Das Dritte Bulgarische Reich

 
       Der Berliner Kongreß im Jahre 1878 legte den Grundstein zum dritten bulgarischen Reich und nahm das junge Staatswesen in die europäische Völkergemeinschaft auf. Der seit Generationen geführte Befreiungs­kampf der bulgarischen Patrioten hatte seinen ersten Erfolg von europäischer Bedeutung errungen. Viel war trotz aller berechtigten Enttäuschungen erreicht worden, wenn auch die Nord-Dobrudscha, Mazedo­nien und ganz Südbulgarien mit der ägäischen Küste noch unter fremder Herrschaft verblieben. Anderer­seits behafteten die Entscheidungen der europäischen Großmächte den jungen Staat bereits von Anfang an mit einem schicksalhaften Vermächtnis; mit dem Kampf um die Befreiung der noch jenseits der Grenzen lebenden Blutsbrüder. Wie stark diese ungelösten Fragen die bulgarischen führenden Persönlichkeiten be­wegten, geht aus der denkwürdigen Tagung der ersten bulgarischen Nationalversammlung in Tirnowo her­vor. Nicht nur, daß von den Abgeordneten entgegen den Wünschen des Vertreters der russischen Regierung in Bulgarien die allgemeine Nationalfrage als erster Punkt auf die Tagesordnung gesetzt wurde, auch aus den noch unter fremder Herrschaft stehenden Gebieten waren in aller Form gewählte Vertreter nach Tir­nowo gekommen. Diese Männer hielten Sitzungen in Tirnowo ab, die mit nationaler Begeisterung oft auch von den Mitgliedern der Nationalversammlung besucht wurden.

Die erste Nationalversammlung wurde eröffnet. Ihr Vorsitzender trug mit aus innerer Gemütsbewegung zitternder Stimme bei tiefster Stille den Vers aus Jeremias Klage vor, in dem es heißt, daß die Mutter nie ihre Ruhe finden wird, bis sie ihre Kinder wieder um sich versammelt. Die Erkenntnis, daß sich die bulga­rischen Freiheitskämpfer mit einer halben Lösung niemals zufrieden geben würden, konnte und sollte wohl auf dem Berliner Kongreß nicht als Richtschnur genommen werden. Denn die Rivalität der europäischen Mächte um die Vorherrschaft auf dem Balkan und im Nahen Osten war für eine umfassende völkische Lö­sung der bulgarischen Frage zu groß. Daß die in dem Vorfrieden von San Stefano festgelegten Grenzen Bulgariens von den interessierten europäischen Großmächten nicht anerkannt wurden, lag eindeutig an den Interessengegensätzen zwischen Rußland einerseits sowie England und der Habsburger-Monarchie anderer­seits. Rußland verfolgte weiterhin mit Hilfe der panslawistischen Idee den Traum der russischen Zaren: Die Eroberung Konstantinopels und die Schaffung eines freien Ausganges zum Meer. Es hatte daher Interesse an einem großen und starken Bulgarien auf dem Balkan, das Wegbereiter und Flankenschutz für seine Po­litik sein sollte. England dagegen war auf Sicherung seines See- und Landweges nach Indien über den Nahen und Mittleren Osten bedacht und hatte sich bisher stets den russischen und auch anderen europäischen Aspirationen, die dieser seiner traditionellen Politik zuwiderliefen, erfolgreich entgegengesetzt. Es war auch ein Grundsatz dieser Politik, daß keines der slawischen Völker der Balkanhalbinsel einen freien Aus­gang zum Mittelmeer haben sollte, solange Rußland oder eine andere, England feindliche Macht hinter ihnen stand. Auch Österreich-Ungarn war immer darauf bedacht, den russischen Einfluß auf der Balkan­halbinsel zumindest nicht größer als seinen eigenen werden zu lassen. Das junge Deutsche Reich unter Bismarcks Führung interessierte sich nur so weit an den Balkanfragen, als es verhindern wollte, daß sich aus den Interessengegensätzen der Großmächte bei der Lösung der „orientalischen Frage" ein europäischer Krieg entwickelte. Das folgenschwere Verhängnis für Bulgarien, mit dem es solange rechnen muß, als Ruß­land eine Großmacht ist, lag in der Tatsache, daß es nur als das Sprungbrett für den russischen Bären angesehen wurde.

Das war die Lage, in die das bulgarische Volk mit seinem neuen Staat vom Schicksal hineingestellt wurde, und in der es sich nun vor allem mit eigenen Kräften behaupten wollte. Einen Teil seiner nationalen Er­wartungen hatte es schon dem europäischen Frieden zuliebe opfern müssen. Seine erwartungsvolle Freund­schaft zum großen Rußland hatte ihm die ersten Enttäuschungen bereitet, da der russische Zar keinen neuen Krieg mit England und Österreich-Ungarn um die Anerkennung der Grenzen Bulgariens von San Stefano führen wollte.

