

 

Ein ungeheurer Vortheil für den Betrieb der Salonik-Bahn liegt darin, dass sie hart bei dem Kohlen werke von Oravitza mündet und derselben daher die vortrefflichsten Kohlen ohne Zwischenfracht ganz per Bahn zugeführt werden könnten.

 

Was endlich die Expropriationskosten betrifft, so bilden diese bei dem ungemein niedern Bodenwerthe keinen besonders in Rechnung zu ziehenden Ausgabeposten.

 

 

1. Des Verfassers Albanesische Studien I. S. 48.

 

Nur der technische Taglohn wird Anfangs theurer sein, weil im Lande die erforderlichen Techniker nicht zu finden sind. Dergleichen könnten jedoch aus der Masse der vorhandenen wandernden Häuserhauer, d. h. Maurer, Zimmerleute und Tischler in einer Person sich leicht heranbilden.

 

 

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Grosse Ersparungen im Bau und Betriebe würden in dem Falle erzielt werden, wenn eine und dieselbe Gesellschaft den Bau der Constantinopolitaner und der Piräus-Bahn unternähme, weil beiden Bahnen die ganze serbische Section gemeinsam ist, und gerade ihr Gablungspunkt Nisch nicht nur zum administrativen Centrum, von dem aus der Dienst auf den von dort ausgehenden drei Armen geleitet werden könnte, sondern auch zur Anlage der Werkstätten sehr geeignet wäre.

 

Möchte doch die Presse aller Farben nicht ermüden, die grosse Zukunft des ungarisch-österreichischen Verkehrswesens und seines Centrums Wien so lange zu wiederholen, bis sie ein ungarischösterreichischer Gemeingedanke geworden! Dann wird seine Verwirklichung nicht lange auf sich warten lassen, denn dass es an Sinn und Geld für die Entwicklung unseres Verkehrswesens nicht fehle, das beweisen die ungeheuren Ueberzeichnungen für jede neue innere Bahn und für jedes Bahnanlehen.

 

Sollte jedoch der Ausbau unseres Eisenbahnsystems wirklich unsere eigenen Kräfte übersteigen, so möge man das Gute nicht zuzückstossen, weil das beste unerreichbar ist, und bedenken, dass, gleichviel ob mit eigenem oder fremden Gelde, jene Bahnen zunächst für uns gebaut werden.

 

Bei jedem Probleme kommt es vor Allem auf die richtige Fragestellung an, und auf diese war der Verfasser bei der vorliegenden Arbeit vorzugsweise bedacht; er wollte anregen, nicht lösen; um weiter zu gehen, miisste er Fachmann sein.

 

Von dem entwickelten Standpuncte möchte aber eine neue Ausgabe der vorliegenden Reise nicht unzeitgemäss erscheinen, weil diese letztere den Blick nach einer Richtung lenkt, welche er bis jetzt nicht genug beobachtet hat, und von der doch dem ungarischösterreichischen Verkehrswesen eine durch seine ganze Axe und seine Herzpunkte laufende Weltarterie zuströmen wird.

 

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