Bulgarien inmitten seiner Nachbarn

 
So schwer auch die Nachkriegsjahre auf dem bulgarischen Volk lasteten, so wenig war sein Lebens­wille gebrochen. Wie schon nach dem Bukarester Frieden von 1913, so wurde auch nach Neuilly die Hoff­nung auf eine spätere gerechte Lösung, die den nationalen Belangen des bulgarischen Volkes entsprach, nie­mals aufgegeben. Der bulgarische Revisionismus blieb wach und gestaltete im Grunde die Beziehungen Bul­gariens zu seinen Nachbarn und den europäischen Großmächten. Dabei war der bulgarische Revisionismus nicht so laut wie vielfach bei anderen Völkern, die unter den Pariser Vorortverträgen zu leiden hatten, sondern er wurde bei sich bietender Gelegenheit ernst und bestimmt betont, ohne sich näher auf Einzel­heiten festzulegen. Die Hauptziele des bulgarischen Revisionismus waren die Dobrudscha, die Lösung der mazedonischen Frage und die Herstellung eines Ausganges zum Ägäischen Meer. Gegenüber der Türkei wurden keinerlei Forderungen territorialer Art erhoben.

Nachdem die Revisionspolitik Stambulijskis ohne Erfolg geblieben war, wandten sich die Regierungen der bürgerlichen „Demokratischen Vereinigung" Zankoffs (1923—1926) und Liaptscheffs (1926—1931) vor allem dem bulgarisch-jugoslawischen Verhältnis zu, weniger um die territoriale Frage zu lösen, als um mit den westlichen Nachbarn in ein annehmbares Verhältnis zu kommen. Von jugoslawischer Seite bestand für die Annäherung an Bulgarien vor allem deshalb ein Interesse, weil man sich den Rücken gegen die italienische Balkanpolitik (Tirana-Verträge 1926 und 1927) zu decken versuchte. Aber jede Annäherung zwi­schen den beiden Staaten wurde konsequent von der „Inneren mazedonischen revolutionären Organisation", kurz „IMRO" genannt, verhindert. Erst als die „IMRO" im Jahre 1934 zusammen mit anderen mazedoni­schen Vereinigungen gewaltsam durch die Regierung Kimon Georgieff, die der großsüdslawischen Idee anhing, aufgelöst wurde, konnte das gegenseitige Nachbarverhältnis konsolidiert werden (1937).

Es gehört zu den Eigenheiten der balkanischen Welt, daß diese irreguläre Organisation tapferer natio­naler Kämpfer eine derart entscheidende Bedeutung für die bulgarische neuere Geschichte erreichte. Die Geschichte des bulgarischen Volkes seit seiner Befreiung von der Türkenherrschaft und die Beziehungen zu seinen Nachbarn, besonders nach 1919, sind ohne die „IMRO" nicht zu denken.

Die „IMRO" ging nach mancherlei Entwicklungen und inneren Kämpfen 1903 aus den seit 1893 vielfach gegründeten mazedonischen Organisationen als aktive Kampfgruppe hervor. Ihr Aufbau lehnte sich eng an die bulgarischen Haidukenverbände der Türkenzeit an. Ihr Ziel war die Schaffung eines selbständigen mazedonischen Staates mit allen Mitteln, die ihr Wahlspruch „Bomben und Propaganda" zuließ. Der von der „IMRO" organisierte Aufstand der bulgarischen Bevölkerung in Mazedonien im Jahre 1903 wurde von den Türken blutig niedergeschlagen. Die jungtürkische Revolution im Jahre 1908 und ihre Folgen für Mazedonien, die Balkankriege 1912 und 1913 und der Weltkrieg — alle diese Fehlschläge konnten den von der „IMRO" getragenen Freiheitskampf nicht unterbinden. Besonders nach dem Weltkrieg mußte der neu­gegründete jugoslawische Staat merken, was es bedeutet, eine wohlorganisierte und bewaffnete Gruppe von „Staatsbürgern" zu besitzen, die der staatlichen Zentralgewalt mit ihrer Parole „Freiheit oder Tod" überall, wo es ihnen notwendig erschien, entgegentrat.