Aber auch im Innern ergaben sich für das junge Staatswesen und seine Führung eine Unmenge von Fra­gen und Schwierigkeiten, die nicht immer ohne fremde Hilfe gelöst und geregelt werden konnten.

Nach den Bestimmungen des Berliner Kongresses hatte die verfassunggebende Nationalversammlung von Tirnowo am 10. Februar 1879, die vom russischen Fürsten Dondukoff-Korsakoff, dem russischen Beauftrag­ten zur Organisierung der bulgarischen zivilen Verwaltung, eröffnet wurde, einen Verfassungsentwurf vor­gelegt erhalten. Dieser Entwurf war von einem russischen Juristen liberaler Schule ausgearbeitet und sah im wesentlichen eine Erbmonarchie mit Volksvertretung vor. So einig sich die Abgeordneten in den natio­nalen Fragen Bulgariens waren, so uneinig gestaltete sich ihre Meinung über die künftige Regierungsform ihres Vaterlandes. Dieselben Gruppen, die sich schon vor der Befreiung im bulgarischen Volk — ohne weni­ger als der andere vaterlandsliebend und einig in der Zielsetzung gewesen zu sein — gegenüber gestanden hatten, nahmen auch jetzt zum Verfassungsentwurf eine entgegengesetzte Stellung ein. Die einen, „Tschor­badschi" genannt, waren die vorsichtig abwägenden reichen Kaufleute und Vertreter der gebildeten bürger­lichen Schichten mit ihren weitgehenden Familienbindungen und Beziehungen, selbst bis zum Sultanshof hin. Die anderen, „Haiduken" genannt, waren jene, mehr aus dem einfachen Volk stammenden, kampflusti­gen Freischärler, Aufklärer und Freiheitsapostel. Diese beiden Gruppen bestimmten schon die inneren Be­ziehungen des bulgarischen Volkes während der Zeit der nationalen Wiedergeburt im 19. Jahrhundert. Jetzt, nach der Befreiung, wurden die „Tschorbadschi" als die „Alten" „Konservative" genannt. Sie nahmen den gemäßigten Konservativismus des russischen Verfassungsentwurfes an, da sie der Meinung waren, daß das bulgarische Volk noch zu jung und unerfahren sei, um die aus dem westeuropäischen demokratisch-libe­ralen Parlamentarismus sich ableitenden Rechte für den Einzelnen klug und sinngemäß anzuwenden. Die „Jungen", die ehemaligen „Haiduken", die sich jetzt „Liberale" nennen ließen, die in der Emigration in Westeuropa mit den liberalen und sozialistischen Ideen, aber auch in Rußland mit dem Nihilismus und den russischen Volksmännern in Berührung gekommen waren, verlangten für das bulgarische Volk soviel als möglich von diesen Rechten und Freiheiten gegenüber dem Staat. Die Liberalen, da sie in der Mehrheit waren — Fürst Dondukoff hatte entgegen den Bestimmungen des Berliner Kongresses 89 Abgeordnete vom Volk direkt wählen lassen —, siegten, und das bulgarische Volk, dessen Staat noch nicht ein volles Jahr alt war, erhielt die liberalste Verfassung des damaligen Europa. Es ahnte aber damals noch nicht, daß es hiermit den Weg seiner eigenständigen Entwicklung verlassen hatte und daß ein falsches Freiheitsideal die Wurzel für die im Laufe der Zeit immer stärker und für die innere Entwicklung und den äußeren Bestand Bulgariens bedrohlicher werdende Staatskrise war. Das bulgarische Parteiwesen mit seinen verderblichen Auswirkungen für das ganze Leben der Nation nahm seinen Anfang mit dem Kampf um die Verfassung zwischen den Konservativen und Liberalen.

Nachdem die verfassunggebende Nationalversammlung ihre Arbeiten beendet hatte, wurde am 17. April 1879 die erste „Große Nationalversammlung", die auf Grund des verfassungsmäßigen allgemeinen Wahl­rechtes direkt vom Volk gewählt war, eröffnet. Sie hatte die Aufgabe, den ersten Fürsten Bulgariens zu wählen. Ihre Wahl fiel auf den hessischen Prinzen Alexander von Battenberg, einen Neffen des russischen Zaren. Prinz Alexander hatte am russisch-türkischen Kriege als Kavallerieoffizier teilgenommen, nachdem er im preußischen Kadettenkorps in Potsdam seine militärische Ausbildung genossen hatte. Der damals 22-jährige Prinz, eine tapfere und edle Persönlichkeit, nahm die Wahl an. In Tirnowo legte er den Eid auf die Verfassung ab.

