DIE GEBRÜDER MILADINOW IN DER
GESCHICHTE DER BULGARISCHEN FOLKLORISTIK
(Zusammenfassung)
1981 ist das 120. Erscheinungsjahr
der ersten Ausgabe des Sammelbandes „Bulgarische Volkslieder", der von
den Gebrüdern Dimiter und Konstantin Miladinow (Zagreb, 1861)
verfaßt wurde. Das ist ein großes Ereignis in der
Geschichte der bulgarischen Folkloristik und der bulgarischen Kultur.
Mitte des vorigen Jahrhunderts und zwar in einer Periode nur von sechs
Jahren erscheinen mehrere bemerkenswerte Sammelbände bulgarischer
folkloristischer Werke: „Bulgarische Lieder aus den Sammlungen von J.
I. Wenelin, N. D. Katranow und anderen Bulgaren" des russischen
Gelehrten P. Bezsonow (Moskau, 1855); „Liederverzeichnis" von G. S.
Rakowski (Odessa, 1859); „Volkslieder der mazedonischen Bulgaren" des
bosnischen Archäologen und Ethnographen St. Werkowic (Belgrad,
1860); „Denkmäler des Volkslebens der Bulgaren" von L. Karawelow
(Moskau, 1861) und der schon erwähnte Sammelband der Gebrüder
Miladinow. Diese Sammlungen zeigen den wissenschaftlichen Kreisen das
folkloristische Reichtum des bulgarischen Volkes, das sich zu jener
Zeit unter fremder Herrschaft befindet. Das bedeutendste Werk darunter
ist der Miladinows Sammelband.
Dimiter (1810—1862) und Konstantin (1830—1862) Miladinow sind in der
Stadt Struga geboren, die an der schönen Ohrider See liegt. Obwohl
die Gebrüder aus einer bescheidenen Handwerkerfamilie abstammen,
bekommen sie eine gute Bildung. Dimiter besucht zuerst die griechische
Schule in Ohrid und dann das griechische Gymnasium in Janina. Nachdem
er eine gute Ausbildung als Lehrer-Hellenist bekommen hat, arbeitet er
als solcher in Ohrid, Struga, Kukusch, Bitola bis zum Ende seines
Lebens, indem er überall die Schulen sehr gut organisiert, ihr
Programm erweitert und dank seiner Fähigkeiten eines
glänzenden Pädagogen viele Schüler heranzieht.
Gleichzeitig damit kämpft Dimiter Miladinow gegen die
Hellenisierung der bulgarischen Schulen, da der griechische
Einfluß in den Städten, wo er als Lehrer tätig ist,
sehr stark ist. Nach dem Fall Bulgariens unter osmanische Herrschaft
(Ende des 14. Jh.) wird die bulgarische Kirche dem griechischen
Patriarchat in Konstantinopel untergeordnet; die hohe griechische
Geistlichkeit, die sich in den bulgarischen Eparchien niedergelassen
hat, zeigt starke hellenistische Tendenzen. In dieser Hinsicht wirken
auch die griechisohen Schulen, welche die bulgarische Jugend
zwangsweise besucht, da es Anfang des 19. Jh. an gut eingerichteten
bulgarischen Schulen mangelt. Wenn auch Dimiter Miladinow seine Bildung
in griechischen Schulen bekommen hat, zeigt er sich als bulgarischer
Patriot und arbeitet sein ganzes Leben lang für die Gründung
bulgarischer Schulen, wo auf Bulgarisch unterrichtet werden soll.
In seine Spuren tritt auch sein jüngerer Bruder Konstantin. Er
lernt bei seinem Bruder in Struga, Ohrid und Kukusch, dann schickt ihn
Dimiter ins Gymnasium von Janina. Konstantin arbeitet zwei Jahre als
Lehrer im Dorf Tärnowo bei Bitola; 1849 fährt er nach Athen
und studiert dort an der Athener Universität Hellenistik. Sein
Traum, seine Bildung in Rußland fortzusetzen, geht bald in
Erfüllung — so verbringt er vier Jahre (1856— 1860) in Moskau als
Student in slawischer Philologie an der Moskauer Universität. Bald
muß er aber das tragische Schicksal seines Bruders Dimiter
teilen, der wegen seiner Tätigkeit als Patriot von der
griechischen Geistlichkeit verfolgt wird. Bei den türkischen
Behörden als russischer Agent angezeigt, wird Dimiter in Haft
genommen und nach Konstantinopel abgeführt, wo er unter
schlimmsten Verhältnissen in der Konstantinopeler Kerker stirbt
(1862). Nachdem Konstantin über die Verhaftung seines Bruders
erfährt, fährt er nach Konstantinopel, um für die
Befreiung seines Bruders zu kämpfen. Über ihn bricht aber
dasselbe Schicksal herein — er wird von den türkischen
Behörden verhaftet und stirbt in demselben Gefängnis.