In aller Schärfe begann der Kampf der „IMRO" wieder um 1923, als Ausschreitungen örtlicher serbischer Behörden gegen die wehrlose bulgarische Bevölkerung Mazedoniens immer mehr um sich griffen. In Todor Alexandroff und seinem Mitarbeiter, dem ehemaligen General Protogeroff, waren der „IMRO" außer­ordentlich befähigte und weitsichtige Führer entstanden, die im Jahre 1924 in aller Form dem jugoslawi­schen Staat den „Krieg erklärten". In den zehn Jahren dieses Kampfes ist viel Blut, auch das vieler Bul­garen, geflossen.

Zu einem wesentlichen Problem der bulgarischen Politik wurde die mazedonische Frage vor allem durch die Anwesenheit von zahlreichen Flüchtlingen aus den mazedonischen Gebieten, die sich seit 1903 ständig vergrößerte. Einschließlich der in Bulgarisch-Mazedonien ansässigen Bevölkerung wurde die Zahl der in Bulgarien lebenden Mazedonier auf 7—800 000 geschätzt. Dieser Bevölkerungsteil Bulgariens sah in der „IMRO" ihre eigentliche Führung. Andererseits hatten die sehr regsamen und begabten Maze­donier bald wesentliche Schlüsselstellungen des bulgarischen Öffentlichen Lebens und in der Wirtschaft eingenommen. Auch in dem Sobranje bildete sich eine besondere mazedonische Gruppe. Im Laufe der Jahre gelang es den Mazedoniern, das gesamte politische Leben Bulgariens zu durchsetzen, so daß es vielfach für eine bulgarische Regierung praktisch unmöglich war, eine den Zielen der „IMRO" entgegengesetzte Politik auf die Dauer zu betreiben. Die Regierung unter Liaptscheff hatte, obgleich dieser selbst ein alter mazedonischer Revolutionär war und über enge Beziehungen zur „IMRO" verfügte, viele gefährliche Kon­flikte mit der jugoslawischen Regierung, die zeitweilig bei ihren Vorstellungen in Sofia von den anderen Nachbarn Bulgariens und von England diplomatisch unterstützt wurden, zu bestehen. In den Jahren 1926 bis 1928 waren die bulgarisch-jugoslawischen Beziehungen durch die Überfälle und Attentate der „IMRO" auf jugoslawischem Gebiet auf das äußerste gespannt, so daß oft der Ausbruch von Feindseligkeiten kurz be­vorstand. In Belgrad wurde in dieser Zeit vielfach der Meinung Ausdruck gegeben, daß gewisse Zusammen­hänge zwischen den italienischen „Einkreisungsbestrebungen" gegen Jugoslawien und der „IMRO" vorhan­den seien, denn die italienische Politik hatte kein Interesse daran, daß ein bulgarisch-jugoslawischer Aus­gleich zustande kam. So drohte zum Beispiel der damalige Führer der „IMRO", Protogeroff, im Jahre 1927 allen „Verständigungspolitikern" mit dem Tode.

Mit der Ermordung des serbischen Divisionärs Kowatschewitsch, der in Serbien einen großen Namen wegen seiner Teilnahme an der gewaltsamen Entfernung der Dynastie Obrenowitsch im Jahre 1903 hatte, am 7. Oktober 1929 durch die „IMRO" hatte diese vorerst ihr Ziel erreicht: für die nächste Zeit war an eine Verständigung zwischen Bulgarien und Jugoslawien nicht zu denken. Jugoslawien schloß seine Grenzen mit Bulgarien hermetisch ab, was jedoch den Kampf der „IMRO" in Mazedonien selbst nicht behin­dern konnte. Noch am 13. Oktober 1928 fiel der Regierungspräsident von Skopje, Weümir Prelitsch, der Kugel einer 25jährigen Mazedonierin zum Opfer, als Rache für die Vernichtung einer mazedonischen Terror-Gruppe. Erst als Protogeroff 1928 aus den eigenen Reihen heraus ermordet wurde und Iwan Michai­loff die „IMRO" übernahm, ebbte langsam der Kampf ab, so daß endlich am 15. November 1929 in Sofia ein Abkommen mit Jugoslawien unterzeichnet werden konnte, das wenigstens einigermaßen normale Zu­stände an den beiderseitigen Grenzen herbeiführen sollte.