Wie schwierig seine Aufgabe von den europäischen Höfen erachtet wurde, zeigte der traurig-propheti­sche Ausspruch des Fürsten Bismarck an Prinz Alexander, als dieser ihm in Berlin in der Wilhelmstraße seinen Abschiedsbesuch machte: „Gehen Sie nach Bulgarien — es wird Ihnen wenigstens eine schöne Erin­nerung bleiben." Bismarck sollte Recht behalten. Kaum hatte der junge Fürst die Zügel der Regierung in seinen Händen, als der Gegensatz zwischen Konservativen und Liberalen ein normales Regieren mit der Verfassung von Tirnowo unmöglich machte. Zu diesen innerpolitischen Schwierigkeiten kamen noch die steten Versuche Rußlands, eine Art Vormundschaft über den Fürsten Alexander und die bulgarische Re­gierung auszuüben. Der Fürst ernannte eine konservative Regierung nach der anderen. Alle wurden von der liberalen Opposition unter Führung von Petko Karaweloff, die die Mehrheit in dem Sobranje1 hatten, rücksichtslos bekämpft.

Nachdem ein liberales Kabinett gleichfalls zu keiner befriedigenden Lage führte, begann Alexander durch einen Staatsstreich (1881) die Verfassung von Tirnowo außer Kraft zu setzen. Die Regierung der Vollmachten begann, ohne aber zu der gewünschten innerpolitischen Beruhigung und Befriedung zu gelan­gen, da vor allem die russischen Generäle und diplomatischen Vertreter mit Hilfe der Liberalen gegen den Fürsten zu arbeiten begannen, der ihnen zu eigenmächtig wurde. Als ein Besuch Alexanders beim russi­schen Zaren Alexander III. (Alexander II., der Zarbefreier, war 1881 von Nihilisten ermordet worden) ohne den gewünschten Erfolg blieb, setzte er 1883 die Verfassung wieder in Kraft und entließ die russi­schen Ministergenerale. Ein gemischtes Kabinett von liberalen und konservativen Parteimitgliedern hatte erneut innere Parteikämpfe zur Folge, insbesondere, als sich die Liberalen in zwei Gruppen — die eine mit freundlicher, die andere mit feindlicher Haltung zur Regierung — spalteten. Eine erneute Staatskrise wäre ausgebrochen, wenn nicht plötzlich ein äußeres Ereignis alle Bulgaren zusammengeführt hätte: der Anschluß Ostrumeliens an das Fürstentum im Jahre 1885. Fürst Alexander sanktionierte diesen Volksent­scheid der bulgarischen Bevölkerung Ostrumeliens nicht ohne Zustimmung der Westmächte, die immer mehr in einem starken Bulgarien den besten Schutz gegen die russische Meerengenpolitik sahen. Andererseits sollte aber Bulgarien durch diesen selbständigen Schritt eine weitere Enttäuschung von seiten seines rus­sischen Freundes erfahren: Zar Alexander III. von Rußland zog plötzlich seine schützende Hand endgültig von Bulgarien fort, um es seinem Schicksal zu überlassen. Er befahl den russischen Offizieren, die das junge bulgarische Heer ausbildeten und alle wesentlichen Kommandos innehatten, Bulgarien sofort zu ver­lassen. Diese Handlungsweise brachte die bulgarische Regierung in die größte Verlegenheit, umsomehr, als gleichzeitig Serbien gegen die Vergrößerung Bulgariens protestierte und mit seinem Heer die westliche bulgarische Grenze überschritt. Das bulgarische Heer war an der türkischen Grenze zusammengezogen worden, weil man nur von dort etwaige Gefahren befürchten zu müssen glaubte. Durch Gewaltmärsche gelangten aber die bulgarischen Truppen unter Führung ihrer jungen Offiziere, die anstelle der ab­gereisten russischen Offiziere die Regimenter übernommen hatten, innerhalb weniger Tage an die serbisch-bulgarische Grenze. Hier griff es den ausgeruhten Gegner ungeachtet aller Strapazen sofort an und schlug ihn in einer dreitägigen Schlacht bei Sliwnitza (7. bis 9. November 1885). Mit diesem ersten Sieg der jungen bulgarischen Wehrmacht war der Weg nach Serbien frei. Pirot wurde genommen. Da traf ein Ul­timatum2 Österreich-Ungarns beim bulgarischen Oberkommando ein, das dem weiteren Vormarsch Bul­gariens ein unerwartetes Ende setzte und es zwang, mit Serbien Frieden zu schließen. Denn die österrei­chische Diplomatie sah in Bulgarien immer noch den russischen Vorposten auf dem Balkan, dessen Macht­vergrößerung im eigenen Interesse verhindert werden mußte. Der bleibende Erfolg des Jahres 1885 für das bulgarische Volk war trotz dieser Enttäuschung die Anerkennung der Vereinigung Ostrumeliens mit dem Fürstentum in Form einer Personalunion. Der bulgarische Fürst wurde als Wali von Ostrumelien vom Sul­tan bestätigt.