Die Aufklärungstätigkeit und der tragische Tod sichern den
beiden Brüdern eine Spitzenstellung in der Geschichte der
bulgarischen Kulturbewegung und des bulgarischen nationalen
Befreiungskampfes im 19. Jh. Die Gebrüder haben aber auch einen
anderen großen Verdienst — das Interesse, das sie für die
bulgarische Volksdichtung zeigen; infolge dieses Interesses erscheint
der bemerkenswerte Sammelband „Bulgarische Volkslieder". Dimiter und
Konstantin erkennen die große Bedeutung der Folklore während
der Nationalen Wiedergeburt und setzen alle ihre Kräfte dafür
ein, die besten Dichtungen zu sammeln, die das Volksgenie im Laufe der
Jahrhunderte geschaffen hat. In dieser Hinsicht ist ihre Tätigkeit
Ausdruck des wachsenden Interesses für die Folklore, die Mitte des
vorigen Jahrhunderts von der bulgarischen Intelligenz in der Person von
W. Aprilow, Iw. Bogorow, N. Gerow, G. S. Rakowski, P. R. Slawejkow u.
a. gezeigt wird.
Dimiter fängt als erster an, folkloristisches Material zu sammeln.
Anregung dafür bekommt er von dem russischen Slawisten Prof. W.
Grigorowitsch, der 1845 Ohrid besucht und dort Dimiter Miladinow
begegnet. So fahren beide zusammen nach Struga, wo Grigorowitsch ein
bulgarisches Lied („bolgarska pesma") von der Mutter der Gebrüder
Miladinow aufschreibt. Dimiter verspricht Grigorowitsch, ihm
Volkslieder zu schicken, was aus seinem Brief vom 25.2.1846 ersichtlich
ist: „Meine Bemühungen für unsere bulgarische Sprache und
bulgarischen Volkslieder, wie Sie es mir geraten haben, sind
außerordentlich groß." Von da an sammelt Dimiter und
später auch sein Bruder Konstantin folkloristisches Material.
Konstantin bringt den von den beiden Brüdern vorbereiteten
Sammelband nach Moskau mit, in der Hoffnung, daß dieser in
Rußland veröffentlicht werden kann. Er beratet sich mit
russischen Gelehrten über die Zusammenstellung des Materials; zur
Veröffentlichung der Sammlung wird er auch von den damaligen
bulgarischen Studenten in Moskau L. Karawelow, R. Shinsifow, S.
Filaretow, W. Popowitsch u. a. ermuntert, aber er findet keinen
Verleger. Eins von den Hindernissen ist der Umstand, daß die
Materialien mit griechischen Buchstaben geschrieben sind. Dimiter
hört aber nicht auf, ihm neues Material zu schicken. 1860 schreibt
Konstantin einen Brief an Jossiph Stroßmayer, kroatischer Bischof
in Djakowo, überzeugter Anhänger der gegenseitigen
Verständigung der slawischen Völker. Stroßmayer, der
schon ein Mitgefühl für das Schicksal des unterjochten
bulgarischen Volkes gezeigt hatte, gibt Konstantin eine günstige
Antwort und willigt ein, den Sammelband herauszugeben, aber unter der
Bedingung, daß die Lieder in kyrillische Schrift übertragen
werden: „Die Griechen haben Euch, Bulgaren, genug Leid und Not angetan,
so laß von ihren Buchstaben ab und bediene dich der slawischen
Buchstaben." So erscheint der Sammelband 1861 in Zagreb; er wird J.
Stroßmayer gewidmet.
Der Sammelband von den Gebrüdern Miladinow „Bulgarische
Volkslieder" ist ein umfangreiches Werk. Er enthält 665 Lieder
(23559 Versen), die in 12 Teile gegliedert sind (Helden-, Heiducken-,
mythische, Liebeslieder usw.); Hochzeitsbräuche, Glauben,
Volksüberlieferungen, Beschreibungen von Kinderspielen,
volkstümliche Eigennamen, Sprichwörter und Rätsel. Aus
dem Vorwort ist zu ersehen, daß der Band noch 2000 seltene
Wörter und 11 notierte Lieder umfassen sollte, aber wegen des
großen Umfangs der Ausgabe wurden sie ausgelassen.
Durch das inhaltsreiche und mannigfaltige Material, durch das poetische
Gefühl der beiden Brüder, denen es gelingt, herrliche Muster
aus der bulgarischen Folklore auszuwählen, durch die wortgetreue
Aufschreibung der Lieder zeichnet sich der Sammelband von
Gebrüdern Miladinow als eine hervorragende Leistung der
bulgarischen Folkloristik in der Periode der Wiedergeburt aus.
Gewürdigt wird er schon von den Zeitgenossen; sehr begeistert
sprechen davon L. Karawelow, K. A. Schapkarew, R. Shinsifow u. a.
Großes Interesse erweckt der Sammelband auch bei
ausländischen Wissenschaftlern. Schon 1863 hebt der russische
Gelehrte Prof. I. Sresnewski hervor: „Nun kann man schon daraus, was
herausgegeben ist, ersehen, daß die Bulgaren den anderen
slawischen Völkern an dichterischen Fähigkeiten nicht
nachstehen, mehr noch, sie sind anderen Völkern an Lebenskraft
ihrer Dichtung überlegen..." Bald darauf werden einige Teile des
Sammelbandes ins Tschechische, Russische und Deutsche übersetzt.
Der Sammelband von den Gebrüdern Miladinow spielt eine große
Rolle bei der Entwicklung der modernen bulgarischen Literatur, weil
seine Lieder von den größten bulgarischen Dichtern — Iw.
Wasow, Pentscho Slawejkow, Kiril Hristow, P. K. Jaworow u. a. — als
dichterisches Muster aufgenommen werden.