Da nun die Regierung Liaptscheff, die 1931 zurücktrat, außenpolitisch fast ausschließlich mit den mazedonischen Fragen beschäftigt war und die nachfolgende Regierung Malinoff nur von Juni bis Ok­tober 1931 amtierte, konnte erst die Regierung Muschanoff neue Voraussetzungen für die bulgarische Au­ßenpolitik schaffen. Im Vordergrund stand nach wie vor der Ausgleich mit Jugoslawien, der auch von der Krone für erforderlich gehalten wurde, und der Kampf um die Behauptung der bulgarischen Lebensinteressen gegenüber den immer deutlicher werdenden Einkreisungsversuchen der Nachbarn unter dem alten Schlagwort Garaschanins: „Der Balkan den Balkanvölkern!" Beide Fragen waren engstens miteinan­der verbunden. "Während Jugoslawien wegen seines Gegensatzes zu Italien den bulgarischen Bestrebungen auf halbem Wege entgegenkam, hatten die anderen antirevisionistischen Nachbarn Bulgariens ein Inter­esse daran, daß Bulgarien isoliert blieb und es zu keiner Verständigung mit Jugoslawien käme, da sie einen großsüdslawischen Block, der letzten Endes das politische Übergewicht auf dem Balkan erlangen mußte, befürchteten. Besonders Griechenland versuchte, die Annäherung zu verhindern, da es die jugoslawischen Aspirationen auf Saloniki und die bulgarischen Ansprüche auf den Zugang zum Ägäischen Meer der Ver­wirklichung näher rücken sah. Daher war es auch Griechenland, von dem die Einladung zur ersten Bal­kan-Konferenz, die am 5. November 1930 in Athen eröffnet wurde, ausging. Im wesentlichen verfolgten diese Balkankonferenzen das Ziel, einen festen politischen „Bund der Balkanstaaten" zu begründen, wie er bereits 1912 zwischen Bulgarien, Serbien, Montenegro und Griechenland bestanden hatte. Die bis 1934 durchgeführ­ten Konferenzen konnten keine brauchbaren Voraussetzungen für einen wirklichen Bund der Balkanstaa­ten schaffen, da die sogenannten „Siegerstaaten" unter ihnen von ihrer antirevisionistischen Haltung nicht abgehen wollten. Aber die Pläne der „Balkan-Idealisten" wurden von den Regierungen, die ihre Politik nach dem Quai d'Orsay ausrichteten, trotzdem aufgegriffen, so daß die Balkan-Konferenz von 1933 schon unter dem Schatten der diplomatischen Vorbereitungen zum Balkanpakt stand. Auch hier war es wieder Grie­chenland, diesmal in Verbindung mit der Türkei, das sich mit seinen Bemühungen um die Aufrichtung einer starren antirevisionistischen Front auf dem Balkan gegen Bulgarien an die Spitze stellte, nachdem die grie­chisch-türkischen Bemühungen seit 1930, mit Bulgarien in ein paktmäßiges dreiseitiges Verhältnis zu ge­langen, an der festen Haltung Sofias gescheitert waren.

Bulgarien wollte nach wie vor seine berechtigten territorialen Belange nicht aufgeben, vor allem gegen­über Griechenland, da ihm ein freier Ausgang zum Ägäischen Meer bereits im Vertrag von Neuilly zu­gesagt worden war. Andererseits wollte es auch die zu jener Zeit intensiv geführten Ausgleichsverhand­lungen mit Jugoslawien nicht durch vorherige andere Abmachungen belasten. Daneben Hefen auch bulga­risch-rumänische Gespräche, die jedoch trotz des Besuches von Zar Boris bei König Karol in Sinaja am 27. Ja­nuar 1934 wegen der Dobrudscha-Frage, in der Rumänien keine Zugeständnisse einräumen wollte, zu kei­nem Ergebnis führten.