Rußland war mit diesem selbständig errungenen bulgarischen Erfolg nicht einverstanden und suchte für seine fortwährenden politischen Schlappen auf dem Balkan einen Sündenbock. Es fand ihn in der Per­son Alexanders, der plötzlich am 2. August 1886 durch einen Militärputsch, der von russophilen bulgari­schen Politikern, die ihre Unterstützung von der russischen Diplomatie erhielten, angezettelt war, gezwun­gen wurde, abzudanken und Bulgarien zu verlassen. Die sofort einsetzende Gegenbewegung mit dem Prä­sidenten des Sobranje, Stefan Stambuloff, an der Spitze, vermochte jedoch bald die Verschwörer unschädlich zu machen und den Fürsten wieder zurückzurufen. Aber Alexander III. von Rußland wollte keine Ver­handlungen mit Fürst Alexander aufnehmen, die dieser ihm abermals anbot. Fürst Alexander glaubte, nunmehr endgültig nachgaben zu müssen. Indem er der Meinung Ausdruck gab, daß das bulgarische Fürstentum ohne Hilfe der anderen europäischen Großmächte gegen Rußland nicht bestehen konnte, verzichtete er am 25. August 1886 zum zweiten Male und diesmal endgültig auf den bulgarischen Thron und ging nach Österreich. Seine stürmische Regierung dauerte siebeneinhalb Jahre. Ein schönes Mausoleum in Sofia hütet die sterblichen Überreste dieses jungen, edlen und tapferen Fürsten, des Helden von Sliwnitza, der seine besten Jahre für das Wohl des jungen bulgarischen Staatswesens geopfert hatte.

Eine von Alexander ernannte Regentschaft übernahm die Herrschaftsgewalt und sicherte durch ihr tap­feres Verhalten die bulgarische Unabhängigkeit, die von Rußland immer mehr und immer offener bedroht wurde. Besonders trat dies durch die Mission des außerordentlichen russischen Gesandten in Sofia, Gene­ral Kaulbars, zutage, der sich als nichtoffizieller russicher Statthalter im Lande fühlte. Eine starke ruß­landfeindliche Stimmung erfaßte damals das bulgarische Volk in allen seinen Schichten, das sich über den Wert und die Absichten seines russischen „Befreiers" immer klarer wurde. In der Regierung Stambuloffs von 1887 bis 1894 fand diese Einstellung ihren praktischen Ausdruck. Stambuloff, ein alter Haiduk, der „bulgarische Bismarck" genannt, führte unter Anlehnung an Österreich-Ungarn und die westeuropäischen Großmächte mit kraftvoller Hand und unerschütterlichem Patriotismus das Ruder des schwankenden Staatsschiffes durch die Wirrnisse der Balkanverhältnisse und der Interessenkämpfe der europäischen Großmächte. Wenn er auch im Innern durch seine verwegene und oft ungestüme Haltung und radikale Durchführung seiner Maßnahmen gegen seine innerpolitischen Gegner, vor allem der aus dem russophilen Lager, als der „Tyrann" verhaßt war, stellte er doch, das kann man heute aussprechen, die stärkste staatsmännische Per­sönlichkeit in der bisherigen Geschichte des dritten bulgarischen Reiches dar. Stambuloff, den seine poli­tischen Feinde vernichteten, nachdem er 1894 von Fürst Ferdinand entlassen worden war, als seine diktato­rische Herrschaft den von Ferdinand für notwendig gehaltenen inneren Ausgleich verhinderte, in Sofia durch einen blutigen Überfall, an dessen Folgen er starb, ist heute vollkommen rehabilitiert. Viele Bulgaren der jungen Generation hoffen auf einen neuen Stambuloff, der imstande ist, den Weg freizumachen für eine weitere glückliche Entwicklung des bulgarischen Volkes.


1 Die Forschung hat ergeben, daß der Gesandte der österreichisch-ungarischen Regierung, Graf Khevenhüller, keine Vollmacht hatte, ihre Ansichten über das weitere Vordringen bulgarischer Truppen nach Serbien in die Form eines Ulti­matums zu kleiden. Eine für Bulgarien folgenschwere Eigenmächtigkeit!

2 das Sobranje = die bulgarische Volksvertretung


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