Am 9. Februar 1934 wurde der Balkanpakt von Griechenland, Jugoslawien, Rumänien und der Türkei in Athen geschaffen. Das Fehlen Bulgariens und auch Albaniens zeigte deutlich seine Tendenzen. Die Haupt­klausel des Balkanpaktes lautete: „Die Aufrechterhaltung der gegenwärtig auf dem Balkan festgelegten territorialen Ordnung ist für die Vertragspartner endgültig." Dieser Pakt sollte also ein gesamtbalkanisches Instrument zur Erhaltung des „Friedens" auf dem Balkan, dem bisherigen „europäischen Pulverfaß", werden. Aber in Wirklichkeit war er doch nur das Instrument zur Aufrechterhaltung der mit den Pariser Vorortverträgen gegen Bulgarien aufgebauten „Balkanordnung". Bulgarien sollte zur Aufgabe seiner Le­bensrechte gezwungen werden. Es blieb aber weiter fest und lehnte seinen Beitritt ab. Mit dieser Haltung hatte es sich und den anderen Kämpfern für eine Revision der Friedensdiktate, an deren Spitze das seit 1933 wiedererstarkende Deutsche Reich stand, einen geschichtlich bleibenden Dienst erwiesen, der bereits heute seine Früchte getragen hat. Der Balkanpakt, dessen eigentliche Wegbereiter der damalige griechische Gesandte in Paris, Politis, und der rumänische Außenminister Titulescu, unterstützt von dem türkischen Außenminister Rüschtü Aras waren, verrät allzu deutlich die damalige französische außenpolitische Kon­zeption. Dieser Pakt sollte die französische Einschließungsfront gegen die deutsche Mitte Europas schließen.

Der Abschluß des Balkanpaktes verstärkte in den verantwortlichen Kreisen Bulgariens das Bestreben, die starre Einkreisungsfront zumindest an einer Stelle, auch unter Opfern, zu durchbrechen. Auch Jugoslawien hatte nach wie vor die Absicht, zu einem Übereinkommen mit seinem östlichen Nachbarn zu gelangen. Die Regierung Georgieff bot eine geeignete Veranlassung, die durch die Aktivität der „IMRO" gestörten Ver­handlungen wieder aufzunehmen. Vor allem waren es die königlichen Staatsoberhäupter selber, die die Verhandlungen — in den meisten Fällen verborgen vor der Öffentlichkeit — durchführten. Da wurde am 9, Ok­tober 1934 König Alexander von Jugoslawien in Marseille ermordet. Durch den plötzlichen Tod eines der Träger der Verständigung konnte es nicht ausbleiben, daß die Verhandlungen wieder ins Stocken gerieten. Erst 2 Jahre später, im Jahre 1936, begann eine neue, diesmal endgültige Phase. Bulgarien bot Jugoslawien den Abschluß eines Freundschafts- und Nichtangriffspaktes an. Jugoslawien griff diese Initiative auf, und schon am 24. Januar 1937 wurde in Belgrad der „ewige Freundschaftspakt" zwischen Bulgarien und Jugo­slawien unterzeichnet. Der kurze Text des Abkommens entspricht fast wörtlich dem bulgarisch-türkischen Freundschaftspakt vom 18. Oktober 1925. Bulgarien hatte mit dem Abschluß des Abkommens eine Bresche in den um es gelegten starren antirevisionistischen Ring geschlagen, ohne die Lösung seiner territorialen Probleme auf friedlichem Wege zu verbauen.

Der bulgarisch-jugoslawische Ausgleich ließ den rumänischen und griechischen Nachbarn aufhorchen. Man fürchtete dort, daß sich der seit 1919 stetig gebliebene friedliche bulgarische Revisionismus nunmehr verstärkt der Dobrudscha- und der thrazischen Frage annehmen würde. Bulgarien war bereit, das Miß­trauen durch zweiseitige Nichtangriffspakte, die auch der deutschen Auffassung entsprachen, zu zerstreuen, aber weder Rumänien noch Griechenland gingen auf diese Initiative ein. Das einzige Zugeständnis revisio­nistischen Charakters, das die Staaten des Balkanpaktes einräumten, war die Aufhebung der Wehrbestim­mungen des Vertrages von Neuilly durch das Saloniki-Abkommen vom 31. Juli 1938. Aber diese Hand­lung war nichts weiter als die nachträgliche Anerkennung der bereits bestehenden Wirklichkeit gewesen.


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